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Nightmare Story

von

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Chapter 1

Nightmare Story, Chapter 1
 

Schmerzen.

Das war es, was der 18jährige Taro Azami als Erstes dachte, als er an einem nebeligen Februarmorgen aufwachte. Als nächstes fragte er sich, wo er überhaupt war. Plötzlich überkam ihn ein starker Brechreiz, der ihn dazu veranlasste, aufzuspringen und seinen sowieso schon leeren Magen in einen Fluss zu entleeren. Mit einem Schlag kehrten seine Erinnerungen zurück. Der Rausschmiss. Seine Eltern, die eigentlich gar nicht seine Eltern waren. Raidon und seine Gang. Die Spielschulden, der Alk, die Schlägerei. All das stürzte wie eine Welle über ihn herein. Er krümmte sich unter der Last dieser Gedanken.

Dabei war sein Leben vor zwei Tagen noch völlig okay gewesen. Naja, wenigstens im Großen und Ganzen. Noch vor zwei Tagen hatte er bei seinen vermeintlichen Eltern Mameki und Yasuo Nishigara gewohnt, hatte jeden Tag drei Mahlzeiten gehabt und war fast jeden Abend mit dem Geld der Nishigaras durch jeden Club gezogen, der ihm dunkel genug erschien. Er hatte gespielt wie ein Suchtopfer. Poker, Karten, Automatenzocken, eben alles, was die Gothclubs in Tokyo so anboten. Naja, vielleicht bin ich wirklich ein Suchtopfer, dachte er resigniert. Aber immerhin hatte er da noch ein Dach über dem Kopf gehabt. Er hatte zwar nie eine gute Beziehung zu Mamaki und Yasuo gehabt, aber sie hatten seine Spielerei und seinen hohen Alkverbrauch gebilligt, obwohl sie immer versucht hatten, ihm das alles auszureden. Besonders Mameki hatte sich schon immer viel mühe mit ihm gegeben. Wie dumm ich doch gewesen bin, dachte er. Als er in der letzten Nacht komplett betrunken und mit stark erleichtertem Portmonee nach Hause getorkelt war, wusste er noch nicht, dass die Nishigaras bereits von seinen hohen Spielschulden erfahren hatten.

Bisher hatte er es sehr geheim gehalten, niemand hatte davon gewusst. Yasuo war ausgeflippt, hatte ihm klargemacht, dieses missratene Kind, das nicht mal sein eigenes war, wolle er nicht mehr in seinem Haushalt haben. Als er daraufhin geschockt fragte, was dass zu bedeuten habe, erklärte Mameki ihm unter Tränen, sie hätten ihn mit gerade Mal anderthalb Jahren adoptiert, seine Eltern seien wahrscheinlich tot. Sie könnten selber keine Kinder kriegen, also hatten sie gehofft, den "damals noch sehr niedlichen Jungen" wie ihr eigenes Kind aufziehen zu können. Daraufhin hatte Yasuo gefährlich ruhig gesagt, er habe seine Frau, die er so sehr liebte, mehr als einmal zum Weinen und Verzweifeln gebracht und er wolle ihn, Taro Azarni, nie wieder sehen.

"Ich verstehe" hatte er nur geantwortet.

Und dann war er gegangen. Ohne einen einzigen Yen in der Tasche und nur mit seinem dünnen schwarzen Ledermantel über der Motorradkluft. Er hatte sich auf sein heißgeliebtes schwarzes Motorrad gesetzt und war losgefahren.

Aber er war nicht weit gekommen. Schon die erste verlockende Neontafel mit der blutroten Aufschrift "Blutmond- Des Vampirs Gruft" hatte ihn dazu veranlasst, anzuhalten und abzusteigen. Seine Lieblingsbar. Da, wo der Alkohol in Strömen floss, wo er den Rausschmeißer gut kannte und wo der Barmann umsonst ausschenkte, wenn er betrunken genug war. Er hatte sich volllaufen lassen wie schon lange nicht mehr, einfach nur, um alles zu vergessen und an nichts mehr zu denken müssen.

Aber damit hatten die Probleme erst richtig begonnen. Weit nach Mitternacht waren auch Raidon und seine Gang aufgetaucht. Er schuldete ihm mehr als 750000 Yen (ca. 5000€), und er würde es nach der derzeitigen Situation wohl nicht so schnell zurückzahlen können. Aber der Gangleader war berüchtigt für seine Gewalt und so hatte Taro das Dümmste getan, was er in seiner Trunkenheit zu Stande brachte. Er hatte versucht, Raidon, den selbsternannten Donnergott, auszutricksen. Wie dumm ich doch war, dachte er erneut und strich sich seine mittellangen, schwarz gefärbten Haare aus dem geschwollenen Gesicht.

Er hatte versucht, ihm klar zu machen, dass er das Geld längst hatte und es auf dem Dach der örtlichen Polizeistation versteckt hatte.

Sein Plan war, Raidon so loszuwerden und möglichst noch von der Polizei schnappen zu lassen, während er sich aus dem Staub machte. Aber der Donnergott war wie immer schlauer gewesen als er. Er hatte eines seiner Gangmitglieder beauftragt, dort nachzusehen, während er selber dableibe und sich von Taro einen Drink spendieren lassen wollte. Doch da war Taro schon unbemerkt in die Falle gelaufen. Er war wie selbstverständlich zum Wirt gegangen und hatte zwei hochprozentige Liköre bestellt, während er innerlich vor Angst bebte. Plötzlich hatte Raidon hinter ihm gestanden und gefragt, ob er denn nicht bezahlen wolle.

"Naja…du weißt doch …also der Wirt…" hatte er gestottert, während der Gangleader fies grinsend auf ihn herunter starrte.

"Das ist aber nicht sehr höflich! ", hatte er geantwortet, er solle doch bitte die Liköre bezahlen. Da Taro aber nicht einen einzigen Yen in der Tasche hatte, hatte er nur gemeint, er habe doch eh kein Geld.

"Und woher hast du denn dann meine 750000 Yen, wenn ich fragen darf???"

Die Falle schnappte zu.

" Naja…also die…ähm … die hab ich noch von…" Sich noch nicht bewusst, wie tief er sich bereits hineinreiten lassen hatte, hatte er einfach irgendetwas vor sich hin gestottert. Natürlich hatte genau in diesem Moment dass Handy von Raidon geklingelt. Ein verärgertes Gangmitglied berichtete, auf dem Dach sei kein einziges Scheinchen zu finden.

"Dass habe ich mir schon gedacht. Aber Taro wollte uns gerade seine Harley schenken"

rief er ins Telefon. Da war Taro durchgedreht. Wenn es um seine geliebte Harley ging, verstand er keinen Spaß. Er hatte dem 19jährigen seinen gesamten Wortschatz an wüsten Beschimpfungen und Beleidigungen an den Kopf geworfen, hatte ihn für alles verantwortlich gemacht, was ihm in dieser Nacht widerfahren war und was noch passieren würde. Und dann hatte er ihm gedroht, er würde ihn umbringen, wenn er auch nur einen Finger an seine Harley legen würde. Der ein Jahr Ältere hatte nur gelacht.

"Kommt Jungs, wir haben gerade ein nettes kleines Motorrad geschenkt gekriegt." meinte er überlegen. Da war Taro auf ihn losgegangen. Aber was für eine Chance hat man schon gegen fünf allesamt ältere und stärkere Jungs. Sie hatten kurzen Prozess mit ihm gemacht, während ein grinsender Gangleader auf seiner wundervollen schwarzen Harley davongebraust war.

Und jetzt lag er anscheinend unter einer grauen Brücke, währen eine schlammige, verschmutzte Brühe namens Fluss an ihm vorbeirauschte. Er spürte ein starkes Brennen im Hals, sein Magen zog sich zusammen vor Hunger und halb erfroren war er auch. Was die sich eigentlich dachten. Es war erst Februar und er erst 18. Er würde zur Polizei gehen, ja, dass würde er tun. Aber ihm war schon Sekunden später klar, das dass wohl unmöglich war. Wer würde sich schon ein spielsüchtiges, betrunkenes und heimatloses Straßenkind anhören. Die japanische Polizei bestimmt nicht.

Seufzend stemmte er sich von seinem nicht sehr weichen "Nachtlager" auf und versuchte, wenigsten den gröbsten Dreck von seinen Lederklamotten zu entfernen. Wenigstens die hatten sie ihm gelassen. Er sah schrecklich aus. Sein schräger schwarzer Pony hing ihm strähnig ins Gesicht, seine schwarze Motoradkluft und sein Ledermantel waren dreckig und zerrissen, eine seiner pechschwarzen Kontaktlinsen fehlte. Wutentbrannt schleuderte er auch die zweite in den Fluss. Ich werde wohl als erstes versuchen, mir was Essbares zu besorgen, dachte er. Und dann hole ich mir meine Harley zurück. Irgendwie. Er angelte sich die Uferböschung hinauf und sah sich um. Anscheinen war er immer noch ungefähr da, wo er sich am letzten Abend aufgehalten hatte. Er kannte einen Verkäufer in der Nähe, er wollte versuchen, von dem etwas zu bekommen. Bis jetzt hatte er immer die defekten Alkflaschen von ihm bekommen, aber davon würde er jetzt erstmal die Finger lassen, dass schwor er sich.

Kein Alk, bis er sein Leben wieder in Ordnung gebracht hatte. Kann ja lange dauern, seufzte er. Aber vielleicht konnte Hiroshi ihm ja erstmal etwas Essbares besorgen.

Mit dem Job hatte man ja nur Glück. Das bisschen Kassierer spielen, selber kassieren und dann noch jede Menge umsonst. Und so machte er sich unverzüglich durch den dichten frühmorgendlichen Februarnebel auf den Weg.
 

"Du schon wieder!"

Hiroshi Kanaye klang nicht sehr begeistert, als er den 18jährigen Schulabbrecher erblickte.

"Du hast doch gestern erst was gekriegt, was willst du heute denn schon wieder? Ich hab heute keinen Alk für dich. Der Chef wundert sich eh schon. Du musst endlich aufhören, so viel zu trinken. Das ist so ungesun…"

"Jaja, ich weiß, ich weiß!!! Beruhige dich erstmal!"

stoppte Taro den Redeschwall des jungen Verkäufers.

"Ich weiß doch selber, was ich für Scheiße gebaut habe! Raidon hat mich elternlos gemacht. Und is mit meiner Harley auf und davon. Und daran ist um genau zu sein nur der Alk schuld. Und er natürlich, dieser Schweinehund. Ich werde erstmal aufhören zu trinken, bis ich das wieder in Ordnung gebracht habe"

Das alles sprudelte nur so aus dem großen Jungen heraus.

"Aber deine Eltern…"

"Nichts meine Eltern. Das waren verdammte Adoptiveltern. Haben mich rausgeschmissen.", unterbrach er ihn zum zweiten Mal.

"Okay… das… ist heftig… Und was willst du jetzt von mir?",

fragte Hiroshi offensichtlich überfordert.

"Naja, ich hatte gehofft, du könntest mir irgendwas Essbares oder so besorgen… Oder eine kleine Flasche Coke oder so..:" murmelte Taro etwas verlegen.

"Mal sehen, was ich da machen kann. Erwarte aber nicht zu viel, Taro Nishi…"

Der Oberschüler stockte. "Wie heißt du jetzt eigentlich richtig?"

"Anscheinend heiße ich Taro Azarni. So hat Yasuo mich gestern Abend genannt. “Distelblume“…Passt ja schon irgendwie…" murmelte er.

"Okay… Naja, ich guck mal, was ich machen kann…"

Rasch verschwand der Braunhaarige hinter einem Kistenstapel.

Nach wenigen Minuten tauchte er mit einigen Lebensmitteln in der Hand wieder auf.

"Das ist alles, was ich kriegen konnte. Ein paar Fertiggerichte, Dosen, ein paar Brötchen und ein paar Äpfel. Und dann noch eine Flasche Wasser und zwei Flaschen Coke. Ich hoffe, damit kommst du erstmal klar. Das is aber alles schon abgelaufen oder die Verpackung ist kaputt. Mehr kann ich leider nicht machen." meinte Hiroshi. Wie praktisch es doch ist, Leute in Verlegenheit zu bringen, dachte Taro bei sich. Laut sagte er:

"Dass ist doch super, Hiroshi! Vielen Dank! Und,… naja…, könntest du mir öfter so was besorgen…?"

"Mal gucken. Aber das klappt schon irgendwie. Was hast du jetzt vor? Ich meine, du kannst doch nicht einfach…"

"Auf der Straße bleiben?" beendete er den Satz.

"Muss ich wohl. Wo soll ich denn hin, so wie ich aussehe?" Er deutete auf sein verdrecktes Äußeres, auf die schlammigen Kampfstiefel, die zerfetzte Motorradkluft und seine schlammverkrusteten Haare.

"Werde mir wohl erstmal einen Platz suchen, wo ich bleiben kann, und dann werde ich mir meine Harley zurückholen." erwiderte er bestimmt.

"Die Harley zurückholen? Von Raidon? Sag mal, bist du lebensmüde??? Die gibt der doch im Leben nicht raus! Und, sorry, aber gerade dir wird er sie bestimmt nicht mit einem Handschlag auf gute Freundschaft zurückgeben! Falls du das nicht gemerkt hast, er hasst dich scheinbar! Wie hast du es überhaupt geschafft, ihn so wütend zu machen, dass er es nicht beim Geld belässt?"
 

"Also, erstens habe ich ihm ja schon diverse Scheinchen geschuldet, und auf meine Harley war er irgendwie schon immer neidisch… Aber dass ist egal, irgendwie hole ich mir die schon zurück! Ohne die bin ich ein Nichts!"

"Diverse Scheinchen? Wie viel genau?" Der Verkäufer ahnte Böses.

"Naja… So zirka 750000 Yen …" stammelte der Schwarzhaarige.

"Und das ist eigentlich auch noch nicht alles… Und außerdem hat er mich betrogen!"

"750000 Yen!!! Mensch, Junge, das ist eine 75 mit vier Nullen!!! Und… was weiß ich noch nicht? Bitte sag nicht, du hast versucht, den Donnergott…"

"Ich habe versucht, ihn zu betrügen. Ich weiß ja selber, dass das dumm war, aber ich war halt betrunken und hielt mich einmal für schlau. Habe versucht, ihn der Polizei in die Armen laufen zu lassen. Der Penner hat mich aber schon vorher entlarvt"

"Oh. Mein. Gott."

Entgeistert und komplett geschockt ließ sich der 16jährige auf eine Bananenkiste sinken.

"Du kannst verdammt noch mal froh sein, das es nur die Harley war. Und sei bloß froh, dass du noch nicht mausetot im Graben liegst!"

"Und trotzdem hole ich mir meine Harley zurück. Der Gedanke, das dieser Idiot sie fährt, macht mich schon die ganze zeit irre! Ich liebe dieses Motorrad! Ich…"

"Vergiss doch endlich die blöde Harley! Du kannst dir ja wohl sicher sein,… ach, was laber ich hier eigentlich! Denk doch mal realistisch und versuch lieber erstmal, irgendwo bei irgendeiner Straßengang unterzukommen. Alleine schaffst du dass nicht! Die Harley kannst du wie gesagt vergessen. Ich würde dich ja bei mir reinlassen, aber dass kann ich mit meinen Eltern wohl nicht vereinbaren. Wach auf du Idiot, und such dir endlich jemanden!" Nachdenklich sah Taro ihn an. "Meinst du wirklich?"

"Natürlich! Ich werde solange weiter versuchen, dir hier was zurückzulegen. Und jetzt werde ich weiterarbeiten, ich habe hier schließlich noch genug zu tun. Die Kisten packen sich nämlich nicht von alleine aus."

Und damit packte er die Bananenkiste, auf der er gesessen hatte, und verschwand im Konbiniladen, wo er arbeitete.
 

Nachdenklich stand Taro auf, nahm die Lebensmitteltüte und ging langsam Richtung U-Bahn, als ihm einfiel, dass er ja gar kein Geld hatte, um auch nur eine Station weit zu kommen. Fluchend drehte er sich um und stapfte Richtung Innenstadt davon. Hätte er doch bloß schon seine Harley wieder! In einem Park machte er Halt und setzte sich auf eine Bank. Hungrig packte er die Lebensmittel, die er von Hiroshi bekommen hatte, aus der Tüte und legte sie vor sich auf die Parkbank. Hiroshi, das war er wirklich. Hiroshi: Großzügig

Die Lebensmittel waren zwar nicht erste Wahl, aber es war genug, um ihn ein bis zwei Tage über Wasser zu halten. Zügig verspeiste er einige Fertig-Onigiri und ein Brötchen. Dazu trank er einige Schlucke Wasser aus Wasserflasche ohne Banderole. Den Rest packte er wieder ein und machte sich dann auch gleich auf den weg, um sich einen Unterschlupf zu suchen. Nachdem er einige Zeit herumgelaufen war, entdeckte er ein offensichtlich leerstehendes Abrisshotel am Rande von Tokios Hauptzentrum. Anscheinend hatte der Besitzer nicht genügend Geld für den Abriss gehabt, denn alle anderen Häuser und Hotels in der Nähe waren bereits abgerissen und über den Boden liefen tiefe Baggerspuren.

Da es nicht so aussah, als ob hier in nächster Zeit noch etwas passieren würde, betrat Taro neugierig das Hotel. Einige staubige Decken und leere Flaschen zeugten davon, dass hier wohl schon öfter jemand "gewohnt" hatte. Die Tapete war abgerissen, aber in einigen Räumen waren noch Reste von Teppichböden und einer ehemaligen üppigen Verzierung zu erkennen. Warm war es zwar nicht, aber immerhin windgeschützt und trocken. Vorsichtig stieg er eine bröckelnde Treppe hinauf und fing nach einer gründlichen Inspektion an, sich im obersten Stockwerk einzurichten. Er trug einige der Decken nach oben, verstaute seine Lebensmitteltüte auf einem schiefen Regal und bereitete sich dann ein Lager aus Teppichresten, Decken und einer löchrigen Matratze, die er in einer halb zerfallenen Abstellkammer entdeckt hatte.

Als er mit diesen Vorbereitungen fertig war, kletterte er wieder nach unten und machte sich auf die Suche nach einer öffentlichen Toilette, wo er sich erst einmal einigermaßen säuberte und den Dreck von seiner Kleidung entfernte. Zum Glück tauchte niemand anderes in dieser Toilette auf, es wäre Taro nämlich sehr peinlich gewesen, dabei erwischt zu werden, wie er sich die Haare notdürftig unter dem Wasserhahn des kleinen Waschbecken wusch und seine Stiefel und seinen Mantel mit nassem Klopapier sauber wischte.

Als er damit fertig war, kehrte er wesentlich sauberer in sein neues Heim zurück. Erschöpft von den Strapazen der letzten Nacht ließ er sich todmüde auf sein provisorisches Bett fallen. Und sprang sofort wieder auf. Er war auf etwas Weiches, Zappelndes gefallen. Sobald er wieder stand, sah er eine fette braune Ratte weghuschen. Angewidert schüttelte er sich. Ratten! Wie ekelhaft!

Aber damit muss man wohl leben, solange man auf der Straße sitzt, dachte er erschöpft. Zum Glück hatte er die Tüte mit den Lebensmitteln auf einem Regal verstaut. Da würden die kleinen Nager wohl nicht rankommen. Nachdem er sich versichert hatte, dass keine weiteren unliebsamen Gäste in seinem “Bett“ hausten, legte er sich wieder hin und viel kurz darauf auch schon in einen unruhigen Schlaf voller Alpträume.
 

"Wie sieht der denn aus???"

Schlagartig wurde Taro mit einem Tritt aus seinen Träumen geholt. Verschlafen blinzelte er durch seine verquollenen Augen direkt in das dreckige Gesicht eines zirka zwei Jahre älteren Mädchens. Die nächtlichen Lichter Tokios schimmerten durch die Fensterlöcher des ehemaligen Hotels hindurch.

"Wie…Was…" Taro musste sich erst einmal orientieren.

"Wo du bist? In MEINEM Zuhause eingedrungen, und nicht nur in meinem, sondern in unserem Hauptquartier."

Sie deutete auf eine Gruppe Mädchen, die hinter ihr stand.

"Euer… Hauptquartier?" Wiederholte er verwirrt. "Euer… Zuhause?"

"Du pennst wohl noch, oder wie? Oder hast du keine Ohren? Jawohl, unser Hauptquartier UND unser Zuhause. Wir leben hier. N’ andres Zuhause ham wir nich. Und du siehst auch nich so aus, als würde es dir besser gehen. Wie heißt du überhaupt?" schnauzte sie ihn an.

"Ter… Kuro. Und wer zum Teufel seid ihr???" Innerhalb von Sekunden entschied er sich, dass es wohl besser währe, erstmal ein Pseudonym anzunehmen.

"Wir sind Chizu. Mehr musst du nicht wissen. Und jetzt verschwinde von hier. Und zwar zackig, wenn ich bitten darf!"

"Jetzt mal immer mit der Ruhe. Ihr seid eine Gang, oder? Also genau das, was ich suche. Ich bin erst seit kurzem auf der Straße, und so allein… also, das ist irgendwie scheiße."

Er wurde rot, fügte dann aber mit Nachdruck hinzu

"Kommt schon, so schlimm bin ich wirklich nicht…"

Sie fing an zu lachen. Auch die anderen Mädchen stimmten mit ein.

"Du bist gut." japste sie.

"Das ist echt zu gut." Sich vor lachen kringelnd ließ sie sich auf eine Fensterbank sinken. "Falls dir das noch nicht aufgefallen ist, erstens bist du kein Mädchen, zweitens kann man nicht einfach so eine Chizu werden und drittens…" Sie blickte die anderen bedeutungsvoll an und kicherte von Neuem los "…hast du die falsche Haarfarbe!"

Da erst fiel ihm auf, dass alle Mädels ausnahmslos knallpinke Haare hatten. Und das stand ihnen auch noch. Er wusste nicht wieso, aber irgendwie sahen sie damit nicht einmal kitschig aus.

"Aber wenn du unbedingt möchtest…", wisperte das Mädchen auf einmal verlockend.

Die anderen fingen wie wild an zu tuscheln."Wir würden bestimmt viel Spaß miteinander haben…"

"Ähm, schon gut…Ich gehe dann mal…" Mit knallrotem Kopf sprang er auf und spurtete Richtung Ausgang. Offensichtlich verwirrt machten die Mädchen ihm Platz. Das hatten sie anscheinend nicht erwartet.

Er stolperte fast über seine eigenen Füße, als er die Treppe hinunter hastete. Nur weg hier, waren seine einzigen Gedanken. Nur weg von diesen verrückten Mädels. Er lief einfach drauflos, mitten in Tokios Innenstadt hinein.

Erst nach einer ganzen Weile stoppte er und ließ sich am Straßenrand gegen eine Ladenfront sinken. Die Wärme des Geschäfts hinter ihm ließ ihm eine Gänsehaut über den Rücken laufen und wärmte seinen schlanken Körper.

Plötzlich merkte er, dass er die Tüte im Hotel der Chizu vergessen hatte. Sie zu holen, kam wohl nicht in Frage. Scheiße, dachte er, jetzt muss ich wohl mal wieder bei Hiroshi betteln. Wie peinlich. Eigentlich hatte er gedacht, die Lebensmittel würden noch eine Weile reichen.

Jetzt stehe ich genau so da wie heute früh, nur das ich mich noch mieser fühle, urteilte er.

So stand er auf und sah sich nach einer Schlafgelegenheit um.

Nachdem er todmüde einige Stunden durch Tokio gewandert war, legte er sich kurzerhand in den Ladeneingang eines seit lange geschlossenen Blumenladens und fiel auch bald in einen albtraumreichen Schlaf. Immer wieder träumte er, von einem riesigen schwarzen Abgrund in die Tiefe gezogen zu werden oder eine endlose Klippe hinabzustürzen.

Als er am nächsten Morgen nicht wirklich entspannt aufwachte, war es bereits 11 Uhr. Er sprang auf und machte sich auf den Weg zu Hiroshis Arbeitsplatz, dem Konbiniladen Nyoko.

Als er dort ankam, konnte er den jüngeren Verkäufer nirgendwo entdecken. Mit gemischten Gefühlen wagte er sich in das innere des Ladens, um dort nachzusehen. Aber auch dort war außer dem Ladenbesitzer niemand zu sehen. Nach kurzem Zögern fragte er schließlich den korpulenten Mann nach Hiroshi Kanaye.

"Was willst du denn von ihm? Der kommt heute nicht.", entgegnete Hiroshis Vorgesetzter.

"Naja, wir sind befreundet… Ist er krank? Geht es ihm gut?"

Wenn ihm nur nichts passiert war, dachte Teru, ansonsten hätte ich keine Lebensmittel mehr und woanders kriege ich ja sowieso nichts her, so ganz ohne Geld.

"Ist ne ganz fiese Geschichte." riss der Ladenbesitzer ihn aus seinen Gedanken.

"Soweit ich weiß, hat mein Verkäufer irgendeinem Obdachlosen Nahrung zukommen lassen, die ich wegschmeißen wollte. Er ist halt sehr sozial, der Junge. Aber anscheinend hatte irgend so ein Straßenboss da was gegen und hat ihn fertig gemacht. Der arme Junge! Ich habe ihm erstmal freigegeben. So eine Unverschämtheit…"

Der Rest ging an Teru vorbei. Raidon schon wieder. Armer Hiro. Wie hatte der verdammte Schweinehund das jetzt wieder herausgekriegt? Jetzt war er allein, hatte keine Lebensmittel, kein Fahrzeug und keinen Freund mehr.

Denn Hiroshi würde jetzt bestimmt nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen, da war er sich sicher. Er würde sich seine Harley zurückholen, und zwar sofort. Denn diesen Triumph wollte und konnte er dem Donnergott nicht gönnen. Ohne ein weiteres Wort stürmte er aus dem Laden und Richtung Tokio Underground, dem Lager der Straßengang. Aber er kam nicht weit. Schon ganz in der Nähe des Eingangs zu den Tiefbahnhöfen sah er etwas Schwarzes im Straßengraben liegen. Böses ahnend stürzte er auf sein verbeultes, kaputtes Gefährt zu. Noch rauchende Teile eines ehemals stolzen Straßenflitzers lagen verstreut zwischen Müll und Schmutz. Es roch nach verbranntem Gummi und Motoröl.

Seine wundervolle Harley lag zerstört und irreparabel im Straßengraben, offensichtlich mutwillig kurz und klein geschlagen. Schluchzend brach über den verstreuten Teilen seines Lebensinhaltes zusammen. Aus und vorbei. Zu Ende. So sah der schluchzende Junge sein Leben. Raidon war nicht neidisch gewesen. Er wollte ihn zutiefst demütigen, denn das war es, was dem selbsternannten Donnergott Spaß machte.
 

"Seht ihn euch an. Wie erbärmlich." Mit dem typischen fiesen Grinsen im Gesicht beugte sich Raidon, der mitsamt seiner ständigen Begleitung, den Zwillingen Takeru und Takumi, plötzlich am Straßenrand aufgetaucht war. Teru war zu keiner Bewegung mehr fähig, er konnte und wollte sich nicht wehren.

Raidon wollte keine Leute umbringen, er wollte sie nur zu seinem Vergnügen wie Marionetten einsetzen. Und dann wie ein kaputtes Spielzeug mittellos und innerlich zerstört am Straßenrand liegen lassen. Würde er jemanden töten, würde er es mit der Polizei zu tun bekommen, die ja bekanntlicherweise seit einigen Jahren recht hart durchgriff. Aber er würde ihm einen Strich durch die Rechnung machen, dass beschloss er im Bruchteil einer Sekunde. Blitzschnell griff er nach einem scharfen Teil seines zerstörten Motorrades.

"Ich bringe dich um!" schrie er verzweifelt.

Sofort standen Takeru und Takumi vor ihrem Boss. Raidon lachte.

"Versuch das mal. Die beiden haben Baseballschläger. Und du? Ein Schrottstück."

"Dass ist kein Schrott!" flüsterte er inzwischen völlig am Ende. Und dann entschied er sich um. Er richtete die scharfe Kante des Bruchstücks auf seine Halsschlagader.

"Dann bringe ich mich halt um. Was wirst du dann wohl tun? Du wirst schuld sein, Raidon."

"H…Hey, mach keine Scheiße, Junge…" stotterte der Gangleader auf einmal verunsichert. Teru drückte das Blechstück gegen seinen Hals. Ein kleiner Blutstropfen lief seinen Hals hinab. "Werde ich nicht? Wirklich nicht? Bist du dir da ganz sicher?" fragte er übertrieben ruhig. Plötzlich lies ein lautes Motorengeräusch die drei stehenden Männer aufblicken. Teru hob nicht einmal den Kopf. Ein hübscher junger Mann auf einem Zweisitzer hielt am Straßenrand und stieg von seinem Motorrad. Er war sehr ordentlich gekleidet, trotzdem konnte man erkennen, dass er auf der Straße lebte. Sofort ging er auf den immer noch leise weinenden Jungen zu. Sobald er Raidon und seine Kumpanen nicht mehr im Blickfeld hatte, verschwanden die jungen Männer so schnell, wie sie aufgetaucht waren.

"Hey…" flüsterte der Mann leise und kniete sich neben den schluchzenden Teru.

>Hey, das willst du nicht wirklich."

Vorsichtig nahm er ihm das Blechstück aus der zitternden Hand. Widerstandslos ließ der 18jährige alles mit sich geschehen.

"Alles wird gut." flüsterte der 21jährige.

Dann hob er den Kleineren auf seine Arme und trug ihn zu seinem Motorrad. Erstaunt blickte der Junge in die blauen Augen seines Retters und stammelte: "Wieso…" Seine Worte wurden kurzerhand erstickt, indem der Ältere ihm einen Kuss auf den Mund drückte. "Sag nichts…" murmelte er. Dann setzte er den Schwarzhaarigen auf sein Motorrad und sich selber davor. Automatisch legte Teru seine Arme um den vor ihm Sitzenden. "So ist’s gut." meinte der Andere. Dann startete er das Motorrad und fuhr los.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Ningen_Sucker
2009-10-31T12:41:44+00:00 31.10.2009 13:41
...Wow...dieser FF ist dir guut gelungen...ist toll geworden ^^
Von:  Toastviech
2009-10-29T17:03:43+00:00 29.10.2009 18:03
HI^^

ICh finde dieses ff wirklich interessant und sehr realistisch.
Wer weiß was alles da draußen abläuft.

Ich bin gespannt wer dieser Fremde ist.

lg Toasty


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