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Wege, die sich Kreuzen

Eine Kurzgeschichtensammlung
von

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Das Gesicht im Spiegel

"Wir sind doch alle nur Masochisten", sagte sie, wandte sich von mir ab und tupfte sich mit einem Handtuch das Blut von ihren Unterarmen.
 

"Wir quälen uns jeden Tag zur Arbeit und wissen eigentlich schon dass wir uns damit selbst zerstören. Trotzdem gehen wir immer wieder hin. Wir verlieben uns obwohl wir wissen, dass wir uns damit selbst entblößen und irgendwann verletzt werden und doch heißt es es gäbe nichts Schöneres als die Liebe und wir verlieben uns immer wieder. Wir treiben Sport bis uns die Glieder schmerzen und lachen dann, wenn wir uns die Knie und Hände aufschlagen oder sind zufrieden über den Muskelkater, der uns noch Tage später quält."
 

"Und Musik?", fragte ich, "Wir lieben Musik, sie tut uns nicht weh." Ihr Gesicht, gebannt in dem zerbrochenen Spiegel, verzog sich zu einer emotionslosen Maske. "Weißt du noch als wir begonnen haben Gitarre zu spielen? Wir haben gespielt bis wir Blasen hatten. Unsere Fingerspitzen - alle knallrot - brannten noch lange nach, nicht? Musik fügt Schmerzen zu. Selbst Sänger üben bis ihnen die Hälse brennen. Musik kann einem in der Seele weh tun, wenn sie einen an einen schmerzlichen Moment erinnert. Und wer kann behaupten, er könne sich dem entziehen?"
 

"Und Freunde?" fragte ich. "Was sind schon Freunde? Sie sind eine Weile da, dann wollen sie etwas anderes als man selbst und dann gehen sie wieder. Das schmerzt." "Und ich?", fragte ich, "Ich bin dein Freund und ich tue dir nicht weh, oder?" Immer noch sah sie mich nur durch den Spiegel an. "Das ist etwas anderes. Wir sind keine Freunde, du wirst mir immer nur eine Last sein. Ich werde nie mit jemandem über dich sprechen können. Alle werden sich abwenden. Sie werden denken ich sei verrückt, dich zu kennen. Dann bin ich wieder alleine und spreche mit dir, du stellst mir wieder Fragen und ich rechtfertige mich wieder vor dir. Dann gehst du wieder, ich komme wieder auf die Beine, werde ihnen von dir erzählen, sie werden mir nicht glauben, mich wieder alleine lassen. Dann wirst du wieder kommen und mich zu Rechtfertigungen zwingen."
 

"Und doch bin ich für dich da, nicht wahr?", fragte ich. "Und wirst eines Tages mein Todesurteil sein.", ergänzte sie und besah sich mein Gesicht im Spiegel. "Dann hast du es selbst gesprochen.", sagte ich. "Du bist gekommen um mich zu quälen.", keifte sie in die Glasscheibe und griff nach der Nagelschere neben sich. "Ich bin hier, weil du es nicht erträgst alleine zu sein. Ich bin hier, weil du nach mir schreist. Ich bin hier, weil du nur jemanden suchst, den du für dein Leid verantwortlich machen kannst."
 

Wieder rammte sie das kalte Metall in das Glas des Spiegels, in der Hoffnung, mich zum schweigen zu bringen, mich ein für alle mal ausgelöscht zu haben. Hastig stürzte sie aus dem Bad, die letzten Blutspuren dort zurück lassend. Auch mich ließ sie dort zurück und ich würde hier auf sie warten. Warten bis sie hier her zurückkehrte und wieder nach mir schrie.
 

Sie konnte mich so oft töten wie sie wollte, denn sie wusste ohne "mich" gäbe es kein "sie", ohne "sie" kein "ich" aber ein "wir" schloss ein "sie" aus und forderte, dass es nur ein "sie" gab.

Wer kann schon behaupten er sei nur "er selbst"?

Wir sind doch alle nur Masochisten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  ceryes_obskura
2012-01-25T09:54:48+00:00 25.01.2012 10:54
Ich finde es steckt doch viel Wahrheit in diesen Worten.
War interessant zu lesen, mal sehen wie es weiter geht.


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