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Die Seele der Zeit

Yu-Gi-Oh! Part 6
von

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Kein Entkommen

Kein Entkommen
 

Langsam brach die Nacht über Men-nefer herein. Während sich der Himmel allmählich zu einem dunklen Blau verfärbte, malten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ein kräftiges Rot an den Rand des Firmaments.

Kisara stand an dem kleinen, vergitterten Fenster, das zu ihrem Gefängnis gehörte. Die Arme hatte sie zum Schutz vor der kalten Luft, die herein drang, eng um den Körper geschlungen. Dennoch fröstelte sie. Am vorigen Tag hatte sie die zahllosen Soldaten auf den Straßen deutlich hören können. Es bestand kein Zweifel: Caesian hatte seine Truppen zusammengezogen und war aufgebrochen. Wohin wusste sie nicht. Doch ihr war klar, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hatte. Sie seufzte und schloss die Augen. Es war, als hätten die Götter ihn zur Strafe geschickt. Wie vor langer Zeit einst die Göttin Hathor, die sich am Blut der Menschen gelabt hatte, nachdem diese Ra abtrünnig geworden waren.

Ihre Gedanken wanderten zu Seto. Scheinbar hatte Caesians Plan keinen Erfolg gehabt. Der Hohepriester war bislang nicht in der Stadt erschienen, daran glaubte sie fest. Ansonsten hätte man sie in der Zwischenzeit aus diesem Zimmer geholt, beispielsweise um ihm zu zeigen, dass all dies nicht erlog war, dass sie wirklich lebte – oder um sie zu beseitigen, weil sie ihren Zweck erfüllt hatte. Da es bisher nicht dazu gekommen war, ging sie davon aus, dass sie richtig lag. Ein Gedanke, der sie mehr als beruhigte. Das bedeutete nämlich, dass er den Klauen dieses Monsters noch nicht zum Opfer gefallen war. Sie konnte nur hoffen, dass es dabei blieb und er sich nicht von seinen Gefühlen, sondern von seinem Pflichtbewusstsein treiben ließ.

Wobei ... Wer sagte denn, dass er sie überhaupt noch liebte? Es war einige Zeit seit ihrem Tod vergangen. Wäre es da nicht möglich, dass er sein Herz inzwischen einer Anderen geschenkt hatte? Hatte er vielleicht gar Kinder? Kisara ängstigte der Gedanke. Zugleich würde sie es ihm um nichts in der Welt verübeln. Wenn er glücklich war, war das gut. Sie war tot gewesen, daran gab es nichts zu rütteln. Sie hätte nicht gewollt, dass er den Rest seines Lebens in Trauer verbrachte. Wenn ihre Überlegungen zutrafen, dann würde sie damit leben können. Doch im Augenblick wollte sie nichts mehr, als an seiner Seite sein, sich vergewissern, dass ihm niemand geschadet hatte.

Darüber hinaus wollte sie ihn nicht in Schwierigkeiten bringen – etwas, das nach wie vor eintreten konnte. Ja, Kisara hatte nie viel Selbstvertrauen gehabt, doch irgendetwas sagte ihr, dass Seto – gleich ob inzwischen vermählt oder nicht – sie nicht länger als nötig in Caesians Händen lassen würde. Denn wenn sie schon nichts anderes waren, dann waren sie wenigstens Freunde. Sie war eine seiner Schwachstellen und diesen Umstand musste sie, so schnell es ihr möglich war, ändern.

Deshalb hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie würde das Wagnis eingehen und versuchen, in der heutigen Nacht zu fliehen. Ihr war bewusst, dass dieses Unterfangen ohne eine Ka-Bestie nicht leicht werden würde, doch sie musste es wenigstens probieren. Sie konnte nicht einfach nur tatenlos herumsitzen und darauf hoffen, dass jemand kam und sie befreite, wenn so viele andere Menschen da draußen waren und Caesian tapfer die Stirn boten. Sie hatte lange überlegt, wie sie es anstellen konnte und hatte schließlich entschieden, dass die wenigen Augenblicke, in denen sich abends die Türe öffnete, wenn ihr jemand Brot und Wasser brachte, die einzige Chance waren, die sie nutzen konnte.

Was sich allerdings problematisch gestalten könnte, war der Umstand, dass die Wache, die ihr Nahrung brachte, zumeist nicht mehr als ein, zwei Schritte in den Raum hinein trat, ihr das Essen auf dem Boden abstellte und sofort wieder verschwand. Sie würde also schnell sein müssen, wenn sie ihn überlisten wollte. Doch das sollte zu schaffen sein. Was ihr an Kraft fehlte, glich sie durch Wendigkeit und schnelle Beine aus.

Doch genau hier hatte das Problem zunächst gelegen. Ja, sie war flink, aber wie konnte sie einen geübten Soldaten überrumpeln? Sie hatte das Zimmer akribisch abgesucht, doch man hatte darauf geachtet, was man ihr hinein stellte. Es gab nichts, das sie als Waffe hätte benutzen können. Dann war ihr der Einfall gekommen, das einzig wirklich Gefährliche in diesem Raum zu gebrauchen: Auf dem kleinen Tisch neben dem Bett stand eine Kerze. Kisara hatte sie in den letzten Nächten so geformt, dass sich möglichst viel Wachs in ihrem Kelch sammeln würde. Sie hatte vor, die heiße Flüssigkeit auf den nichts ahnenden Wachmann zu schütten, sobald er hereinkam, und dann den Augenblick der Überraschung zu nutzen, um an ihm vorbei zu huschen. Anschließend würde sie einen Weg aus dem Palast herausfinden müssen, ohne gleich wieder aufgegriffen zu werden – was wohl den schwierigsten Teil ihres Unterfangens darstellte. Zum einen kannte sie die gewaltige Anlage nicht, zum anderen würden ihr dutzende Soldaten auf den Fersen sein. Sie wusste, dass sie Wahrscheinlichkeit, dass sie scheiterte, erdrückend hoch war. Und dennoch musste sie es versuchen.

Schritte auf dem Flur vor dem Gemach, in dem sie eingeschlossen war, rissen sie aus den Gedanken. Es war Zeit. Eilig huschte Kisara zu der Kerze hinüber, die sie schon vor einiger Zeit mit zwei kleinen Feuersteinen entfacht hatte. Man hatte sie in ihrem Gefängnis belassen, damit sie nachts nicht im Dunkeln sitzen musste. Behutsam hob sie das lichtspendende Stück Wachs von dem Untersetzer, auf dem es steckte und tapste zur Tür hinüber. Sie drückte sich an die Wand direkt neben der Klinke und lauschte. Die Schritte kamen näher, dann hörte sie Stimmen. Es war immer die Wachablösung, die ihr Essen brachte. Gewöhnlich ließen sich der, der seine Schicht antrat, und jener, der sie bereits hinter sich hatte, einen Moment zum Plaudern, ehe sie sich trennten, einer seiner wohlverdienten Ruhe entgegen, der Andere nach dem Schlüssel kramend, um die Tür aufzuschließen, die sie gefangen hielt. Heute fühlten sich diese wenigen Augenblicke belanglosen Geplänkels an wie eine Ewigkeit. Kisaras Herz raste. Sie hatte nur diese eine Chance. Sie musste es schaffen. Sie musste diesem Ort entrinnen und Seto finden, um jeden Preis. Sie zwang sich zur Ruhe. Nervosität würde ihr nicht nützen – und dennoch vermochte sie nicht, sich gänzlich zu beruhigen. Es stand zu viel auf dem Spiel.

Dann endlich hörte sie, wie sich die beiden Männer draußen voneinander verabschiedeten. Kurz darauf erklang das Klimpern von Schlüsseln an einem Bund, die gegeneinander schlugen. Jeden Moment würde das Schloss geöffnet, die Tür aus dem Rahmen gedrückt werden. Ein Mann würde im Durchgang erscheinen – und dann musste sie schnell sein.

Dann geschah alles ganz plötzlich. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür schwang auf und herein kam der Wachmann mit einem Tablett. Kisara zögerte nicht. Ehe er sie bemerkt hatte, hatte sie ihm bereits das heiße Wachs aus dem Kerzenstumpf ins Gesicht gespritzt. Der Mann jaulte vor Schmerzen auf, ein Teil der rasch erstarrenden Flüssigkeit verklebte seine Augen, während die junge Frau an ihm vorbeisprang und den Flur hinab hastete.

Das Tapsen ihrer nackten Füße auf dem steinernen Boden hallte von den Wänden wieder. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks hielt sie am Ende des Ganges inne, um sich zu orientieren, dann rannte sie nach links. Sie glaubte, aus dieser Richtung einen schwachen Luftzug gespürt zu haben – das bedeutete, irgendwo dort gab es einen Ausgang. Sie setzte ihren Weg fort, entschlossen, das Stechen in ihren Seiten ignorierend. Sie wusste, dass sie noch längst nicht in Sicherheit war, doch schob den Gedanken beiseite. Es musste funktionieren.

Eine weitere Gabelung wartete am Ende des Korridors auf sie. Auch hier nahm sie sich einen Moment, um sich zurecht zu finden. Dann entdeckten ihre Augen, wonach sie gesucht hatte: Zur ihrer Rechten, an der Stirn eines langen Flures, war ein Fenster. Sie überlegte nicht lange und sprintete darauf zu. Noch war die Zeit auf ihrer Seite. Doch das würde sie nicht ewig so sein. Bald würde sich der Wachmann von ihrem Angriff erholt haben und andere Soldaten benachrichtigen. Dann würden die Besatzer ihr, und ihr allein auf den Fersen sein.

Sie erreichte das Ende des Ganges und kam schlitternd zum Stehen. Als sie hinaus blickte, erstreckte sich nicht, wie erhofft, der Vorhof des Palastes unter ihr. Stattdessen wiegten sich dort die Palmen des Palastgartens in der abendlichen Brise. Ihr wurde klar, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie hier herauskommen sollte. Nie zuvor hatte sie die gewaltigen Anlagen, die dem Pharao, seinem engsten Kreis und seinen Bediensteten vorbehalten waren, je betreten. Aber sie konnte hoffen – hoffen, dass dieser Garten irgendwo an eine der Außenmauern des Geländes grenzte.

Als sie laute Stimmen irgendwo in dem Labyrinth aus Korridoren hinter sich vernahm, überlegte sie nicht mehr länger. Sie befand sich gerade einmal einen Flur über dem Boden. Sie setzte sich auf die Fensterbank, schwang ihre Beine darüber und sprang hinab. Sie landete auf der satten, grünen Grasfläche darunter. Der Aufprall verletzte sie nicht, ließ sie aber dennoch kurz gequält aufkeuchen. Schnell rappelte sie sich auf und sah sich um. Nirgendwo war auch nur eine Menschenseele zu sehen. Doch die Stimmen aus dem Palast wurden lauter, zahlreicher. Die Palastwachen wussten von ihrer Flucht. Sie musste sich verstecken, ehe sie entdeckt wurde. Sie erspähte einen großen Hibiskusbusch, der im Schutz einer Dattelpalme deren Stamm umwucherte, und eilte hinüber. Schnell verschwand sie darin und kauerte sich gegen den Baum. Sie konnte nur beten, dass ihr weißes Haar sie im Licht des Mondes nicht verraten würde.

Unruhig wanderten ihre Augen umher. Sie musste einen Weg finden, hier herauszukommen. Doch alles, was sie zu sehen vermochte, waren das Grün der Gartenanlagen und das Ocker der sie umgebenden Sandsteinmauern, deren Farben unter dem nächtlichen Himmel an Kraft verloren hatten. Ihr Blick fiel auf die Freigänge, die an den Rändern der Gärten verliefen. Sie mussten irgendwo hinführen. Doch sie würden ihr keinen Schutz bieten – wenn sie auf einen Wachtrupp stoßen sollte, war es aus.

Sie zuckte zusammen, als zwei Stimmen ganz in ihrer Nähe erklangen.

„Hast du sie?“, zischte eine von ihnen.

„Nein. Es ist, als habe sie sich in Luft aufgelöst. Vielleicht stimmt, was man über sie sagt, dass sie kein normaler Mensch ist …“, erwiderte eine Zweite.

Eilige sah sich Kisara um – und entdeckte die beiden Wachen. Sie standen in einem der Freigänge. Ihrer Aussprache nach zu urteilen, handelte es sich bei einem von ihnen um einen Ägypter, während der Andere denselben schweren und gänzlich fremden Akzent hatte, wie viele der Besatzer, wenn sie die Zunge dieses Landes verwendeten.

„Hör auf Unsinn zu reden und mach dich gefälligst nützlich! Wir müssen sie finden, ehe seine Hoheit von ihr erfährt. Caesian wäre darüber alles andere als erfreut, er würde uns wahrscheinlich köpfen lassen! Setz‘ die Anderen am Haupttor in Kenntnis, sie sollen ihren Arsch hier rüber schwingen und uns helfen!“

„Aber wenn das Tor unbewacht ist, könnte sie entkommen.“

„Das Weib will ich sehen, das vermag, dieses Tor alleine zu öffnen. Lass meinetwegen zwei von ihnen zurück, aber setz‘ dich endlich in Bewegung, verdammt nochmal! Wir haben keine Zeit, begreifst du das nicht?“

Sie sah, wie der Erste seinem Kumpanen einen kräftigen Stoß gab, woraufhin dieser dann tat, wie ihm gesagt worden war. Er eilte davon, so schnell ihn seine Beine trugen – und offenbarte der im Gebüsch kauernden Kisara damit den Weg, den sie einschlagen musste, um aus der Palastanlage zu fliehen. Der Andere verschwand ebenfalls. Die junge Frau machte sich so klein wie möglich und überlegte. Zwei Wachen würden am Tor auf sie warten. Was hatte sie diesen entgegen zu setzen? Nichts. Doch je länger sie hier verweilte, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie entdeckt wurde. Sie hatte gehört, wie einer der Männer gemeint hatte, es gäbe Gerüchte über sie, welche, die besagten, dass sie keine gewöhnliche Frau wäre. Vielleicht konnte sie sich die Angst dieser Leute irgendwie zu Nutze machen. Aber wie? Der weiße Drache hatte ihre Seele lange verlassen.

Aber noch etwas beunruhigte sie. Das, was der erste Wachmann gesagt hatte.

Wir müssen sie finden, ehe seine Hoheit von ihr erfährt. Caesian wäre darüber alles andere als erfreut, er würde uns wahrscheinlich köpfen lassen!

Was hatte das zu bedeuten? Caesian hatte Kisara doch selbst einmal aufgesucht, er musste doch von ihr wissen? Hatte der Wachmann sich vielleicht nur undeutlich ausgedrückt, da das Ägyptische nicht seine Muttersprache war?

Vor Schmerz und Schreck schrie sie auf, als sie plötzlich an den Haaren gepackt und aus ihrem Versteck gezogen wurde. Sie versuchte sich nach Leibeskräften zu wehren, konnte jedoch nicht verhindern, dass sie kurz darauf zu einem der Freigänge hinüber geschleift und zu Boden geworfen wurde. Als sie aufsah, stand ein Soldat über ihr, der seine Lanze drohend auf sie gerichtet hatte. Seiner guten Bekleidung nach zu urteilen, handelte es sich um ein hochrangigeres Mitglied der Armee.

Es war aus. Sie hatte versagt.

„Sieh mal einer an, wen wir da haben. Du dachtest wohl, du könntest entkommen, wie? Dreckige, kleine Schlampe …“

Kisara schenkte seinen Worten gar keine Beachtung. Ihr Blick war auf die Spitze seiner Waffe gerichtet. Es war aussichtslos. Sie würde niemals von hier fliehen können, ganz gleich, was sie auch tat. Nun bot sich ihr eine andere Möglichkeit. Sie brauchte sich nur nach vorne stürzen, sich in das Metall werfen. Dann würde sie in die Unterwelt, in dieses Leben, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte, zurückkehren. Caesians Druckmittel wäre dahin …

Und Seto würde leiden. Vielleicht, gewiss war sie sich dessen nicht. Doch alleine der Gedanke, dass sie der Grund dafür sein könnte, vertrieb die Gedanken an den Freitod augenblicklich. Nein, sie durfte nicht aufgeben. Sie mochten sie diesmal erwischt haben, doch sie würde ihren Klauen entrinnen. Irgendwie. Irgendwann.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als der Soldat sie grob am Arm packte und auf die Beine zog. „Los jetzt, bringen wir dich dahin zurück, wo du hingehörst“, sagte er mit deutlicher Wut in der Stimme, die diesen allgegenwärtigen, fremden Akzent noch verstärke, der auch bei ihm deutlich herauszuhören war.

Sie gehörte nicht in dieses Zimmer, diese Zelle! Sie wehrte sich, versuchte dem eisernen Griff des Wachmannes zu entkommen. Er wurde ihres Verhaltens bald müde. Abrupt ließ er sie los, holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Erneut fand sie sich auf dem Boden wieder. Als die erste Benommenheit vorüber war, spürte sie, wie warmes Blut ihre Wange hinab rann. Er hatte ihr eine Platzwunde über dem rechten Auge zugefügt. An seinem Tonfall hörte sie, dass er nun erst recht wütend war.

„Komm endlich, du abscheuliches …“

„Was geht hier vor sich?“

Der Soldat verstummte ob der neuen Stimme augenblicklich und fuhr herum. Kisara wusste nicht, weshalb. Sie hatte die Worte nicht verstanden, waren sie doch in dieser ihr fremden Sprache gesprochen worden, die Caesian mit ins Land gebracht hatte. Dennoch wandte auch sie sich nach dem Sprecher um – und erstarrte. Vom anderen Ende des Freiganges her kam eine Gestalt auf sie zugeschritten. Ihrer Stimmlage nach handelte es sich um einen Mann. Er trug lange, weiße Gewänder, die seinen gesamten Körper verbargen und aufwendig, jedoch nicht übertrieben bestickt waren. Auf seinem Gesicht saß eine metallene Maske. Die Augen waren das Einzige, was er von seinem Körper preisgab. Er wirkte wie ein Wesen aus einer anderen Sphäre.

„Euer Hoheit? Was tut Ihr zu solch später Stunde noch hier?“, hörte sie den Soldaten in dieser ihr unbekannten Sprache fragen.

„Ich gehe spazieren. Und was seid Ihr im Begriff zu tun, Hauptmann?“ Der Blick des Maskierten wanderte zu der zierlichen Gestalt Kisaras, die mit Angst in den Augen zurückblickte.

„Majestät, es handelt sich bei ihr um eine Kriegsgefangene. Sie hat an der Seite der Ägypter Schreckliches in diesem Krieg getan.“

Taisans Augen verweilten noch eine Weile auf der jungen Frau, ehe er sich wieder dem Wachmann zuwandte. „Um welche Verfehlungen handelt es sich dabei?“

Sein Gegenüber reagierte schnell. Caesian hatte gewusst, weshalb er diesem Mann aufgetragen hatte, dafür zu sorgen, dass sein Bruder keinen Verdacht schöpfen würde. „Sie ist zur Wirkung von Magie fähig. Den besten Magiekundigen seiner Majestät ist es jedoch gelungen, sie zu bändigen. Sie hat versucht zu fliehen. Ich versichere Euch, ich bin lediglich so mit ihr verfahren, wie es die Situation gebot.“

„Und ihre Schuld ist erwiesen?“

„Gewiss, euer Hoheit.“

„Wer stellte sie fest?“

„Jene, die der Zauberei mächtig sind, euer Gnaden.“

„Und wer sind diese Magier, von denen Ihr sprecht?“

Der Soldat wurde unruhig. Er hatte nicht mit derart eindringlichen Fragen gerechnet. Taisan war gewiss für seine klugen, spezifischen Erkundigungen bekannt – dass er jedoch derartig neugierig sein würde, daran hatte er nicht geglaubt. Ach was, er hatte noch nicht einmal daran geglaubt, überhaupt in so eine Situation zu kommen! Dieses verfluchte Weibsbild! Er konnte keine Namen nennen, nicht wenn er nicht garantieren konnte, dass die betreffenden Personen noch rechtzeitig von einer solchen Lüge unterrichtet wurden, ehe der Maskierte sich direkt an sie wandte.

„Das … ist mir nicht bekannt, mein König.“

Taisans Blick bohrte sich in den seinen. Nicht drohend, nicht gebietend, sondern forschend. „Wie könnt Ihr Euch dann sicher sein, dass die Wahrheit über sie gesprochen wurde? In dieser Welt sind die Menschen schnell mit ihren Urteilen. Glaubt nie etwas, das Ihr nicht mit eigenen Augen gesehen habt, mein Guter.“

Der Soldat schluckte – und spielte seine letzte Karte aus. „Das, was ich wiedergebe, Majestät, ist die Einschätzung Eures hochwohlgeborenen Bruders, seiner Hoheit König Caesians. Und dieser vertraue ich. Impliziert Ihr etwa, dass wir, die bereit sind für Seine Gnaden unser Leben zu lassen, seinem Urteil nicht vertrauen können? Denkt Ihr etwa, es geht hier nicht mit rechten Dingen zu?“

Es herrschte angespanntes Schweigen, während Taisans Augen noch einmal zu Kisara wanderten, die noch immer am Boden kauerte. Als er schließlich sprach, wirkten seine Worte in der Stille wie Fanfaren.

„Nein. Verzeiht, ich gedachte nicht, Euch zu verunsichern, Hauptmann. Eure Loyalität ist lobenswert. Ihr habt natürlich Recht. Mein Bruder wird wissen, was er tut.“

Der Soldat verbeugte sich tief. „Ich danke Euch, mein Herr. Erlaubt Ihr mir, sie nun hinfort zu bringen?“

Taisan zögerte einen Augenblick, dann nickte er. „Gewiss.“

Er sah zu, wie der Hauptmann sich erneut verbeugte und die Frau auf die Füße zog, ehe er sie den Freigang hinab und um eine Ecke zerrte. Sie wehrte sich vergebens.
 

Die Nacht war bereits weit fortgeschritten. Es würde nicht mehr lange dauern und der neue Tag würde sich erheben. Und dennoch fand er keine Ruhe.

Seit geraumer Zeit wälzte sich Seto nun schon hin und her. Es gelang ihm nicht die Gedanken zu vertreiben, die ihn quälten. Immer wieder sah er ihr Gesicht, ihre großen, blauen Augen und ihr langes, weißes Haar, das sich stets so sanft in der kühlen Brise wiegte.

Kisara …

Er war über all die Jahre seines Lebens geübt darin geworden, seine Gefühle zu verbergen. Die Anderen, seien es nun der Pharao, dessen Freunde oder Riell, konnten lediglich vermuten, was ihn ihm vorging, denn er zeigte es nicht. Doch unter der ruhigen, beherrschten Oberfläche tobte ein Orkan aus Zweifeln, Wut – und Angst. Angst, die Frau, die einfach so in sein Leben getreten war und ihm auf unerklärliche Weise so viel bedeutete, erneut zu verlieren. Seit er von ihrer Auferstehung erfahren hatte, verging kein Moment, da er nicht an sie dachte. Sie war alleine, in den Klauen einer Bestie, die mit ihr tun würde, was immer es brauchte, um ihr Ziel zu erreichen. Wer wusste, was Caesian ihr bereits angetan hatte? Es bestand kein Zweifel, dieses Monster hatte erwartet, dass Seto kommen würde, um Kisara zu retten. Ansonsten hätte er ihn nicht explizit von ihrer Wiedergeburt unterrichtet. Doch welche Auswirkungen hatte es gehabt, dass er nicht nach Men-nefer zurückgekommen war? Behielt er sie vielleicht in der Hinterhand, um sich wenigstens gegen ihn abzusichern zu können, den Hohepriester, der bis vor kurzem noch auf dem Thron des Landes gesessen hatte und im Fall von Atemus Tod wieder sitzen würde? Oder hatte er sie entsorgt, wie ein Ding, das nicht mehr von Nutzen war? Lebte sie noch – oder war sie schon tot?

Die Gedanken waren quälend, rannen wie Gift durch seine Adern und drohten, in seines Verstandes zu berauben. Mehr und mehr drängte etwas in seinem Inneren ihn dazu, auf der Stelle umzukehren. Mit jedem Schritt, den er sich von der Hauptstadt des Landes entfernte, wuchs der Drang, war schwerer und schwerer zu ignorieren. Bislang hatte er dem standgehalten, wusste jedoch nicht, wie lange er dazu noch in der Lage sein würde. Die Ungewissheit machte ihn wahnsinnig.

Sein Pflichtbewusstsein, der Eid, Ägypten zu beschützen, war alles, was ihn noch hier hielt. Doch die Kraft dieses Schwurs ließ mit jedem Sonnenlauf weiter nach. Zunehmend gebot ihm eine Stimme, anfangs leise, dann immer lauter, seinen Ängsten nachzugeben – sich ein Pferd zu nehmen und den Rückweg anzutreten, so schnell er nur konnte. Es würde kein Problem sein. Riell war da, er würde die Anderen sicher nach Theben bringen. Er kannte den Weg und war ein fähiger Mann. Und sollte es zur finalen Schlacht zwischen Caesian und dem Land kommen, er würde ohnehin nichts ausrichten können. Das hatte er schon einmal einsehen müssen. Der Einzige, der das vermochte, war der Pharao. Warum also bleiben? Wozu sich der Qual aussetzen, sie durchleiden, wenn alles, was es zur Linderung dieses unsäglichen Schmerzes brauchte, Gewissheit war?

Er kniff die Augen zusammen und schüttelte energisch den Kopf. Nein. Es stimmte, die Ungewissheit ließ ihn fast verrückt werden. Alles was er wollte, war zu erfahren, was die Wahrheit war und was nur die Ausgeburt seiner angsterfüllten Fantasien – oder ob es tatsächlich so grausam um Kisara stand, wie er sich ausmalte.

Doch er durfte, er konnte nicht zurück. Er wäre vielleicht in der Lage, das Leben eines Menschen zu retten – aber eventuell opferte er damit im Gegenzug das ganze Land. Es wäre möglich, dass er für einen Genozid in Ägypten mitverantwortlich war, wenn er nun verschwand. Caesian würde ohne Gnade jeden töten, die Freiheit verbannen und das Volk versklaven. Jeder, der zur Verfügung stand, musste sich ihm mit allen Mitteln entgegensetzen. Hinzu kam der Umstand, dass es fatale Auswirkungen haben konnte, wenn Atemu ohne den ranghöchsten Priester und bisherigen Pharao in Theben erschien. Je stärker sie wirkten, desto mehr Menschen würden sich ihnen im Kampf um die Freiheit anschließen.

Am liebsten hätte er geschrien. Die Zerrissenheit in seinem Inneren brachte ihn an den Rande des Wahnsinns. Das Einzige, was ihm noch ein wenig Ruhe bescherte, waren die Stunden, in denen er vor Erschöpfung einschlief. Doch auch sie waren geplagt von Alpträumen der schlimmsten Sorte. Sie waren da, seit er davon erfahren hatte, dass sich Kisara in den Klauen des Feindes befand – und immer waren sie bildlich, wirkten quälend real.

So wie in dieser Nacht.
 

Sein Blick lag auf dem nächtlichen Theben, über dem der Mond hell am Himmel stand. Ein zufriedenes Grinsen zierte seine Züge, wenn er nicht gerade einen Schluck aus dem Weinbecher nahm, den er in Händen hielt. Er hätte es wohl nicht zugegeben, hätte man ihn gefragt, doch er genoss den Moment der Ruhe. Wie er so hier stand, auf einem Balkon des Palastes von Theben, nach einer anständigen Mahlzeit und einem halben Krug vorzüglichen Weines, während der kühle Abendwind einen angenehmen Kontrast zu der Hitze des vergangenen Tages bildete … ja, es war erholsam. Nicht, dass er es sich nicht verdient hätte. Sein Blick wanderte zu dem göttlichen Relikt, das auf einem Beistelltisch lag. Das Licht des Mondes spiegelte sich schwach darin.

Wozu dieses Ding wohl fähig war? Er grübelte darüber nach, während er einen weiteren Zug vom Alkohol nahm. Ra wurden zahlreiche Attribute und Fähigkeiten zugesprochen. Welche Fähigkeiten er wohl in diesem Gegenstand versiegelt haben mochte?

„Gewöhne dich nicht zu sehr an den Anblick“, riss ihn plötzlich eine Stimme aus den Gedanken.

Als er sich umwandte, erkannte er, dass Mana den Raum betreten hatte. Er schnaubte. „Hat man dir nicht beigebracht, dass man anklopft?“

„Das habe ich“, erwiderte die Magierin, während sie langsam näher trat. „Aber scheinbar warst du so in Gedanken versunken, dass du es nicht gehört hast – oder du hast mich ignoriert. Eines von beiden wird wohl zutreffen.“

Sie trat an den Tisch heran und musterte das göttliche Relikt einen Moment lang, ehe sie sich wieder an Marlic wandte. „Wir haben entschieden, was damit geschehen soll. Wir werden es in den Schatzkammern verbergen. Ich bezweifle zwar, dass wir Caesian etwas vormachen können, sollte es uns nicht gelingen, ihn vor der Stadt zu halten, doch vielleicht können wir wenigstens seine Schergen täuschen, sollten sie unsere Verteidigung durchbrechen. Ich werde die Eingänge zusätzlich mit Magie verstärken, das sollte uns im Zweifel Zeit verschaffen.“

Marlic gab ein abfälliges Geräusch von sich. „Du hast ein Vertrauen in deinen Pharao … Da bekommt man ja beinahe das Gefühl, wir könnten diesen Krieg tatsächlich gewinnen.“

„Ich halte mich lediglich an die Realität. Es hilft nichts, sich etwas vorzumachen. Caesian ist eine Bedrohung, die wir ernst nehmen müssen. Alles andere könnte fatale Folgen haben.“ Sie seufzte schwer, ehe sie in einem Stuhl Platz nahm. „Zumal es seit dem Fall Men-nefers alles andere als gut für uns aussieht.“

Der ehemalige Geist musterte sie kurz, ehe er den Blick wieder zum Tal der Könige hinüber schweifen ließ, das um diese Zeit in vollkommener Dunkelheit da lag. „Ruhig Blut, Kleines. Der Kerl kriegt, was er verdient. Niemand pisst mir ungestraft ans Bein.“

Mana fand die Redewendung seltsam, zudem überaus obszön, ging jedoch darüber hinweg. Sie schwieg einen Moment, ehe sie wieder zu sprechen anhob. „Es sieht aus, als müsse ich mich wohl bei dir entschuldigen“, sagte sie schließlich. Auf Marlics verdutzten Blick hin fuhr sie fort: „Ich hatte ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass du das Relikt zurückbringen würdest. Ich hatte vielmehr vermutet, du würdest es dir unter den Nagel reißen und dann verschwinden. Immerhin hätte Samira dich nicht aufhalten können. Kiarna mag ein furchteinflößendes Monstrum für einen normalen Menschen sein, doch nicht für jemanden, dessen Ka weitaus älter und erfahrener ist. Aber du hast mich eines besseren belehrt. Scheinbar habe ich mich getäuscht, was meinen Eindruck von dir anging …“

„Hast du nicht“, unterbracht Marlic sie, ehe sie fortfahren konnte. Er nahm den letzten Schluck Wein und wandte sich dann gänzlich zu ihr um. „Ich bin ein Arschloch und verdammt stolz darauf. Aber ich bin nicht blöd. Das Ding“, meinte er mit einer Geste in Richtung des göttlichen Relikts, „verursacht vermutlich nichts als Ärger. Davon aber eine Menge. Man müsste schon gänzlich hirntot sein, um den Einsatz dieser Artefakte für eine gute Idee zu halten. Dass ich das Teil geholt habe, bevor es dieser Irre tun kann, hat nichts mit irgendeiner Sinneswandlung meinerseits zu tun. Dein Pharao steht weiterhin ganz oben auf meiner Liste zu beseitigender Personen – ebenso wie jeder, der sich mir dabei in den Weg stellt. Und selbst, wenn’s nicht so wäre, Kleines, würden wir keine Freunde werden. Dafür bin ich zu cool.“

Mana sah ihn einen Moment lang verdutzt an, dann schmunzelte sie. Kurz darauf erhob sie sich und nahm das Relikt. „Den Göttern sei Dank. Und ich hatte schon Angst, ich müsse mein Bild von dir ernsthaft überdenken. Nett, dass du mir die Mühe erspart hast.“

„Immer wieder gerne.“

Damit ging die Magierin und ließ Marlic alleine zurück, dessen Züge ebenfalls ein leichtes Schmunzeln zierte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Es hat mal wieder etwas länger gedauert, aber hier ist nun ein weiteres Kapitel. Das nächste kommt voraussichtlich erst Ende März, nachdem ich eine Hausarbeit schreiben muss (was mit Echnaton, dem Freak - macht aber trotzdem Spaß (zumindest noch, das ändert sich bei Hausarbeiten in der Regel, je länger ich daran schreibe)). Außerdem fahre ich mal für ein Weilchen in die Heimat, immerhin sind jetzt Semesterferien. Darüber hinaus will ich noch Verwandte und Freunde besuchen. Soziale Kontakte pflegen, muss auch mal sein!
Ich danke den Kommentatoren wie immer ganz herzlich für ihr Feedback und würde mich freuen, wenn ihr mir auch diesmal eine kurze Rückmeldung gebt!

Bis bald,
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