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Lumiél Noir

von

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Auf- und Abstieg, Teil 1

Dumpf hallten die schweren Schläge in der Eingangshalle wider.

Thorins Knöchel schmerzten einen Moment. Mit einem kaum deutbaren Blick bedachte er eben jene, musterte seine Hand. Er streckte die Finger, zog sie zur Faust zusammen. Auch so ein Aspekt, an den er sich einfach schwer wieder gewöhnen konnte. Das selbst so kleine Dinge… schmerzten. Es war nur eine Tür. Einfaches Holz. Keine Steineiche oder dergleichen, nein. Dennoch schmerzten seine Knöchel.

Eine Weile schien es zu dauern, ehe Regung in das Haus kam. Er nutzte die Zeit, ließ seinen Blick schweifen. Lauter Trubel schallte hinter ihm, von allen Seiten schien er auf ihn einzudringen. Das Treiben einer lebendigen Stadt. Samara ging es gut, besser als jemals zuvor - keine Frage. Der König tat, was er konnte, um die Blüte seines geschundenen Landes zu fördern. Es war… eine Wohltat, all die Menschen zu sehen, all die Zwerge, ja selbst über die Elben hätte er sich freuen können - oder sollen? Man bemerkte viel häufiger Gelächter, kichernde Kinder, ein sonniges Lächeln hier und da. Aber all das berührte ihn nicht. Für genau diesen Anblick hatte er so bitter gekämpft, aber jetzt, da der Moment gekommen war… da er sich nur umzudrehen brauchte, um den Preis anzunehmen, um mit vollen Zügen seinen Sieg anerkennen zu können und sich im Ruhm zu sonnen - da tat er es nicht.

Dieser Sieg war falsch wie eine Schlange.

Und niemand wusste es.

Niemand außer ihm.

Als endlich die Tür geöffnet wurde, betrachtete er einen Moment das Gesicht. Es wirkte vertraut und doch fremd. Er hatte Alandor Lamerak schon weit früher kennen gelernt, als dieser sich zu erinnern glaubte. Ein Magier, blasiert, arrogant, wie alle Magier eben so waren. Aber ein begnadeter Künstler auf seinem Gebiet. Damals hieß ‚sein Gebiet‘ noch, das er hervorragend eine defensive Zauberschule verwenden konnte, um mit einem Dutzend Männer die grässlichsten Dinge anzustellen. Es war Krieg gewesen… und hatte daher seine Berechtigung und seinen Nutzen gehabt. Heute… heute war Frieden. Alle lächelten. Kauften Gemüse für abendliche Suppen und Brühen, erwarben an den vielen Ständen Samaras Schreibfedern für ihre literarischen Ergüsse, Eisen für ihre Schmelzen und besprachen in den zwielichtigeren Winkeln der schäbigen Gasthäuser, wen es als nächstes zu bestehlen galt. Allen ging es besser. Selbst den Diebes- und Assassinengilden.

Heute war Alandor Lamerak ein anderer. Einer dieser sorglosen Grundbesitzer. Er hatte die Schmiede längst in ein Wohnhaus umbauen lassen. Es gab noch genug Grund und Boden, auf dem Lamerak als Besitzer eingetragen war. Eben dieser, einmal vermietet an ein halbes Dutzend geschäftstüchtiger Männer und Frauen, brachte ihm mehr Geld ein, als er auszugeben fähig war. Selbst für einen Magier, die in Thorins Vorstellung ständig alchemistisches Allerlei und magischen Tand kaufen mussten. Kräuter, merkwürdige Steine und solches Zeug eben - er hatte sich nie dafür interessiert. Magie war feige… ein vernichtendes Urteil, das sich selbst im Angesicht des maßlosen Nutzens Alandors nie geändert hatte.

„Thorin? Welche Überraschung! Komm doch herein, bitte.“

Die Höflichkeiten, die Floskeln, es war ihm zuwider. Dieser Mann behandelte ihn, als wären sie gute alte Freunde. Saufkumpane, die schon ihre Lieder aus gemeinsamen Schlachten im Chor durch die Tavernen der Stadt gegröhlt hatten. Vielleicht erinnerte er sich sogar, dass dem so gewesen sei. Prüfen ließ sich das natürlich schwerlich. Der Krieger aber sah nur einen Mann vor sich, dessen er sich anders erinnerte. Mit hartem Gesicht und kaltem Blick. Der den Tod so vieler befohlen hatte, ohne Skrupel. Es hatte ‚der Sache‘ gedient. Keine Frage - auch an seinen Händen hatte viel Blut geklebt.

Aber er hatte Alandor zweimal kennen lernen müssen. Es war verwirrend gewesen, damals, als er plötzlich… die gleiche Person mit einem identischen Namen vor sich stehen hatte. Beide nebeneinander, beide ungehalten - aber nur einer von ihnen war über den Aspekt verwirrt, im wahrsten Sinne des Wortes neben sich zu stehen.

Frei heraus folgte er der Einladung, betrat das ausladende Haus. Der Geruch von Holz schwang ihm entgegen, frisch poliert wohl. Ein paar Duftöle hier und da, nette Wandbehänge, Dekoration, wohin das Auge sah. Blumensträuße in kunstvoll gewundenen Vasen - er kannte diese Blumen. Sie wuchsen nur um Norwingen herum. Vermutlich ein kleiner Tribut an Vivicas Herkunft. Möglicherweise wäre es höflich gewesen, irgendetwas zu sagen. Wie schön doch alles eingerichtet sei. Oder sollte er eine Frage stellen? Eine von diesen Belanglosen, deren Antworten ihn eh nicht interessierten? Etwas wie „Wie geht es Vivica? Und Peter?“ Nein, sicher nicht. Er war nicht hier, um mit solchem Unsinn seine Zeit zu verschwenden. Er war der grobe Klotz, der geistlose Krieger. Alles beim Alten. Er konnte es sich leisten, mit der Tür barsch ins Haus zu fallen.

„Ich brauche deine Hilfe.“

Ein Satz, der einen Moment bleischwer in der Luft hing. Alandor vergaß vor Schreck wohl, die Tür zu schließen. Das Brett fest im Griff, blickte er ihn an, während die Stirn des Magiers sich langsam in Falten legte. Erst dann erwachte er, schloss die Tür und trat an ihm vorbei. Thorin Eichenschild war ein Bär von einem Mann. Kräftig wie zwei, breit wie ein Schrank, voller Muskeln und von rundum imposanter Erscheinung. Man sah ihm an, dass er nicht nur stark war, sondern auch, dass diese Stärke in Erfahrung gestählt worden war. Er hatte die Ausstrahlung eines mies gelaunten Trolls - roh, angriffslustig, gefährlich. Die meisten Menschen hielt das immer auf Abstand. Ein Detail, für welches der Kahlkopf überaus dankbar war.

Doch gerade diesen Mann, der mit seiner ‚Kopf durch die Wand‘-Taktik bisher so viel erreicht und so viele Bollwerke durchbrochen hatte, stand nun hier und… bat um Hilfe. Nun - genau genommen hielt Alandor es ihm zu Gute. Er legte es ihm so aus, das er darum bitten würde. Thorin bat nicht, nie. Sein Tonfall war eine Anweisung, ein Befehl - doch der Magier glaubte ihn lange genug zu kennen, um ihn nie anders sprechen gehört zu haben.

Der Krieger wusste es besser.

Sie hatten einander mit dem Wort ‚Hilfe‘ erstmals kennen gelernt. Er lag in Räumlichkeiten des Königs. Tagelang. Wie viele, das wusste niemand. Vielleicht waren es vier, vielleicht zehn. In einer dicken, trockenen Lache seines eigenen Blutes hatte er dort gelegen, bemüht tief und flach geatmet und wann immer er Laut jenseits der Tür gehört hatte, hatte er gerufen. Um Hilfe. Tagelang. Doch dieser Flügel des Schlosses wurde kaum noch benutzt und eben jener Raum beinhaltete nur eine Abstellkammer. Niemand hatte gewusst, wie er dorthin gelangt war - und der Hüne hatte es ja auch nie erzählt. Man hatte ihn, unterernährt, völlig dehydriert und schwer verletzt, sofort zu einem Heiler gebracht. Drei Wochen war er an ein Bett gefesselt gewesen, ehe er überhaupt erst wieder hatte aufstehen können.

Jene, die sich als seine Freunde bezeichneten, hatten ihn besuchen wollen. Sie waren überrascht, ihn in Lumiél anzutreffen. Er war doch fortgegangen, zurück nach Kruk! Wie kam er ausgerechnet nach La Coeur? In dieses Zimmer - und in diesen Zustand? Doch er hatte geschwiegen, er hatte sie alle angeschwiegen. Und danach den Heiler angewiesen, niemanden mehr zu ihm zu lassen.

Drei Wochen. Sie waren nicht so quälend gewesen wie die Tage in der Kammer, aber auch sie waren… zu viel Zeit gewesen, über die Dinge nachzudenken. Er hätte fragen können, doch die Ahnungen waren zu dunkel, zu schwerwiegend, um es der Stimme eines Fremden zu überlassen. Er hatte sich selbst davon überzeugen müssen. Aufstehen durfte er, kurz ein paar Schritte gehen, zur Probe. Das waren die Anweisungen des Heilers gewesen, bevor Thorin ihn bewusstlos geschlagen hatte. Er hatte seine Sachen gepackt, seine alte Rüstung angelegt und das Haus verlassen. Und sich umgesehen. La Coeur, Zadiora, Samara, Herothing. Er hatte einige Orte bereist und sich nirgendwo erkennen lassen.

Eine harte Lektion seiner ersten Station. Zadiora. Alle dort hatten ihn… ja was? Wie einen Helden gefeiert? Menschen, deren Namen er nie gehört hatte und deren Gesichter ihm fremd waren, hatten ihn gebeten, ihre Kinder zu segnen, hatten ihn beglückwünscht oder verwirrender noch, auf die Hilfe angesprochen, die er ihnen früher gewährt hatte. Es hatte viele Tage gebraucht, all das zu begreifen. Und mit jedem Teil, das sich in das Mosaik einfügte, wurde seine Laune düsterer.

„Was benötigst du denn?“ erkundigte sich Alandor und führte seinen Gast in die Wohnstube zum Kamin, „Setz dich nur. Ich bin überrascht, dass du wieder in Samara bist. Man hörte so wenig von dir in letzter Zeit.“

„Musste nachdenken“, gab der Hüne einsilbig zurück und nahm Platz. Das Feuer prasselte in der Stelle, warm, angenehm. Ein besänftigendes, rotes Flackern, irgendwie einlullend. Selbst die Wärme schien ihn nicht zu erreichen. Das Gefühl von Gemächlichkeit, von Bequemlichkeit - es zog einfach vorbei. Zu tief saß… etwas. Er konnte es nicht einmal benennen. Es war keine Frustration. Es war kein Hass. Es war keine Resignation. Mit all diesen Dingen kannte er sich so verdammt gut aus, dass er sagen konnte, dass es sich nicht darum handelte.

Aber Rastlosigkeit, die kannte er auch - und die bildete einen guten Teil dessen, was ihn wie ein Schildwall umgab.

„Ich muss das Orakel finden.“

Als würden die Botschaften nicht merkwürdiger werden. Zumindest für Alandor war diese ganze Situation überaus bizarr. Sie fanden ihn, mehr tot denn lebendig, in einer Kammer in der Feste in La Coeur, er wies alle von sich, sprach kein Wort, verschwand mit Gewalt und wortlos, nur um… jetzt wieder vor seiner Tür aufzutauchen, ausgerechnet vor seiner, und nach dem Orakel zu fragen? Und überhaupt…

„Welchem?“

Die sonst ausdruckslose, steinerne Miene des Hünen bröckelte einen kurzen Moment. Sie verzog sich, zu einem Anblick, den man nie gerne an solchen Menschen sah: Zorn. Vermutlich, so stellte Alandor für sich fest, war der Krieger ungeduldig. All dies ließ sich an jemandem wie ihm stets schwer ablesen, woher also hätte er es wissen sollen? Die Frage selbst war indes nicht völlig unsinnig. So dumm sie auch klingen mochte, hatte sie ihre Berechtigung. Zumindest konnte der Krieger wohl froh sein, dass er überhaupt bar aller Höflichkeiten sofort auf sein Anliegen einging, statt sich noch über dessen barsche Art zu beschweren.

Dem Orakel. Es gibt nur eines. Das eine Weib, das noch heute wehklagend und voller Kummer bedauert, Kaleran Sturmfürst je die Hand gereicht zu haben.“

Ehrliches Erstaunen packte den Magier. Erstaunen… und Neugier. Das Orakel war existent, es war real. Viele aus dem einfachen Volk - selbst unter Elben und Zwergen - hielten es für eine Mär. Er als Magier der Zirkel wusste es besser. Doch das Orakel zu finden, war ausgeschlossen. Sie lebte mit ihrer Qual, so gut sie es konnte. Doch sie litt so sehr, dass sie sich von der Welt und all ihren Fragen über die Zukunft zurückgezogen hatte. Sie wechselte stets den Ort, war nie zu erkennen, versteckte sich als einfache Reisende, quartierte in Höhlen, verlassenen Festungen und an Orten, die die ganze Welt vergessen hatte. Sie kannte sie alle, ihre Geschichte, ihre Zukunft. Man fand sie nicht. Schon wenn man sie suchte, dann wusste sie davon - und würde nicht gefunden werden, wenn sie das nicht auch wollte.

Thorin, der Krieger, der Magie hasste - er saß hier in seiner Wohnstube und forderte von ihm, dieses Wesen zu finden. Wenn er von ihr wusste, was schon überraschend genug war, dann musste er auch wissen, dass es unmöglich war, seiner Forderung nachkommen zu können. Doch gerade, als Alandor ansetzen wollte, ihm zur antworten, ihm die völlige Nichtigkeit seiner Bitte zu erklären, erhob sich der Krieger wortlos wieder. Er trat an ihm vorbei zur Tür, noch lange bevor er ihm auch nur einen Tee hätte anbieten können.

„Ich bin für drei Tage im Gasthaus zur goldenen Rose. Liegt südöstlich, knapp außerhalb der Stadt. Der Wirt kennt meinen Namen nicht, beschreib mich.“

Kein ‚bitte‘, kein ‚danke‘, kein ‚es war schön, dich mal wieder gesehen zu haben‘ und erst Recht keine Erklärungen. Eine Forderung hatte es gegeben, völlig unmöglich, und der Hüne zog wieder seiner Wege. Er zog die Tür auf, trat in das Straßengewirr hinaus und noch während er sie ins Schloss zog, warf er eine alte, staubgraue Kapuze über, die so tief ins Gesicht hing, das nichts und niemand ihn erkennen könnte. Alandor hatte ihn gesehen. Er hatte die Ansätze der Lederrüstung erkannt, der alte Harnisch seines Vaters. Die Axt war nicht zu sehen gewesen - nicht in der Hand, nicht am Gurt, nicht auf dem Rücken. Vielleicht lag sie im Gasthaus. Aber dieses Gewand, diese Lumpen… warum war er noch immer so bemüht, nirgendwo erkannt oder gesehen zu werden?

Alandor blieb mit Fragen zurück. Mehr als er in seinem verwirrten Geist stellen konnte und mehr, als er Antworten je würde einfordern können. Aber er kannte Thorin. Ein rauer Gesell, übellaunig gegen jeden Elb, Magier und jedes Blaublut, aber im Herzen ein guter, gerechter Bursche. Jemand, der loyal war, der jede Unterstützung verdient hatte. Vor allem, nachdem er so maßgeblich zum Sturz Phillipe des Dritten beigetragen hatte. Damals hatte man Thorin krönen wollen… doch er hatte abgelehnt. Seine Reise hatte er fortsetzen wollen.

Unsicher schüttelte der Bannwirker den Kopf. Er würde Antworten nur bekommen, falls er Thorin wieder aufsuchte. Und sobald er das tat, hätte er wohl besser etwas dabei. Irgendetwas. Würde der Krieger durch den Mangel an Informationen frustriert sein, würde er kein einziges Wort aus ihm heraus bekommen.

Etwas ging mit dem Kahlkopf vor sich. Er… hatte sich verändert. In kurzer Zeit. Keiner der vielen, die ihn kannten, konnte es recht benennen. Aber als sie an seinem Krankenbett gestanden hatten, als seine Besucher und er einander angestarrt hatten… Alandor hatte es gesehen. Wie er Gesichter, alt vertraut und liebgewonnen, anstarrte als würde er sie zum ersten Mal erblicken. Etwas ging hier vor sich - und es war die Natur aller Magier, solchen Mysterien auf den Grund gehen zu wollen.

Rasch ließ er einen Boten kommen, sandte eilig aufgesetzte Schreiben in alle Himmelsrichtungen und packte seine Sachen, um für zwei Tage in die Bibliothek zu ziehen. Er würde dort essen und schlafen müssen, Stunde um Stunde im Eiltempo arbeitend, würde er etwas Vorzeigbares aufwerfen wollen.

Thorin selbst kehrte zurück in die Schenke. Zur goldenen Rose. Der malerische Name wurde dem Gasthaus nicht wirklich gerecht, wie es so oft der Fall war. Aber eine schöne Geschichte steckte dahinter - wie so oft. Sie interessierte ihn nicht. Die Betten waren frei von Wanzen und die Keller frei von Ratten. Selbst wäre das Bett aus Stein gewesen, er hätte damit leben können. Es galt zu warten und warten, das hatte er gelernt. Tagelang im eigenen Blute liegend und wochenlang wie ein hilfloser Krüppel vegetierend… warten hatte er gelernt.
 

Die Sachen waren längst gepackt. Viel gab es nicht, das zusammen geräumt hätte werden müssen. Der Lederharnisch, den trug er längst. Eine alte Eisenaxt, schartig - ein Geschenk. Er hatte den Schmied gefragt, wie viel das Stück kosten solle. Er hatte es von dem Wenigen bezahlen wollen, was er bei sich trug, doch als dieser ihn erkannte, ließ er nicht mehr mit sich reden. Thorin konnte wohl froh sein, dass es nur die Axt war, die man ihm aufgedrängt hatte. Obwohl er gerne mehr genommen hätte. Eine bessere Waffe vielleicht, in besserem Zustand. Doch die Zeiten, da er schamlos nahm, was er wollte… waren vorbei. Denn es herrschte Frieden, nicht wahr? Die Zeiten des Sonnenscheins und Überflusses, der lachenden Kinder und der lächelnd gackernden Marktweiber. Die Zeit, in der viele den Bund schlossen, Kinder zeugten oder aufzogen und in der sich jeder über alles freute, was er besaß oder erwarb oder geschenkt bekam.

Ihm wurde schlecht beim Gedanken daran.

Die Dämmerung war längst herein gebrochen. Der Himmel dunkelte zusehends ab und die letzten Tagesstunden verstrichen. Es war Zeit, zu gehen. Aber irgendwie musste er es wohl geahnt haben. Als es an der Tür klopfte, verhalten, leise - als wolle der Ruhestörer keinen Schlafenden wecken -, da atmete der Krieger erleichtert auf. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm blieb. Nun, da das Alter doch zuschlug und seinen Tribut forderte, nun… da hätte es schmerzlich werden können, Spuren und Gerüchten nachzujagen, bis seine Knochen alt und morsch genug geworden waren, damit ein Bär oder ein paar Wölfe ihn würden reißen können. Alandor war ein guter Anhaltspunkt gewesen, wobei der Weg schrecklich einfältig gewesen war, der ihn an dessen Tür geführt hatte.

Magier waren kluge Menschen mit unzähligen Büchern - und was sie nicht wussten, konnten sie von anderen Magiern oder aus deren Büchern binnen kürzester Zeit erfragen. So stellte sich der Kahlkopf Arbeiten auf der Ebene des Zirkels vor. Tatsächlich kam das der Wahrheit überraschend nahe.

„Komm rein“, forderte er schlicht.

Wie erwartet - nein, erhofft! - trat Alandor ein. Der Bannmagier lächelte und brachte einen Gruß hervor, halb gestammelt. Seine Augenringe hätten sich mit dem Graben von Quentloas messen können und waren so rot wie das Blut in seinen Adern. Er hatte sich zu Tode geschuftet in den vergangenen Tagen. Für den Kahlkopf war das einerlei - wichtig waren nur die Ergebnisse. Es waren immer nur die Ergebnisse wichtig… nicht wahr?

„Was hast du?“ verlangte er sofort zu wissen. Alandor aber schloss in Ruhe die Tür, besann sich einen Moment und trat dann, noch immer schweigend und damit die Geduld Thorins auf die Probe stellend, näher. Schließlich zog er sich einen kleinen Schemel nahe des Bettes herbei und nahm dem Hünen gegenüber Platz.

„Zuerst…“ hob er an und hielt dabei, wie dem Krieger jetzt erst auffiel, ein kleines Notizbuch an sich gepresst, „wirst du mir Rede und Antwort stehen. Ich will Erklärungen. Von dem Moment an, als wir dich in La Coeur fanden!“

Ein ungeduldiges Seufzen drang aus der Kehle des Hünen. Irgendwann, so hatte er befürchtet, hatte dieser Punkt ja einmal kommen müssen, nicht wahr? Das Problem war… der zeitliche Rahmen, den der Bannmagier gesetzt hatte. Nichts anderes. Der Moment, in dem sie ihn fanden - und alles weitere - waren nur die Symptome. Deren Wurzel aber verbarg sich im Schatten… und reichte viel, viel tiefer, viel weiter zurück.

„Was glaubst du, ist in den letzten Jahren geschehen?“ verlangte der Krieger zunächst zu hören. Eine Frage, die Alandor mehr als nur aus dem Konzept brachte. Was geschehen war? Er wusste es doch selbst am besten, oder nicht? Er hatte schließlich all diese Dinge ins Rollen gebracht, er allein hatte… aber gut - sein gegenüber wusste vermutlich all diese Dinge selbst am besten. Er wollte auf etwas hinaus und der Bannwirker war gewillt, das Spiel mitzuspielen. Immerhin war er der Antworten wegen hierhergekommen.

„Wie weit soll ich zurückgehen?“

„Bis zum Anfang.“

Alandor seufzte. Die Nacht würde lang werden, das hatte er befürchtet. Hätte Thorin ihm nicht einfach sagen können, er suche nach einem legendären Schatz oder dergleichen? Überhaupt war es erschreckend, was er schon bis jetzt gehört und gesehen hatte. Thorin war immer schon ein Tavernengast gewesen. Kannte man den Krieger näher, hätte man nur zu gerne seine Witzchen darüber gerissen, dass er bei der Geburt über den Schanktresen direkt ins Schnapsfass gerutscht sei. Er trank gerne und viel, er raufte gerne und er ging in den Gasthäusern als gerne gesehener Gast ein und aus. Aber der Wirt unten… dem hatte er Fragen gestellt. Nicht nur, ob der von ihm beschrieben Gast hier ein Quartier hätte und welches es sei. Nein, er hatte mehr wissen wollen. Der Wirt war mit seinem Gast unzufrieden. Er aß wenig und er trank nur Säfte. Keinen einzigen Schluck Bier oder Schnaps, er saß allein und schweigsam in seiner Ecke und starrte auf den Tisch herab. Das alles passte so wenig zu Thorin wie der Blick, mit dem er die Krankenbesuche gemustert hatte - oder die Frage, die er ihm nun stellte.

„Du bist nach Lumiél zurückgekehrt. Heimweh, vermute ich. Du hast uns nie erzählt, warum. Du hast dich umgehört, dich am Hof eingefunden und vom neusten Wahnsinn seiner Majestät gehört. Du hast… dich entschlossen, dagegen vorzugehen. Ein Ball war der Beginn deiner Rebellion gewesen. Dort hast du damals erste Kontakte zum Adel geknüpft. In Samara schließlich hast du dich der Rebellion angeschlossen und rasch das Ruder übernommen. Mehrere Kämpfe hatte es gegeben, du hast über zwei Jahre hinweg die Kräfte gesammelt. Willige, die dir und der Sache nutzen konnten, hast sie um dich geschart und wie deine Familie zu hüten gewusst. Du hast Samara aus dem Untergrund regiert, mit Ashes und Alistairs Hilfe Sundergrad befreit und als Verbündeten gewonnen. Du… ach Thorin, du kennst diese Geschichte besser als jeder von uns! Du hast all das initiiert, du allein hast das Heer schließlich von der Kreuzwegfeste nach La Coeur marschieren lassen und es war deine Hand, die die Axt führte und den Kopf von den Schultern dieses miesen kleinen Cholerikers schlug. Was soll das hier?“

Thorins Blick hatte sich nicht verändert. Während der ganzen Erzählung nicht. Die steinerne Maske blieb und erst jetzt, da Alandor selbst die Geduld ausging, schüttelte er vage erkennbar den Kopf. Langsam nur hob er sich vor, stützte sich mit den Ellbogen auf die Knie und blickte, so vornüber gebeugt, dem Magier wie ein lauerndes Raubtier entgegen.

„Du irrst. Alles, woran du dich erinnerst, ist eine Lüge.“

Hatte der Magier zunächst geglaubt, sich verhört zu haben oder einem Scherz aufzusitzen, dessen Pointe an ihm vorbei zog, so bemerkte er doch nachträglich den Ernst in der Stimme seines Gegenübers. Wie aber konnte er das nur ernst meinen? Hatte er vielleicht irgendetwas entdeckt? Gerade als er sich erkundigen wollte, hob der Kahlkopf von alleine an.

„Wir wurden alle betrogen…“
 

Es begann, wie es sein sollte. Ich kehrte zurück nach Lumiél, zurück zum Hof und vernahm die neusten Befehle seiner Majestät. Aber ohne es zu wissen, wurden wir erwartet. Wir alle. Es war ein abgekartetes Spiel. Eine Hand voll entkam, als er den Befehl gab. Nicht der König, nein. Der war längst nur noch eine Marionette. Sein Handlanger, sein… ‚Berater‘. Duncan. Du kannst dich nicht erinnern. Du kennst diesen Namen nicht einmal mehr, ich sehe es in deinen Augen.

Er war Chronist. Ein Mensch, gesegnet von den Kräften der weißen Halle. Er beherrschte die Zeit. Etwas, das wir schmerzlich zu spüren bekamen, ohne es zu wissen. Er hatte den Befehl gegeben, uns alle zu erschießen. Armbrustbolzen zerfraßen Dutzende Leiber. Ich entkam. Ich weiß bis heute nicht, ob er mich entkommen lassen wollte, oder ob er einfach keine Option gefunden hatte, bei der ich starb. Als mir der Irrsinn klar wurde, versuchte ich, einen Widerstand aufzubauen.

Ich hörte Gerüchte von Rebellen in Samara. Du kannst dir das nicht vorstellen. Hunderte Rebellen. Zehn Jahre strichen ins Land. Nicht zwei - zehn. Wir zogen von Gefecht zu Gefecht. Wir bekamen keine Unterstützung. Alle, die diese hätten leisten können, waren tot. Ersetzt worden. Verschleppt, bestochen. Und wir verloren. Er hatte seine Männer immer gut instruiert. Wartet dort, hinter dem Hügel. Genau dort. Versteckt euch an diesen Bäumen - nicht an jenen. Wo wir glaubten, einen Hinterhalt zu legen, wurden wir stets bereits erwartet und selbst zur Beute. So viele Jahre… und wir verloren viele Leben. Mitstreiter… Bekannte… Freunde. Die Liste ist lang.

Aber bei den Toten hört es nicht auf. Es genügte ihm nicht, und Mann für Mann auszurotten. Er verhinderte, dass wir überhaupt erst zur Bedrohung wurden. Vielen Leuten bin ich nie begegnet. Diese… diese Ashes? Ja, ich hörte von ihr. Sie war eine Elbe, nicht wahr? In Sundergrad. Mit ihrem Freund hatte sie versucht, die Stadtwache zu beklauen. Es wäre ihnen fast gelungen. Aber eben nur fast. Drei Jahre, nachdem alle Welt sie zur persönlichen Hure gemacht und sich an ihr bedient hatte, war man ihrer ständigen Widerworte überdrüssig. Nach den ganzen Bälgern, die man ihr hatte rausschneiden müssen, war eh nichts übrig geblieben, das man noch begehrte.

Du und dein Freund… Drakis? Ihr wart dort. Zehn Jahre, nachdem der Niedergang der ganzen Welt begonnen hatte. Die Dunkelheit breitete sich aus, die Götter schwiegen, starben im Stillen und Lumiéls Heere packten die Welt im Würgegriff. Land um Land brach ein… und stärkte den Gottkönig. Wir waren ein kleiner Haufen, vielleicht noch ein Dutzend. Nicht viel übrig von einigen Hundert. Wie die Welle sich am Felsen bricht, wollten wir im Kampf sterben. Ein letztes Mal aufbegehren. Wir wollten La Coeur angreifen, uns bis in den Palast vorkämpfen. Von Duncan… wussten wir noch immer nichts.

Dann kamt ihr zwei. Aus dem Nichts, um uns zu erzählen, dass ihr aus einer… einer anderen Zeit kommen würdet. Einer anderen, aber gleichen Welt. In der alles seinen Weg genommen hätte, wie es vorbestimmt war. Ihr erzähltet uns von Duncan, dem Zeitstromlenker, der uns um unser Schicksal betrogen hatte. Wie er die Jahre der Welt, der ganzen verdammten Welt, nach Belieben vor- und zurückgedreht hatte. Um all die Ereignisse vorher zu sehen und uns ein ums andere Mal in offene Messer rennen zu lassen. Ihr habt behauptet, ihr wärt gekommen, um uns zu helfen.

Mit eurer Hilfe griffen wir an. Wir befreiten sie aus dem Kerker. Ninafer. Noch ein Name, an den du dich nicht erinnern kannst. Du hast ihn nie vernommen. Wie Ashes in Sundergrad, war sie ein Spielzeug geworden. Früh gefangen genommen, hatte sie mehr auszustehen gehabt als die Elbe. Sie war… des Königs Liebling. Als ich sie erstmals sah, war sie ein zitterndes, verwirrtes Bündel Fleisch, das widerlich nach zu vielen schmutzigen Händen und dem Samen zu vieler Männer stank. Sie erinnerte mich an mein Weib, an das, was mit ihr geschehen war.

Ich hielt es nicht aus. Ihre Gegenwart, euer närrisches Gefasel von einem Sieg, einer Perspektive, ich musste fort. Ich betrank mich, wie so oft. Mehr als je zuvor. Aber sie folgte mir… immer, überall hin. Erst sehr viel später erkannte ich, was sie war, was sie… zu werden drohte. Aber da war es schon zu spät.

Wer ist Ceteus, frage ich dich. Und ich weiß, was du mir antworten wirst. Ich habe die Schreine und Altäre gesehen. Die Tempel. Schwarze Roben auf offener Straße. Kennst du eine Delilah? Sie war eine Dryade, eine Dienerin des natürlichen Gleichgewichtes… eine Vertreterin des Willens Phylias, der Göttin der Natur. Du runzelst die Stirn - ich kanns dir nicht verdenken. Phylia? Ceteus allein gewährt den Dryaden doch ihre Macht!

Magier beten zu Jebis, damit er ihnen Weisheit schenkt. Aber nein, wartet - ihr betet zu Ceteus, damit er euch das Wissen schenkt, eure Feinde zu zermürben.

Es gab ein ganzes Pantheon von Göttern.

Damals begann es. Ninafer ging einen Pakt mit Ceteus ein. In ihrem Fleisch wandelnd, würde sie seine Macht nutzen können. Sie… wollte Lumiél helfen. Auf die einzige Art, die verblieben war. Es wie ein Geschwür heraus schneiden, ehe die ganze Welt daran erkrankte und starb. Du und dein Kumpane, ihr habt versucht, uns zu erzählen, dass alles enden würde, wenn wir nur Duncan töten könnten.

Er, der die Zeit manipuliert hätte. Gegen den die Bewahrer der weißen Halle machtlos gewesen seien. Sie hätten euch geschickt, ihre Drecksarbeit zu erledigen. Ich konnte euch diese wilde Geschichte nicht abkaufen… Ninafer aber tat es. Sie wusste jedoch auch, dass ihr euch das zu einfach vorgestellt habt. Duncan war kein Dummkopf, der ungeschützt über die Straße schlenderte.

Sie sammelte Kräfte. Die Harpyien aus dem Süden, Untote aus hunderten Kriegen und dutzenden Schlachtfeldern, sie sammelte die Rebellen aus Samara ein, alles, was sie finden und unterwerfen konnte. Ich war stets an ihrer Seite, ihre rechte Hand, ich… teilte ihre Vision. Als es so weit war, schlugen wir zu. Ein einziger, präziser Schnitt - so hatte sie es genannt. Wir brannten ganz La Coeur nieder. Jedes Herz, das darin schlug, war verdorben. Die Mauern, die Häuser… ich erinnere mich an das Geschrei, an so viel Blut und Qualm, an die Feuer. Ich erinnere mich, wie ich ihr voran die Tore erstürmte, wie diese Marionette reglos zu Boden fiel. Unser Ziel war ein anderes.

Sie hatte diesen Pakt geschlossen, um Lumiél zu retten. Das, was sich noch retten ließe… was zu retten noch wert war. Den Rest hatte sie Dunkelheit und Feuer überantwortet - und ich gab ihr Recht. Sie hatten es verdient, sie alle. Jahrelang hatten sie uns im Stich gelassen, wenn wir um Nahrung, Unterschlupf, Unterstützung bettelten und nun mussten sie brennen für ihren Verrat, für ihre Untätigkeit. Aber der Pakt gab ihr nicht nur die Macht, eine Armee um sich zu scharen und die Zitadelle zu errichten, von der aus sie alles kontrollierte.

Er forderte sie ein. Als Duncan und Ninafer ihre Kräfte maßen… wurde ich überflüssig. In diesen wenigen Augenblicken wurde alles entschieden. Das Schicksal der Götter, das der ganzen Welt. Meine Dienste wurden nicht länger benötigt… und er nahm mir alle Geschenke, die ich erhalten hatte, ihm besser dienen zu können. Er nahm mir die Unsterblichkeit, die schnelle Heilung, die Dunkelsicht, die Kraft - alles. Die Kräfte, die in diesem Raum wüteten, richteten mich binnen weniger Augenblicke so zu, wie ihr mich vorgefunden habt.

Ninafer konnte Duncan nicht töten. Das… war vielleicht ihr Ziel gewesen - aber nie das Seine. Ceteus schwächte den Chronisten, bis er unvorsichtig wurde… und schlüpfte in ihn hinein. Während diese verräterische Schlange hatte, was er wollte - und nahezu sofort verschwand - stürzte Ninafer. Sie war schon so oft gestorben, aber Ceteus‘ Gegenwart hatte sie immer gerettet.

Jetzt war er fort… und all die Wunden aus den Jahren taten sich wieder auf. Duncan verschwand und kurz darauf… veränderte sich die Welt. Ich kann es nicht in Worte fassen. Häuser wuchsen, Brände verebbten, unzählige Male sah ich Sonne und Mond einander jagen, fast im Takt meines Herzschlages. Er manipulierte alles, wie es ihm gefiel und als es endlich aufhörte, da forderte er seinen Teil des Paktes ein. Seine Bezahlung dafür, ihr diese Macht gegeben zu haben.

Er holte sie zu sich.

Du kennst sie nicht, hast sie nie getroffen… und ich will jede Wette eingehen, dass ihr einander hättet kennen müssen. Ihr alle erinnert euch an einen Thorin, der ich nicht bin und nie war. Vielleicht war das seine Strafe für mich, vielleicht auch nur Gehässigkeit… aber während er die ganze Welt veränderte, Häuser, Städte, Kontinente, bis hin zum Gedächtnis jedes einzelnen Lebewesens… blieb ich davon verschont. Ich erinnere mich an all das Blut, an die hässlichen Notwendigkeiten, an die unglaublichen Kräfte, die ich wirken sah… und an die lange Dunkelheit.

Doch es war mehr als das, nicht wahr? Er erinnerte sich nicht nur dieser Dinge. Sie allein waren es nicht, die ihn so rastlos anspornten, hier zu sitzen und doch aufspringen zu wollen. Sie allein trieben die Gedanken nicht voran, Alandor einfach nieder zu schlagen und sein Buch zu nehmen. Sie allein hatten ihn auch nicht an die Türschwelle des Magiers getrieben.

Da war mehr.
 

Während Alandor das Gesprochene auf sich wirken ließ, es überdachte, versank der Krieger in Gedanken. Erinnerungen, genauer gesagt. Er sah sie noch immer so deutlich und klar vor sich. Sein Blick hing an den Händen, mit denen er ihre Haut berührt hatte. Er hatte ihren Kopf gehalten, feucht vom Blut, eine Wunde an ihrem Bauch abzudrücken versucht. Alles war hoffnungslos, er hatte es gewusst. Der Tribut des Paktes war fällig geworden.

So oft hatten sie gestritten und sich gehasst, einander angeschrien und angefaucht, sie hatten oft gegeneinander gearbeitet und nur selten akzeptiert, aus der Not heraus Alliierte zu sein. Sie hatte ihre Spielchen mit ihm zu treiben versucht und er hatte ihr dafür das Leben schwer gemacht. Gemeinsam hatten sie Großes vollbracht, aber hatten doch immer den Anschein von tief empfundener Feindschaft bewahrt.

Als sie aber dort lag, in seinen Armen, und starb… zerbrach etwas.

“Ich hatte nie die Gelegenheit, dir zu sagen… ich-“ hörte er sich noch einmal flüstern. Doch ehe er den Satz hatte beenden können, riss die Niederhölle selbst auf. Eine Kraft, die er nicht in Worte fassen konnte, riss ihn von Ninafer fort, warf ihn wütend gegen die Wand. All die gebrochenen Rippen, all die tief klaffenden Wunden schmerzten schrecklich und ließen ihn fast das Bewusstsein verlieren. Nur sein eiserner, zäher Wille ließ ihn sich daran klammern und er sah, wie der brennende, schwarz wirbelnde Schlund Ninafers Leib in sich zerrte, wie die abgemagerten, rissigen Arme und Hände der Verdammten sie hinein zerrten.

Er wusste, was sie dort erwarten würde. Niemand, der in Ceteus‘ Reich eintrat, hatte es dort mit einem Ort ruhiger Entspannung zu tun. Qual und Marter in alle Ewigkeit, denn die Verdammten hatten ihre Sünden zu zahlen. Er hatte mit dem Gedanken nicht leben können, ihr diese wenigen Worte nicht zuteilwerden zu lassen. Und dann, plötzlich, hatte er damit leben sollen, sie dieses Schicksal erdulden zu lassen. Wenn er zu dem einen schon nicht fähig war… wie hätte er sich zum anderen in der Lage sehen können?
 

„Dir ist bewusst, wie… wirr, lückenhaft und abwegig das alles klingt, oder?“ erkundigte sich Alandor. So, wie der Bannmagier endlich aus seinen Gedanken erwacht war, riss er auch Thorin aus der Starre der Erinnerungen hervor, die ihn seither marterten.

Er trank nicht mehr. Ninafer hatte es ihm abgewöhnt. Stattdessen meditierte er, um die Bestie, die so sehr Feind wie notwendiges Übel war, bezähmen zu können. Hätte er es Alandor erzählt, vielleicht hätte er unterstreichen können, wie wenig er mit dem Mann gemein hatte, den dieser zu kennen glaubte. Doch es war nicht nötig, ihn zu überzeugen.

Alandor würde es nie begreifen, nie akzeptieren können. Er war Skeptiker, er brauchte Beweise, die aufzubringen unmöglich war. Zumindest das sah der rationale, kühle Verstand des analytischen Magiers ein. Er vermutete mehr hinter alledem, er vermutete eine andere Geschichte, vielleicht etwas Einfacheres, vielleicht nicht einmal das. Es war einerlei - Thorin war nicht bereit, mehr zu sagen. Nicht mehr als das wenige Wirre, was er schon berichtet hatte. Alternative Zeitlinien noch und nöcher, mehrere Alandors, fehlgeschlagene Raubzüge und Hinterhalte, die zu Hinterhalten wurden - so sehr sich der Magier seines brillanten Verstandes rühmte, gingen diese Dinge doch weit über sein Verständnis hinaus. Er begriff nur, wie schrecklich ernst dem Krieger alles war. Seine Geschichte… sein Anliegen… und was immer daraus resultieren mochte.

Tatsächlich fiel es Alandor mit am schwersten, zu glauben, dass Ceteus selbst je ‚Konkurrenz‘ gehabt haben könnte. Es gab nur den einen, wahren Gott - und er geizte nicht mit Beweisen seiner Existenz. Wo waren all diese anderen Götter verblieben? Wo waren… Phylia und Jeb? Es war kaum vorstellbar, dass eine solch mächtige Existenz, ein Gott, sich vom Treiben eines mit der Zeit spielenden Magiers oder Hexers oder Chronisten beeindruckt zeigen würde. Oder gar davon niederringen ließ. Aber selbst wenn Sterbliche oder die Mächtigen Götter hätten töten können, hätte es doch Spuren geben müssen. Irgendwelche. Die Götter wurden seit Jahrtausenden verehrt. Wenn Thorins Geschichte stimmte, hätten all diese Jahrtausende manipuliert werden müssen, oder nicht?

Während der Kopf des Magiers zu rauchen begann, erkundigte sich der Krieger nach dessen Ergebnissen.

„Es gelang mir nicht, das Orakel zu finden. In keiner Bibliothek gibt es einen Verweis darauf, der zu einem aktuellen Versteck führen könnte. Tatsächlich war es der Bibliothekar, der darauf aufmerksam wurde, das ich immer wieder Werke zum selben Thema erfragte. Er erzählte mir von einem Burschen, der wohl vor einigen Tagen vorbei gekommen sei. Dieser hätte ebenfalls nach solchen Werken gefragt und das damit begründet, dass eine Räuberbande in Kal Terrika ihr Unwesen treiben würde. Ständig würden sie Karawanen überfallen, Reisende für horrende Lösegeldforderungen als Geiseln nehmen und der Wache entwischen. Angeblich rühmen sich die Räuber sogar, niemand könne sie unvorbereitet treffen - weil das Orakel ihnen dienlich sei. Ver-… versteh mich bitte nicht falsch. Ich habe mich wirklich bemüht und wünschte, ich könnte dir mehr präsentieren als die Gerüchte aus dritter Hand. Aber es ist die einzige Spur, die ich überhaupt habe. Es könnte auch sein, dass dort nicht mehr ist als ein Haufen Halsabschneider mit viel Glück.“

Alandor hatte so inständig gehofft. Er hatte die Enttäuschung in Thorins Gesicht gesehen, trotz der steinernen Fassade, und hatte zu hoffen gewagt, dass er sein irrsinniges Unterfangen aufgeben würde. Doch kaum von diesem Gerücht begonnen, das er aus reiner Gründlichkeit und seinem eigenen Gewissen heraus nicht hatte unterschlagen können, da keimte neuerlich Hoffnung in den Augen des alternden Kriegers auf. Und nun war ihm klar, was der Hüne zu tun beabsichtigte.

„Thorin, ich bitte dich… lass das sein. Du selbst hast mir gerade erzählt, diese… diese Geschenke von Ceteus oder was auch immer seien alle fort. Ich weiß nicht, was das für dich bedeutet, aber auch du wirst nicht mit einer ganzen Gruppe fertig - nicht, wenn sie so gut organisiert sind und eine Festung für sich eingenommen haben.“

Der Hüne ließ nicht mit sich reden. Ganz wie erwartet, wedelte er die Einwände, Hinweise, Ratschläge und Mahnungen hinfort wie einen Schwarm lästiger Fliegen. Egal, wie oft, wie eindringlich der Magier ihm nahe legte, es zu überdenken - der Krieger packte seine sieben Sachen. Erst, als es fast zu spät war, eilte Alandor mit wenigen, hastigen Schritten zur Tür und stieß diese - bereits halb geöffnet - wieder zu.

Er ertrug das zornige Funkeln in den Augen des Mannes mit Geduld.

„Das ist ein Himmelfahrtskommando… zumindest, wenn du so gehst. Gib mir zwei Tage. Nur zwei weitere Tage. Ich will… mein Möglichstes tun, das du dort wenigstens heil wieder hinaus gelangen kannst.“ Es war ein Strohhalm, das war Alandor klar. Und mehr noch, wusste er schmerzlich einzusehen, dass der Krieger über alle Dächer verschwunden wäre, sollte er auch nur wagen, jemanden hinzu zu ziehen. In Alandors Erinnerungen hatten sie stets ein rein professionelles Verhältnis gepflegt. Keine Freundschaft oder dergleichen, der Krieger war ihm gegenüber stets etwas barsch und unterkühlt gewesen und hatte ihn spüren lassen, wie hoch Magier der Zirkel in seiner Meinung standen. Es musste einen Grund gegeben haben, warum er ausgerechnet zu ihm gekommen war. Möglicherweise, weil er eben diese Professionalität gesucht hatte. Keinen warmen Händedruck und freundliche Fragen von weiteren Personen, an deren gemeinsame Geschichte er sich nicht erinnern konnte.

„Zwei Tage“, bekräftigte der Kahlkopf, zog die Tür auf und bat Alandor hinaus, um ihm das Holz vor der Nase zuzuschlagen. Nicht in Hast, wohl aber in gewisser Eile wandte sich der Bannwirker ab und schritt davon. Er würde jede Stunde davon brauchen. Bei Ceteus, wenn diese Tage erst einmal vorbei wären, würde er in sein Bett fallen und mindestens einen Tag durchschlafen, ganz gleich, was Vivica dazu sagen würde.
 

Die Zeit verstrich. Angesichts der Umstände wohl eine bemerkenswert mehrdeutige Anmerkung. Auf den Morgen folgte der Mittag, der Nachmittag, der Abend - die lange, dunkle Nacht. Träume gab es keine. Thorin träumte schon seit vielen Jahren nicht mehr. Er war dankbar dafür - so ließ ihn zumindest ein Teil der Dämonen zufrieden, die ihn plagten. Erst als Ninafer seinen Geist wieder erschütterte, heraufbeschworen aus unwillkürlich aufsteigenden Erinnerungen, konnte er sich sicher sein, wirklich zu schlafen. Die Erinnerungen hatten seine Träume ersetzt - sie waren der andere, der verbliebene Teil seiner Marter.

Zwei Tage und keine Stunde mehr. Alandor hielt sein Wort und brachte ihm, was er in der kurzen Zeit hatte auftreiben können. Er überreichte dem Kahlkopf ein kleines Amulett, welches die Sicht von Bogenschützen verschleiern sollte. Zwei Fläschchen eines Trankes, die ihn durch Wände laufen lassen sollten, allerdings jeweils nur wenige Herzschläge hielten - sie sollten seinen Weg hinein und heraus sichern. Das letzte Stück war ein kleiner Stein, der - sobald anderes Licht erlosch - einen grellen Blitz von sich geben würde. Ein kleines Geschenk Drakimhs an den Hausstand Lameraks und zweifellos ein Scherz - denn er hatte ihn in einer lichtdicht verpackten Box erhalten und sein blaues Wunder erlebt, als er die Box geöffnet hatte. Thorin dagegen würde er nützen… vielleicht… irgendwie. Mehr war für diese kurze Zeit aufzutreiben nicht möglich gewesen, sodass der Bannwirker auch wahrlich nicht zufrieden mich sich war, als er den Hünen doch ziehen lassen musste.

Ein letztes Mal versuchte er sich daran, auf ihn und sein Gewissen einzureden, doch all die Finten, all die Zugänge, die seine Erinnerungen ihm nahe legten… scheiterten. Mehr und mehr schien er sich darüber klar zu werden, dass etwas an der Geschichte des Kriegers wahr sein könnte - das dies eben doch nicht der Thorin Eichenschild war, den er kannte. Dieser war ein rauer Mann, selten froher Laune, doch selbst diese Beschreibung spottete dessen, was er hier sah.

Der Kahlkopf ließ sich nicht umstimmen - riss sich aber zumindest so weit zusammen, sich für die Dreingaben zu bedanken. Er wollte sie bezahlen und Alandor hätte sein Geld gerne abgelehnt. Als der Krieger jedoch mit jenem gewichtigen Unterton erklärte, er könne sein Geld dort nicht verwenden, wohin er zu gehen gedachte… nahm der Magier es schweren Herzens doch an. Sein Freund - ob sie einander nun kannten oder nicht, woher und wie auch immer - schickte sich an in den Tod zu ziehen. Er wusste es, ganz offensichtlich, und wollte dennoch aufbrechen. Was sollte er dazu sagen? Was konnte er schon noch anderes tun, als ihm in das Gewissen reden zu wollen, zu dem er plötzlich keinen Zugang mehr zu haben schien?

Als der Hüne das Gasthaus verließ, war es plötzlich der Bannmagier, der mit einem Becher Apfelsaft in der Hand am hintersten Tisch in der Ecke saß. Er konnte nicht zurückkehren. Noch nicht. All die Geschehnisse der letzten Tage wühlten ihn zu sehr auf. Das Orakel, die Dinge, die er darüber gelesen hatte, die Geschichte dahinter, die Gerüchte über die Räuber in Kal Terrika, nicht zuletzt aber die Worte Thorins. Alles, woran er sich erinnerte… eine Lüge? Gesponnen und konstruiert von Ceteus. Dem einzigen Gott, den diese Welt noch kannte. Wer Kampfesglück wünschte, betete zu ihm. So wie jeder, der Wissen suchte, Liebe oder Erlösung, Diebesglück oder reiche Beute beim Gräberplündern. Sie alle kannten nur seinen Namen. Nur seine Priester.

Konnte ein Gott selbstsüchtig sein? Wie maß man eigentlich die Motive eines Gottes? Hatte er überhaupt welche, die man rational und mit dem Verstand eines Sterblichen nachvollziehen konnte? Wieder und wieder stellte er sich ohne jeden Ansatz von Erfolg die immer gleichen Fragen. Alles eine Lüge. Er und Drakimh, die in eine hoffnungslose, dunkle Zeit kamen, von der weißen Halle geschickt, um einen abtrünnigen Chronisten zu stoppen. Wie sie es sich zu einfach vorstellten, wie Ninafer den Pakt einging, eine Armee aufstellte, gegen die Hauptstadt zog, wie Duncan nicht getötet wurde, sondern man die ganze Welt betrog. Zwei Personen, deren Schicksal nicht wie versprochen ‚zurückgesetzt‘ wurde. Der Gott erhob sich über die Zeit und den Willen dessen, der sie manipuliert hatte. Zum eigenen Vorteil?

Thorin hatte gesagt, er sollte Ninafer kennen. Wenn nur zwei Menschen auf der ganzen Welt ‚fehlten‘, wie weit konnten diese Kreise reichen? Diese eine Frage beschäftigte ihn mit am Meisten. Ein Mann konnte Bettler, Handwerker und König sein. Er konnte in der Gosse erfrieren, unbemerkt, oder einen Würdenträger zum Nachdenken bringen. Es gab so viele Möglichkeiten, so endlos scheinende Variationen - nur zwei Menschen und doch war es denkbar, dass die ganze Welt mit ihnen eine andere wäre.

Für Alandor gab es keine Ruhe. Nicht in dieser Nacht, in der er vor Erschöpfung auf dem Tisch einschlief und nicht in den Tagen und Wochen darauf.
 

Thorin aber zog nach Kal Terrika. Oh er kannte die Gegend gut und er kannte auch die Festung. Er erinnerte sich daran. Ninafer war ihm nachgelaufen, wie ein getretener Hund, der nicht wusste, wohin er schon sonst sollte. Sie war ihm nach Zadiora gefolgt, nach Bruchberg, nach Varakas. Dort hatte er sie los zu werden versucht, als Ceteus‘ Präsenz in ihr noch schwach gewesen war. Nur ein Teil ihrer Selbst, den sie bis dahin bekämpft hatte. Er hatte sie betäubt und in ihre Heimat heim zu schicken versucht. Erst sehr, sehr viel später hatte er erahnen können, was er ihr damit angetan hätte. Beste Absichten schützten nicht davor, Katastrophen einzuläuten.

Sie war zurückgekehrt… und gestorben. Irgendwo auf einer Straße, niedergeschossen von einfachen Wegelagerern. Weil der Schatten nicht gewusst hatte, wann er besser den Mund halten sollte. Er war schließlich der große Gott, den niemand anzurühren und dem niemand etwas zu befehlen hatte - Thorin erinnerte sich noch an die große Wunde auf ihrer Brust, als er sie in den Armen gehalten hatte. Wie sie plötzlich wieder aufgerissen war und zu bluten begonnen hatte. Der Schnitt in ihrer Kehle… all das Blut überall, ihres, vermischt mit dem Seinen…

Wenige Tage war er nach Varakas allein unterwegs gewesen. Erst in Nephilim hatten sie einander wieder gesehen. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits nicht mehr nur Ninafer gewesen. In den Tagen dazwischen jedoch hatte er die alte Feste ‚besichtigt‘. Das traf es wohl. Er hatte eine tiefe Verbundenheit mit dem Gemäuer verspürt. Es war alt, verwittert. Es hatte seine besten Tage lange hinter sich und obwohl es dem Zahn der Zeit noch immer trotzte, konnte man seinen Mauern ansehen, dass es nicht mehr lange dauern würde. Es hatte viele Gemeinsamkeiten gegeben.

Als er diesmal in die Nähe der Festung kam - er war querfeldein marschiert, um die Gesellschaft der lästigen Spitzohren in Nephilim umgehen zu können -, da wurde er bereits… nun, ‚erwartet‘. Es war merkwürdig, wie man ihm abseits der Wege einen gut ausgedachten Hinterhalt stellte. Offenbar hielt man drei Mann für völlig ausreichend. Sie forderten Geld, das er nicht mehr besaß und zeigten sich mit seiner offenherzigen Antwort ebenso unzufrieden, wie sie ihm nicht glauben wollten. Seine Taschen selbst kontrollieren, das schlugen sie vor - und er meinte, sie könnten es gerne versuchen. Der Kampf war kurz gewesen, kurz aber schmerzvoll. Er selbst hatte lediglich von einem Sterbenden einen unangenehm harten Ellbogen in die Rippen bekommen, doch mit diesen drei Halunken machte er kurzen Prozess.

Vielleicht nicht mit allen dreien. Einer, den Rücken bereits von der Axt gespalten, ließ er noch leben, bis dieser ihm alles gesagt hatte, was er wissen wollte. Tatsächlich handelte es sich bei dieser Räuberbande um zwei Dutzend Mann - drei lagen hier schon vor ihm. Verblieben zwanzig Mann und ihr Anführer.

Der Krieger erreichte Kal Terrika bei Nacht - wie er es erhofft hatte. Es war nicht schwer, die ahnungslosen Wachen zu überrumpeln. Zumindest die am äußeren Tor. Er hatte sich lediglich durch eines der vielen Löcher in der Wand schleichen müssen, immer an der Wehranlage entlang, damit die Bogenschützen oben auf dem Wehrgang ihn nicht zu Gesicht bekamen. Seine Axt war schartig, stumpf und nicht im Ansatz mit seiner früheren Waffe zu vergleichen - aber sie reichte, um den zwei Wächtern am Eingang den Schädel einzuschlagen. Leider ging das nicht ganz so leise vonstatten, wie er sich das erhofft hatte. Letztlich wurden die vier Bogenschützen doch noch auf den Eindringling aufmerksam und eröffneten sofort das Feuer.

Das Amulett bewies seinen Wert, das ließ sich nicht abstreiten. Es war dunkle Nacht und der Krieger in seinen Lumpen schwer auszumachen, doch einen sich bewegenden Schemen dieser Größe konnte man als geübter Schütze dennoch schwer verfehlen - so konnte er nur das Amulett vorschieben, als die Pfeile als Querschläger an Steinen um ihn herum abprallten. Tatsächlich wagte er sogar, einen faustgroßen Stein aufzugreifen und mit aller Wucht zu schleudern. Danach schmerzte ihm zwar die Schulter, doch er traf einen der Schützen. Wo, das sah er nicht - er sah nur, wie dieser taumelte, um Gleichgewicht bemüht und letztlich doch vornüber die Mauer herab stürzte. Als er Aufschlug, brauchte es nicht einmal das Krachen der Knochen, damit der Krieger wusste, dass nur noch siebzehn und ihr Anführer verblieben.

Doch selbst das war noch wahrlich genug, nicht?

Er stürmte so eilig er konnte in Richtung der Tore und schaffte es, auf halbem Wege zu einem Seiteneingang abzudrehen, der auf die letzten Meter aus dem Augenwinkel heraus erspäht hatte. Dort eingetreten, sah er sich der nächsten Hürde gegenüber. Die Bogenschützen würden nur wenige Minuten brauchen, ehe sie von der Mauer herab gekommen wären. Sie würden sich vermutlich kurz absprechen - einer würde nach den Toten am Tor sehen, ob sie noch zu retten waren, einer würde den Rest der Bande warnen und der Letzte ihm wohl nachsetzen. Zumindest wäre das klug gewesen.

Wie sich herausstellte, wurden die Räuber ihrem Ruf gerecht - sie waren nicht klug. Alle drei stürmten dem Krieger nach, der ihnen, ein paar Quergänge und Räume als leer und sicher abgesucht, eine Falle stellte. Als sie im Gebäude ankamen, lehnte er sich nur kurz aus dem Türbogen eines Raumes, der ihnen wohl eigentlich als Wachstube hätte dienen sollen und warf die Axt. Sie konnte vielleicht nicht durch Rüstungen oder gar in Fleisch dringen, aber sie brach dem Burschen mehrere Rippen, sodass er heulend zu Boden ging. Pfeile surrten daraufhin in seine Richtung, doch Thorin war bereits wieder verschwunden. Vorsichtig schlichen ihm die Verbliebenen nach - von einer Misere in die Nächste. Die Tür offen stehend, flog direkt bei ihrem Eintreten zu. Der Zweite bekam sie gegen den Schädel gedonnert, hatte er doch anders als sein Mitstreiter nicht schnell genug zurück weichen können. Taumelnd senkte er den Bogen, griff nach der Stirn, hinter der der Schmerz explodierte. Der Hüne aber war längst hervor geschossen, packte den im Nahkampf ungeübten dritten Mann am Handgelenk. Mit dem Dolch, den dieser gezogen hatte, erstach er den Zweiten, jagte ihm die Klinge in die Kehle, ehe der Krieger seine Pranke auf das Gesicht des Dritten legte und ihn drei Mal mit großer Kraft gegen die Wand hinter ihm donnerte. So lange, bis sein Hinterkopf matschige Flecke am Stein hinterließ.

Dem Ersten, der die Axt abbekommen hatte, brach er schlicht das Genick.

Vierzehn und Anführer.

Die Taktik erwies sich noch einmal als tauglich, als er einen weiteren, diesmal besetzten Wachraum passierte. Beide saßen, offenbar in Kartenspiele vertieft. Dem weiter Entfernten warf er die Waffe entgegen, während er sich auf den Ersten stürzte. Er schlug ihn halb besinnungslos, ehe sein Kumpan dazu kam, das Schwert zu ziehen. Thorin wurde zwar mit einem langen, unschönen Schnitt am Unterarm getroffen, schaffte es jedoch im nahen Gerangel, dem Gegner die Waffe abzunehmen - und beide damit zu töten. Das Schwert in der Linken, die Axt in der Rechten, bahnte er sich weiter seinen Weg und platzte - irgendwann hatte ihn das Glück wohl zwangsläufig verlassen müssen - unabsichtlich in den Speisesaal.

„Alarm!“ brüllte sofort jemand und fast der gesamte Rest der Truppe sprang auf. Acht Mann und ein Ruf, der zweifellos Echos in jedem Gang und jedem Raum warf. In aller Eile zog der Krieger den Stein hervor. Aus dem Dunkel seiner Tasche kommend, brach sich das Licht unbeugsam Bahn - ehe er kurz darauf in den Fingern des Kriegers zu kleinen Splittern barst. Ein verirrter Bolzen, wie der Krieger blinzelnd gewahrte. Mit aller Hast und Eile warf er sich auf die Gegner, hackte und stach, so oft er nur konnte - doch nur vier gingen nieder, ob tot oder schwer verletzt war ihm gleich, ehe sie sich von der Blendung erholten. Als der Rest die Situation begriff, kehrte unliebsame Ordnung ein. Zwei Mann, mit Rundschilden und Breitschwertern, postierten sich vor den verbliebenen Zweien, die ihrerseits Armbrüste luden.

Rasch hatte der Krieger eine der kleinen Flaschen gezückt - und verschwand. Nicht unsichtbar, nein, er sank schlicht durch den Boden ein wie ein Gespenst und stürzte. Er befürchtete schon, er würde weiter fallen und irgendwann mitten im Erdreich ‚stecken bleiben‘, doch der Bannmagier hatte über die Kurzlebigkeit der Tränke nicht gelogen - noch während er durch das untere Stockwerk fiel, verebbte die Wirkung und er landete hart auf dem Untergrund. Ächzend erhob er sich und gewahrte rechtzeitig eines Mannes, der nackt aus dem Bett sprang und sofort zum Dolch auf dem Nachttisch griff. Er konnte die Attacke abwehren und obwohl ihn dies beide Waffen kostete, vermochte er doch auch seinem Gegner die Klinge zu entreißen.

„Wer bei Ceteus seid ihr?!“ fauchte sein Gegenüber. Der Räumlichkeit nach, reich verziert und dekoriert, zweifellos das beste Zimmer in der ganzen Anlage, wähnte sich der Krieger wohl dem Anführer dieser Räubertruppe gegenüber. Wenn jemand wusste, ob das Orakel hier war - und wo - dann er.

„Das Orakel, wo ist es?“ erwiderte der Krieger kurz angebunden und blickte sich bereits um. Es gab zwei Türen. Eine führte vermutlich zu einem Treppengang aufwärts, die andere möglicherweise… abwärts? Die Waffen waren allesamt zu weit verteilt, um ohne große Mühen an sie heran zu gelangen - es würde also entweder auf einen Nahkampf mit Fäusten hinaus laufen, bis einer in die Nähe einer Klinge käme und der andere damit unweigerlich in Probleme geriete, oder aber sie würden sich vielleicht einigen können. Obwohl der Kahlkopf es vorzog, sich nicht mit Halunkenpack einigen zu müssen. Leute wie diesen Bock hatte er oft genug getötet - meist, nachdem sie Ninafer gegeben hatten, was sie verlangte. Nur eines war für ihn von Relevanz: Das Grinsen im Gesicht dieses Hurensohnes. Er verstand ihn, er wusste sofort, wovon er sprach. Der Krieger hoffte inständig, dass das daran liegen mochte, weil das Orakel tatsächlich hier war. Und er sah sich bestätigt, als das Narbengesicht mit einem „Ach ihr seid das also“ begann. Was er danach auch immer hatte sagen wollen, beide sahen sich in ihrem philosophischen Diskurs unterbrochen, als Getrappel laut wurde. Kurz darauf stürmten die verbliebenen Männer der Bande das Quartier ihres Hauptmanns, schwer gerüstet, voll bewaffnet und mit gespannten Armbrüsten und Bögen. Dieser wiederum, den Vorteil nun zur Gänze auf seiner Seite, wandte sich wieder grinsend um - doch der Krieger war längst verschwunden.

Keiner hatte ihn das zweite Fläschchen trinken sehen.

Die Anlage von Kal Terrika erwies sich als riesig. So groß, das der Hauptmann mit seinen verbliebenen Männern Tage brauchen würde, jeden Winkel abzusuchen. Ebenso erging es aber Thorin, der nun jeder Waffe beraubt - außer seinen Fäusten, verstand sich - weiterhin auf der Suche nach seinem Ziel war. Im Verlaufe zweier weiterer Tage, in denen die Besetzer und der Gejagte Katz und Maus miteinander spielten, tötete der Krieger zwei weitere Männer und eignete sich einen Dolch an, ehe er endlich sein Ziel fand.

Wer etwas suchte, sollte stets dort beginnen, wo er zuletzt nachzuschauen gedachte.

Kal Terrika besaß einen tief gelegenen, verzweigten Kerker.

Warum das Orakel hier war, wusste er nicht. Er trat vor die Zelle und wollte seinen Augen nicht trauen. Sie saß dort, auf einer Bank. Direkt hinter den Gittern ein Teller mit Essen - nicht angerührt. Sie starrte ihn an, weder fuhr sie zusammen, noch schien sie überrascht. Erst nach einigen Minuten wanderte ihr Blick, wie ein Hinweis. Er folgte ihm - und fand den Zellenschlüssel. Als er eintrat, ging sie nicht auf ihn los. Nur leise raschelten ihre Flügel.

„Du bist meinetwegen hier, Thorin“, hauchte ein dünnes, zerbrechliches Stimmchen in einer Melancholie, die sich nicht in Worte fassen ließ. Der Kummer der Welt und die Trauer aller Menschen schienen in diesen wenigen Worten zu liegen.

„Du wirst mir antworten!“ verlangte er harschen Tones. Sie brauchte nicht versuchen, an sein Mitleid zu appellieren. Viele hatten das getan, allesamt umsonst. Wer mit der Spinne paktierte, konnte sich Mitleid nicht leisten. Das Orakel aber… überraschte ihn.

„Ich werde es dir zeigen. Und danach… wirst du dem ein Ende setzen“, konstatierte sie schlicht, erhob sich von ihrer Bank und schritt völlig hüllenlos, wie sie war, an ihm vorbei. Was sie hier erlebt hatte, wollte er nicht wissen. Er hatte zu viele traurige Schicksale gehört, gesehen, herbeigeführt oder selbst erlebt. Es war ihm völlig gleich geworden. Vermutlich war sie wie so oft als unscheinbare Reisende unterwegs gewesen, diesmal aber auf der falschen Straße. Möglicherweise hatte sie diese Straße sogar gewählt, weil sie wusste, dass er sie suchen würde. Was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Sie war hier und wollte Erlösung. Er wusste es - weil sie schon viel zu lange danach suchte. Jede Legende berichtete davon. Das Orakel, die Geliebte Kalerans, die jeden, der sie enttarnte, vor eine einfache Wahl stellte. Sie könne ihm die Zukunft vorher sagen - wenn er sie danach töten möge. Doch alle hatten sich immer dafür entschieden, sie am Leben zu lassen, sie weiter zu benutzen, immer mehr wissen zu wollen. Bis ihr Schicksal sie alle ereilt hatte.

Nun war er an der Reihe. Diese eine Frage würde sie ihm beantworten - doch Thorin trachtete nicht nach Weisheit. Es verlangte ihm nicht mehr nach Macht, Genugtuung, Reichtum oder Folgschaft. Er wollte nichts mehr für sich erringen und die Welt nicht mehr verändern. Alles war ihm gleich geworden mit Ausnahme dieser einen Sache.

Auf einer Karte Lumiéls, die zwischen einem Stapel billiger Schundromane versteckt lag, deutete sie ihm auf einem Tisch ausgebreitet auf einen Ort, der von aller Zivilisation so weit entfernt lag wie Kal Terrika selbst. „Gehe dorthin. Grabe zwei Tage lang und du wirst finden, was du suchst.“

Der Krieger nahm den Dolch zur Hand und ritzte ein kleines Kreuz in die Karte, ehe er sie faltete und in einer Tasche verschwinden ließ. Das Messer wog plötzlich so schwer in seiner Hand. Jenes Weib, wissend und sehend und zermürbt unter eben dieser Last, wandte sich ihm zu. Sie sagte nichts… nur ihre Augen zeugten von einem hoffnungsvollen Glanz. Als seine Finger sich fester um den Schaft schlossen, alle Möglichkeiten, alle Verlockungen Lügen und Nichtigkeiten straften, da deutete sich auf ihren kummerschweren Lippen ein Lächeln an.

„Ist es nicht merkwürdig? Wärst du der Mann, dessen sich alle erinnern, hättest du eine Unbewaffnete nicht einmal töten können, hätte sie dich angebettelt.“

Er zog das Weib an sich, drückte ihren Leib gegen den Seinen - und stieß zu. Die Lippen nahe an ihrem Ohr, sprach er die letzten Worte, die sie je hören würde. „Ich bin nicht dieser Mann.“ Mit einem seligen Lächeln sank sie, bis sein Arm sie stützte. Er bettete sie in ihrer Zelle, die Arme verbargen die tiefe Wunde, während ihre Hände sich über ihrem Bauch falteten.

Es galt nur noch der Festung zu entkommen. Keine große Hürde, bedachte man, wie zerstreut die Männer des Räuberhauptmanns waren. Überhaupt war es eine Frage der Zeit und nicht mehr. Thorin allein - ein alternder Söldner mit einer stumpfen Axt - hatte seine Truppe überrumpelt und fast halbiert. Nun aber, da die Seherin auch noch tot war, da das Orakel nach so endlos langen Jahrhunderten ihrer Pein diese Welt endlich in Frieden hatte verlassen können, würde sein Glück rasch schwinden. Verpatzte Überfälle, Gerüchte über ein Schwächeln ihrer Glückssträhne und es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis ein stattlicher Trupp Soldaten hier aufmarschieren und die kläglichen Reste dieses Packs zusammenfegen würde.

Für Thorin aber war nur eine erste Station geschafft.

Was er von Alandor mit auf den Weg bekommen hatte, hatte sich als nützlich erwiesen - doch jetzt blieb ihm nichts mehr davon. Die Kette hatte ihren Nutzen erfüllt und ob sie das weiterhin könnte oder auch nur würde, war fraglich. Wichtig war… nun - er war pragmatisch veranlagt. Wichtig war nun, eine Schaufel aufzutreiben. Die Karte war groß und grob. Er wusste weder, wonach er grub, noch, wonach er dabei eigentlich suchen sollte. Das Orakel aber, so war er sich sicher, würde ihn nicht grundlos irreführen. Woher er diese Sicherheit nahm… vielleicht waren es diese Augen gewesen, die ihn so sehnsüchtig willkommen geheißen hatten, die so dankbar glänzten, als sie von dem Menschen sprach, der er nicht war.

Als der Hüne Kal Terrika hinter sich ließ, einen aufgescheuchten Haufen Banditen und Halsabschneider zurück ließ mit den Überresten der ‚Waffe‘, die ihnen bisher ihre Siege garantiert hatte, befiel ihn erstmals seit langer, langer Zeit so etwas wie… Geschäftigkeit. Er hatte ein Ziel gehabt, aber nicht gewusst, ob es überhaupt erreichbar war. Jetzt aber war er seinem tatsächlichen Ziel schon einen guten Schritt näher gekommen, indem er die erste Hürde genommen hatte. Das Unmögliche vollbringen… es schien sich allmählich zu dem zu entwickeln, womit er fortwährend seine Zeit vertrieb.

Ganz gleich, ob man ganze Königreiche aufhalten und niederbrennen wollte, ob es eine legendäre Person zu finden galt oder… mehr noch als ‚nur‘ das - er packte die Aufgaben an und rückblickend war sein Schnitt bei der Lösung solcher Aufgaben bisher wohl recht stattlich.

Vielleicht war es ja Zuversicht, die sein Herz beflügelte und seine Schritte beschleunigte, als er dem neuen Tag entgegen marschierte…



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