Es war ein nebeliger Morgen. Ich saß aufrecht in meinem Bett und sah ein Stück des Gartens durch eine Lücke im Vorhang, der noch zugezogen war.
Nebelschwaden waberten über den Boden. Bestimmt lag Tau auf den Gräsern und Blüten im Garten. Ich erinnerte mich daran dass ich früher immer gemeint habe, es würde aussehen als hingen Edelsteine an den Pflanzen. Meine Mutter fand das damals niedlich. Ob diese Äußerung heute immer noch für „niedlich“ befunden werden konnte?
Wahrscheinlich nicht! Schließlich war ich doch inzwischen bereits 72 Jahre alt. Wenn ich heute so eine Aussage machen würde, würden die Pfleger wohl nur nett lächeln und sich dabei denken, was die Alte sich nun schon wieder zusammenspinnte.
Nein! Ich sollte nicht so über sie denken. Diese jungen Menschen machten hier doch auch nur ihren Job, und so wie bei jedem Job, gab es einfach Tage, da fand man alles bescheuert, und dann tat man seine Arbeit wieder gerne. Es war unfair zu behaupten das die Pfleger über mich schlecht denken würden, und wenn doch…dann wollte ich es nicht wissen.
Pfleger? Ja Pfleger!
Mein Zuhause war ein Altenpflegeheim. Nicht dass was ich mir in meiner Jugend erträumt hatte.
Ich hatte als Kind denselben naiven Traum gehabt wie alle kleinen Mädchen. Zuerst wollte ich meinen Vater heiraten, da er der einzige tolle Mann der Welt zu sein schien, und später träumte ich von einem hübschen Haus mit ein paar Kindern, einem Hund und einem Mann der mich liebte und mir jeden Wunsch von den Augen ablesen würde.
Was war passiert? Warum lag ich jetzt hier in diesem Zimmer in dem schon vor mir dutzende alte Menschen gelegen hatten?
Nun ja… Ich war egoistisch gewesen, würden andere wohl antworten wenn sie danach gefragt wurden.
Ich hatte mich meiner Karriere gewidmet. Schließlich habe ich doch nicht Jahrelang studiert und mich abgemüht, nur um dann zwar einen Doktortitel der Medizin zu besitzen, diesen aber nur als Dekoration in meinem hübschen Haus bewundern zu können wo ich mich um meine vielen Kinder kümmerte.
Kinder die Trevor unbedingt haben wollte.
Trevor Scott, ehemaliger Studienkollege und die große Liebe meines Lebens. So dachte ich zumindest. Doch je länger wir zusammenwaren, und je erfolgreicher ich wurde, desto mehr lebten wir uns auseinander. Er warf mir vor keine Zeit für ihn zu haben, und das meine Arbeit mir wichtiger war als alles andere in meinem Leben. Auch wichtiger als er, und er hatte Recht!
Plötzlich war da in mir nicht mehr der Wunsch nach trautem Heim mit Garten, Kindern und Hund. Ich wollte meiner Arbeit nachgehen. Eine Arbeit die mir Freude machte. Bei der ich anderen Menschen helfen konnte. Ich war glücklich wenn ich einen meiner Patienten entlassen konnte nach einer schweren Operation, und wusste das er dieses neue Lebensglück. Die Tatsache dass er weiterleben konnte, mir verdankte. Mir und meiner Arbeit!
Trevor ertappte ich schließlich mit einer anderen Frau. Sie war Kindergärtnerin, erfuhr ich später, und mit ihr hatte er dann sein Haus, seine Kinder, seinen Hund und seinen Garten.
Aber waren das nicht alles Dinge die ich immer gewollt hatte?
Ich arbeitete weiter, versteifte mich auf Forschungsarbeiten, Operationen, Auszeichnungen. Ja! Ich war erfolgreich gewesen. Eine Berühmtheit in den Medizinerkreisen. Doch das konnte ich nur sein und bleiben, wenn ich weiter so hart arbeitete.
Ha! Wer brauchte schon Familie? Meine Arbeit war meine Familie. Meine Kollegen waren Teil davon.
Doch nur bis sie nach Hause gingen nach einer langen Schicht. Sie gingen nach Hause. Zu ihren wirklichen Familien. Zu ihren Kindern, ihren Ehepartnern, oder Freunden…
Ich arbeitete weiter. Jahr um Jahr. Jahrzehnte lang. Dann setzten die Schmerzen ein. Diagnose: Gebärmutterkrebs. Ein Tumor.
Er wurde entfernt, und mit ihm, da er bösartig war, die gesamte Gebärmutter. Ich würde also keine Kinder mehr bekommen können. Egal! Ich war auch schon fast 40 gewesen. Hauptsache leben. Ich wollte nicht dass mein letzter Tag so bald kam. Ich hatte noch so viel zu tun. So viel zu leisten.
Statt eines Kindes, bekam ich eine Katze. Aber die ging leider bald darauf zu meiner Nachbarin. Ich hatte einfach keine Zeit für das arme Tier. Es sollte doch ein schönes Leben haben. Ich war kaum zuhause, immer nur auf Achse. Weitere Operationen, immer kompliziertere Fälle. Ich war besessen. Besessen davon zu arbeiten. Denn die Arbeit war alles was ich hatte. War mein Leben. Mein einziger Grund zu leben.
Doch der Krebs kam wieder. In einer anderen, bösartigeren Form. Wuchs zuerst langsam, dann schneller an meiner Wirbelsäule entlang. Er war nicht operabel. Er verdammte mich in den Rollstuhl. Er nahm mir meine Arbeit. Mein Leben aber ließ er mir, auch wenn er es mir unerträglich machte.
5 Jahre gaben mir meine ehemaligen Kollegen. Dann, so meinten sie, würde der Tumor meinen Körper zerstört haben.
Es war bereits über 10 Jahre her dass ich diese Diagnose gehört hatte. Ich lebte noch immer. Doch war das ein Leben?
Ein Leben ohne geliebte Menschen? Ohne Familie?
Die Pfleger kamen. Ich wurde gebadet, angezogen, gefüttert. Ich war noch da. Geistig. Doch mein Körper gehorchte mir schon lange nicht mehr. Er lebte nur noch immer, ließ mich nicht los. Ließ mich nicht gehen.
Wie oft hatte ich mich in den letzten 10 Jahren nach dem Tod gesehnt? Ich wusste es nicht mehr. Irgendwann verschwammen die Zahlen ins unendliche, aber ich blieb wo ich war. Gefangen in meinem Körper. Allein!
Wäre es anders verlaufen? Mein Leben? Wenn ich nicht so egoistisch gewesen wäre? Wenn ich Trevor geheiratet hätte? Wenn ich seine Kinder bekommen hätte?
Wahrscheinlich nicht. Doch ich wäre vielleicht nicht so einsam gewesen. Ich hätte Kinder gehabt. Enkelkinder. Vielleicht schon Urenkel. Ich würde vielleicht in einem hübschen Haus inmitten meiner Familie leben und nicht hier in diesem Heim?
Doch auch das war nicht gewiss.
Mrs. Jones, sie lebte ein Zimmer weiter. Sie hatte 5 Kinder gehabt. Keines dieser Kinder kümmerte sich um sie. Sie waren auch Egoisten! So wie ich es wohl gewesen war. Also war es nicht sicher ob ich anders enden würde, wenn ich meiner Arbeit nicht den Vorzug gegeben hätte.
Man brachte mich mit meinem Rollstuhl nach draußen in den Garten. Schob mich zu den Blumen. Inzwischen hatte sich der Nebel verzogen. Die Sonne schien. Es war warm.
Man brachte mich zu meinem Lieblingsplatz. Zu den Blumen im Garten. Ab und zu flatterten hier Schmetterlinge vorbei.
Wieder stellte ich mir die Frage. War ich glücklich gewesen in meinem Leben?
Meine Augen schlossen sich. Ich sah Gesichter meiner Patienten vor mir. Menschen die mit schwersten Verletzungen und fast ohne Hoffnung auf Rettung zu mir gebracht worden waren. Viele von ihnen konnte ich retten. Nicht alle, aber viele, und jeder von den Überlebenden hatte mich angesehen, nachdem ihre Schmerzen gelindert waren, und ich fühlte mich wie ihre Mutter. Als wären sie alle meine Kinder gewesen.
Doch! Ich war glücklich gewesen. Ich hatte anderen Familien geholfen indem ich ihre Verletzten Mitglieder wieder gesund machte. Ich hatte ihnen Hoffnung gegeben wo andere keine mehr gesehen hatten.
Ich war sehr glücklich gewesen. Sehr glücklich.
Die Schmerzen in meinem Körper, die wie eine ständige Begleitung bei mir waren, seit Jahren, ließen nach.
Ich war glücklich gewesen.
Das atmen, sonst immer schwierig, schien nun wieder leichter zu gehen.
Glücklich gewesen…
Ich spürte die Sonne auf meinem Gesicht, und fühlte keinen Schmerz mehr. Endlich verstand ich was heute für ein Tag war.
Mein letzter Tag!
Ich lächelte. Nichts würde ich anders gemacht haben sollte man mich danach fragen. Ich war glücklich.
Ich bin glücklich….