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Glück oder Verderben?

von

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Neuer Tag, neues Glück. So sagte man das zumindest. Und ich versuchte auch daran zu glauben. An diesem Tag, so hatte ich es jedenfalls geplant, würde ich ednlich von ihm bemerkt werden. Es musste klappen. "Er" war der Schwarm aller Mädchen, war kreativ, intelligent und sportlich und er hatte wunderschöne Augen. Ob beabsichtigt oder nicht, er konnte mit seinen Augen jeden beeinflussen und überzeugen. Das intensive Grün nahm einen in seinen Bann gefangen. Diese Perfektion in Person hatte den Namen Ray. Ray war neu in der Schule, er zog mit seinen Eltern letzten Sommer in unsere Stadt. Warum ich da noch von "neu" rede? Weil sich sonst keiner in dieses abgelegene Dorf traut. Nachdem sich hier in den letzten Jahren immer wieder mysteriöse Mordfälle ereignet haben, zieht es Niemanden mehr zu uns. Und obwohl unser Dorf einst ein beliebter Erholungsort war, gibt es noch nicht einmal mehr Besucher. Viele der Verwandten, die kommen, um Nicht, Neffen oder Geschwister zu besuchen, bleiben meist nur für eine Nacht oder übernachten gar nicht erst. Obwohl ich mir über die schrecklichen Morde auch Gedanken machte, galt meine Aufmerksamkeit in letzter Zeit nur noch Ray. Heute Abend würde der Winterball an unserer Schule stattfinden. Schon seit Wochen hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen, was ich anziehen würde, wie ich die Haare machen lassen würde und, das Wichtigste, wie ich Ray auf mich aufmerksam machen konnte. Nachdem ich in Gedanken alle peinlichen Situationen aufzählte, die passieren könnten, suchte ich nach Möglichkeiten diese zu umgehen. Mein zwar sehr bescheidener, aber trotzdem vorhandener Ruf sollte ja nicht völlig flöten gehen. Meine Freundin Milena war mir bei der Planung auch keine große Hilfe. Als Dramaqueen beinhalteten ihre Vorschläge von "plötzlich in Ohnmacht fallen", wenn er gerade neben mir stand, bis sich von ihr fast erstecken lassen. Nun ja, diese Überlegungen halfen mir nicht gerade weiter, also war ich auch mich allein gestellt. Wenngleich ich eigentlich relativ kontaktfreudig war und normalerweise keine Hemmungen hatte, fremde Menschen zuzutexten, war es bei Ray eine vollkommen andere Situation. Nicht nur, dass ich in seinen Augen versinken würde und nichts mehr sagen könnte, er ging jeglichen Leuten eher aus dem Weg. Er war stets freundlich, höflich und hilfsbereit. Doch darüber hinaus gab es nichts: keine Kino- oder Discobesuche mit Freunden oder Feiern auf Geburtstagspartys. Es mangelte nie an Einladungen, aber es gab stets Absagen von seiner Seite. Auch wenn Ray versuchte, durch Versprechungen der Wiedergutmachung alle zu beschwichtigen, wurde es dennoch recht auffällig. Ich hatte mich nicht getraut ihn anzusprechen, nicht einmal so etwas Harmloses, wie nach der Uhrzeit fragen. Stets hatte ich mir gewünscht, dass er den ersten Schritt machte. Auffälliges Anbaggern war nicht so mein Ding. Ganz im Gegenteil zu der Pornoqueen der Schule: Jenny Collins. Ihre Eltern waren stinkreich und erfüllten ihrem Kind sämtliche Wünsche. Sie trug immer Designerkleidung, meist eigens für sie angefertigte Unikate, besaß stets die neuesten Handys und bekam die Schulnoten in den Arsch geschoben. Nur wer oberflächlich, stumpfsinnig war und sich herum kommandieren ließ, hatte eine Chance mit ihr befreundet zu werden. Da ich nicht auf dieses kaum vorhandene Niveau sinken wollte, gehörte ich auch nicht zu ihrem zickigen Freundeskreis.

Doch zurück zu den Vorbereitungen für den Winterball. Milena half mir gerade das überaus enge Korsett zu schnüren, als die Uhr sieben schlug. "Oh je", meinte sie. "Das schaffst du niemals Niamey. Du musst dich noch schminken! Und der Ball fängt schon um acht an!" "Milena, ich brauche keine Stunde, um mich zu schminken!", antwortete ich genervt. "Ne, aber hast du mal rausgeguckt? Es schneit! Es ist alles zugeschneit! Und unter dem Schnee ist immer noch Glatteis der letzten Tage. Bis wir mit deinem Auto dort angekommen sind, ist eine gute halbe Stunde um. Ich frage mich außerdem schon die ganze Zeit, wie du in dem Kleid fahren willst", sie zeigte zweifelnd auf mein maßgeschneidertes Kleid. Ich musste zugeben, dass das Kleid ein wenig unpassend für's Autofahren war, doch ich hatte eine Stange Geld dafür ausgegeben, es war einfach perfekt. Mir war egal, ob ich dafür unbequem im Auto saß. Es ging mir knapp bis zu den Knien, war türkis und bestand aus Korsett und Bauschrock. Dazu natürlich Stilettos, in schwarz.

Erneut drängte die Zeit. Es war schon zwanzig nach und ich stand immer noch vor dem Spiegel. "Komm jetzt" Du siehst gut aus, mach dir nicht so'n Stress!", Milena stand schon ungeduldig angezogen und zur Tür deutend neben mir.

Hektisch zupfte ich noch die Haare zurecht, griff nach meiner Clutch-Tasche, nahm meine Autoschlüssel und ging aus dem Haus. Milena folgte mir schweigend. Sie war trotz allem immer noch ein wenig beleidigt, da ich bei ihren Plänen nicht mitmachte. Sie verstand nicht, dass man im echten Leben nicht immer als Dramaqueen weiterkommt. "Und, hast du dir jetzt überlegt, wie du dich an ihn ranmachst?", sie schaute auf die Straße, achtete darauf, dass ich auch in nicht hineinfuhr - der Schneefall verdeckte jegliche Sicht. "Ich habe keine Ahnung", gab ich zu. "Ich hoffe einfach, dass mein Kleid für genügend Aufmerksamkeit sorgt." Milena verdrehte die Augen, sagte aber nichts mehr dazu.

Auf den Parkplatz der Schule ankommend stellten wir erfreut fest, dass nur wenige Autos standen. Wir waren gar nicht so spät dran, wie vorher angenommen. "Sag mal Milena, sicher, dass wir alle schon um acht hier sein sollten?", zweifelnd hielt ich nach weiteren Autos Ausschau. Milena griff in ihre Tasche und holte den Flyer heraus: "Doch, doch! Guck-", sie hielt inne und nach einem langgezogenen "ähm" wusste ich, dass wir zu früh dran waren. Genervt ließ ich meinen Kopf auf das Lenkrad sinken. Die ganze Hektik war umsonst gewesen. Eigentlich hätte ich vor dem Spiegel stehen müssen und überlegen, wie ich meine Mimik kontrollieren könnte, wenn Ray mich anspräche. "Naja, kann man nichts machen. Dafür haben wir einen der besten Parkplätze direkt am Eingang bekommen", sie lächelte entschuldigend und schaute dann nach vorn. Wir saßen stillschweigend im Auto und beobachteten, wie die ersten Schüler und Schülerinnen mit Schirmen gerüstet den Weg vom Auto bis zur Halle im Schnellschritt überquerten. Eine halbe Stunde später beschlossen auch wir uns der strömenden Masse anzuschließen. Eigentlich wollte ich einen kleinen Tick zu spät kommen, damit auch jeder, aber vor allem Ray, mein Kleid, und mich darin, sieht. Ich wollte anerkennende und bewundernde Blicke ernten. Ich wollte bestätigt bekommen, dass das Kleid alle anderen übertraf. Es regte sich sogar ein Hoffnungsschimmer, dass meins bestimmt sogar noch schöner wäre als das von Jenny. Darauf achtend, nicht auszurutschen und sich zu blamieren, stöckelten Milena und ich unter einem Schirm gequetscht langsam zum Eingang. Ich war froh, dass der Eingang breit genug war, sodass meine Haare, die dunkel wie ein Vorhang fast bis zur Taille reichten, nicht zerwuschelt wurden. Wenn es sogar jemand mit Absicht versucht hätte meine Lockenpracht zu demolieren, wäre er an der starren, unüberwindbaren Barriere aus Haarspray und Schaumfestiger gescheitert.

Doch zurück zu der Menschenmasse, die in die geschmückte Halle flutete.

Die Hallen war ein weiterer Beweis für die hervorragende Organisation in der Schule: Das Winterballkommitee, in dem ich mitwirkte. Da ist es natürlich peinlich, dass ich bei der ganzen Planung die Uhrzeit vergessen hatte. Aber ich war ja auch für die Dekoration zuständig. Ich hatte mich für helle Blautöne entschieden. Die Tische und das Winterball - Willkommensbanner schmückte ich zusätzlich mit silberfarbenen Papiersternen und -schneeflocken. Einige der Fenster hatte ich mit LED-Lichterketten behängt, die für eine weihnachtliche Atmosphäre sorgten. Auf der Bühne hatten sich einige Lehrer versammelt und probten anscheinend ihre Begrüßungsrede. In Gedanken drückte ich die Daumen, dass das Mikrofon funktionierte, denn es war schon älter und wollte gelegentlich einfach nicht mehr.

Erfreut stellte ich fest, dass mein Kleid durchaus Aufsehen erregte. Vielleicht lag es ja an dem tiefen Rückenausschnitt. Milenas Hand nehmend, tänzelte ich mich meinen schwarzen Stilettos über den Parkettboden zu einem Tisch in der Nähe der Bühne. Falls ich, und das wünschte ich mir sehr, die Ballkönigin würde, müsste ich nicht lange laufen. Doch diese Vorstellung wurde sogleich zunichte gemacht, als Jenny Collins, von ihren beiden Pussy-Freundinnen Rita und Molly flankiert, in einem goldenen Kleid über die Fläche stöckelte. Ihr Kleid war bis zu den Knien eng an ihrem Körper und fiel dann bauschig, in einem größeren Radius zu Boden. Sie sah aus, als schwebe sie auf einer goldfarbenen Chiffon-Seide-Wolke. Ihr üppiges Dekoltée versuchte sie gar nicht erst zu verbergen und präsentierte es stolz den ohnehin schon gaffenden Jungen. Selbstgefällig musterte und mit einem falschen Lächeln begrüßte sie mich mit den Worten: "Na, Léstranges, hab' ich dir etwa den Auftritt versaut? Wie jedes Mal? Tja, an mich kommst du eben nie ran." Nachdem auch ihre Gefolgschaft mich mit hämischen Bicken bedacht hatte, schnipste Jenny mit den Fingern und ging den anderen voraus auf die andere Seite der Bühne. Nah genug, um den besten Blick auf die Bühne zu bekommen und doch weit genug entfernt, um nicht unnötig oft mit mir konfrontiert zu werden. Diese Feindschaft zwischen uns hatte den Ursprung in einem Sommercamp, in das wir vor zwei Jahren von der Schule aus hinfurhren. Der Sohn des Campbesitzers, Mike, wurde Opfer von Jennys Baggereien. Jedoch hatte sich Mike in mich verliebt und damit Jennys tolle Pläne durchkreuzt. Für mich wurde es dann eine schöne Sommeromanze und damit machte ich mir Jenny zum Feind. Seitdem hatte sie alles daran gesetzt, dass ich kein zweites Mal einen Typen abbekomme. Doch ich hatte mir vorgenommen, dass sie Ray nicht bekommen würde. Und sie würde mich auch nicht daran hindern alles nur Erdenkliche zu unternehmen, um mein Ziel zu erreichen.

Um neuen Uhr war die Menge fast vollständig. Nur einer fehlte -Ray. Das verwunderte mich, denn Ray sollte den ersten Tanz verkünden. Meine Nervosität legte sich jedoch, als er nach der Eröffnungsrede des Direktors auf die Bühne hastete, das Mikrofon nahm und verkündete: "Willkommen Ladys und Gentlemen! Ich habe die Ehre bekommen den heutigen Tanz anzusagen. Ein klassischer Wiener Walzer, gespielt von unserem tollen Schulorchester! Applaus, bitte!" Die Schülerinnen und Schüler des Orchesters verneigten sich kurz und bereiteten sich sogleich aufs Spielen vor. Das Wort hatte jedoch immer noch Ray: "Ladys! Ihr habt heute Abend die Wahl!" Damit lächelte er und verschwand dann aus meinem Blickfeld. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Jenny die Jungen um sie herum ignorierte und ebenfalls nach Ray Ausschau hielt. Wenngleich ich mit aller Mühe versuchte durch die in Bewegung gesetzte Masse durchzukommen, schaffte ich es nicht, vor Jenny bei Ray zu sein. Schon von Weitem sah ich sie in ihrem goldfarbenen Kleid, sie auf Ray zuschritt. Enttäuscht ließ ich die Schultern sinken und zog mich zurück aus der Menge. Milena tanzte schon im Arm von Leon, ihrem alten Schwarm. Ich freute mich für sie, konnte jedoch keine Freude mehr empfinden für den Eröffnungstanz, überhaupt, für die ganze dämlich Veranstaltung. Ich entschied mich, dass ich frische Luft bräuchte und einen Weg, unauffällig die Hallen zu verlassen. Gemächlich schritt ich in Richtung Mädchentoilette. Da wir ohnehin mehr Mädchen als Jungen an der Schule hatten, würde kein Junge leer ausgehen und ich brauchte keine schlechtes Gewissen zu haben. Die Mädchentoilette war leer. Ich suchte mir eine der letzten Kabinen aus- schön weit entfernt von der Eingangstür entfernt. Sich auf den Klodeckel stellend öffnete ich das Fenster. Es ging nur einen Spalt breit auf, sodass ich mich ans Fenster pressen musste. Dabei stockte mir der Atem und ich erstarrte, als ich Fetzen eines in der Nähe geführten Gesprächs mit anhörte: "Es wird wieder Tote geben. Ja..." Die Stimme war rau und das Lachen, das folgte, jagte mir einen Schauer über den Rücken und versetzte mich in den Zustand panischer Angst.

Ich hätte das nicht hören dürfen. Doch das Schlimmste kam noch: "Ist der Vollmond heute nicht schön? So vollkommen. Heute Nacht ist doch der perfekte Zeitpunkt, findest du nicht?" Die Ansprechperson antwortete nicht. Gelegentlich höre ich nur ein leises Keuchen.

Mein Herz setzte für einen Moment aus, als plötzlich jemand die Toilettentür zuschlug. Ich erkannte die Stimmen einiger Mädchen aus meinem Französischkurs, die sich kichernd vor dem Spiegel frisch machten. Sie erschraken, als ich bleich und zitternd an ihnen vorbeiging: "Hey, Niamey! Geht's dir nicht gut? Ist dir übel?" Erst antwortete ich nicht. Ich feuchtete einige Papiertücher an und kühlte mein Gesicht. Dann drehte ich mich zu ihnen um und versuchte zu lächeln: "Hab' wohl ne leichte Magenverstimmung. Mir geht es schon besser, danke." Ich wolle schon den Raum verlassen, als Lisa, eines der Mädchen, grinste und freudig berichtete: "Du hast das Beste verpasst! Ray hat Jenny glatt abgewiesen. Er hat sie einfach stehen lassen und ist irgendwohin verschwunden!" Ihre Augen strahlten vor Schadenfreude, meine Laune jedoch konnte das nicht heben. Schwach lächelnd verließ ich den Raum. Ich hörte, wie jemand mehrmals meine Namen rief, reagierte aber nicht. Ich wollte einfach weg, raus. Vollkommen hilflos fragte ich mich, ob mir jemand Glauben schenken würde. Erst jetzt drangen Lisas Worte in mein Bewusstsein: "Ray...ist irgendwohin verschwunden." Erneut erfasste mich Panik. Die Erinnerung an das leise Keuchen hallte in meinem Kopf. Meine Umgebung nahm ich nur noch verschwommen war, ignorierte alles und jeden und stürmte aus der Halle. Ich schlug die Tür zu und blieb stehen. Ein Bild vom Aufbau der Halle entstand in meinem Kopf. Ich überlegte, auf welcher Seite des Gebäudes das Fenster der Mädchentoilette war, presste mich an die Wand und hielt die Luft an. Vor Kälte und Angst zitternd schlich ich an der Wand entlang bis zu rechten Ecke. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, ich versuchte flach zu atmen, damit man mich nicht hörte. Kein Laut drang an mein Ohr, ich fühlte mich sicher genug, um einen Blick um die Ecke zu wagen. Es war dunkel und so musste ich mich auf mein Gehör verlassen. Von Weitem sah ich einen schwachen Lichtschein - das Fenster der Mädchentoilette war zu klein, als dass das daraus hervorwabbernde Licht genügend Fläche erleuchtete, um etwas zu erkennen. Ich tappte vorsichtig in dessen Richtung, darauf achtend -von wem auch immer- nicht entdeckt zu werden. Mir fehlten knapp 20 Meter bis zum Fenster, da erkannte ich eine Silhouette eines liegenden Menschen ein Stück neben dem Fenster. Wie eine Statue verharrte ich in meiner Position, bis ich mir sicher war, dass die Person sich nicht bewegte. Dann lief ich zu dem liegenden Menschen, in der Hoffnung, dass es bitte nicht Ray sein würde. Doch er war es. Er hatte noch seinen Anzug an und da er bewusstlos schien, zog ich ihm sein Jacket aus, um ihn nach Wunden zu untersuchen. In dem Moment packte mich seine Hand und ich konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken. "Ray, ich bin's Niamey Léstranges. Hörst du mich? Bist du verletzt? Soll ich Hilfe holen? Ach was, natürlich. Ich muss einen Krankenwagen rufen-", noch bevor ich mein Handy herausholen konnte hatte er mich an sich gedrückt und flüsterte mir ins Ohr: "Nein! Nein...bitte nicht. Das bringt nichts...du verstehst das nicht..." Seine Stimme war schwach und ich spürte einen unterdrückten Schmerz in seinem Unterton. Ich machte mich von ihm los und schaute ihm in seine unglaublichen Augen: "Ray...Ich muss es tun...Du liegst hier fast bewusstlos im Schnee, was soll ich deiner Meinung nach sonst tun, hm?" Er schloss die Augen und schwieg. Ein weiteres Mal versuchte ich an mein Handy zu kommen, doch auch dieses Mal hinderte er mich daran: "Bitte..." Er stütze sich mit dem einen Arm am Boden am und die andere legte ich mir um den Hals, um ihm aufzuhelfen. Ich entschied mich, ihn in mein Auto zu bringen. Das Auto war alt, aber es hatte einen großen Kofferraum. Zusätzlich hatte ich vor Kurzem die hintersten Sitze herausgenommen, sodass man sich dort problemlos hinlegen konnte. Da sämtliche Leute gerade in der Halle waren, begegneten wir keinem. Darüber war ich mehr als froh, denn ich hatte keine Erklärung für das Ganze. Endlich angekommen, half ich Ray in den Kofferraum zu steigen. Ich hatte mit Milena das Wochenende davor einen Campingausflug gemacht, daher fehlten die hinteren Sitze und es lagen immer noch mehrere Decken und Kissen und eine Kühlbox da. Ich wickelte Ray in mehrere Decken, dann nahm ich die Kühlbox, denn sie nahm viel Platz ein und packte sie auf den Beifahrersitz. Auf Ray zurückblickend beschloss ich, ihn zu mir nach Hause zu bringen.

Milena hatte ich in dem Moment vergessen, jedoch machte ich mir keine Sorgen, wie sie nach Hause kommen würde. Ich schrieb ihr während des Fahrens eine SMS mit dem ausdrücklichen Wunsch, mich in Ruhe zu lassen und bloß Spaß zu haben, da mir selbst schlecht geworden ist. Ich hoffte, dass sie nicht anrufen und nachfragen würde. Die Ausrede,oder auch Notlüge, einfach abkaufen, das wollte ich.

Es war schon kurz vor zehn, als sich hinter mir das Garagentor schloss. Obwohl ich alleine lebte, konnte ich Ray nicht ins Haus führen, den ich wusste nicht, ob er das schaffte. Den Gang zum Parkplatz hatte er nur mit viel Mühe und meiner Hilfe bewältigt. Und ich wusste nicht ob ich das überhaupt schaffen würde, ihn erneut zu schleppen.

Ich ließ die Heizung an und stieg zu Ray in den Kofferraum. Es schien, als schliefe er, doch sein Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck bekommen. Wodurch die Schmerzen verursacht wurden, war mir ein Rätsel. An seinem Körper hatte ich keine Wunden entdecken können. Vielleicht eine schreckliche Erinnerung? Oder...Gift? Sein Gesicht in die Hände nehmend wurde mir die Ironie der ganzen Situation bewusst: Ich wollte mit Ray alleine sein und nun war ich es, aber unter ganz anderen Umständen. "Ray! Ray komm zu dir. Was ist mit dir? Was hat der Kerl mit dir gemacht?!", mein Ton wurde hysterisch und meine Stimme brach zuletzt ab. Rays Stimme war leise und er öffnete die Augen nicht, als er sagte: "Wo-woher weißt du von ihm?! "Ich habe einen Teil seines Gesprächs mit dir mitbekommen. Ist das der Mörder, der hier in den letzten Jahren sein Unwesen getrieben hatte? Hat er dich auch angegriffen? Soll ich nicht lieber die Polizei rufen?!" Ray schüttelte nur leicht den Kopf, dann flüsterte er: "Hör zu. Er ist gefährlich...ja, er ist der Mörder. Er...Niamey...was er mir angetan hat, kann kein Arzt einfach so heilen. Bitte, ich brauche einfach nur Ruhe..." Und damit zog er mich zu sich und deckte mich mit seiner Decke zu. Ich spürte seinen Körper an meinem, denn ich hatte ihm zuvor ja das nasse Jacket ausgezogen. Sein heißer Atem kitzelte meinen Nacken und seine Arme umfassten meine Taille. Und obwohl die Situation eine ganz andere war, hatte ich mich noch nie sicherer gefühlt.



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