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D.Gray-Man

Die unbekannte Geschichte
von

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Einzelkämpfer

Das Wetter hatte sich nicht wirklich gebessert, immer noch hatte der mit schweren, dunkelgrauen Regenwolken verhangene Himmel seine Schleusen geöffnet. Aus diesen ergoss sich unersättlich wie schon in der Nacht zuvor endlos strömender Regen auf die bereits durchweichte, schlammige Erde, für die es ohne schützendes Wurzelwerk kein Halten mehr gab. Keine besonders günstiger Voraussetzung, um sich auf die Suche nach einer Innocence zu machen.

Schon in den frühen Morgenstunden, eingehüllt in dichte Nebelschwaden, waren General Tiedoll, Kanda und Marie aufgebrochen, um in dem von den Findern eingegrenzten Areal nach der Innocence zu suchen, deretwegen sie fast bis ans andere Ende der Welt gereist waren. Das vierte Teammitglied musste im örtlichen Gasthaus, das sie als Unterkunft für sich auserkoren hatten, zurückbleiben, um sich von einem erst kürzlich zurückliegenden Akumaangriff und schwächelnder Gesundheit zu erholen.

Kanda erinnerte sich missmutig daran zurück mit welchem Fiasko ihre Mission hier in Japan begonnen hatte. So einen Grünspan mit auf eine echte Mission zu nehmen, bedeutete eine Gefahr für alle Beteiligten und lenkte bloss von dem eigentlichen Unternehmen ab. Ihre neueste „Errungenschaft“ in der Gemeinschaft der Exorzisten war nicht mehr als ein lästiger Kotz am Bein, eine ungeliebte Belästigung. Kanda missfiel die Degradierung zum Babysitter und Aufsichtsperson, die ihm der General hatte zukommen lassen, kaum, dass sie Kunde kam, dass ihr gut eingespieltes Team mit einem „Frischling“ aufgestockt wurde.

Der Japaner hatte das kecke, geradlinige und etwas zu angriffslustige, französische Mädchen vom ersten Moment an nicht leiden können. Um diesen inneren Zwist beizulegen, hatte der General dafür Sorge getragen, dass Kanda so etwas wie ihr gutes Vorbild sein sollte. Von ihm sollte sie alle Handgriffe und Kniffe lernen, die sie als angehende Exorzistin brauchen würde. So war zumindest er Plan gewesen, doch wie die Praxis ausschaute, hatten sie alle hautnah miterlebt.

Wie konnte man von einem mürrischen Einzelgänger und Einzelkämpfer wie Kanda erwarten so eine untypische Rolle zu spielen? Er war nicht so gesellig, so mitteilsam wie der junge Bookman, der unablässig um sie herumschwänzelte wie ein liebestoller Truthahn.

Genervt biss Kanda die Zähne zusammen, sodass sie grimmig knirschten und spähte in die trüben Nebelschwaden, durch die sie schon einige Zeit staksten. Alles um sie herum war feucht, flüssig. Der Boden unter ihren schlammbespritzten Lederstiefeln war ein einziger Morast, dessen klebrige Finger sie tiefer in diesen hineinziehen wollten. Mit einem saugenden, schmatzenden Geräusch lösten sich ihre Stiefel beharrlich aus dieser verlockenden Umarmung, doch auf die Dauer war das ziemlich ermüdend.

Kanda fluche still vor sich hin, als er nicht zum ersten Mal aus seinem linken Stiefel rutschte, der sich nicht aus dem zähen Griff des Untergrundes entwinden konnte. Das fransige Pony klebte ihm nass an der Stirn, sowie seine Kleidung an seiner Haut. Wieder einmal war er bis auf die blossen Knochen durchnässt, dank des strömenden Regens, der einer Sintflut gleich vom Himmel auf sie alle niederging. Insgeheim, in einem kurzen Moment der Schwäche beneidete er den Rotschopf, der im Trockenen und Warmen saß und dabei nur auf Samantha aufpassen brauchte. Ganz plötzlich schien der Babysitter-Job durchaus verlockend, doch Kanda schüttelt nur verärgert den Kopf bei dieser Vorstellung.

//Keine Schwäche….Der Regen, die Kälte, der Morast…all das ist nichts im Vergleich zu einem Kampf gegen einen Level 4 Akuma oder einen Noah…// hielt er sich ermahnend vor Augen, bevor er seinen Stiefel aus der Umarmung des trügerischen Untergrundes befreite und wieder hineinschlüpfte. Marie und General Tiedoll erging es gewiss nicht besser, sodass er sich an ihnen ein Beispiel nahm und sich weiter verbissen vorankämpfte, allen Widrigkeiten, mit denen die Natur ihn schlug, zum Trotz.

Mit jedem Schritt würden sie ihrem Ziel näher kommen und wenn es etwas gab, das den Japaner ausmachte, dann waren es Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit. Manche mochten es als engstirnige Sturheit bezeichnen, doch diese wussten nicht wovon sie sprachen, kannte sie doch keine der Widrigkeiten, mit denen Exorzisten wie er zu kämpfen hatte. Kanda gehörte nicht zu diesen schwachen Gestalten, nein, er war stark, hartgesotten, abgehärtet und gestählt von Mutter Natur und dem unbarmherzigen Zahn der Zeit. Er war dafür „gemacht“ worden allem zu trotzen, sich zu behaupten, gegen wen auch immer, dafür hatten SIE ihn geschaffen, als „Zweiten Exorzisten“.

Am Anfang war er nicht mehr als ein Zellklumpen gewesen, eine Vereinigung von Eizelle und Spermium, doch kaum, doch kaum, dass er ein wenig mehr geworden war, ein größerer Zellhaufen, hatten sie angefangen seine DNA zu manipulieren. SIE hatten ihm zu dem gemacht, was er heute war. Die Unbekümmertheit und Unschuld, die einen in der Kindheit normalerweise begleiteten, waren ihm verwehrt geblieben. Als schließlich General Tiedoll ihn unter seine Fittiche nahm, war er ein vergrimmtes und verschlossenes Kind gewesen. Wäre es nicht Tiedoll gewesen, der ihn in seinen Schutz geholt hätte, Kanda wäre vermutlich ein vollkommen anderer, wohlmöglich verschlossener und griesgrämiger Exorzist ohne Herz geworden.

Die väterliche Ader, die er vorgab so sehr an seinem Lehrmeister zu hassen, war für sein „geschundenes“, kindliches Ich Balsam gewesen und hatte mit der Zeit seine jungen Wunden geheilt. Inzwischen war Kanda flügge geworden und geriet des Öfteren mit seinem Mentor und „Schutzpatron“ aneinander, doch der Zorn verrauchte ob der Gutmütigkeit seines Lehrers rasch wieder, hinterließ dabei aber eine unerklärliche Leere.

Kanda sah seine Arbeit als Exorzist als Berufung und gottgegebene Pflicht an. Es war seine Aufgabe gegen die Heerscharen des Grafen zu kämpfen und kämpfen tat er. Wie kein anderer wusste er sein Schwert so meisterhaft zu führen, führte es mit Geschick und tödlicher Präzision. Nicht umsonst nannte man es Kampfkunst, was er praktizierte. Doch nicht immer befand er sich unmittelbar an der Front, nicht immer kreuzte er die Klinge im Angesicht des Todes, nein, es gab auch Tage der Ruhe, des illusorischen Friedens. In diesen Stunden plagte in mysteriöse Unruhe. Rastlos tigerte er dann durch das Kloster, sei es helllichter Tag oder tiefste Nacht. Stunden verbrachte er dann einsam mit Trainingsübungen, schwang sein Schwert in der undurchdringlichen Stille, doch es war nur ein schwacher, kurzer Trost, die Unrast würde ihn wieder heimsuchen.

Was war wohl der Grund dafür? Mangelte es ihm an irgendetwas?

//Nein…// versicherte er sich nicht zum ersten Mal, doch war es dieses mal nicht ganz so bestimmt noch überzeugend, wie die etlichen Male zuvor. Inzwischen hielt er den Gedanken nicht mehr für ganz so abwegig, dass ihm etwas wichtiges in seinem Leben fehlte, etwas, das es lebenswert machte.

So sehr er auch das französische Mädchen verachtete, so hatte sie doch etwas in ihm geweckt, ein schlafendes Tier, das nun erwacht war und rastlos in seinem stählernen Käfig auf – und abschritt. Es gierte nach dem unschuldigen Mädchen, wollte es besitzen, es sich eigen machen und nie mehr loslassen. Auch wenn es nicht seinem Vorhaben entsprochen hatte, so hatte er sich bereits einen Kuss von ihr gestohlen, eine süße verführerische Frucht.

Das Tier im Käfig heulte zornig auf, als sich der Japaner in einem Anflug von menschlicher Schwäche an das sanfte Gefühl ihrer warmen Lippen und den Duft ihrer ebenso warmen Haut erinnerte. Rasch schob er sich und seiner Bestie einen Riegel vor. Jetzt war nicht die Zeit, um illusorischen Tagträumen nachzuhängen, einmal ganz davon abgesehen, dass schon ein anderer um die Hand des Mädchens buhlte.

Zornig schüttelte er den Kopf, um sich die wirren Gedanken vom Hals zu halten und wieder klarer denken zu können. Er brauchte bei dieser Mission unbedingt einen klaren Kopf. Er musste sich jetzt ganz und gar auf seine nebelverhangene Umgebung konzentrieren, damit ihm nichts entging. Ein leises Rascheln, ein plötzlicher Windhauch, sie alle konnten winzige Vorboten eines Angriffes sein, den sie spätestens seit Beginn ihrer Mission zu erwarten hatten.

Nicht, dass es ihm wirklich in Gefahr brachte, wenn er von einem Akuma überrascht wurde, doch er verbot sich solch eine Unachtsamkeit einfach aus prinzipiellen Gründen. Jedes fehlerhafte Verhalten, jede falsche Entscheidung trug den Makel der Schwäche, des Versagens an sich, etwas, was er absolut meiden musste.

//Nur die Starken setzen sich durch, überleben…und pflanzen sich fort…//

Da war er wieder, dieser heimliche Gedanke, der seine langjährige Disziplin durchbrach, niederriss und ihn in Chaos zurückließ. Kanda wusste ganz genau, warum er bisher nichts für das anderer Geschlecht übrig hatte. Sie bereiteten einem nur Kopfzerbrechen.

Wieder schüttelte er knurrend den Kopf, diesmal vehementer las zuvor und umklammerte das Heft seines Mugen, das noch in seiner schwarzen Schwertscheide schlummerte. Der mit weichem, roten Leder umwickelte Griff, dieses vertraute, anschmiegsame Gefühl des Leders, gab ihm etwas von seiner natürlichen Ruhe zurück und schenkte seinem aufgewühlten Meer aus Chaos eine ruhige Insel der Ordnung.

„Irgendwelche Akumas da draußen…?“ fragte Kanda murmelnd. Er war sich sicher, dass Marie, an den die Frage gerichtet gewesen war, selbst in diesem verfluchten, alles verschlingenden Nebel seine Worte gehört hatte und tatsächlich bekam er kurz darauf den dunkelhäutigen Hünen zu Gesicht, als dieser sich hatte zurückfallen lassen, um seinem Kameraden zu antworten, schließlich verfügte Kanda nicht über so ein sensibles Hörorgan wie Marie. Überhaupt war nichts an dem mürrischen Japaner wirklich sensibel, zumindest nicht auf den ersten Blick.

„Vor ein paar Minuten habe ich kurz zwei Akumas ausmachen können, doch dann sind sie urplötzlich wieder verschwunden…“, erklärte Marie und runzelte dabei nachdenklich die Stirn. Er war sich sicher gewesen, dass sich die beiden Dämonen in ihre Richtung bewegt hatten, doch mit einem Mal waren sie auf unerklärlich Weise von seinem „Radar“ verschwunden, ihre Peilung unmöglich geworden. Normalerweise kam so was nur dann vor, wenn jemand die Akumas bekämpft und zerstört hatte, doch es hatte keine Kampfgeräusche gegeben, noch war die Möglichkeit hoch, dass sich jemand anderes als die Exorzisten um diese gekümmert hatten. Folglich hatten sie es hier mit einem Phänomen zu tun, das sie wohlmöglich in ernste Schwierigkeiten bringen könnte.

„schwingt die Hufe, der Berg kommt nicht zum Propheten, der Prophet muss schon zum Berg…“, tönte plötzlich General Tiedolls unbekümmerte, aber leicht tadelnde Stimme durch den dichten Nebel, bevor seine durchnässte Gestalt von diesem ausgespieen wurde.

„Ärger ist im Anflug…“, erklärte Kanda grimmig und seine nachtschwarzen Augen verengten sich hinsichtlich des „elterlichen“ Tadels wieder zu schmalen Schlitzen. Er konnte jedes Mal an die Decke gehen, wenn sein Mentor ihn nicht zum ersten Mal wie eines seiner Kinder behandelte. Inzwischen wusste der japanische Exorzist jedoch, dass gegen den „elterlichen“ Starrsinn des alten Mannes nicht ankam und ihm nur verblieb die sonderbare Behandlung resigniert und deprimiert über sich ergehen zu lassen.

„Wieso machst du dann keine Freudensprünge, Yuu? Das ist doch genau das, worauf du die ganze Zeit gewartet hast…“, durchschaute der General seinen griesgrämigen Schüler und stakste dann wieder weiter durch den Nebel, erinnerte sie damit an die Dringlichkeit ihrer Mission und die damit gebotene Eile.

Im Freudentaumel befand sich Kanda nun wirklich nicht, auch wenn er jeder Auseinandersetzung, jedem Wettstreit und Kräftemessen mit Ungeduld und Vorfreude entgegenfieberte. Im Moment hatte er jedoch andere Gedanken, andere Gefühle, die ihn beschäftigten.

Wie lange wollte er sich eigentlich noch selbst belügen? Wie lange wollte sein verdammter Starrsinn ihm noch den Blick auf die eigentliche Realität verwehren? Es stimmte, dass er das französische Mädchen von Anfang an nicht hatte ausstehen können, doch schon bald hatte er seine Meinung über sie revidieren müssen, spätestens als sie zusammen in der Trainingsarena gestanden hatten und die Funken zwischen ihren Klingen sprühten. Waren da vielleicht mehr als nur die offensichtlichen Funken übergesprungen?

Er konnte es nicht leugnen, dass er starke, wehrhafte Gegner zu schätzen wusste und Samantha war eindeutig wehrhaft. Ihre spitze Zunge stand in Punkte Schärfe ihrer Innocence-Lanze in nichts nach, das hatte er am eigenen Leib zu spüren bekommen. Das war vielleicht genug, um sie als Teammitglied, als Waffengefährtin zu akzeptieren, mehr aber auch nicht. Es war lächerlich sich vorzustellen sie als Lebensgefährtin, als feste Freundin zu betrachten. Sie würden sich auf Dauer gegenseitig an die Gurgel gehen, mit dem Bohnensprössling (Allen) war das auch nicht viel anders.

//Nur das du nicht schwul bist…// erinnerte ihn eine hässliche, hämische Stimme im Kopf.

Oh Gott, er redete schon mit sich selbst. War es schon soweit mit ihm gekommen?

//Immerhin bist du nicht schwul, Das sollte dich beruhigen…// erklang wieder seine Gedankenestimme, der sich so gar nicht darum scherte, wie sehr sich der Japaner um Selbstkontrolle bemühte. Es machte ihn einfach fertig. Er hasste es, wenn er die Kontrolle verlor, wenn ihm die Situation entgleiste und Wendungen nahm, die er nicht eingeplant, noch vorhergesehen hatte. Kandas Zähne knirschten wieder verärgert, doch ging dieser Laut im schmatzenden Geräusch des Schlammes unter, aus dem er seine Stiefel nicht zum ersten Mal zog, um sich weiter voran zu arbeiten.

//Ich habe verdammt noch Mal andere Prioritäten jetzt…!// grollte Kanda in Gedanken, doch sein zweites „Ich“ schwieg dazu nur, es war absolut klar, wie es um Kandas einsames Herz stand.

Die dichten Nebelschwaden, die unablässig um sie herumwabberten und dabei die Welt auf ein oder zwei Meter zu jeder Seite reduzierten, wollte im Schutze des dichten Bambuswaldes nicht vor den ersten Sonnenstrahlen zurückweichen, sodass die kleine Dreiergruppe nur sehr langsam vorankam. Kein Wunder also, dass Kanda genügend Zeit fand, um solch lächerlichen Gedanken nachzuhängen. Er war wirklich ein armseliger Kerl, versteckte und verschanzte sich hinter seinem Image des grimmigen, jähzornigen Einzelkämpfers, anstelle den Mut zu haben zu zeigen, wie er wirklich war, wer er wirklich war.

Nein, er musste ja seine Maske tragen, wie die Schauspieler in den alten, japanischen Theaterstücken. Manchmal kam es ihm so vor, als ob sie alle Teil eines inszenierten Stückes waren. Jeder trug seine eigenen Maske, mache waren als solche zu erkennen, andere verschmolzen bereits mit dem wahren Gesicht und andere wiederum waren undurchdringlich. Vielleicht zog ihn ja gerade die Echtheit, die Authentizität des französischen Mädchens an, denn sie gehörte eher zu den Zuschauern, die offen und ehrlich ihr Gefallen oder Missfallen an dem inszenierten Spiel kundtaten.

Etwas Weiches, Feuchtes ließ ihn abrupt aus seinen tiefsinnigen Gedanken aufschrecken. Er war in Marie hineingerannt, der wie as dem Nichts des Nebels plötzlich aufgetaucht war, als dieser innegehalten hatte, um zu „Horchen“.

„Pass doch gefälligst auf…“, knurrte Kanda, als wäre es die Schuld des blinden Hünen, dass sie beide zusammengestoßen waren. Anstatt seinen übellaunigen Kollegen zurecht zu weisen, erklärte er Kanda, dass die beiden Akumas, die er zuvor schon einmal aufgespürt hatte, sie verfolgten, aber immer wieder für längere Zeit quasi „verschwanden“.

„Sicher, dass deine Innocence keinen Wackelkontakt hat…?“ murmelte Kanda genervt. Normalerweise war Marie ihr zuverlässiges „Radar“, ein Lauscher, dem nichts entging. Dass die Akumas jetzt zeitweise unterhalb seines „Radars“ folgen, stimmte den Japaner nachdenklich.

Hatte der Graf nun auch einen Weg gefunden, um ihren zweiten „Spürhund“ für Akumas unschädlich zu machen? Wie er gehört hatte, war Allen nicht mehr in der Lage von seinem verfluchten Auge Gebrauch zu machen, so würde dieser, hilfreiche Vorteil für sie nun für immer entfallen. Wenn Marie nun auch „ko-gesetzt“ wurde, dann könnten sich die Heerscharen des Grafen völlig unbemerkt über den schwarzen Orden hermachen. Ein riesiges Dämonenheer würde man erst bemerken, wenn es längst zu spät war. Das war kein sehr beruhigender Gedanke.

„Ihr seid mir aber nun wirklich keine große Hilfe…“, tadelte Tiedoll seine beiden Schüler, als er erneut aus dem Nebel zu ihnen trat, in seiner linken Hand leuchtete wie ein Glühwürmchen eine würfelförmige Innocence. Der General hatte sie aus einem halb vermoderten, hohlen Bambusrohr gefischt, als ihm aufgefallen war, dass seine beiden Schützlinge nicht zu ihm aufgeschlossen hatten. Zum Glück hatte er nicht lange Suchen müssen, bis er sie wieder gefunden hatte, schließlich spürten Eltern ganz instinktiv die Aura, die Präsenz ihrer Kinder, wenn diese in der Nähe waren.

„Jetzt können wir zurück ins Warme und Trockene…“, verkündete der ältere General mit bester Laune und verstaute das „Schmuckstück“ in der Innentasche seines Exorzistenmantels.

Die Aussicht wieder ins anheimelnde Gasthaus zurückzukehren, hob selbst Kandas miserable Stimmung wieder etwas, wenigstens brauchte er sich dann nicht mehr durch zähen Schlamm und feine Dauerberieslung zu quälen.

„Auf unserem Rückweg werden wir zweifelsohne den Akumas begegnen, die uns schon die ganze Zeit verfolgen…“, wie Marie ihren absolut sorglosen Lehrmeister auf die drohende Gefahr hin.

„Es sind ja nur zwei, wie du gesagt hast. Kein Grund sich deshalb Sorgen machen zu müssen“, lachte Tiedoll und führte seine seufzenden Schüler wieder heimwärts. Es war doch immer das gleiche mit diesem, alten Mann. Er war eben ein Spleen, hatte diese unerklärliche Maske absoluter Selbstsicherheit und Sorglosigkeit.

//Wieder eine Maske…// dachte Kanda spöttisch, denn er war sich sicher, dass sich ihr General unter dieser Maske Sorgen machte. Er war nicht der unbekümmerte Trottel, für den er sich die meiste Zeit ausgab, genauso wenig wie Kanda ein asozialer, jähzorniger Einzelkämpfer war, doch es war schwierig eine Rolle abzulegen, die einem andere aufbürdeten. Die Erwartungen der Gemeinschaft, die strikten Regeln und Verordnungen dieser zwangen den Einzelnen zur Anpassung, drückten ihm eine Rolle auf. Entweder man akzeptierte sie und arrangierte sich damit, oder hatte den Mut zur Rebellion. Was allerdings einem einzelnen Rebell passieren konnte, zeigte die Geschichte nur zu gut. Allein auf sich gestellt, von der Gemeinschaft ausgeschlossen, diskriminiert, unterdrückt, bekämpft und am Ende liquidiert.

//Soviel zum Thema Individualität und Toleranz…// dachte sich Kanda und wieder verzogen sich seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln. Er verspottete sich selbst. Er, der stark, unabhängig, frei sein wollte, war genau das Gegenteil, ein Mitläufer unter vielen.

//Rufe zur Rebellion! Leg ab die graue Kutte, leg ab das namenlose Gesicht und sei du selbst…// meldete sich sein zweites „ich“ aufrührerisch wieder zu Wort. Da hatte er den Beweis dafür, was diese gesellschaftliche Beschneidung einem antun konnte. Er war im Begriff eine zweite Persönlichkeit zu entwickeln, oder war es vielleicht eher so, dass er zu seinen Wurzeln, seinem wahren „Ich“ zurückkehrte?

Sein Grinsen wurde ein wenig breiter, spitzbübischer, als plane er einen Kinderstreich, wobei seine Rebellion doch eher ein kleiner Staatsstreich war.

„Sie kommen!“ hörte er Marie plötzlich warnend ausrufen, als auch schon ein wahrer Kugelhagel auf sie niederging. Das dichte Bambusgeflecht um sie herum bot nur mäßigen Schutz, zumal die Kugeln so schnell beschleunigt wurden, dass sie mindestens vier dicke, verholzte Bambusrohre durchschlagen konnten. Das maschinengewehrartige Dauerfeuer, das Nebel und Schlamm durchpflügte, stammte von einem Level 4 Akuma, dessen beide Arme sich in rotierende Maschinengewehrläufe verwandelt hatten.

Mit einem irren Lachen, dass einem schlechten Ganoven-Film entstammen könnte, nahm es die Exorzisten aufs Korn, die es nicht leicht hatten dem Dauerbeschuss zu entgehen. Wo Bambus nicht Schutz genug war, musste die speziell für solche schweren Kämpfe entwickelte Uniform herhalten. Das speziell verstärkte Material konnte die eine oder andere Kugel wegstecken, auch wenn an diesen Stellen hässliche Blutergüsse zurückbleiben würden. Das war allerdings immer noch besser, als wenn sie als blutige Schweizer Käse enden würden.

„Noel Organon!“

Das war das Stichwort für Maries Innocence. Mit extrem langen, dünnen, aber extrem stabilen Fäden aus Innocence-Material, die an Metallringen um seine Finger befestigt waren, konnte er den angreifenden Level 4 Akuma „einfangen“ bzw. so weit in seiner Mobilität einschränken, dass Kanda und Tiedoll zum direkten Angriff übergehen konnten. Kaum, dass der Akuma zeitweise gebändigt war, schossen die beiden Exorzisten aus ihrer durchsiebten Deckung hervor und aktivierten ihrerseits ihre Innocencen.

„Schöpfer Edens, zeig dieser Welt die Schönheit der Kunst…“, murmelte der alte General und stieß eine kleine goldene Sichel auf ein dunkles Kreuz, das er vor sich in den schlammigen Untergrund gerammt hatte. Erst wenn diese beiden Innocence-Bestandteile zusammengefügt wurden, erwachten diese zum „Leben“ und schufen eine riesige, nebelhafte, aber konsistente Gestalt, die er befehligen konnte. Kaum, dass sich das riesige Wesen von der Innocence des Generals gelöst hatte, eilte es bereits Tiedolls Schüler zu Hilfe und fixierte zusätzlich den sich mit aller Kraft wehrenden Dämon, damit Kanda den finalen Schlag gegen diesen ausführen konnte.

Wie ein wutentbrannter Racheengel sprang Kanda mit erhobenem Schwert auf den Akuma zu und ließ sein Mugen durch dessen unheiliges Fleisch fahren. Dunkelrotes, fast schwarzes Blut spritzt ihm entgegen, als sich seine Innocence glühend heiß durch den Körper des Dämons fraß, doch dieser verzog die blutigen Lippen nur zu einem spöttischen Lächeln, bevor er Kanda lauthals auslachte.

„Schachmatt“, murmelte er hämisch und umfasste mit seiner zurückverwandelten, totenbleichen Hand den Griff des grünlich leuchtenden Innocence-Schwertes. Im ersten Augenblick war Kanda verwirrt, was den Akuma so fröhlich stimmte, trotz seines sicheren Ablebens, doch dann schlug sein Gefahrensinn Alarm. Das war eine gottverdammte Falle. Der Japaner wollte sein Katana aus dem dämonischen Körper befreien, doch es gelang ihm nicht. So sehr er auch ruckte und zerrte, er konnte seine Waffe nicht befreien und war dem darauf folgenden Angriff schutzlos ausgesetzt. Ohrenbetäubender Donner pfiff ihm in rascher Folge um die Ohren oder biss sich in seinen wehrlosen Körper.

Aus nächster Nähe von solch tödlichen Geschossen getroffen zu werden, war verhängnisvoll. Das bewährte und gepriesene Spezialmaterial seiner Uniform konnte gegen solch einen Angriff nicht standhalten und zerriss im einsetzenden Sperrfeuer. Feurig heiß bissen sich die Kugeln in den schutzlosen Körper des fluchenden Japaners, der keine Zeit mehr hatte sich noch in Sicherheit zu bringen.

„YUU!“

Ein zweiter Nebelriese warf sich schützend in die Schussbahn, hielt die tödlichen Geschosse ab und verschaffte Kanda damit die nötige Zeit zum Handeln, die er brauchte. Er konnte jetzt nicht zimperlich sein. Ihm würde der Kampf, die Verletzungen nicht viel ausmachen, immerhin hatte er sein mysteriöses Tatoo, doch die anderen waren in erheblicher Gefahr, als sich nun der zweite Akuma ebenfalls als Level 4 Akuma offenbart hatte.

„Zweite Illusion, Schattenschwert…dritte Illusion, Schwingen der Verdammnis…“, murmelte der japanische Exorzist und setzte mit diesen Worten zwei spezielle Fähigkeiten seines Mugen frei. Erstere kreierte einen „Klon“ seines Mugen, der in seiner linken Hand materialisierte, sodass er nun mit zwei Schwertern kämpfen konnte. Die zweite Fähigkeit verwandelte seine beiden Schwerter in gleißende Lichtklingen, die wie ein riesiges, blau leuchtendes Schwingenpaar aussahen. So ausgerüstet machte er kurzen Prozess mit dem eh schon angeschlagenen Level 4 Akuma, bevor er sich dann dem zweiten zuwandte.

Ein morbides Lächeln zierten die blutigen Lippen des Japaners, während ein Hauch von Wahnsinn in seinen nachtschwarzen Augen glomm.

Das war der Kampfrausch, der jedes Mal in ihm erwachte, wenn er von der dritten Illusion Gebrauch machte. Er heizte ihn an weiterzukämpfen, gnadenlos, rücksichtslos sich selbst und anderen gegenüber. Für ihn zählte nur noch der Sieg, Niederlage oder Rückzug waren keine Optionen.

Vielleicht trug er die Maske des Einzelkämpfers doch nicht ganz unbegründet, denn im Augenblick hatte er völlig ausgeblendet, dass er noch Teamkameraden hatte, die ihm den Rücken freihielten, ihn unterstützten. Mit einem einschüchternden Kampfschrei stürzte sich der Japaner wie ein im Blutrausch befindlicher Berserker auf den verblieben Level 4 Akuma, der sofort auf den anstürmenden Exorzisten anlegte. Wieder pfiffen de Kugeln durch die Luft, durchpflügten den schlammigen Boden und durchbohrten dabei auch Kandas dargebotenen Körper, doch er spürte den Schmerz nicht, sah nur sein Ziel, seinen Gegner vor seinen mordlüsteren Augen. Seine hellblau gleißenden Lichtschwingen versanken in dem Dämon, der in einem grellen Lichtblitz sein erlösendes Ende fand. Es war vorbei. Der Kampf war entschieden. Er, nein, sie hatten gewonnen, doch welchen Preis hatten sie, nein, er dafür zahlen müssen?

Kandas durchsiebter Körper war blutüberströmt, die ehemals gepflegte Uniform vom Kugelhagel zerrissen und zum Stofffetzen degradiert, ein gefallener Krieger.

„YUU!“

Die angespannte Stimme seines Mentors war ganz nahe, als dieser neben dessen erschöpften Schüler kniete, dessen desolater Zustand offenkundig war. Müde und genervt schaute er zu dem verweinten Gesicht seines Mentors auf, als dieser ihn wie ein verletztes Kind umarmte und wiegte.

„Ich liege nicht im Sterben, alter Mann“, seufzte Kanda unangenehm von dem Verhalten seines Lehrmeisters berührt und spürte wie sein Tatoo bereits daran arbeitete seinen gebeutelten, malträtierten Körper wiederherzustellen. Ihm schwindelte ein wenig, sehr wahrscheinlich von dem Blutverlust, der er nach wie vor erlitten hatte, bevor sein Tatoo in der Lage gewesen war mit dem Heilungsprozess zu beginnen.

„Wir sollten uns besser auf den Rückweg machen…“, merkte Marie nüchtern an, doch auch er schien besorgt zu sein. Er hatte das unangenehme, reißende Geräusch gehört, hatte gehört wie sich die Kugeln durch den verletzlichen Körper seines jähzornigen Teamkameraden gebohrt hatten und jetzt hörte er seinen etwas schwächeren Herzschlag, beides Indizien für den angeschlagenen Zustand, in dem sich der Japaner befand. Zwar wusste Marie um die geheimnisvollen Regenerationskräfte Kandas, doch den Blutverlust, den dieser erlitten hatte, konnten sie nicht beheben.

Gröber als nötig befreite sich Kanda aus der fürsorglichen, besorgten Umarmung seines Lehrmeisters, um sich wieder aufzurichten und den Rückweg anzutreten, doch kaum, dass er glaubte sicher auf beiden Beinen zu stehen, kippte die Welt bedrohlich, bevor der anbrechende Morgen von einem schwarzen Tuch verhüllt wurde und Kanda das Bewusstsein verlor. Er spürte noch zwei kräftige Arme, die ihn auffingen, doch dann war die Nacht endgültig über ihn hereingebrochen, als der Blutverlust seinen Tribut bei ihm einforderte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ai-chan
2011-06-19T00:00:55+00:00 19.06.2011 02:00
Hey!

Hab grad deine komplette FF durchgelesen und muss sagen eine der
Besten die ich jemals gelesen hab. Die Story ist mehr als interessant, einfallsreich, witzig, usw....
Hoffe du schreibst bald weiter.
Du bringst die Charakter wirklich gut rüber.

mflg


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