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Hungerstreik

von

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cúig

Das Telefon klingelt, doch er nimmt nicht ab. Er möchte keine Glückwünsche hören, nicht jetzt. Er möchte nicht hören, wie man ihm zu seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag gratuliert, ihm alles Gute und noch viele weitere glückliche Jahre wünscht. Denn dann kommt immer automatisch auch das taube Gefühl, wenn er daran denkt, dass Kieran vielleicht nie 26 Jahre alt werden wird. Sein Geburtstag ist im Oktober, jetzt ist Juli. Der siebenundvierzigste Tag. Dass ein Mensch mehr als 100 Tage ohne Nahrung überleben kann, ist mehr als irreal, das muss selbst er einsehen. Die einzige Möglichkeit ist, dass er aufgibt. Und das kann nicht sein, das wird nicht sein.

Das Telefonklingeln verstummt und erleichtert atmet er auf. Sein Blick wandert auf das Bild auf dem Nachttisch und erneut fragt er sich, wie Kieran wohl aussehen mag. Nach 47 Tagen, wie mag man dann wohl aussehen?

Das Telefon klingelt erneut. Wütend mustert er es, als würde das durchdringende Klingeln davon leiser werden. Als der Anrufer nach einiger Zeit noch immer nicht aufgegeben hat, steht er seufzend auf und macht sich auf den Weg. Einen Moment hält er vor dem Tischchen inne, dann greift er nach dem Hörer und hebt ab.

»Ja?«

»Seán.« Er erkennt die Stimme sofort. Geraldine. Mit einem Mal macht sich ein beklemmendes Gefühl in ihm breit und er spürt, dass seine Hand, mit der er den Hörer hält, zu zittern beginnt. Sie telefonieren einmal in der Woche, am Montag, so haben sie es vor einigen Tagen ausgemacht. Sonst nur bei Notfällen. Bei Notfällen, die eigentlich nur eine Bedeutung haben können. Es ist Mittwoch.

»Ich... das kann nicht sein, das ist unmöglich. Es ist erst der 47. Tag, das passt nicht zu ihm, das ist nicht wahr, nicht wahr. Nach 47 Tagen kann es noch nicht sein, oder? Das ist doch ein Klacks, das muss doch ein Klacks sein, er muss es doch-, er kann doch nicht-. Zumindest länger als 47 Tage, sonst wäre-« Er spricht, ohne Luft zu holen, die Augen weit geöffnet, die zweite Hand um die Tischkante geklammert, als er von Geraldine unterbrochen wird.

»Seán.« Ihre Stimme klingt angespannt, aber sanft. »Seán, Kieran geht es gut. Beziehungsweise...« Sie lacht kurz trocken auf. »Den Umständen entsprechend. Er lebt. Oder er atmet. Aber-«

»Du rufst grundlos an?«, fragt er vorsichtig, mit unsicherer Stimme. »Das war nicht abgemacht. Oder willst du mir gratulieren? Danke, nein, das möchte ich nicht.« Er redet mehr als in der gesamten letzten Woche, aber das ist ihm in diesem Moment egal.

»Gratulieren?« Geraldine wirkt überrascht. »Warum das?«

Er murmelt bloß ein undeutliches »Geburtstag«, doch sie versteht trotzdem.

»Du hast Geburtstag? Das wusste ich nicht, warum hast du nichts gesagt? Her-«

»Nein«, unterbricht er sie schroff, sagt dann jedoch nichts weiter.

Sie atmet hörbar aus. »Okay. Aber nein, ich rufe nicht grundlos an. Es geht um... Joe.« Eine kurze Pause entsteht, in der er sie tief Luft holen hört, dann fährt sie fort, mit zittriger Stimme. »Joe McDonnell. Er ist heute gestorben.«

Er schließt für einen Moment die Augen, möchte sich setzen, doch es steht kein Stuhl in der Nähe des Telefons. Es wäre vielleicht einen Gedanken wert.

»Wie lange?«, fragt er, seine Stimme klingt seltsam brüchig.

»61 Tage«, ist ihre leise Antwort, »vom 08. Mai an.«

Er schweigt und sie fährt fort: »28 Jahre, aus Belfast. Er hatte Familie. Frau und Kinder, zwei. Aber das weißt du wahrscheinlich schon alles.«

»Nein«, antwortet er schlicht. Er hat ja nicht einmal von McDonnells Tod gewusst. Vorsichtig massiert er sich den Kopf.

»Okay...« Für einen Moment ist es still, dann sagt sie leise. »Ich hoffe, du bekommst diese Woche Post. Ich... habe etwas für dich. Von Kieran.«

Eine Welle der Überraschung durchfließt ihn und mit einem Mal hört sogar seine Hand auf zu zittern. »Was?«

»Du siehst es dann. Und ich... muss gehen. Bis dann, Seán. Wir sprechen uns.«

Sie hat aufgelegt und er mustert den Hörer noch für einen Moment. Auf der einen Seite verspürt er ein unheimlich dumpfes Gefühl im Bauch, das mit dem Tod McDonnells zusammenhängt. Auf der anderen Seite die Vorfreude auf das, was er bekommen wird. Von Kieran. Und vielleicht, ganz vielleicht, ist auch ein wenig Angst dabei.

Er legt den Telefonhörer zurück auf die Gabel und beginnt, erneut die Wohnung zu durchwandern. In seinem Schlafzimmer lässt er sich, mit einem Mal seltsam kraftlos, auf das Bett fallen. Er weiß, dass er schon zu lange wieder die Wohnung nicht verlassen hat. Nicht mal einkaufen ist er gegangen, seine Mutter hat ihn mit Lebensmitteln versorgt. Sie macht sich Sorgen, genau wie seine Freunde. Aber diese Sorgen scheinen ihm seltsam unberechtigt, fast schon lächerlich im Vergleich zu dem, was er im Moment erlebt. Und im Vergleich zu dem, was den Hungerstreik darstellt.

Einen Moment lang wandert sein Blick noch über die ordentlich gestrichene weiße Decke, dann schließt er die Augen. Nicht viel später ist er eingeschlafen, das erneute Telefonklingeln ignorierend.
 

Die fünf Forderungen. Bildlich vor ihm. Fünf Forderungen, die einen Menschen dazu treiben, dafür zu sterben.

Er sitzt auf der Pritsche in seiner Zelle, die kratzige Decke um den Körper geschlungen. Es ist kalt, aber das kümmert ihn nicht.

– Forderung eins: Das Recht auf eigene Kleidung.

Er steht auf dem Hof, mittendrin. Er arbeitet. Neben ihm ein Mörder.

– Forderung zwei: Das Recht auf einen Status als politischer Gefangener, daraus folgend ein Ausschluss beispielsweise von der typischen Gefangenenarbeit.

Er schreibt Nachrichten auf ein Stück Klopapier. Wartet darauf, sie loswerden zu können. Wann das wohl sein wird? Er ist einsam.

– Forderung drei: Das Recht auf regelmäßigen Besuch und Briefverkehr.

Er redet mit sich selbst. Murmelt leise, beruhigende Worte. Er ist einsam. Einsam, einsam. Hat er doch niemanden, mit dem er sprechen kann.

– Forderung vier: Das Recht auf freien Umgang mit anderen Gefangenen.

Er-
 

Von irgendeinem Geräusch geweckt, schreckt er auf. Einen Moment lang hat er die Orientierung verloren, findet sie dann jedoch wieder und atmet tief durch. Er hat keine Ahnung von den Umständen im Gefängnis, er hat keine Ahnung von irgendetwas. Er kennt bloß wage Fakten. Trotzdem hat er genaue Vorstellung. Die wahrscheinlich nicht einmal stimmen, aber woher soll er denn die Details kennen? Sein Mund verzieht sich zu einem ironischen Lächeln. Es ist erbärmlich. Ganz, ganz erbärmlich.

Er beißt sich auf die Lippe und das Lächeln gefriert. Es ist erbärmlich. Es ist erbärmlich, dass nicht reagiert wird. Würde jemand aufgeben, dann würde reagiert werden. Mit Sicherheit. Aber so lassen sie sie einfach sterben. Ignorieren es. McDonnell. Und bald auch Kieran. Weil er nicht aufgeben wird, nicht klein beigeben. Weil niemand das tun würde.
 

-“They have nothing in their whole imperial arsenal that can break the spirit of one Irishman who doesn't want to be broken.”



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