Missetat begangen!
Remus blickte aus dem Fenster seines Schlafzimmers, während er auf der Fensterbank saß, in eine warme Decke eingewickelt. Leise und bedacht fielen die ersten Schneeflocken vom Himmel, segelten auf den Windböen nach unten, manchmal konnte Remus sehen, wie wohl eine Windböe verzweifelt versuchte die Schneeflocken vom Boden fern zu halten. Aber es waren zu viele, waren viel zu viele Schneeflocken. Eigentlich war der Schnee schon längst überfällig. Es war bereits Anfang Dezember und erst jetzt fiel der erste Schnee in diesem Winter. Remus erinnerte sich noch dunkel an sein erstes Jahr in Hogwarts, an den ersten Schnee, den er hier zusammen mit seinen inzwischen besten Freunden hatte erleben dürfen. Verträumt zogen sich die Mundwinkel des Jungen leicht nach oben.
Eigentlich hatte er gar keine Zeit um den Schnee zu beobachten. Eigentlich musste er heute noch das dicke Buch, das auf seinem Schoß lag, Eigenarten und Besonderheiten der Bellis perennisl von Emilia Botkips, beenden. Morgen schon sollte er es zurück in die Bibliothek bringen und Remus brauchte einige der Textpassagen für seinen Aufsatz für Kräuterkunde, der bereits in einem Monat fällig war. Zu seinem Leidwesen konnte er sich gerade heute nicht wirklich zum Lesen aufraffen. Schwer seufzte der Junge, zog die Gardinen vor die Fenster, um auch ja nicht mehr abgelenkt zu werden, um selbst aus den Augenwinkeln dem Schneetreiben draußen keine Beachtung mehr schenken zu können. Remus wandte sich von der kalten Fensterscheibe und den tanzenden Schneeflocken ab, von denen er glaubte, sie sogar noch durch die hellen Gardinen ein wenig erhaschen zu können, wandte sich wieder dem weißen Papier mit den dunklen, geschwungenen Linien zu.
... Einzigartigkeit der Fee und deren Größe der Erzählung nach zwei bis vier Inches betrug. Beweise für die Existenz Milkas…
Milka. Remus legte den Kopf überlegend schief. Jonathan hatte doch erst im September Schokolade in einer seltsamen violetten Packung verteilt. Remus glaubte sich daran zu erinnern, dass auch auf diesen Packungen der Name »Milka« gestanden hatte. War es überhaupt Schokolade gewesen? Vielleicht sollte er Jonathan suchen und ihn fragen, nur um auf Nummer sicher zu gehen.
Remus seufzte schwer, war sich nämlich genau dessen bewusst, was hier eigentlich gerade passierte. Er drückte sich vor der Arbeit. Nein, heute würde er das Buch sicher nicht mehr beenden können, zumindest jetzt nicht. Vielleicht heute Abend, wenn die anderen schon schliefen. Remus hatte schon das ein oder andere Mal in Buch beendet indem er auf Schlaf verzichtet hatte. Das Negative an diesen Aktionen war nur, dass er sich dann den Tag darauf nicht konzentrieren konnte und oftmals Abbey um Rat fragen musste, was genau sie alles in den verschiedenen Stunden durchgenommen hatten. Nun gut. Einen Versuch wollte Remus noch wagen. Einen Letzten.
»Remus!«
Wum! Die Tür wurde brutal und hart aufgestoßen, stieß gegen die Steinwand und zum wiederholtem Male wunderte sich der Junge, dass sie noch immer nicht kaputt war, sondern bisher jede von Sirius’ Aktionen standgehalten hatte. Bisher.
»Remus! Es ist wichtig! Es ist von so dringlicher Wichtigkeit, dass jedes deiner Bücher warten muss.«
»Meine Bücher müssen immer warten, wenn es um deine ach-so-dringlichen Wichtigkeiten geht. Darf ich dich daran erinnern, lieber Sirius, dass deine letzte unaufschiebbare Dinglichkeit darin bestand, dass ihr Peter beim Verstecken spielen verloren habt?«
Remus blickte seinen Freund ein wenig tadelnd an. Natürlich ließ sich Sirius davon nicht beeindrucken. Sirius ließ sich irgendwie von gar nichts beeindrucken. Stattdessen stemmte er nur die Hände in die Hüfte, als wäre er es, der wütend auf Remus sein könnte.
»Mein lieber Remus. In meinen Augen ist es von äußerst dringlicher Wichtigkeit, wenn wir einen unserer Freunde verlieren.«
»Mit »wir« meinst du doch James und dich. Ich enthalte mich jeglicher Schuld.« Remus stand auf und legte das Buch auf die Decke, die nun auf dem Fenstersims lag. »Also, was ist nun diese dringliche Wichtigkeit, die wichtiger ist als jedes meiner Bücher?«
»Ich habe James die Haare geschnitten.«
Remus seufzte schwer und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Schon wieder. Es war doch schon beim letzten Mal nicht gut gegangen, als Sirius die blendende Idee gehabt hatte James’ Haare zu schneiden. Wieso ließ der andere das noch einmal zu? Remus gab Sirius mit einer Handbewegung ein Zeichen, dass er ihn zu James bringen sollte. Nebenbei lauschte er Sirius Erklärungen, die denen vom letzten Mal ziemlich glichen. James saß in irgendeiner Kammer, weil er nicht raus kommen wollte, da er sich selbst zu hässlich vorkam und so niemals seiner über alles geliebten Lily unter die Augen treten konnte. Bisher hatte das Haare schneiden immer Peter übernommen, da er es von allen noch am besten hinbekam. Wieso genau James Sirius’ Hände an seinen Kopf gelassen hatte, war Remus unklar und wenn er ehrlich war, dann wollte er es auch gar nicht erst wissen. Immerhin bekam man von James und Sirius nur selten die volle Wahrheit zu hören. Die beiden neigten dazu Tatsachen zu verdrehen und auszuschmücken, damit sie besonders gut und alle anderen besonders dämlich dastanden, auch wenn es in Wirklichkeit vollkommen anders gewesen war. Deshalb verlangte Remus schon gar nicht mehr nach genaueren Schilderungen, da er sowieso nie wissen konnte, welche denn nun wahr und welche eine Lüge waren.
»Hier drin.«, verkündetet Sirius und Remus trat an Sirius vorbei, öffnete die Tür und sofort drang James’ Stimme an sein Ohr.
»Nein. Licht. Mach es aus! Niemand darf mich so sehen. Ich bin entstellt. Ein Monster.«
Remus rollte nur mit den Augen, betrat die kleine Kammer und schloss die Tür sofort wieder hinter sich. James hatte den Drang immer mal wieder extrem theatralisch zu sein, doch gerade jetzt konnte Remus darauf verzichten. Vor Lily sollte James nur den Macho heraushängen lassen, wenn er glaubte Lily damit beeindrucken zu müssen.
»Sirius, mach Licht!«
»Lumos.«, befolgte Sirius sofort Remus Befehl und der kleine Raum, indem sie standen, wurde erhellt. Zum Glück war Sirius so geübt in dem Zauber, dass er wusste, dass er nicht allzu viel Licht brauchte, um diese kleine Kammer zu erhellen.
»Setz dich richtig hin, James. Wo ist die Schere?«
»Remus!«
Schubs! Und sofort klebte James an seinem Bein, klammerte sich regelrecht daran, als hätte Remus ihm gerade das Leben gerettet. Remus hörte, das James irgendetwas in seinen nicht vorhandenen Bart murmelte und immer mal wieder die Worte »Lily«, »entstellt«, »Monster« und »Ende« fielen. Remus wollte den Zusammenhang auch gar nicht wissen. Nein, inzwischen war ihm sein Buch schon wieder viel attraktiver geworden und nun hatte er auch ein wenig Lust darauf weiter zu lesen.
»Lass mich bitte los, James. Das ist lächerlich.«
»Aber Mooney.«
Remus zuckte leicht zusammen. Er war diesen Namen noch immer nicht wirklich gewöhnt. Sirius hatte ihm diesen Namen gegeben und James und Peter hatten ihn sofort übernommen. Im Moment tüftelten Sirius und James gerade an solchen »Geheimnamen« für sich und Peter. Remus beteiligte sich nicht wirklich daran, sah er doch nach wie vor keinen wirklichen Nutzen darin sich solche Namen zuzulegen. Spätestens, wenn er die Schule verlassen würde, würden sie sich an diese Namen schon nicht mehr erinnern.
Und doch war Remus innerlich auch irgendwie froh diesen Namen zu tragen, machte ihn dieser zu etwas Besonderen, fühlte er sich mit diesem Namen mehr als Mensch. Auch wenn ihn dieser Name immer und immer wieder an das erinnerte, was er wirklich war, an sein Schicksal, seine Bürde, seine Qual, so war Remus auch ein wenig stolz darauf. Remus fröstelte leicht, wenn er an sein erstes Jahr hier in Hogwarts zurückdachte, an diese ganz bestimmten Tage im Monat, an denen er das Schloss immer heimlich, still und leise verlassen musste, weggebracht werden musste, damit er – das Monster in ihm – niemandem etwas antun konnte. Er war ein Monster gewesen. Eigentlich war er es auch jetzt noch, war ein Monster, nur fühlte sich Remus nicht mehr so. Er wurde gebraucht und das, obwohl man seine Bürde kannte, obwohl Sirius, James und auch Peter Bescheid wussten, standen sie zu ihm, zu dem Menschen, Remus Lupin. Dennoch hatte Remus auch jetzt noch Angst vor diesen Tagen und allein die Gedanken daran, brachten Remus dazu sich schlecht zu fühlen, denn er wusste genau, was er auch seinen Freunden damit aufgebürdet hatte, wusste was sie alles für ihn taten, um ihm diese Nächte erträglicher zu machen.
»Ist dir kalt, Remus?«
Remus schüttelte nur den Kopf. Nein, ihm war nicht kalt, nur diese Gedanken waren es, die ihn noch immer so sehr einnahmen, die ihn noch immer vollkommen in seine eigene Welt bringen konnten, die ihn alles andere vergessen ließen, was um ihn passierte. Remus atmete tief durch und spürte eine Hand auf seiner Schulter und er spürte auch, wie James endlich sein Bein losließ.
»Mach dir keine Gedanken, bis nächste Woche hat auch Peter es geschafft eine richtige Ratte zu werden und dann kann er auch mitkommen.« Remus belächelte James’ Worte nur. Er wusste, wie sein Freund das meinte, dass er ihn aufmuntern wollte und vor allem, da Remus auch wusste, dass James grauenhaft im Aufmuntern war, wusste er jeden Versuch des anderen zu schätzen. »Danke.«, meinte er deshalb leise, auch wenn ihm James’ Worte nicht wirklich geholfen hatten.
»Und jetzt schneid mir die Haare, Remus.«
Remus lächelnd leicht. Das konnte James wie kein anderer: Themenwechsel. Remus nahm die Schere an sich und wies James an, sich auf eine kleine Kiste zu setzen. Sirius setzte sich vor James und griff nach den Händen des anderen. »Sei tapfer, James. Ich bin mir sicher, dass du danach hübsch aussehen wirst und Lily darum betteln wird mir dir ausgehen zu dürfen.« Remus musste sich ein Auflachen verkneifen. Ja, James und Sirius waren einzigartig.
»Wo ist eigentlich Peter?«, fragte Remus eher beiläufig. Natürlich kam es hie und da einmal vor, dass Peter seine eigenen Wege ging. Das tat Remus auch. An manchen Tagen versuchte er absichtlich den anderen aus dem Weg zu gehen, da er einfach seine Nerven für Sirius und James nicht zusammenkratzen konnte. Ja, manchmal trieben ihn seine Freunde regelrecht in den Wahnsinn. Deshalb konnte es ganz gut sein, dass Peter heute einen dieser Tage hatte, dass er einfach allein sein wollte. Nur Sirius und James schienen die einzigen von ihnen zu sein die nie wirklich Ruhe zu brauchen schienen. Sirius und James verbrachten jeden Tag zusammen.
»Woah!«, entkam es beiden plötzlich gleichzeitig und Remus verstand sofort.
Remus seufzte schwer und legte die Schere zur Seite. Das durfte doch nicht wahr sein. Die beiden hatten es schon wieder getan. Sie hatten es tatsächlich schon wieder getan. Remus schüttelte nur den Kopf. Manchmal waren Sirius und James zwei Kindsköpfe, Idioten und hoffnungslose Fälle zugleich, was aus ihnen einen chaotischen, unzubändigenden Haufen machte. Wie würden sich die beiden wohl erst benehmen, wenn sie erwachsen waren und eigentlich Vorbilder sein müssten?
»Remus, das war dieses Mal wirklich keine Absicht.«, versuchte es Sirius und hob sofort ein bisschen abwehrend die Arme. Dieses Mal. Beim letzten Mal war es also doch Absicht gewesen. Diese beiden …
»Ihr habt ihn schon wieder beim Versteckenspielen vergessen!«
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Bellis perennisl bedeutet Gänseblümchen und jeder, der den Wikipediartikel dazu überfliegt wird sehen, dass tatsächlich eine Fee mit Namen Milka etwas mit dem Gänseblümchen zu tun hat.