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Freundschaften, Feindschaften

von

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Ich brauche keinen Psychologen, ich habe ein Schwein

III. Ich brauche keinen Psychologen, ich habe ein Schwein
 

„Mr. Taylor-Kinney? Kommen Sie doch rein, ich bin Dr. Vanessa Arsten, Nathalies Freundin.“
 

Brian schüttelte der Frau die Hand. Sie war ausgesprochen hochgewachsen, ragte fast bis zu ihm hinauf, und trug ihr hellblondes Haar streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden. An ihren Ohren klingelten überdimensionierte Ohrringe, die ein wenig wie Gardinenquasten aussahen, auf der Nase trug sie eine elegante Brille mit tiefschwarzem Rahmen. Sommersprossen zeichneten sich auf der bleichen Haut ab, was ihr etwas unfreiwillig Kindliches gab, obgleich sie gewiss die Fünfzig schon überschritten hatte. Ihre Praxis war funktional mit ein paar Akzenten ins betont Heimelige eingerichtet, wohl um die armen Irren zu beruhigen, die ihr hier jeden Tag auf den Ohren lagen. Und unter die er sich jetzt fröhlich einreihen durfte. Dabei war dies hier nur das Vorgeplänkel, der richtige Spaß ging erst Morgen bei seiner ersten offiziellen Sitzung beim zuständigen Gutachter des Sozial- und Jugendamtes los.
 

Sie bat ihn in ihr Praxiszimmer. Erleichtert stellte Brian fest, dass hier weit und breit keine Couch zu sehen war. Die Funktion übernahm eine Sitzecke, die wohl eine gewisse familiäre Atmosphäre verbreiten sollte. Dort ließen sie sich nieder.
 

„Also, Mr. Taylor-Kinney, Nathalie hat mir von ihrer misslichen Lage berichtet. Ich spreche hier heute nicht nur als eine Ärztin – die selbstverständlich der Schweigepflicht untersteht – zu Ihnen, sondern auch als eine Freundin der Familie. Das heiß jedoch nicht, dass ich ihnen völlig vorbehaltlos helfen kann. Ich werde – und darf – Sie nichts ans Messer liefern. Aber ich bin nicht bereit, Sie zu unterstützen, wenn die gegen Sie erhobenen Vorwürfe der Wahrheit entsprechen, und ich so das Wohl von Nathalies Enkelsohn aufs Spiel setzten würde. Das ist die Schattenseite davon, dass sich hier Professionelles und Persönliches mischen.“
 

„Das verstehe ich“, sagte Brian.
 

„Gut. Im Falle des Falles würde ich Sie dann an einen Kollegen überweisen, der Sie rein professionell betreuen würde. Das sei aber nur voran gestellt. Bevor ich Sie auf die Gespräche mit dem Gutachter vorbereite muss ich sowieso die Grundvoraussetzungen kennen. Erzählen Sie mir bitte von Ihrer Warte aus, was von den an Sie gerichteten Vorwürfen zu halten ist.“
 

Brian spannte die Muskeln an und setzte sich aufrecht hin. Da musste er jetzt durch. Es gab so Vieles, was ihn aktuell aufregte und es widerstrebte ihm zutiefst, dieses Gespräch führen zu müssen. Aber was half es. Diese Frau konnte seine Rettung bedeuten. Und nicht nur seine. Also raus damit, sie war ein Profi. Er räusperte sich: „Beide gegen mich gerichteten Anklagen beruhten auf falschen Voraussetzungen oder Annahmen. Und beide sind dementsprechend zurück gezogen worden. Die erste Anzeige wegen Nötigung basierte auf einer Retourkutsche eines Mitarbeiters, der sich in meiner ehemaligen Firma hoch zu schlafen gedachte, was ich ihm jedoch verwehrt habe. Die Beine breit zu machen ist keine Leistung – und nur wer Leistung bringt, wird befördert.“
 

„Aber Sie hatten Sex mit diesem Mann?“ bohrte sie nach.
 

„Ja“, sagte er. „Einvernehmlich. Ich habe ihm nie in Aussicht gestellt, ihn deswegen weiter zu bevorzugen, auch wenn er sich das anscheinend erhofft hatte.“
 

„Er hätte mit dieser Klage dennoch durchaus Erfolg haben können, wenn er behauptet hätte, sie hätten ihm eine Bevorzugung suggeriert. Warum wurde sie zurück gezogen?“
 

Brian seufzte: „Habe ich mich auch lange gefragt. Offensichtlich hatte Justin das zu verantworten. Er hat ihn abgeschleppt und ihm gedroht, da er minderjährig sei. Was er zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr war.“
 

„Sie waren parallel zu Ihrer Affäre bereits mit ihm liiert?“
 

Brian stöhnte innerlich: „Nein, eigentlich nicht. Eine Affäre hatte ich mit diesem Typen auch nicht, ich habe ihn einmal flach gelegt, das war’s. Und sexuelle Exklusivität war damals noch kein Thema zwischen Justin und mir, genauso wenig wie eine Beziehung.“
 

„Kommen wir darauf später zurück. Was ist mit der zweiten Anzeige?“
 

„Meine Schwester Claire hat ihre missratenen Brut, meinen Neffen John, bei mir abgeladen. Das liebenswerte Kerlchen hat mich dann ziemlich frech beklaut, und ich habe es bemerkt. Er wurde derart rotzfrech, dass ich ausgerastet bin.“
 

„Haben Sie ihn geschlagen?“
 

„Nein. Er hat mich getreten und mich beschimpft und ich habe seine Nase im Klo versenkt.“
 

„Hat sich Derartiges jemals wiederholt?“
 

„Sie wollen wissen, ob ich zu Gewaltausbrüchen neige? Da muss ich Sie leider enttäuschen.“
 

„Sie wurden jedoch wegen Missbrauchs angezeigt.“
 

„Ja, von meiner eigenen Mutter.“
 

„Aber Sie haben Ihren Neffen nicht missbraucht?“
 

„Außer als Klobürste? Nein. Aber meine Mutter hatte gerade erst heraus bekommen, dass ich schwul bin und hat sich fürchterlich darüber aufgeregt. Das hat sich Klein-John zu Nutze gemacht und – zack – war ich ein Kinderschänder.“
 

„Weil Ihre Mutter Homosexualität mit Perversion gleichgesetzt hat?“
 

„Da ist sie anscheinend nicht die Einzige.“
 

„Auch diese Klage wurde zurück gezogen?“
 

„Ja. Wieder Justin. Diesmal aber mit dem Hammer des Gesetzes“, sagte er nur.
 

„Ihr Partner scheint ja recht umtriebig zu sein, wenn es um Sie geht.“
 

„Nicht nur da.“
 

„Gut, schauen wir uns diese Sache dann Mal an. Haben Sie eine sexuelle Beziehung mit ihm unterhalten, als er noch nicht volljährig war?“
 

Brian verzog keine Wimper: „Ja.“
 

„Waren Sie sich dessen bewusst?“
 

„Ja.“
 

„Fühlten Sie sich wegen seines jugendlichen Alters zu ihm hingezogen?“
 

„Nein. Mir war es lediglich egal.“
 

„Gab es ähnlich geartete Interaktionen mit anderen jungen Männern dieser Art?“
 

Brian dachte nach: „Nein. Eigentlich glich er in Nichts dem, was ich sonst bevorzugte.“
 

„Und das wäre?“
 

„Dunkelhaarig. Athletisch. Älter.“
 

„Er war also eine Ausnahme?“
 

„In jeder Hinsicht, könnte man sagen, ja.“
 

„Und was hat Sie dazu bewogen, dennoch eine Affäre mit ihm zu beginnen?“
 

Schon wieder dieses Affären-Wort. Aber irgendwie kam es ja auch hin. „Er, vermute ich“, sagte Brian dann.
 

„Erklären Sie das.“
 

„Er hat einfach nicht locker gelassen. Er war eigentlich ein One Night Stand. Eine Nacht unverbindlicher Spaß, und dann zieht man seiner Wege. So waren die Spielregeln. Aber er hat sich nicht daran gehalten, sondern klebte plötzlich an mir dran wie eine verdammte Klette.“
 

„Sie hätten ihn abweisen können.“
 

„Ich hab’s versucht.“
 

„Offensichtlich nicht sonderlich erfolgreich.“
 

„Wohl nicht.“
 

„Warum nicht?“
 

„Keine Ahnung! Erklären Sie es mir, Sie sind doch hier die Frau Doktor! Aber garantiert nicht, weil ich auf kleine Jungs stehe!“
 

„Es war also weniger seine Physis als – etwas anderes – was Sie an ihm interessiert hat?“
 

„Dass es mir bloß um seine inneren Werte gegangen wäre, wäre jetzt auch gelogen.“
 

„Aber es war schon mehr als bloß sein Aussehen?“
 

„Ja…“
 

„War es für Sie auch von Interesse, dass Sie als der Ältere eine solche Beziehung dominieren konnten?“
 

Brian starrte sie an, dann begann er zu lachen: „Witziger Gedanke.“
 

„Was ist daran so komisch?“
 

„Justin dominieren… Das klappt vielleicht drei Sekunden lang. Oder wenn es ihm in den Kram passt. Haben Sie schon mal versucht, einen Sack voller Affen unter Kontrolle zu halten? So ungefähr dürfen Sie sich das vorstellen.“
 

„Es ging Ihnen also nicht um ein Abhängigkeitsverhältnis?“
 

„Um Gottes willen – nein! Eine solche Beziehung wäre für mich nicht von Interesse.“
 

„Trotz des Altersunterschiedes sehen Sie Ihre Beziehung zueinander also nicht hierarisch?“
 

Brian schüttelte nur den Kopf: „Nein. Das wäre doch sterbenslangweilig.“
 

Sie nickte und sagte abschließend: „Gut.“
 

Brian atmete tief durch. Das war der Probedurchlauf gewesen, ohne Netz und doppelten Boden. Er fühlte sich wie beim Zahnarzt. Gebohrt hatte sie. Jetzt kam die Füllung.
 

„Nun, Mr.Taylor-Kinney“, hob Sie langsam an. „Ich kann Ihnen nicht raten zu lügen. Ich kann Ihnen nur sagen, welche Aspekte Sie hervorheben und welche eher… vernachlässigen sollten.“
 

Brian schaute sie aufmerksam an.
 

„Der Gutachter wird sich bestimmte Schlüsselbegriffe notieren, die üblicherweise im Abschlussbericht landen und das Fazit begründen. Gut sind: gleichberechtigte Partnerschaft, verantwortungsbewusstes Verhalten – auch in sexueller Hinsicht, emotional reife Liebesbeziehung, gemeinsame Entschlussfindung, Priorität ihres Sohnes in ihrem Leben, selbstkritischer Umgang mit den eigenen Versäumnissen, konsequentes Handeln, stabiles familiäres Umfeld.
 

Sie sollten tunlichst alles meiden, was folgende Worte auf das Papier ruft: promiskes Verhalten, Tendenz zu gewalttätigen Ausbrüchen, sexuelle Attraktion zu Heranwachsenden, Fokussierung auf Abhängigkeitsverhältnisse, emotionale Labilität, zynische oder misanthrope Lebensgrundhaltung, Narzissmus, Konzentration auf eigene Bedürfnissen zuungunsten anderer, mangelnde Empathie. Und jetzt erzählen Sie mir die ganzen Geschichten noch einmal. Ich werde Fragen stellen und mir Notizen machen. Und dann erstelle ich Ihnen ein mündliches Gutachten. Dann gehen wir jede ihrer Formulierungen durch und mag sie noch so harmlos klingen, der Teufel steckt oft im Detail. Und dann fangen wir noch mal an. Und ich werde noch mehr fragen und noch mehr aufschreiben. Und ich werde gemein werden. Und dann noch einmal, nur schlimmer. Und noch einmal. Solange, bis auf der Minusseite nichts mehr steht. Und dann werden Sie überlegen, ob man diesen Abschlussbericht durch extern zugängliche Informationen noch zum Wanken bringen könnte.“
 

„Okay…“
 

„Mr. Taylor-Kinney, Sie wurden bereits zweimal wegen sexuell motivierter Delikte angezeigt…“
 

Stunden vergingen.
 

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Als Brian zurück ins Loft stolperte, die Nacht hatte strengen Frost gebracht, dem seine Prada-Slipper nicht gerade trotzten, saß Justin auf der Couch. Er hatte das Gefühl, ein Tanklastzug sei mehrfach genüsslich über sein Innenleben gebraust. Oder ein altägyptischer Mumifizierer hätte ihm bei lebendigem Leibe das Hirn durch die Nase heraus gezogen. Aber er wusste, was Morgen zu tun sein würde. Die Frau war gut. Am liebsten hätte er sich jetzt einen – oder mehrere - Whiskey hinein gelötet, damit sich die Welt in leichtes Wohlgefallen auflösen würde. Aber er konnte sich jetzt keinen Kater ansaufen, der ihn nachhaltig lähmen würde.
 

Er schmiss seinen Mantel in die Garderobe, warf die völlig durchgeweichten Schuhe hinter sich, die zu Eiszapfen gefrorenen Zehen krümmend, und trat hinüber zu Justin. An der Stelle seines alten Plasmafernsehers, der jetzt daheim im Wohnzimmer vornehmlich der Wiedegabe von Zeichentrickfilmen diente, stand ein kleiner, etwas abgewrackter Röhrenbildschirm, an dem, recht unfotogen, ein DVD-Player angeschlossen war.
 

Er warf sich neben Justin auf das Sofa, das dieser beinahe von der Sitzfläche hoch katapultiert wurde, und ließ sich ächzend gegen ihn fallen.
 

„Himmel, bist Du kalt, kauf dir mal ordentliche Klamotten, wir haben hier kein Klima wie in Bella Italia… Komm her…“
 

Justin wickelte sich wärmend um ihn, griff nach Brians Fuß und begann die tauben Zehen zu reiben. Noch nie hatte ihm jemand seine kalten Füße aufgewärmt. Noch nie hatte jemand… so vieles. Außer Justin. Brian entspannte seinen Körper und ließ zu, dass sein Mann ihm wieder Wärme in die Knochen jagte. „Klamotten kaufen“, murmelte er, „ist immer gut.“
 

„Gibt es von Armani nicht auch so einen dicken, mit Daunen gefütterten Steppmantel?“ fragte Justin in sein klirrendes Ohr.
 

„Darin sehe ich aus wie eine graue Wurst!“
 

„Du siehst schön aus darin. Warm und warm und warm und warm“, flüsterte Justin zurück.
 

„Du manipulativer Schleimer!“ erwiderte Brian.
 

Justin lachte leise auf und strich durch sein schneefeuchtes Haar.
 

„Wie geht’s Gus?“ fragte er.
 

Ohne hinschauen zu müssen, wusste er, dass Justins Züge sich verdüsterten.
 

„Nicht gerade wunderbar. Ich überschütte ihn mit Zuneigung und erzählen ihm von morgens bis abends, wie sehr sein Papa ihn vermisst.“
 

„Das stimmt ja auch“, sagte Brian gedrückt.
 

„Ich weiß. Mehr als ich in Worten ausdrücken kann.“
 

„Wer ist bei ihm?“
 

„Deine Mutter. Sie hat Quartier im Gästezimmer bezogen.“
 

„Oh weh… wenn sie wüsste, dass dort Deine Eltern…“, er schlug den Kiefer zu. Aber es war zu spät.
 

„Brian?“ kam von Justin in einem sehr merkwürdigen Tonfall.
 

„Ja…?“
 

„Ich habe mir das nicht bloß im Drogenrausch eingebildet, nicht wahr?“
 

„Nein, wohl nicht.“
 

„Scheiße!!! Warum hast du mir das nicht gesagt!“
 

„Ich hab es deiner Mutter versprochen. Mist.“
 

„Aber ich bin dein Mann!“
 

„Na und? Hat sie etwa kein Recht auf Sex? Und du hast ziemlich deutlich klar gemacht, dass eine derartige Erkenntnis deine Potenz für immer in den Abgrund reißen werde. Das konnte ich nun wirklich nicht befürworten.“
 

„Aber mit… Papa!!!“
 

„Ich will dir ja nicht zu nahe treten – aber rate Mal, wie du auf die Welt gekommen bist.“
 

„Igitt! Mich hat der Klapperstorch gebracht!“
 

„Bestimmt nicht. Den hättest du in Cranberry-Soße mariniert und aufgefressen.“
 

„Schmeckt Storch?“
 

„Wenn du kochst, schmeckt selbst Stinktier.“
 

„Ja“, sagte Justin mit einem gemeinen Grinsen, das Zentner von Brians Seele zu heben schien, „das habe ich eingehend bewiesen.“
 

Brian zog ihn an sich und drückte ihm einen Kuss auf die Augenbraue. „Du verkraftest das… mit deinen Eltern?“
 

„Die Erinnerung ist dank des Dopes ziemlich verschwommen. Ich werde es überleben.“
 

„Hauptsache dein Schwanz überlebt das!“
 

„Du bist so rührend… Wie war‘s beim Psycho-Coaching?“
 

„Superklasse. Ich bin ein so edles Exemplar der menschlichen Spezies. Ich liebe meine Familie! Ich bin immer ehrlich, aufrecht und auf den Weltfrieden bedacht! Und ich ficke keine minderjährigen Twinks in Flanellhemden!“
 

„Das will ich auch schwer hoffen!“
 

„Damit warst du gemeint.“
 

„Ich hatte kein Flanellhemd an!“
 

„Sowas von!“
 

„Seit wann stehst du auf Typen in Lesbentracht?“
 

„Meine weiche Seite… Weil du auch in einem Kartoffelsack heiß gewesen wärst?“
 

„Manchmal bist du echt süß.“
 

„Jaja, jetzt wartest du doch nur darauf, dass ich mich wegen „süß“ aufrege, oder? Vergiss es, du bist durchschaut! Finde mich doch süß! Mir doch egal! Da steh ich drüber!“ sagte Brian und seine Augen glänzten befreit.
 

„Süß!“ hauchte Justin enervierend. „Süß! Süß! Süß! Zuckersüß! So niedlich!“
 

„Nix da, für niedlich bist du zuständig!“
 

„Ich bin nicht niedlich!“
 

„Nein, überhaupt nicht… blondes Wuschelhaar, ganz zufällig ein wenig auf Halbmast, Stupsnäschen, blaue Unschuldsaugen, mit denen du rumkullerst, Teint wie Porzellanpüppchen… ich würde es ja fast glauben, wenn ich dich leider nicht so gut kennen würde. Da drin“, sagte Brian und legte ihm eine Hand vor die Brust, „bist du nicht niedlich.“
 

Justin beugte sich zu ihm: „Was dann? Was bin ich dann?“
 

„Wie Bambi mit einer Kettensäge“, sagte Brian Im Tonfall höchster Aufrichtigkeit.
 

„Wie schmeichelhaft.“
 

„Wie der weiße Hai, gespielt von Meg Ryan!“
 

„Ich platze fast vor Begeisterung.“
 

„Wie Clint Eastwood in einem Bollywood-Musical.”
 

Justin lachte laut auf. Trotz der ganzen Scheiße. Er lachte.
 

Und Brian konnte nicht anders. Für einen kurzen Moment fiel alles von ihm ab.
 

Justin beugte sich zu ihm herab. „Du Blödmann“, flüsterte er in Brians Haar. „Du Blödmann.“
 

Brian fasste es als Kompliment auf.
 

„Was soll eigentlich dieser ganze Retro-Fernseh-Scheiß hier?“ fragte er.
 

„Ich hab‘ nen Film mit gebracht.“
 

„Was denn? Das Texas-Kettensägenmassaker? Danach wäre mir jetzt.“
 

„Nicht ganz, aber fast.“
 

„Was dann?“ fragte Brian neugierig.
 

„Dirty Dancing“, sagte Justin.
 

Einige Dinge starben nie.
 

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„Justin?“
 

„Ja?“
 

„Nimm doch bitte deine Füße vom Sofa.“
 

Ein Teil von ihm wollte explodieren. Das hier war sein verschissenes Zuhause. Wenn er seine Füße aufs Sofa legen wollte, dann wollte er das gefälligst auch tun! Aber das da war Brians Mutter. Die ihm einen ordentlichen Schaden verpasst hatte.
 

Stumm setzte er seine Füße zu Boden und lehnte sich wieder an. Im Fernsehen lief eine Reportage über den Gebrauch von Landminen. Joan hatte das Programm genau durchforstet, Kreuze neben den Sendungen gemacht, die infrage kamen. Keine seichte Unterhaltung. Das kam ihr nicht ins Haus. Auch nicht in sein Haus.
 

Zugegebenermaßen war Joan eine große Hilfe. Mit absoluter Disziplin hielt sie den Hausstand auf Vordermann. Justin befürchtete, dass die Putzfrau ein mittleres Traume erlitten haben dürfte, als Joan sie sich ihr vorgeknöpft hatte. Aber seitdem war es in der Tat alles ein wenig sauberer noch. Gus wurde mit scharfem Blicke umsorgt und gepflegt. Aber es war nicht maschinell. Joan liebte ihren kleinen Enkel wirklich, das hatte Justin begriffen. Und Gus kam ihr mit einer kindlichen Freundlichkeit und Vertrauensseligkeit entgegen, die sie erweichten.
 

Dennoch war sie ganz und gar kein einfacher Umgang. Wie mochte sie wohl gewesen sein, bevor sie ein wenig aufgetaut war? Justin konnte es sich schlichtweg nicht vorstellen.
 

Joan starrte konzentriert auf den Bildschirm.
 

Achtzehn Jahre Joan… Nein, Brian war wirklich nicht zu beneiden.
 

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„Guten Morgen, Brian“, sagte Lance gelöst, als er in das weiträumige Büro des Chefs von Kinnetic trat.
 

Brian trug einen grauen Anzug, der passgenau auf seine Figur geschneidert war. Distanziert und verheißungsvoll. Er konnte sich nur ausmalen, was für ein Körper sich darunter verbarg.
 

Brian war gleichfalls etwas grau im Gesicht, aber er lächelte geschäftsmäßig.
 

„Lance!“ sagte er und schüttelte ihm die Hand. „Schön Sie zu sehen.“
 

„Aber immer gerne, Brian“, erwiderte Lance.
 

„Und?“ fragte er erwartungsvoll. „Konnten Sie sich entscheiden?“
 

„Noch nicht ganz. Eine Expansion Kinnetics in diesem Maße wäre ein Unterfangen, das nicht mit der bisherigen Struktur und Ausrichtung meiner Firma zu verbinden ist. Wir müssten in einem hohen Maße umdisponieren, um ihrer Anfrage nachkommen zu können.“
 

„Ich habe Sie bisher als einen Mann der Tat kennengelernt. Dass Sie das Risiko scheuen, kann ich Ihnen nicht glauben.“
 

Brian schüttelte den Kopf: „Nein, gewiss nicht. Aber meine Prioritäten liegen nicht nur bei meiner Firma.“
 

„Sie denken an ihren Sohn?“
 

„Ja“, antwortete Brian langsam, „das auch. Aber wenn ich es mir recht überlege, ist Ihr Angebot doch ausgesprochen verlockend. Vielleicht sollten wir das noch etwas näher vertiefen…“
 

Lance lächelte erfreut. „Ich wusste doch, dass Sie Ihre Chancen zu nutzen wissen!“
 

„Oh“, lächelte Brian zurück, „das tue ich. Vielleicht sollten wir das in den kommenden Tagen in einem etwas… privateren Rahmen besprechen?“
 

„Das hört sich wundervoll an, Brian!“
 

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„Ted?“
 

„Ja, Brian?“ antwortete der Angesprochene abgelenkt, während er sich durch die aktuellen Transaktionslisten grub.
 

„Du hast doch bei unserem vorweihnachtlichem Dinner neben Mr. Whinefourt gesessen, oder?“
 

„Mmm, ja habe ich.“
 

„Hast du ihm rein zufällig von Gus erzählt?“ Brian lehnte mit düsterem Blick am Türrahmen von Teds Büro und hatte die Hände in die Anzugstaschen gesteckt.
 

„Nein, warum sollte ich?“ fragte Ted, immer noch nicht hochblickend.
 

„Oder hast du mitbekommen, dass er mit irgendjemand anderem über meine familiären Angelegenheiten gesprochen hat?“
 

„Mr. Whinefourt hat bisher lediglich mit uns beiden und Cynthia im geschäftlichen Kontext eingehend gesprochen. Und du kennst ja Cyn, kein Wort zu Sachen, die niemanden etwas angehen. Warum fragst du?“
 

„Wer war noch an den Gesprächen beteiligt?“
 

„Außer uns? Jensson vom Art Departement? Aber da waren wir dabei. Von den Mitarbeitern weiß doch eigentlich kaum einer, wie du lebst. Die glauben wahrscheinlich, du haust nach Ladenschluss im Inneren eines Vulkans.“
 

Brian ignorierte die letzte Bemerkung. „Mr. Whinefourt hat also von keinem von uns im Rahmen irgendeiner zwanglosen Plauderei erfahren, dass ich einen Sohn habe?“
 

„Nein, von uns weiß er das nicht. Wieso fragst du überhaupt? Whinefourt hat mich ein wenig zu Justin gelöchert, aber das war’s. Über Gus haben wir nicht geredet – aber Gus ist doch auch kein Staatsgeheimnis.“
 

Brian legte den Kopf schräg. Bisher wussten von der Untersuchung des Sozial- und Jugendamtes nur die unmittelbar Betroffenen. Zu denen Ted nicht gehörte. „Und was hast du ihm bitteschön über Justin gesagt?“
 

„Nur, dass ihr gerade geheiratet hattet. Aber das hattest du ihm doch selbst schon klar gemacht? Der war wohl scharf auch dich, aber du hast es ihm ja recht deutlich gezeigt, wer dich in kalten Winternächten zu wärmen hat.“
 

„Danke Ted, zurück an die Arbeit, ich hab‘ noch einen Termin. Wir sehen uns Morgen.“
 

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Die Nacht hatte sich über Pittsburgh gesenkt. Brian saß auf dem Sofa des Lofts und starrte nachdenklich George das Meerschweinchen an, das ihn mit seinen künstlichen Knopfaugen vom Beistelltisch aus anstarrte.
 

Seines Erachtens war die erste Sitzung bei Dr. Renolds, dem zuständigen psychologischen Gutachter, hoffnungsgebend verlaufen. Vanessa Arsten hatte ihn gut vorbereitet, wie er elegant mögliche Klippen zu umschiffen hatte. Und darin, sich selbst in ein gutes Licht zu rücken, war er ja auch nicht gerade ungeübt, zumindest im offiziellen Kontext. Aber es stank ihm dennoch gewaltig, sein Innenleben – oder vielmehr Teile davon – gezwungenermaßen vor einer wildfremden Person ausbreiten zu müssen. Dankenswerter Weise ging es dabei jedoch nicht darum, wirklich etwas über sich zu erfahren – dafür waren andere zuständig, allen voran er selbst – sondern darum, diesen verdammten Dreck möglichst rasch und unbeschadet hinter sich zu bringen.
 

„Nun George“, sagte er. „Was hältst du von dieser Sache?“
 

Erwartungsgemäß erwies sich George weniger als Redner vom Format eines Demosthenes, sondern überzeugte eher mit seinen Qualitäten als Zuhörer.
 

„Ja, ich weiß“, setzte Brian an, „vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten. Vielleicht wittere ich jetzt schon hinter jeder Hausecke Verrat. Ein ausgewachsener Verfolgungswahn würde mein Bouquet doch formschön abrunden, oder? Aber egal, Hauptsache, ich sehe gut dabei aus. Und das scheint unser guter Kumpel Lance ja auch so zu sehen, oder? Naja… wer nicht. Die Frage ist nur… wie sehr? Würde dieser Koschetten-Prinz wirklich soweit gehen? Was meinst du?“
 

George starrte ihn weiterhin folgsam an.
 

„Und woher soll er den ganzen Kram bitte wissen? Aber es gibt immer Mittel und Wege… Eigentlich nicht besonders schwer, besonders wenn man derart viel Zaster hat wie Lancilein und bestimmt liebe Freunde an jeder Ecke, die einem gerne weiterhelfen… Es könnte sein… aber ich weiß es nicht. Was machen wir denn da?“
 

George schwieg erwartungsvoll.
 

„Das Angebot mit der Expansion und den beiden Kampagnen… auch irgendwie fast zu viel des Guten, oder? Da müsste ich doch glatt von hier fort. Oder rund um die Uhr ackern, dass ich gar nicht mehr nach Hause käme, selbst wenn Vater Staat mir das wieder erlauben sollte. Und Ted käme aus dem Schwitzen auch nie wieder raus, wenn er dann die Einkünfte zu verwalten hätte. Da gäbe es ordentlich was abzusahnen… wäre doch eigentlich schade drum, was?“
 

Er pausierte kurz und nahm George in die rechte Hand, um ihn sich direkt vor die Nase zu halten: „Ich verrate dir mal was… Mit Speck fängt man Mäuse… verstehst du nicht? Mit Mohrrüben fängt man Meerschweinchen? Ah, ich sehe, jetzt begreifst du.“
 

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Es rumpelte an der Tür.
 

Justin schoss aus einem leichten Schlummer empor.
 

„Papa…?“
 

„Komm rein, Gus!“ rief Justin und rappelte sich auf.
 

Gus kam auf nackten Füßen ins Schlafzimmer getapst. „Ich hab‘ ganz schlimm geträumt“, schluchzte er und warf sich neben Justin auf die viel zu breite Matratze.
 

Justin rollte zu ihm hinüber und zog ihn an sich. „Ist ja gut, Gus. Ich bin hier, siehst du?“
 

Gus murmelte etwas leise und schlang seine Arme um Justin. Das Gewicht des Kindes lastete schwer auf ihm, dennoch entspannte ihn die Nähe etwas. Es war beschissen, alleine zu schlafen.
 

„Ich hab geträumt“, weinte Gus, „dass wir alle zu Hause waren. Im alten Haus bei Mama und Mama. Sie waren auch da und Jenny. Ich habe gespielt, mit Lego. Draußen war ein Gewitter. Mama Lindsay hat gesagt, dass ich mich nicht zu fürchten brauche, denn wir seien ja Drinnen. Und dann ist das Licht ausgegangen. Da habe ich dann doch Angst bekommen, nicht weil es dunkel war, ich bin ja kein Baby mehr, sondern weil niemand etwas gesagt hat. Ich bin hinüber zum Lichtschalter und habe es wieder angestellt. Aber alle waren weg. Ich bin durch das ganze Haus gelaufen, aber es war niemand mehr da. Dann ist Mrs. Lennox gekommen und hat gesagt, dass ich jetzt mit ihr kommen müsse, weil alle gestorben seien…“
 

Justin schaukelte ihn beruhigend ein wenig hin und her, auch wenn dieser Traum ihn selbst ebenfalls mit Grauen erfüllte. „Du hattest einen Alptraum, Gus“, flüsterte er. „Aber es war nur ein Traum, okay? Ich bin da. Oma Joan ist da. Und Papa kommt bald nach Hause, ja?“ Wehe, wenn nicht. Dann würde er nicht eher ruhen bis…
 

„Wann?“ bohrte Gus.
 

„Bald…“
 

„Wann bald?“ verlangte Gus zu wissen.
 

Justin schloss gequält die Augen. „In ein paar Wochen, hoffe ich“, antwortete er, wohl wissend, dass das für Gus gleichbedeutend mit einer Ewigkeit war.
 

„Das ist zu lange! Ich will Papa!“ heulte Gus.
 

„Ich auch, Gus… Aber wir müssen warten…“
 

„Warten ist doof!“
 

„Ja, Gus. Ich finde Warten auch total doof.“
 

„Doof! Doof! Doof!“ wiederholte Gus, während er langsam wieder ins Land der Träume fort sank.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  brandzess
2011-09-02T15:16:41+00:00 02.09.2011 17:16
na also! rian ist diesem elendigem Idioten (ich habs mal nett vormuliert^^) auf der schliche! weiter so!


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