... erst eins...
Nach langer Zeit und vielen Selbstzweifeln, aber ohne lange Vorrede:
Kapitel 1/4:
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„Und fertig, Schluss für heute!“
Ich danke allen Göttern dieser Welt für diesen Satz, diesen einen erlösenden Satz aus Kais Mund.
„Gehen wir noch was trinken?“, schob er gleich noch hinterher.
Nein, mit mir definitiv nicht. Ich wollte heute niemanden mehr sehen. Die Probe war anstrengend gewesen und meine Laune hinterließ sicherlich nachhaltigen Eindruck.
Wortlos ging ich zur Tür um sogleich wieder fassungslos innezuhalten. Wer oder was in aller Welt hatte hier gewütet?
Auf den ersten Blick galt meine Vermutung einem verheerenden Erdbeben. Laut moderner Forschung ohnehin längst überfällig in Tokyo.
Auf den zweiten Blick vermochte ich die vielen blinkenden Störfaktoren als Lichterketten in allen erdenklichen Farben zu identifizieren.
Verstand sich ein Erdbeben auf überladene Weihnachtsdekoration?
Wer immer die Naturkatastrophe gemimt hatte, ein ganzer Kiefernwald war ihm zum Opfer gefallen.
Ich knallte die Tür. Nur weg hier!
Auf dem Weg aus dem Gebäude holte ich meine Zigaretten hervor. Die Naturkatastrophe schien die gesamte PSC vereinnahmt zu haben. Überall Tannen, aus allen Ecken glitzerte und blinkte es. Widerlich.
Zu meinem Leidwesen sah es auch vor der Tür nicht besser aus. Einer der Musiker, oder schlimmer noch eine ganze Band, hatte sich den falschen Beruf ausgesucht. Und den falschen Ort. Aber immerhin die richtige Jahreszeit.
Allein der Gedanke an Weihnachten lies meine Laune noch unter den Nullpunkt sinken.
Zwischen Zweigen und Lichterketten übersah ich die schmale Gestalt, die soeben im Begriff war, dem Aschenbecher mit Schleifen, Zuckerstangen und selbstredend weiteren Blinklichtern den letzten Schliff zu verleihen.
Süßkram statt Kippen? Die Adventszeit als Kampagne gegen Raucher?
Dann doch lieber Naturkatastrophen und Erdbeben.
Langsam glitt mein Blick zu der Gestalt neben dem Aschenbecher.
Vor mir stand ein anderer Bassist. Saga.
Ich hasste ihn. Schon immer und jetzt erst recht!
Gott, er war… Ja, was war er? … Der Inbegriff einer Schwuchtel!
Ein wenig größer als ich, sehr schlank, um nicht zu sagen unterernährt, lange Beine, halblanges dunkelblondes Haar, dunkelbraune Augen, lange Wimpern, makellos helle Haut, durch die arktischen Temperaturen sacht gerötet und volle geschwungene Lippen.
Oder kurz gesagt: widerlich.
Kurz musterte er mich aus katzengleichen Augen, ehe er unheilvoll zu grinsen begann.
Das konnte nichts Gutes verheißen.
Intuitiv wich ich einen Schritt zurück. Blöde Idee.
Mit dem Rücken zur Wand war das hier auch nicht angenehmer.
Amüsiert schlang mir die personifizierte Naturkatastrophe eine der Lichterketten um die Schultern.
Eine letzte Chance? Sollte ich mich als Tanne tarnen?
Regungslos wie eine stand ich zumindest da.
„Was willst du?“ fuhr ich meinen Gegenüber harsch an.
Anstelle einer Antwort grinste er nur wieder und deutete auf den Eingang über uns.
Ich ahnte etwas. Dennoch hob ich den Blick.
Die Schwuchtel nutzte den Moment meiner Unachtsamkeit aus.
Kühle Finger strichen das weiße Stoffband aus meinem Gesicht, gefolgt von unendlich sanften Lippen.
Ohne meine Zustimmung stieg ein angenehmes Kribbeln in meiner Magengegend auf, breitete sich aus, je näher der andere meinem Mund kam.
Wieder streichelte er mein Gesicht. Kein Wort.
Verflucht sollte er sein, mitsamt dem Mistelzweig über unseren Köpfen und der restlichen Weihnachtsdekoration.
Seine Hand verließ meine Wange, hob stattdessen mein Kinn an. Noch immer schwieg er.
Plötzlich berührten seine Lippen die meinen, vorsichtig und sanft, ohne jede Forderung.
Eine Berührung wie ein warmer Sommerwind. Angenehm und flüchtig.
Das allein genügte, um ein Feuerwerk in mir explodieren zu lassen.
Ich verwarf den Gedanken der Tannentarnung, mimte stattdessen eine Sommerbrise.
Vorsichtig erwiderte ich den Kuss, zärtlich und warm.
Die Zeit schien still zu stehen, während unsere Lippen miteinander spielten ohne fordernd zu werden.
Doch irgendwann löste er sich von mir, sah mich an. Noch immer sprachen wir kein Wort.
Seine Hand fand wieder ihren Weg über meine Wange, in mein Haar.
Schwer zu sagen, was sich in seinen Augen spiegelte…
Die Lichterkette verschwand ebenso schnell wie sie gekommen war. Mit ihr Saga.
Er drehte sich um und ging, ohne einen Blick zurück.
Das warme Gefühl aber blieb.
Vielleicht, doch nur vielleicht, wurde Weihnachten dieses Jahr doch nicht so schrecklich.
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Kommi? =3