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Assoziatives Schreiben

One-Shots für den gleichnamigen Zirkel
von

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Satz 20 - Die Mauer

Die in sich abgeschlossene Turmstadt hatte offenbar ausgedient. Dieser Gedanke war es, der Jerred durch den Kopf ging, kaum, dass er durch das sowohl schmale, als auch gut bewachte Stadttor trat. Bereits hier, wo die Wächter allgegenwärtig und die Mauern unübersehbar waren, drängten sich die zerlumpten Gestalten. Man hatte ihn gewarnt, die Stadt zu betreten, jenes Überbleibsel einer längst untergegangenen Kultur. Von Kultur war freilich wenig zu spüren zwischen den niedrigen, verfallenen Hütten, welche sich links und rechts der schmalen Straße erstreckten. Überhaupt schien jeder Quadratmeter bebaut, nur unterbrochen von kleinen Gärten. Jerred rümpfte die Nase und sah, wie seine Begleiter es ihm gleichtaten. Unzivilisiertes Pack.

Der junge Abenteurer richtete sich zu voller Größe auf, atmete einmal tief durch und gab seinen beiden Leibwächtern ein Handzeichen, ihm zu folgen. Er handelte im Auftrag der Regierung, ein guter Posten, um den ihn mancher beneidete und den er hauptsächlich den guten Beziehungen seines Vaters verdankte.

Die verfallene Stadt, die sich an die Hänge eines beinahe kegelförmigen Berges schmiegte und deren Ausbreitung man mit Hilfe jener unüberwindbaren Mauer eingedämmt hatte, durch die er soeben getreten war, sollte in naher Zukunft verschwinden. Nicht, dass viele Bürger des Landes sich überhaupt an das Volk erinnerten, welches hier hauste, doch waren einige Stimmen laut geworden, welche sich gegen den Abriss aussprachen. Diese Zweifel zu zerstreuen war Jerreds Aufgabe. Ein Volk ohne Kultur konnte nicht erhaltenswert sein, so lautete die offizielle Ansicht und diese galt es zu untermauern.

Bereits nach wenigen Metern geriet das massive Tor außer Sichtweite, lediglich die Mauer erhob sich über die Dächer der stinkenden Stadt. Weiter oben am Hang mochte die Luft frischer sein, zumindest hoffte Jerred dies. Der Geruch nach Dreck, Menschen und Fäkalien war überwältigend, selbst für ihn, der die Großstädte seines eigenen Volkes gewöhnt war. Lebten viele Menschen auf engem Raum, stank es, doch stand dies in keinem Verhältnis zu dem, was seiner Nase jetzt zugemutet wurde.

„Bringen wir es hinter uns“, sagte Jerred, an seine Leibwache gewandt, zwei Männer mit breiten Schultern und verkniffenen Gesichtern. Nicht jene Art von Gesellschaft, mit welcher er sich gewöhnlich umgab, doch erträglicher als die übrigen Gestalten, welche die Eindringlinge misstrauisch beobachteten. Hin und wieder war jemand mutig genug, ihnen eine Beleidigung hinterherzuwerfen, jedoch nicht, auch dazu zu stehen und sich den Wächtern zu stellen. Feiglinge, dachte Jerred.

Minuten später war von der sie umgebenden Mauer nichts mehr zu sehen, von der sonne fast ebenso wenig. Sie tauchten in den Kosmos zwischen den Häusern ein, wo in den letzten fünfzig Jahren kein Außenstehender gewesen war und wo die Gesetze der Wilden galten. Jerred legte den Kopf in den Nacken, wenn auch nur kurz, um in dem überall liegenden Unrat nicht zu stürzen. Jedes Fleckchen, das nicht bewohnt wurde, schien für Pflanzen reserviert zu sein. Er sah sie in Kästen vor den Fenstern hängen und sie wucherten über die Ränder der Dächer. In den Hinterhöfen gab es vermutlich weitere der kleinen Gärten. Es machte Sinn, sobald man näher darüber nachdachte. Den Bewohnern war es verboten, Handel zu treiben, um die Außenwelt vor ihrem schädlichen Einfluss zu schützen, trotzdem benötigten die Menschen Nahrung.

Der junge Abenteurer erschauerte, als er an die Geschichten dachte, die man ihm erzählt hatte. Angeblich, hatte einer der alten Professoren ihm erst gestern erzählt, aßen sie ihre Toten und je tiefer er in die Stadt eintauchte, umso wahrscheinlicher schien es ihm. für Friedhöfe gab es keinen Platz, ebenso wenig für Haustiere. Wovon ernährten sich diese Menschen?

„Sie sind wie die Tiere“, flüsterte einer seiner Wächter ihm ins Ohr und Jarred machte einen kleinen Satz in die Luft. Wie lange hatte der Mann ihn schon beobachtet?

„Tu das nie wieder!“, zischte er und strich sich pikiert die Weste glatt. „Und sie sind es“, fügte er leise hinzu.

Vor ihnen lag der Hang, die Straße wurde steiler und wand sich in tausend Kurven den Berg hinauf.

Wozu weitergehen? Weil es seine Aufgabe war. Jerred zog die Stirn kraus, beschloss aber, dem Befehl zu folgen.
 

Bereits, seit sie das Stadttor passiert hatten, waren die drei Fremden keinen Augenblick unbeobachtet gewesen. Sie wussten es, wenn sie auch tunlichst darauf achteten, es nicht auszusprechen. Ihr Auftrag bestand darin, den Berg hinaufzugehen, sich oben umzuschauen und auf einem möglichst anderen weg wieder zum Tor zurückzukehren. Währenddessen sollte Jerred nach Zeichen von höher entwickelter Kultur Ausschau halten und sich ein Bild vom baulichen Zustand der Straßen machen. Beides sah schlecht aus.

Ganz davon abgesehen fragte er sich zusehens, ob die Musketen ihnen im Ernstfall helfen würde. Sie standen zu dritt gegen... wie viele Menschen lebten hier dicht gedrängt? Jerred wusste es nicht. Sie waren die Eindringlinge, sie waren die Fremden. Fremde, die, im Vergleich zu den einheimischen, unbeschreiblich reich gekleidet waren und sich Sicherheit von zwei lächerlichen Musketen versprachen.

Jerred wurde übel, als die Menschentraube hinter ihnen in Unruhe geriet. Ihm blieb die Luft weg, als sich ein Schuss löste und ihm wurde schwarz vor Augen, als ihn Sekunden später ein harter Gegenstand am Kopf traf.
 

Als er wieder zu sich kam, war es dunkel. Zumindest benötigten seine Augen einige Momente, um sich an das schwache Licht, welches durch ein schmales Fenster in den kleinen, übelriechenden Raum fiel, zu gewöhnen. Jerreds Herz raste ebenso wie seine Gedanken, als er nach einem Fluchtweg Ausschau hielt. Wenn er es bis zur Mauer schaffte, hatte er die Wächter auf seiner Seite. Bewaffnete Männer, die wussten, wo er war und dass sie ihm helfen sollten. Und seine eigenen Wächter? Wo waren sie? Nicht hier.

„Du lebst noch, falls du dich fragst, wo du bist“, ertönte eine Stimme, dicht neben ihm und ließ den jungen Mann hochfahren. Zumindest zwangen seine Reflexe ihn zu einer entsprechenden Bewegung, welche durch Seile an seinen Hand- und Fußgelenken gebremst wurde. Jerred sah sich hektisch um und erfasste die Situation. Drei spindeldürre Männer, zwei junge und ein alter, befanden sich außer ihm in dem Raum, der von seiner Größe her an eine größere Speisekammer erinnerte, keinesfalls jedoch an einen Raum, den man freiwillig zu viert betrat. Erst recht nicht, bei dem hier herrschenden Geruch.

„Sie werden euch ausrotten, sollte ich nicht zurückkehren. Im Moment bin ich der einzige, der ein gutes Wort für euch einlegen kann. Die Stadt soll weichen, wir brauchen das Land, aber wenn Ihr mich gehen lasst, werde ich dafür sorgen, dass man euch verschont“, versuchte er es. Die erhoffte Wirkung, Angst, Ehrfurcht, blieb aus. Stattdessen war es Schweigen, das er mit seiner halb erlogenen Äußerung erntete.

Der alte Mann musterte ihn kühl, bevor er zu sprechen begann. als es schließlich so weit war, klang seine Stimme rau, fast so, als hätte er sie seit langem nicht benutzt. Vielleicht traf es zu, dachte Jerred.

„Deine Regierung war es, die uns gefangennehmen ließ. Um sich aus der Verantwortung zu ziehen ließen sie uns diese Stadt und sagten, innerhalb der Mauern könnten wir tun und lassen was wir wollen. Anfangs klang es gut. Unser eigenes Land, unsere eigene Stadt, unsere Gesetze. Niemand, der uns verfolgte. Es war ein Angebot, das ebenso gut einem Traum hätte entstammen können und so willigten wir ein. Doch schon bald wurde uns klar, dass es sich in Wahrheit um einen Alptraum handelte. Die Bevölkerung wuchs, das Land aber blieb klein und wer es verlassen wollte, wurde von euren Männern hingerichtet. Die Ackerflächen wichen Wohnhäusern, die Nahrung wurde knapp und es kam zu Unruhen. Einst waren wir ein Volk, doch ihr machtet uns zu Rivalen um Land und Nahrung. Niemals hätte einer von uns seine Brüder und Schwestern getötet, doch zwangt ihr uns dazu, wollten wir überleben. Deine Regierung hat uns bereits vor einem halben Jahrhundert zum Tode verurteilt. geh und sage den Mächtigen, was sie hören wollen. Sage ihnen, dass wir unzivilisiert, dass wir keine Menschen sondern Wilde sind. Das sind wir. Aber erinnere sie, wer uns dazu gemacht hat.“

Jerred schwieg, sprachlos. Lebte er deshalb noch?

„Was...?“

„Sag ihnen das“, krächzte der Alte. „Dass sie Schuld sind an allem. Dass sie verantwortung übernehmen müssen.“

„Ich... Ja, selbstverständlich“, antwortete Jerred eilig. Die einzig mögliche Antwort in einer Situation, die so absurd war, dass er sie für einen Traum hielt. Man ließ seinen Feind nicht leben, um ihn gleich darauf laufen zu lassen. Das war zu leicht, viel zu leicht und die Kälte in den Augen der Männer wollte nicht dazu passen. Aber er lebte, man ließ ihn leben und das war es, was zählte. Über alles weitere konnte er sich Gedanken machen, sobald er zuhause vor dem Kamin saß.

Der größere der beiden jungen Männer musterte ihn kalt, dann schnitt er die Fesseln durch und zerrte Jerred nach oben, dem erst jetzt auffiel, dass seine Kleidung fehlte. Bis eben hatte die Angst ihn zu sehr im Griff gehabt.

„Nimm das“, sagte einer der jungen Männer und reichte ihm einen stinkenden Lumpen. „Wir bringen dich zum Tor. Deine Männer werden sich freuen, ihren Entdecker lebend wiederzusehen“, fügte er eisig hinzu.

Man hatte ihn ausgeraubt, damit hatte Jerred gerechnet. Dass man ihm sein Leben gelassen hatte, war die Überraschung. Er schnürte sich den Fetzen um den Leib und folgte wankend dem Fremden. Ehe die Tür hinter ihm ins schloss fiel, meinte er, ein gackerndes Lachen zu hören.
 

Der Weg hinab zur Mauer war lang, doch blieben die Verfolger aus. Wahrscheinlich, dachte Jerred, fiel er in den Lumpen nicht mehr aus und das verkrustete Blut in seinem Gesicht tat sein übriges. Seine beiden Begleiter blieben zurück, als er den ersten Wächter erblickte und eine Welle der Erleichterung den jungen Mann durchflutete. Nachhause wollte er, nichts anderes.

„Lasst mich durch! Ich bin einer von euch, ihr habt mich heute Morgen hineingelassen!“, rief er, noch ehe er den Mann mit der Waffe erreicht hatte. Der Gewehrkolben traf ihn ohne Vorwarnung an der Schläfe und ließ ihn benommen zur Seite taumeln.

„Lüg nicht, Bastard! Ihr habt den Mann umgebracht. Wahrscheinlich habt ihr seine Leiche gefressen!“, knurrte der Wächter und spuckte auf den Boden. Jerred verstand nicht, fing sich wieder und sah den riesenhaften Mann flehend und verwirrt an. Dieser musterte die zerlumpte Gestalt angewidert.

„Aber... ich bin es, erkennt ihr mich nicht? Sie haben mich leben lassen, verstehst du?“

Erneut war es Panik, die von Jerred Besitz ergriff. Er musste hier raus, sofort. Instinktiv krallte er sich in die Uniform des Wächters, die Männer sorgten für Recht und Ordnung und es war sein verdammtes Recht, seine Pflicht, die Stadt zu verlassen und seinen Auftraggebern Bericht zu erstatten.

„Lasst mich durch, gottverdammte Dummköpfe. Ich arbeite im Auftrag der Regierung, ihr habt zu tun, was ich euch sage!“, forderte er mit zitternder Stimme, als ihn auch schon der nächste Schlag zu Boden schickte und Blut spucken ließ. Jerred gab nicht auf, er kämpfte sich auf die Beine und setzte erneut zum sprechen an. Es war seine Pflicht...

Die Kugel aus der Waffe des Wächters traf ihn zwischen den Augen und der Wächter rümpfte die Nase.

„Unzivilisiertes Pack.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2009-11-18T08:35:52+00:00 18.11.2009 09:35
Hey,
ich fand die Geschichte auch gut geschrieben. Sie war schnell und flüssig zu lesen und die Idee hat auch was. Daraus könnte man durchaus was Größeres basteln. Vor allem war sie in sich schlüssig und auch die Gedanken von Jerred waren gut nachvollziehbar. Wenn auch traurig. So viele Vorurteile...
Naja, worin ich Bombadil allerdings rechtgeben muss, ist, dass das Ende irgendwie... nicht so ganz gepasst hat. Ich meine, das war eine wirklich grausige, makabre Pointe, also etwas, das mir gefällt.^^" Aber ich glaube nicht, dass die sich so überhaupt nicht mehr an sein Gesicht erinnern, selbst wenn's blutübertrömt war am Ende.
Tja, wie gesagt, die Geschichte gefällt mir (auch wenn ich nicht genau verstehe, wo die Turmstadt ausgedient hat. Es war doch eine ganz normale, "eingemauerte" Stadt oô),
lG Pluie
Von:  Bombadil
2009-11-17T13:30:27+00:00 17.11.2009 14:30
Um ehrlich zu sein...

Die Geschichte war gut geschrieben und hat Spaß gemacht zu lesen. Auch die Idee von der Verbannung in eine eigene Stadt und deren Folgen fand ich toll. Aber was darauf folgte...

Das war dann doch etwas übertrieben. Kleider machen Leute, klar. Aber nur weil der ein paar Minuten weg war und man ihm andere Sachen angezogen hatte hieß es gleich: "Hey, er ist tot. Was solls. Da prüfen wir gar nicht weiter nach." Außerdem wurde es am Anfang der Geschichte nicht genug HASS gegen dieses Volk gepredigt, als dass es schlüssig erscheinen würde, die einfach so abzuknallen.

Fazit: Die Geschichte und die Idee ist super und hat mir gut gefallen. Nur das Ende ist arg ungalubwürdig.


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