Zum Inhalt der Seite

Zeitlos -♠-

100 Storys -1-
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Niemand

Niemand ging die vom Regen glänzende Straße entlang, die so verlassen war, wie die in einer Geisterstadt. Der glitschige Asphalt zeugte von einem heftigen Schauer, der erst vor kurzem die Gegend geflutet haben musste. Niemandes Füße zogen sich schwer und träge die Straße entlang, an den leer stehenden, toten Häusern vorbei, die Niemand mit ihren leeren und zersplitterten Augen anstierten. Niemand keuchte leise, bei jedem Schritt, den er tat. Es war nicht das erste Mal, dass Niemand einer solchen Anstrengung ausgeliefert war, doch heute traf sie ihn ganz besonders, weil er ohnehin schon in geschwächtem Zustand war. Seit einiger Zeit hatte er nichts mehr gegessen und nur von Wasser wurde er nicht satt. Deshalb kostete es Niemand eine so große Überwindung, überhaupt noch weiter zu gehen, seinen torkelnden Gang weiter fortzusetzen, weiter zu gehen, bis er einen Ort der Zivilisation und somit Hilfe erreichte. Jedes vorziehen des Beines zerrte an Niemandes Kräften. Am liebsten hätte er einfach aufgegeben, sich hingelegt, von ihm aus auch in dem Schmutz der Straße, und einfach nur einen Moment die Augen geschlossen und geschlafen. Sich ausgeruht von den Strapazen der letzten Stunden. Aber er musste weiter gehen. Musste, wenn er leben wollte – und das wollte er!

Also ging er, zwang seine Beine, nicht nachzugeben und einen Schritt nach dem anderen zu tun. Niemand wollte nicht hier bleiben. Nicht hier, an diesem grausamen, gottverlassenen Ort. Nicht hier, wo es nur noch Rauch, Regen, Asche und Tote gab. Nicht hier, wo ihm der Geruch verbrannten Fleisches in die Nase stieg, das von den Menschen stammte, die von den Bomben erwischt wurden. Nicht hier, wo die Schreie der Sterbenden längst verstummt waren.

Niemand blieb stehen und sah sich einen Moment um. Es kribbelte auf seiner Haut und er spürte, dass da etwas an seinem Leben zerrte. Er blickte zum Horizont, an die Stelle, an der er vor ein paar Stunden dieses Monster gesehen hatte, diesen riesigen, feuerroten Pilz, der sich aus dem Boden erhoben hatte, um seine Umgebung zu verschlingen. Erst hatten die Flieger ihre totbringenden Bomben abgeworfen, die alles hier in Schutt und Asche legten, und dann das Ding, das diesen Pilz erschuf, dieses Etwas, das sich überall hineinfraß. Das sich jetzt versuchte in Niemandes Haut rein zu fressen und ihn mitzunehmen, auf die andere Seite. Niemals hätte Niemand geglaubt, dass es eine Waffe wie diese gab, die sich so schön und doch so furchteinflößend am Horizont aufbaute, die mörderischer war, als alles, was Niemand je gesehen hatte.

Niemandes Knie versagten plötzlich und er sackte zusammen. Er wusste nicht, was es war, dieses neue Ding, dieser Pilz, aber er wusste, dass er ihn töten würde. Wusste, dass das leuchtende Monster ihm das Leben nehmen würde, so wie all den anderen. Wusste, dass es sinnlos war, weiter zu gehen, versuchen, vor etwas zu fliehen, vor dem man nicht fliehen kann.

Heiße Tränen stiegen Niemandem in die Augen, denn ihm wurde klar, dass er einer von vielen Niemanden war, die heute starben, ohne zu wissen, warum oder durch was.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  w-shine
2012-07-10T11:50:37+00:00 10.07.2012 13:50
Hui...
In dieser Geschichte hast du es wirklich geschafft eine sehr bedrückende Stimmung zu erzeugen. Die Zerstörung durch den Krieg/Kampf und die Atombombe hast du gut dargestellt und auch Niemandes Kampf ums Überleben.
Ich find auch die Wahl, die Hauptperson Niemand zu nennen, sehr interessant, weil es zeigt, das diese Situation der Hauptfigur alles genommen hat. Andererseits klingt es natürlich auch so, als ob dort wirklich keiner ist, der das ganze erlebt.
Bedrückend, aber gut gemacht.

LG Shine


Zurück