Das Gedicht
And when the rain begins to FALL,
Then come and see the LAST flowers, yellow and small.
ONE-DAY, you will understand,
Across the WATER, hand in hand,
You will FIND "it" - I am sure.
Let's have FUN, me and you.
Das Gedicht
Am Morgen fiel mir der Brief wieder ein.
Ich wusste ihn in meinem Rucksack, zwischen Deutsch- und Matheheft, zusammengefaltet. Über Nacht hatte ich ihn beinahe vergessen. Und jetzt füllte er meine Gedanken, als gäbe es nichts Anderes, das genauso wichtig wäre. In der Schule zog der Unterricht an mir vorbei wie die Wolken am hellblauen Himmel, die ich beobachtete. Als ich in Geschichte aufgefordert wurde, das Gesagte zu wiederholen, senkte ich stumm den Blick. Das Gekicher der Mädchen ignorierte ich. Was wussten die schon.
Die hatten schließlich keinen leeren Umschlag bekommen. Leer im Sinne von unbeschriftet. Das Innenleben sah auch nicht sehr anders aus. Ein blütenweißes Blatt und darauf ein paar Zeilen auf Englisch. Ich verstand den Sinn nicht. Die einzelnen Sätze wirkten zusammengewürfelt und nicht einmal die Reime waren so, wie man es sich wünschte. Kein großes poetisches Werk, keine Betonung der Endsilben, wie es manche bei Shakespeareübersetzungen doch lobten. Das Gedicht war mit Hand geschrieben. Eine unregelmäßige Druckschrift, wie von jemandem, der das Schreiben nahezu verlernt hatte. Oder einfach nichts auf Kalligraphie gab. Das Blatt war halb verknittert, als hätte der Jemand sich nicht entscheiden können, ob der die Idee verwerfen oder es durchziehen sollte.
»Mach dir doch nich’ in die Hose, Marc!«, lachte Max, als ich ihm von dem anonymen Schreiben berichtete. Cecile pflichtete ihm bei: »Da will dich doch nur jemand verarschen. Und du merkst es noch nicht einmal, du Idiot!« Ihre Worte versetzten mir einen Stich. Käme sie sich denn nicht vor wie auf der Abschussliste? Man kommt nach Hause, findet einen Brief ohne Absender, in dem auch noch solche unverständliche Sätze geschrieben stehen? Auf Englisch? »Pff… Englisch ist halt “cool”. Bestimmt war’s jemand aus der Klasse, der sich nur ‘nen schlechten Scherz erlaubt«, erklärte Matze, der eigentlich Matthias heißt, und wechselte dann das Thema: »Habt ihr schon von dem Banküberfall am Wochenende gehört? Ich hab’s in der Zeitung gelesen…«
Ich konnte dem Ganzen keinen Glauben schenken. Zumal einige Worte im Text vollkommen groß geschrieben waren. Hatten sie eine besondere Bedeutung? Fall, last, day, water, find. Und dann der letzte Satz. “Let’s have fun.” Vielleicht… vielleicht war es ja auch ein Pädophilier, der mit mir ein perverses Spielchen trieb? Bei dem Gedanken wurde mir übel. Sollte ich dem allem also einfach keine Beachtung schenken?
Als ich ohne jegliche Konzentration an meinen Chemiehausaufgaben saß, wanderten meine Augen immer wieder zum Umschlag, der neben mir lag. Ich schaffte es nicht - wider meiner Vorsätze -, ihn lange zu ignorieren, klappte das Heft zu und nahm ihn mir ein zweites, drittes, viertes Mal vor. Ich verstand es trotzdem nicht. Was hatte das alles zu bedeuten?
»Und wenn… der Regen anfängt zu fallen« - mein Gott, klang das bescheuert -, »dann… komm und sieh die… letzten Blumen, gelb und klein. Eines Tages wirst du es verstehen. Über das Wasser, Hand in Hand? Du« - oder ihr? - »wirst “es“ finden, da bin ich mir sicher… Lass uns Spaß haben, ich und du.« Ihr?
Ich feuerte den Brief an die Wand, las stattdessen das letzte Kapitel der Englischlektüre. Bis morgen sollten wir die Zusammenfassung dafür fertig haben - und ich hatte das Buch noch nicht einmal durch. The weeks passed quickly. In fall, I was able to…
Hä??? Dieser Satz ergab doch gar keinen Sinn. Im Fallen? Im Fall? Kopfschüttelnd klickte ich am Computer auf den Internetbrowser, ging auf die übliche Übersetzungseite und gab das entsprechende Wort ein. Der Abfall. Nein, das konnte noch weniger stimmen. Die Baisse, Das Gefälle… Der Herbst.
In meinem Kopf legte sich ein Schalter um. Wäre mein Leben ein Comic, so hätte gerade eben das altbekannte, klischeehafte Glühlämpchen über meinem Kopf aufgeleuchtet. Wie von den Socken stürzte ich in meine Zimmerecke, wo der Brief heruntergesegelt war. Alles heil. Ich kritzelte einfach mit Bleistift auf das Papier.
FALL = Herbst. Last suchte ich auch im Internet, es war das nächste groß geschriebene Wort. LAST = dauern. ONE-DAY = eintägig. WATER = Gänsewein. (Da fiel mir gleich etwas ein! In der Nähe des Waldes gab es eine Gänseweide. Und mitten hindurch floss ein kleiner Bach! Das mit den kleinen, gelben Blumen wäre somit auch geklärt.) FIND = “Such!” als Hundebefehl.
Ich konnte es kaum erwarten, Cecile davon zu erzählen. Eine gewisse Genugtuung durchströmte mich: von wegen “alles nur Quatsch”. Ich hatte das Rätsel gelöst! Vielleicht würde Englisch ab nun mein Lieblingsfach werden. Nun, um ehrlich zu sein, mir “gelöst“ hatte ich in meiner Euphoriewohl ein wenig übertrieben. Aber ich wusste wenigstens etwas mehr. Ich sollte im Herbst etwas suchen. Die Suche würde nicht mehr als einen Tag dauern. Dabei musste ich über den Bach, in dem es Gänsewein gab - und zwar Hand in Hand mit irgendjemandem. Hieß das, ich sollte einfach nicht allein dort hingehen? Tja. Damit wäre das nun geklärt. Aber an welchem Tag sollte ich suchen? Mit wem sollte ich suchen? Und die elementarste Frage: Was, zum Teufel, sollte ich suchen?
Diese Fragen hielten mich nahezu die halbe Nacht wach. Ich wälzte mich unruhig von einer Seite auf die andere. Zermarterte mir den Kopf, wer der Absender sein könnte. Vielleicht sogar Cecile? Sie ergötzte sich doch so sehr über meine offensichtliche Naivität? Und dennoch mochte ich sie… irgendwie. Und möglicherweise versuchte ich sie sogar mit diesem Mysterium des Briefes unbewusst zu beeindrucken, ihr zu imponieren.
Ich glitt übergangslos in den Schlaf. Am nächsten Tag schreckte ich zwei Minuten vor dem Weckerklingeln auf. Viel zu schnell hatte ich mich aufgesetzt, mir wurde schwarz vor Augen und ich sank stöhnend zurück ins Bett. Mein Traum lag dann schon wieder im Schatten des Vergessens. Ich hätte schwören können, dass es in irgendeiner Weise um das Rätsel gegangen war, konnte mich aber beim besten Willen an keine Details mehr erinnern. Es war zum Verrücktwerden.
Ich fuhr mit dem Fahrrad zur Schule. Es sollte der letzte warme Tag dieses Jahres werden, zumindest orakelten das die Meteorologen. Nachdem ich das Fahrrad abgeschlossen hatte, traf ich Cecile und die anderen beiden vor dem Klassenraum. Natürlich berichtete ich ihnen - nicht ohne Stolz - sofort von meiner Entschlüsselung. Max und Matze waren sofort Feuer und Flamme, Cecile starrte mich nur ungläubig aus ihren hellblauen Augen an, warf sich das lange Haar über die Schulter, machte einen dummen Spruch und stolzierte von dannen. Max schlug mir freundschaftlich auf die Schulter, als er merkte, wie ich ihr verletzt nachsah. “Komm, lass sie doch. Ist halt nur ’n Mädchen. Treffen wir uns um zwei bei dir?” Ich willigte ein.
Obschon ich mir nicht sicher war, ob heute überhaupt das richtige Datum für die Suche war, gingen Max, Matze und ich an diesem Tag zum Waldrand. Die Gänseweide lag einige Meter neben einem Feldweg, den wir entlang gingen, bis wir auf eine Brücke stießen. Als ich die anderen beiden dazu ermahnte, sich die Hände zu reichen, lachten sie sich halbtot. »Das hat eh keine Bedeutung - sollte sich doch nur reimen!« Ich schritt die Schultern zuckend voran.
Tja. Nun ja. Das mit dem Händchen-halten wäre doch eine bessere Idee gewesen. Das sahen die anderen beiden aber erst dann ein, als ich in einem ausgehobenen Loch saß. Glücklicherweise hatte ich mir weder etwas gebrochen, noch etwas verstaucht; das einzige Problem war, wieder an die Oberfläche zu kommen. Das Loch war unten mit Laub gepolstert, aber ich schaffte es nicht einmal im Springen, mich oben festzuhalten. Beim Klettern rutschten meine Hände immer wieder an der feuchten Erde ab. Max und Matze amüsierten sich köstlich über meine Fluchtversuche. Ich musste einen wirklich jämmerlichen Eindruck erwecken. Schließlich erbarmte sich Matze, holte ein Kletterseil aus seinem Rucksack - ich wäre nie auf die Idee gekommen, so etwas mit mir herumzuschleppen, aber Matze war ja so ein Selbstversorgerfreak -, schlang es um eine alte Eiche und warf die andere Hälfte zu mir herunter. Das Seil wie einen Flaschenzug konzipiert, schaffte ich es so, mich hoch zu hangeln. Matze und Max zogen am einen Ende, ich hielt mich am anderen fest und drückte mich mit den Füßen von der glitschigen Wand ab. Nach gefühlten zehn Minuten konnten wir unseren Weg fortsetzen. Das klappte auch ganz gut, bis wir an eine Weggabelung gerieten. Ich holte den zerschlissenen, vom Auseinander- und Zusammenfalten noch mehr zerknitterten Zettel heraus und studierte ihn aufmerksam. Ich konnte nichts daraus deuten, was uns geholfen hätte. »Fun…«, las Matze vor. »Ist hier nicht irgendwo ein Abenteuerspielplatz?«
Darauf hätte ich auch selbst kommen können, dachte ich, als wir nach rechts abbogen und nach einigen Minuten Fußmarsch schon das Baumhaus sahen. Daneben befanden sich ein Holzturm, eine Wippe und ein kleiner Sandkasten, von dem wegen den herfallenden Blätter kaum noch etwas zu sehen war.
»Irgendwie ist das gruselig«, sagte Max kichernd, als wir über den verlassenen, zugewucherten Platz liefen. Alles hatte den Anschein, als würden nicht mehr viele Kinder von den Spielzeugen Gebrauch machen. Früher hatte es hier noch ganz anders ausgesehen. Jetzt kamen hier höchstens noch die älteren Jugendlichen her, hockten sich in den Holzturm und dröhnten sich zu bis zur Besinnungslosigkeit. Davon zeugten nicht nur die zahllosen Zigarettenstummel, sondern auch die Bierkronen und die Glasscherben. Ganz zu schweigen von den Graffitis, die sämtliche Flächen verunstalteten.
Wieder kamen mir die Gedanken zum letzten Satz hoch und ich blickte mich wenig unauffällig um. Das Gefühl, beobachtet zu werden, hatte mich schon auf dem ganzen Weg hierher verfolgt, doch jetzt konnte ich die Blicke fast im Nacken prickeln spüren. Max riss mich abrupt aus meinen Überlegungen.
»Und jetzt?« Ich sah Matze an, aber der machte nur eine unwissende Geste mit Händen und Schultern. Ich legte die Stirn in Falten, schaute mich um… las die Graffitis. Namen. Milo. Shannon. Sicher Künstlernamen. Wäre auch ziemlich leichtsinnig, den realen Namen zum Sprayen zu benutzen. Grimassen, die einen frech angrinsten. Ein Comic-Hund. Und dann, ganz klein, am unteren Rand des Holzturms. Find!, mit Edding geschrieben. Direkt neben dem Hund. Ein Pfeil wies nach links. Ich ging herum. Fand immer mehr dieser Hinweise, folgte ihnen. An einem Baum, auf einem Stein. Matze und Max rannten hinter mit her, bis sie auf selber Höhe waren, und hielten dann selbst Ausschau nach weiteren schwarzen Pfeilen.
Und irgendwann hörten die Zeichen auf, der letzte Pfeil deutete nach oben in eine Baumkrone. Ich folgte der Pfeilspitze mit meinem Augen. Und sah einen Sack. Matze pfiff anerkennend durch die Zähne und machte sich daran, den Stamm zu erklimmen. Er konnte sowas ziemlich gut. Ich hingegen war im Klettern die reinste Niete. Lag wohl einfach in meiner Natur, nie so hoch hinaus zu wollen. Aber wenn es um Mädchen ging, musste ich mir immer genau die aussuchen, die ich nicht haben konnte…
Der Sack schien nicht fest zu sitzen, vielleicht war er nur hochgeworfen worden, immer wieder, bis er irgendwann in einer Astgabel stecken geblieben war. Matze schaffte es, ihn mit einer ruckartigen Bewegung freizubekommen, während er sich nur mit einem Arm am Baum festhielt. Mit meiner Höhenangst war mir schon ein Stuhl Schwindel erregend hoch, aber Matze hampelte da in vier, fünf Metern Höhe herum. Er ließ den Beutel herunterfallen und ich fing ihn auf, darauf gefasst, vom Gewicht zu Boden gerissen zu werden. Aber es hielt sich in Grenzen und nach einem kurzen Taumeln hatte ich mein Gleichgewicht wiedererlangt. Matze rutschte am Baum herunter, noch bevor ich überhaupt Zeit gehabt hatte, den Knoten zu lösen. Seine Hose war ziemlich in Mitleidenschaft geraten, aber ich sah gewiss auch nicht besser aus. Allein, als ich da in der Grube gehockt hatte. Ich musste aussehen wie Franksteins Monster persönlich.
Als Max den Stoff auseinander zog, wäre ich beinahe in Ohnmacht gefallen. Es war wie von einem Klavier erschlagen zu werden, wie ein Boxhieb von einem Profiboxer, wie ein wunderschönes Mädchen zu sehen, dass es dich fast umhaut.
Ich hatte noch nie so viel Kohle auf einmal gesehen.
Danach ging alles ganz schnell. Nachdem Max und Matze einen Freudentanz aufgeführt und sich gegenseitig eine runtergehauten hatten, nur um sicher zu gehen, dass sie nicht träumten, waren wir den ganzen Weg zurück gerannt. Matze hatte dabei seine Kletterausrüstung vergessen, war auf halben Wege umgekehrt und holte uns erst wieder ein, als wir die Polizeizentrale fast erreicht hatten.
Auf der Straße hatten uns die Leute empört angeschaut, wir hatten herumgehampelt, als hätten wir sie nicht mehr alle, und der Schmutz auf Haut und Klamotten mochte diesen Eindruck von verwilderten Jugendlichen nur noch verstärkt haben.
Die Polizisten hielten das ganze erst für einen schlechten Scherz - ich musste sofort wieder an Cecile denken, doch die nächsten Minuten verdrängten die Erinnerung an sie. Völlig aus dem Häuschen wie wir waren, plapperten Matze, Max und ich durcheinander, verhedderten die Sätze, holten nicht einmal Luft. Bis Matze einfach den Sack auf dem Schreibtisch auskippte und wir alle schwiegen. Der zuständige Polizist blinzelte einige Male, dann tastete er nach dem Telefon. Als er sich dreimal verwählt hatte, fluchte er ungestüm und hatte dann endlich seinen Chef am Apparat. Er verhaspelte sich mindestens genauso sehr wie wir, dann legte er auf. Keine drei Minuten später hastete ein Mann zu uns.
Tja, und das ist eigentlich auch schon das Ende der Geschichte. Wir bekamen jeder einen Anteil des gefundenen Geldes - von der Bank. Denn ratet mal, wer der anonyme Briefschreiber wohl war? Sicher. Der Bankräuber. Ich frage mich, wie er überhaupt auf die Idee dazu kam, wo er doch sicher auf der Flucht war… Auf dem Brief konnten keine Fingerabdrücke gesichert werden und auch die Handschrift fand sich nirgends, obgleich sie jetzt in einem Verzeichnis gespeichert ist.
Ein mulmiges Gefühl. Dieser Typ läuft immer noch frei draußen herum und die Chancen stehen nicht schlecht, dass er das noch einige lange Jahre tun würde. Ob er mich wohl weiter beobachtete? Dieses unangenehme Gefühl verschwand zumindest. Wohlmöglich, dass ich es mir nur eingebildet hatte.
Die Wilderer, in deren Tierfalle ich gelaufen war, wurden allerdings geschnappt. Auf frischer Tat, als sie nachschauten, was sie denn Schönes gefangen hatten. Geschah ihnen auch recht.
Dann war das natürlich noch die Sache mit Cecile. Unsere wilde Schnitzeljagd - wie es im Artikel hieß - kam in die regionale Zeitung, sogar mit Bild. Cecile kam gleich an dem Tag, als der Bericht veröffentlicht wurde, zu mir. Als sie klingelte öffnete ich die Tür. Sie fiel mir geradezu um den Hals, meinte, wie cool es doch wäre, dass ich - kein einziges Mal erwähnte sie Max oder Matze, die mindestens genauso daran beteiligt gewesen waren wie ich - das alles gelöst hätte. Ob wir nicht mal was allein unternehmen wollten, weil sie mich so mochte?
Ich lächelte sie liebreizend an und … schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Ich glaube, es war die richtige Entscheidung. Die allerrichtigste.
~*~
Ich danke allen, dass ihr diesen OS durchgelesen habt.
Ich möchte noch einmal betonen, dass die Geschichte nicht unbedingt mit dem Gut "künstlerische Freiheit" bestückt ist. Die Grundidee (der Brief etc.) war vorgebenen, was drin steht ist allerdings von mir erfunden. Das Gedicht ist kein großes poetisches Werk, aber darum ging es auch nicht. Ein Bankräuber muss ja nicht zwangsläufig gut mit Worten umgehen können.
Die Kürze lässt sich mit der 3-Seiten-Sperre erklären. Ich habe das größtmögliche rausgeholt, auch wenn ich viel lieber ein paar Seiten mehr geschrieben hätte...
Danke.