1. Juni
Gestern habe ich es nicht fertig gebracht, über die Zimmeraufteilung zu schreiben. Ich war zu aufgewühlt und zu beschäftigt damit, in Selbstmitleid zu versinken. Natürlich bin ich immer noch zutiefst deprimiert, aber ich denke, ich kann es ertragen, hust.
Schon bevor die Lehrerin hereinkam, war das einzige Thema die Zimmeraufteilung. Normalerweise kriegen die Leute aus meiner Klasse nichts gebacken, aber da gaben alle sich große Mühe, feste Zimmergruppen zu bilden, damit man mich nicht aufnehmen musste. Jeder redete wild hin und her, überall wuselte jemand herum, und ich saß mitten drin. Ich kam mir schrecklich überflüssig und fehl am Platz vor. Was soll ich in einer Welt, in der mich jeder hasst? Ich fühlte mich von allen Seiten angestarrt und überall hörte ich nur »mit dem will ich nicht auf ein Zimmer!«, als wäre ich die Unerträglichkeit in Person.
Schließlich betrat die Lehrerin den Raum. Sie schlug einen Notizblock auf und fragte nach den Zimmergruppen. Alle streckten ihre Arme so hoch, wie sie konnten und wedelten dabei heftig mit ihnen. Sie konnten es nicht erwarten, eingetragen zu sein und keinen unerwünschten Gast, also mich, bei sich zu haben.
Als alle eingetragen waren, bemerkte unsere Lehrerin: »Tobias ist aber noch übrig.«
Zuerst herrschte Stille, doch dann traute sich jemand, ein zögerliches »Na und?« zu rufen.
Man, war unsere Lehrerin sauer. Mit jedem Satz, den sie herumschrie, wie asozial die Klasse doch wäre, rutschte ich weiter meinen Stuhl herunter, in der Hoffnung, der Boden würde mich einfach aufessen. Oder so. Versteht sie denn nicht, dass sie alles nur noch schlimmer macht?
Jedenfalls habe ich immer noch keine Ahnung, wo ich auf der Klassenfahrt schlafen soll. Wahrscheinlich muss ich wirklich in den Duschen übernachten. Wie scheiße muss ich denn sein, wenn mich keine Sau auf dem Zimmer haben will? Ich will nicht mehr. Vielleicht sollte ich einfach alles beenden – ich würde der Welt einen Gefallen damit tun. Nicht einmal meine eigene Mutter will mich haben. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass ich nicht mit auf die Klassenfahrt will, weil es die Hölle werden wird, aber es war ihr egal. Sie meinte, ich solle nicht den Anderen die Schuld geben, dass ich so ein armes, von der Welt gehasstes Würstchen bin, sondern mal die Schuld bei mir suchen. Klasse. Mein Selbstwertgefühl ist im Arsch. Wenigstens ist heute Freitag und ich muss morgen nicht zur Schule...
Moment. Freitag? Komisch, meine Mutter hat gar kein Mädchen mitgebracht. Ob sie etwas Großes plant? Wahrscheinlich sucht sie sich eine ganze Truppe zusammen, und dann... schluck.
Später
Ich kann nicht schlafen. Ich will morgen nicht aufwachen und einen neuen Tag durchstehen müssen. Ich frage mich wirklich, wozu ich überhaupt lebe. Erfülle ich irgendeinen Zweck? Nein, ich glaube nicht. Andere Menschen erfüllen einen Zweck, sie bringen Andere zum Lachen, bieten ihnen eine Schulter zum Ausweinen oder sind intelligent und können Anderen damit helfen. Und ich? Ich nerve die Anderen nur, bin ihnen im Weg. Warum also lebe ich? Gibt es irgendeinen Gott, der sehen will, wie ich an der Last des Lebens zerbreche? Der neben all den Musterexemplaren auch mal ein Mängelexemplar auf die Welt schicken muss? Vielleicht ist es auch viel einfacher. Vielleicht gibt es gar keinen Gott und ich bin einfach hier und habe es schlicht und einfach verkackt. Habe irgendetwas an mir, dass man nur hassen kann.
Was auch immer es ist, ich habe genug. Ich will nicht mehr.