Drabble 37 - Zeit
Zeit
Auch wenn man es sich nicht wünscht. Die Zeit vergeht.
Auch wenn man es sich wünscht. Die Zeit vergeht.
Sie saß in ihrem Labor, einsam. In den Räumlichkeiten der Organisation herrschte ständig Tag, niemals wurde es dunkel. Rund um die Uhr schufteten Wissenschaftler und Techniker für die Männer in Schwarz. Neonröhren spendeten flackerndes Licht, während ihr greller Schein die Augen blendete. Viele ihrer Kollegen hatten aufgrund des ständigen Neonlichtes chronische Bindehautentzündung. Sie konnte froh sein, dass sie auch gelegentlich hier raus kam. Die einzige Begründung: APTX4869.
Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. 10 nach 12. So spät schon. Sie rieb sich die Augen. Müde war sie, und geschafft. Abgearbeitet. Burnout-Syndrom. Wenn sie so weiter machte, dann würde sie in wenigen Monaten zum psychischen Wrack mutieren.
Eine Alarmuhr klingelte. Töne rasten durch ihren Kopf, stachen in ihr Gehirn und brannten sich auf ewig in ihren Verstand. Schmerzen.
Die Reaktion war vollzogen, Stoffe hatten sich verbunden, andere gelöst. Nur sie war immer noch allein.
Die junge Wissenschaftlerin bereitete sich auf ihre nächste Aufgabe vor. Um 6 Uhr würde sie hier rauskommen, ein Bisschen frische Luft schnappen. Sie würden eine Routineuntersuchung nach Anwendung des Apoptoxins durchführen. Irgendein junger Schnüffler soll draufgegangen sein. Sie musste sich nur noch vorbereiten…
Sie war eingeschlafen. Das konstante Flackern der Neonröhren hatte sie eingeschläfert, hatte ihre Zeit geraubt, Zeit, die sie nicht hatte. Es war Morgen. Halb Sechs. Sie hatte nicht geträumt. Oder doch? Geträumt von dem jungen Mann, der gestorben war?
Ihre Tasche war gepackt, alle Dinge verstaut. All die Chemikalien, die Probeköfferchen, die Spurensicherungs- und Entfernungsutensilien waren sicher verpackt. Es würde verdammt knapp werden. Sie rannte, sie rannte so schnell sie konnte. Seit Jahren das erste Mal Rennen.
Wahnsinn, diese neuen Erfahrungen. Wozu Zeit fähig war.
Als sie die kalten, weißen Gänge des HQ der schwarzen Organisation durchquert hatte und endlich am Ende der gewaltigen Treppe angelangt war, die aus dem unterirdischen Komplex herausführte, da stand sein Wagen schon vor der Tür. Ein eiskaltes Lächeln begrüßte sie. Sie begrüßte ihn mit Abscheu.
Sie fuhren schnell, sie hatten es eilig. Ohne Eile: Zeitverlust. Das Timing musste perfekt sein. Das Ticken des Sekundenzeigers schlug heftig gegen ihr Trommelfell. Es war eine Jagd – und eine Flucht. Flucht vor dem Moment, Jagd nach der letzten Sekunde.
Die Leitplanke der Stadtautobahn flitzte an den getönten Scheiben des gepanzerten Jeeps vorbei. Straßenlaternen unterstützten das wenige Licht des jungen Morgens. Die Luft im Wagen wurde trüb. Zigarettenqualm durchsetzte sie. Es war seine Fünfte.
Ausfahrt in wenigen hundert Metern. Nur noch wenig Zeit.
Sie hielten vor dem Haus des Jungen. Eine gewaltige Villa im Stil vergangener Zeiten. Ein Monument des Reichtums. Der Lebensraum einer Familie ohne Zukunft.
Sie stiegen aus, all die Koffer in Händen. Jemand öffnete die Tür – spurenlos. Sie trat ein, roch die Luft, sah sich um, starrte in den Raum und wusste, dass der Junge wohl der Erste zu sein schien, der der Zeit ein Schnippchen geschlagen hatte…
