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Cyrrus

von

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Gegenwart

Ein kalter Wind wehte über die vier Gräber, an denen sich Menschenmassen versammelt hatten, um Abschied von den Verstorbenen zu nehmen. Es war ein kalter Novembervormittag. Viel Schnee war in den letzten Tagen gefallen, und es würde wahrlich noch mehr fallen. Die Männer und Frauen starrten fassungslos auf die neugegrabenen Gräber. Ihre Gesichter zeigten eine Mischung aus Trauer und Zorn, Hass und Melancholie. Ihre Kinder waren dabei, doch sie waren zu klein, um die Bedeutung der Situation zu kennen. Wenn ein wichtiger Mensch für immer aus dem Leben verschwand. Auch Ichabod war gekommen, um zu trauern. Die vier Männer, die in den Särgen lagen, waren ihm bekannt. Mit Rat und Tat hatten sie ihn durchs Leben geführt, ihm Hoffnung und Glauben gegeben. Mit ihrem Todestag endete der Glaube, den diese Menschen vermittelten. Ichabods Seele wusste nicht weiter. Er blieb an den Gräbern stehen, nachdenklich. Er dachte an seine neue Zukunft, ob diese überhaupt noch einen wahren Sinn hätte. Der 20-jährige hatte Blumen mitgebracht, Kornblumen. Sie sollten den Verstorbenen zeigen, dass er sich nie aufgeben würde. Er stellte diese in die Vasen und sprach ein letztes Gebet in den Himmel.

„Ich hätte nie erwartet, dass auch du kommen würdest“, sagte eine helle Männerstimme, ein Mann in einer Mönchskutte. Ichabod drehte sich zu der Person.

„Philander?“, er war sichtlich überrascht. Der Mönch Philander, mit braunen Augen und kurzem blonden Haar, bedeutete ihm, mitzukommen. Ichabod und er schritten durch das Tor durch, raus aus dem Friedhof, und gingen in den naheliegenden Park. Sie gingen an den hohen schneebedeckten Bäumen vorbei, die so nackt ohne ihre Blätterkrone aussahen. Dort, an einer geeigneten Stelle, setzten sich die Beiden unter jene Bäume auf eine Bank.

„Wie ich sehe, seit wenigstens Ihr am Leben“, aus Ichabods Worten hörte man Erleichterung. Seine Seele war nun etwas ruhiger, er hatte zum Glück nicht Alles verloren.

„Es war schwierig, dem Tod zu entrinnen. Vielleicht hätte ich lieber mit den anderen Mönchen sterben sollen.“

„Sagen Sie nicht so etwas! Sie hatten das Glück, Sie sollten Ihr Leben schätzen“, der junge Mann reichte Philander ebenfalls eine Blume, die er für ihn gekauft hatte. Nur war diese Blume keine Kornblume.

„Eine Rose, für mich?“, dankend nahm der Mönch das Geschenk an, auch wenn es vor kurzem ein Geschenk zu seinem Tode gewesen war. Er sah, dass Ichabod lächelte.

„Sie hatten mir vieles beigebracht. Mehr gegeben, als ich es mir je erträumt hatte. Ich beneide Sie um Ihre Weisheit, möchte schließlich genauso werden wie Sie.“

„Ein Mönch?“

Ichabod nickte leicht. Dann schaute er hoch, die Wolken betrachtend. Sie nahmen langsam eine gräuliche Färbung ein, es würde bald schneien, hieß es. Es schneite letzte Nacht, fiel ihm ein, als er den Schneeboden betrachtete.

„Was genau ist passiert?“, fragte er letztendlich Philander, so plötzlich. Das hätte er gern in Erfahrung gebracht. Wie kam ihr Tod zustande?

„Entsetzen...Hätte ich es nicht selber miterlebt, würde ich mich nicht verfluchen! Eine Katastrophe nach der Anderen“, er ließ seinen Blick in die blauen Iriden Ichabods schweifen. Sie hatten eine unnatürliche blaue Farbe, Eiskristallen ähnelnd. Passend zu dem Schnee der Novembertage.

„Haben Sie ebenfalls leiden müssen?“, diese Frage wurde zu Ichabods Bedauern bejaht. Der junge Mann senkte seinen Kopf, ein Seufzen entkam ihm, er schien seine Abwesenheit zu bedauern.

„Zion war der Erste, der sein Ableben fand. Schneller, als die Anderen von uns.“

„Was passierte?“, Ichabod sah, wie Philander sich die Kapuze der Mönchskutte überzog. Nur, um seine Tränen zu verbergen. Das Unheil schien an dem 24-jährigen Schönling zu nagen.

„Er verließ das Kloster, vorletzte Nacht, und zog mit seiner Frau Mutter zusammen. Sie wohnte hier Nahe des Klosters, eine ältere Dame: Charmant und edel. Sie kam sehr oft zu Besuch.“

Ichabod erinnerte sich an das Antlitz einer Dame, wahrscheinlich sogar das der Mutter Zions. Er hörte weiter, was Philander zu sagen hatte.

„Eines Nachts klopfte es panisch am Klostereingang. Durch den Krach wurden Zacharias und ich geweckt. Wir hatten keine Ahnung“, man hörte, wie er jedes Wort zitternd betonte. Ichabod fiel es schwer, ihn in einem solchen Zustand zu erleben. Aber er selbst hatte auch zu kämpfen, mit der Trauer. Er fand es gut, dass Philander über solchen Mut verfügte, darüber zu sprechen. Ganz sein Vorbild.

„Als Zacharias nachfragte, antwortete uns Zion. Sein Hilferuf klang schmerzerfüllt, so sehr, dass wir in Panik gerieten. Wir rissen die Tür auf, so schnell wie es nur ging! Doch, es half Zion nicht. Er hatte sich an die Klostertür gedrückt und fiel beim Öffnen vor unsere Füße. Tot. Er hatte nur einen Arm, der Andere war wohl verschollen, man fand ihn nicht. Wir wussten einfach nicht, was passiert war. Er war indirekt vor unseren Augen gestorben.“

Blutige Novembernächte, ein Kontrast zu den schneeweißen Novembertagen. Philander wartete, denn er hatte Mühe, seine Töne zu beruhigen. Ichabod konnte sein Gesicht unter der Kapuze nicht sehen. Philander saß so, dass seine Gesichtszüge perfekt im Schatten verschwanden.

„Philander, Sie müssen nicht erzählen, wenn es nicht möglich ist“, Ichabod hatte Verständnis für den Mönch.

„Ich zweifle mehr, würde ich nichts sagen.“

Die Kapuze wurde wieder hochgezogen. Philander erhob sich von der Bank, Ichabod machte es ihm gleich. Sie bewegten sich aus dem Park raus. Schritten durch den Schnee einer Wiese, die sie bis zum großen Tor des Klosters brachte. Dort angekommen, bat Philander den Jungen, mit ihm einzutreten. Der riesige Hof, bedeckt von Schnee. Ihre Schritte formten Abdrücke in das Weiß, mehrere Kleine und Mittlere. Sie gingen zur Klostertür und blieben an jener stehen. Philander kniete sich hin und tastete die Stelle ab, an der Zion gelegen hatte.

„Zacharias hatte ihn aufgenommen und ihn auf dem Friedhof begraben gehabt. Aber, nachdem der Tod der Mönche bekannt gegeben wurde, hatte man ihn in einen Sarg gelegt, neben die Anderen.“

„So ist das also...“, der junge Mann nickte. Philander stand wieder auf.

„Leider Gottes ist es bei Zion allein nicht geblieben“, er öffnete ihnen die Tür ins Kloster und sie traten hinein. Das Kloster, ein für Ichabod intimer Ort, die großen Wände mit Gemälden der Mutter Gottes und Jesu machten diesen Ort am prächtigsten. Der Mönch stellte seine Rose in eine Vase und führte ihn durch das ganze Kloster, er wollte mit ihm zu den Wohngebäuden gehen. Da würde er mit ihm ungestört sein Gespräch fortfahren können. Ichabod schaute sich den Aufbau des Klosters gut an. Er war noch nie soweit hineingegangen, er steuerte stets auf das Schlafzimmer des Mönchen Philander zu, was weiter außen lag, vom Zentrum weg. Mitten auf dem Gang, zwischen Speisesaal und dem Durchgang zu den Meditationsstätten, blieb der Mönch stehen. Er riss Ichabod aus seinen Gedanken.

„Am darauffolgenden Tag stürzte das Unheil auf Jonas. Er war so jung, gerade mal 19 Jahre alt. Ich hatte mich immer gefragt, weshalb es dazu kommen musste“, er wendete sich zu Ichabod.

„Jonas? Er war doch dieser Junge, der mir nicht wohlgesonnen schien. Blasiert und oftmals einsilbig?“

„Jonas’ Charakter ist uns nicht neu gewesen. Er war ein Mensch, der mit Herz an die Religion ging. Für einen Jungen, wie dich, mochte sein Verhalten abschreckend sein. Aber, dahinter steckten die Motive und das Potenzial eines Mönchen, mehr Weisheit, als ich sie dir je auf den Tisch legen könnte.“

Ein Jüngling weiser als sein Vorbild, das war ihm nie aufgefallen. Vielleicht wollte es Ichabod nicht wahrhaben. Aber, wenn er sich an die groben, und doch weisen, Worte des jungen Braunhaarigen erinnerte, dann schlug sein Herz höher.

„ ‚Wenn ein Mensch seinen Glauben verliert, verliert er ein Teil seines Lebens. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sein Lebenswille ganz gebrochen ist’ “, zitierte Ichabod die Worte des verstorbenen Jonas für Philander. Dieser wusste die Wichtigkeit des Zitates zu schätzen, denn Jonas hatte Recht gehabt.

„Wie fand Jonas seinen Todesengel?“, er blickte den Mönch an.

„Es war genau hier, auf dem Weg zum Speisesaal“, er zeigte ihm in die entgegengesetzte Richtung, zur Tür, die in den Speiseraum führte. Ichabod fuhr ein kalter Schauer über den Rücken, als er den Boden an den Seiten zur Tür hin beschaute. An den Ecken floss Blut. Blut, wie wenn es aus der Wand kam.

„Oh Gott“, erwiderte Ichabod, als ihn Philander auf die Decke des Ganges hinwies. An der Decke hing ein Seil, durch welches Nägel durchgebohrt waren, es war blutigrot gefärbt. An den Wänden war oberhalb ebenfalls Blut, und größere Nägel, handgroß ungefähr.

„Jonas wurde von Jemandem an das Seil befestigt. Die Länge des Seils war so variiert, dass man ihn durch wenig Bewegung schwenken konnte, an die Nägel. Ich war derjenige, der Jonas nach seinem Tode hier fand. An der Decke befestigt, schaukelte er hin und her, traf immer wieder auf die Nägel. Ich bemerkte ihn aufgrund eines Blutstropfen, der mir auf den ovalen Teller fiel. Wir hatten gerade den Tisch gedeckt.“

Ichabod war entsetzt von dieser Technik. Einen Menschen so qualvoll zu töten, er sah das Bild des toten Jonas vor seinen Augen. Dieser Jonas, der ihm so bitter vorkam, nun gequält und mit Tränen in den Augen.

„Aber, die Polizei-“

„Die Polizei hatte es nicht interessiert, dass Mönche eines Klosters ums Leben kamen. Für sie hatte der Fall nicht genug Lebendigkeit. Mönche lebten und starben für sie als unbedeutende Figuren. Die Leute, die jedoch gerne herkamen, fühlten anders.“

Das stimmte gewiss. Die Menschenmassen an den Gräbern waren nichts geringeres, als die Menschen, die in diesem Kloster Erholung sahen. Natürlich war es geradezu unmöglich, einer Person, die nicht zum Klosterorden gehörte, Eintritt ins Kloster zu gewähren. Dennoch machten Zacharias und Philander Ausnahmen, ließen die Interessenten ein Stück des Klosters sehen.

„Wir sollten zu den Wohnanlagen weitergehen. Dieser Abschnitt des Klosters bringt uns nur mehr um den gesunden Verstand“, der Mönch setzte seine Schritte fort, weiter gingen sie durch den Gang. Ichabod konnte das Seil nicht vergessen. Immer wieder stellte er sich vor, wie Jonas an dem Strang hing und um sein Leben kämpfte. Vergebens. Rasch musste er den Gedanken wechseln, denn es brachte ihm Unwohlsein. Sie kamen jetzt in den Gebäudeteil, indem sich die Mönche hauptsächlich aufhielten. Der Meditationsraum. Es gab dort eine große Kammer und mehrere kleine Einzelne. In ihnen konnten die Mönche, meist auch die Besucher, meditieren oder ihr Wissen erweitern. Für die Aufstockung des Wissens dienten die Bücher in den Regalen eines kleinen Schränkchens im Meditationszimmer. Nahe des Schränkchens standen ein Tisch und vier Stühle. Auf diese positionierten sich Philander und Ichabod, ihre Konversation weiterführend.

„Dieser Raum weckt Erinnerungen. Sowohl Gute als auch Schlechte.“

„Auch hier?“, Ichabod kam das ganze Kloster wie ein Platz des Sterbens vor.

„Onesiphoros, mein Cousin, fand hier seine Abberufung. Das war genau hier neben diesem Schränkchen“, er zeigte mit dem Finger auf dieses antike Stück. Die kleine gläserne Tür war auf einer Seite zersplittert. Im Inneren, auf der Seite des Türchens: Ein Revolver. Ichabod bemerkte das Rot auf dem Teppich, viel Rot. Ihm würde leicht übel, sodass er die Augen kurzfristig schloss. Als er sich wieder gefasst hatte, saß Philander nicht mehr auf dem Stuhl. Stattdessen rief er Ichabod zum antiken Schrank, auf dem Boden kniend. Ichabod senkte sich und seine Iriden wurden zum Revolver geführt.

„Dass der Revolver an einen Mechanismus angebracht wurde, konnte Keiner ahnen. Zu der Zeit machten wir unsere alltägliche Meditation. Onesiphoros war an der Reih. Er musste diesmal die Kammer vorbereiten. Dazu war uns auch das Weihwasser von Nöten, da wir danach sofort zum Schlafgebet rüberschreiten wollten, die Kammern wechselnd, hätten wir nicht das Weihwasser. Selbstverständlich ging er zum Schrank und, als er das Türchen öffnete...“

„Philander“, tröstend legte Ichabod seinen Arm um die Schulter Philanders. Der Mönch hatte die Toten gesehen, er war der Erste. Ihm flossen Tränen übers ganze Gesicht, über dieses schöne Gesicht. Ichabod verachtete es, wenn Philander weinen musste. Er wollte und konnte ihn so nicht sehen.

„Philander, vergessen Sie dieses Kloster und kommen Sie mit mir!“, was Ichabod da von sich gab, wusste nicht einmal er selbst. Er hatte diesen Satz auf dem Gewissen, für eine lange Zeit. Er wollte dem Mönch helfen, so, wie jener ihm in den schlechtesten Zeiten half. Philander hatte ihm Alles gegeben: Ein Haus, einen Glauben und seine Freundschaft. Die Freundschaft zu Philander war tausendmal stärker, als die zu irgendeinem Individuum. Für Ichabod war es sein Leben.

„Wenn es so einfach wäre, hätte ich mich längst von diesem Kloster getrennt, aber, es geht nicht. Noch ist es nicht vorbei, Frieden zu finden ist unmöglich. Die Narben sind zu frisch, zu tief“, sich die Tränen wegwischend setzten er und Ichabod sich erneut auf die Stühle. Philanders Blick setzte sich an dem 20-jährigen fest. Seine Schwarzen Haare und die eisblauen Iriden machten ihn sympathisch. Den meisten Effekt erzielte er, wenn er lächelte. Gerade dies tat er, jetzt und hier: Er lächelte. Für Philander, sein Vorbild, seinen Freund. Als sich die Lage entspannt hatte, setzten sie ihre Konversation fort, und, schritten endlich zu den Wohngebäuden. Zu dem Gebäude, in dem Zacharias und Philander zusammen wohnten. Nach Onesiphoros Ableben, waren sie die einzigen Übriggebliebenen.

„Hier schliefen Zacharias und ich. Diese Betten waren zwar unbequem – Jede Nacht knackte es – aber wir fanden trotzdem unseren Schlaf.“

Ichabod untersuchte das Zimmer auf neue Spuren. Spuren, die rot waren, blutig. Er wünschte sich, Keine zu finden. Jedoch wurde er enttäuscht, von den Blutflecken auf dem Holzboden, und die an einem Messer auf einem Holztisch. Er hatte Schubladen.

„Für dieses Unglück trug Zacharias allein die Verantwortung“, Philander wurde ernst, der Ton seiner Stimme änderte sich, er klang vorwurfsvoll. Ichabod musterte ihn mit verwirrtem Blick an.

„Als die einzigen Überlebenden haben wir nichts Anderes getan, als uns Gegenseitig für die Morde verdächtigt. Zacharias gab mir die Schuld, bedrohte mich. Ich aber ließ mich nicht auf das Niveau runter, suchte Lösungen, um Probleme zu meiden. Sogar das Angebot, zusammen zur Polizei zu gehen, lehnte er ab“, er griff das Messer und reichte es Ichabod. Der junge Mann beachtete es kurz, legte es dann auf den Tisch zurück.

„Mit diesem Messer hatte er sich selbst das Leben genommen. Ich hatte versucht, ihn aufzuhalten, ihn zu bekehren. Es machte es nicht besser, sondern schlimmer. Er vertraute mir weiterhin nicht, selbst nicht bei unserer Krise. Er starb laut lachend, in dem er sich den Letzten Schlag verpasste. Durch seine durchtrennte Aorta verblutete er, ich hielt ihn in meinen Armen. Hoffte, dass Alles nur ein böser Traum war, doch es war die reine Realität.“

Der Mönch setzte sich auf sein Bett. Es knackte leicht.

„Ichabod, im Schubladenfach des Tisches liegt ein Foto. Holst du es bitte raus?“

Der Junge zögerte nicht lange, kramte nicht lange, holte das Foto raus. Auf dem Foto waren er, Onesiphoros, Jonas und Philander abgebildet. Es wurde damals, am letzten Oktober, aufgenommen. Sie standen im Vordergrund vor den Rosenbüschen im Park. Ichabod hatte seinen Arm um Philander, sie waren sehr glücklich. Jonas hatte seinen üblichen grimmigen Gesichtsausdruck, während Onesiphoros ein breites Grinsen trug. Zion war der Fotograf gewesen, der die Gruppe mit seinen ulkigen Sprüchen zu diesem Foto bewegt hatte, erinnerte sich der junge Mann. Der Einzige, der nicht drauf war, stand hinten, weiter weg von ihnen. Zacharias, der 27-jährige mit dem langen weißen Haar, hatte die Kapuze auf und schaute zu ihnen rüber.

„Auf dieses Bild hatte Zacharias mich hingewiesen. Er sagte, es sei eine Sünde, dass ich mich mit dir abgeben würde. Er sagte, du seiest ein Fluch. Dieses Foto sei ein Fluch.“

„Wie...?“, Ichabod glaubte nicht, was er da hörte. Das Unheil war er?

„Er wollte nicht mit auf das Foto, er wollte nicht. Er müsste sich neben dich stellen, sagte er, neben dich und zwischen mich. Ich hatte es zuerst nicht verstanden. Doch, als er es zusammenfasste, wusste ich.“

Die Verwirrung blieb beibehalten. Ichabods Ohren hörten nur verschlüsselte Botschaften, keine konkreten Erzählungen. Der Inhalt, die Aussage, war ihm schleierhaft.

„Zacharias war an dem Tag wütend gewesen. Er erniedrigte mich, indem er mir einen Ringknebel überzog, damit ich für die Sünden Buße tue. Dann fragte er mich über dich aus, jede Kleinigkeit. Wie du lebst, wie du dich ernährst, sogar, wie du charakterlich bis! Ich erzählte ihm nichts“, Philander nahm das Foto an sich und zerriss es, bis auf das Stück, auf dem er und Ichabod waren.

„Er hatte uns Allen verboten, dich erneut zu sehen. Aber, wir hörten nicht auf ihn und gingen unseren Weg.“

„Warum sagte Zacharias so etwas? Ich verstehe ihn beim besten Willen nicht“, das brachte es nicht, Jemandem den Kontakt zu Jemandem verbieten, warum es so war. Das war völlig unverständlich. Philander wusste die Antwort darauf.

„Weil er es nicht verkraften konnte, dass wir uns mit den Leuten gut verstanden, sodass wir unsere Pflichten fast vergaßen. Die Meditationen wurden kürzer, die Tage in der Gruppe unruhig. Wir stritten uns immer öfter. Und fast wären wir Alle im Streit auseinander gegangen. Das sind die Gründe. Aber, wahrscheinlich hatte Zacharias sonstige Motive, von denen ich nichts in Erfahrung bringen konnte, da er mir ständig auswich.“

Ohne Ichabod zu beachten, hob der Mönch sein Antlitz und steuerte wieder auf den Ausgang zu. Ichabod folgte ihm, durch den Meditationsraum, in den Gang. An dem tödlichen Seil vorbei, solange weiter, bis sie an den Toren des Klosters standen, wie zu Beginn. An dem Tor verabschiedete Philander den jungen Mann.

„Pass gut auf dich auf, Ichabod. Merke dir diese Erzählung, denn sie ist die Erzählung eines Überlebenden. Komme heute Nacht noch einmal zu mir. Ich würde dir gerne etwas geben.“

„Ich werde kommen. Passen Sie solange auf sich selbst auf, ja? Denn auch ich habe etwas für Sie“, Ichabod wankt dem Mönch zum Abschied und schritt durch das riesige Tor des Klosters. Philander ein letztes Lächeln schenkend. Ein Lächeln, dass ihn bis zu ihrem nächsten Treffen beschützen sollte.
 

Die Nacht erfüllte den Himmel des Novembertages. Ichabod hatte sich auf den Weg gemacht, zum Kloster. Das Geschenk, ein kleines Paket mit großer eisblauer Schleife, hielt er fest in den Händen, voller Freude. Er sah schon vom Weiten das Licht am Eingang leuchten. Es erhellte den großen Eingangssaal. Er beschleunigte seinen Gang, konnte es kaum erwarten, Philander wiederzusehen. Einige Klopfer auf die Klostertür, doch Keiner öffnete. Ichabod bemerkte, dass die Tür geöffnet war und trat ein. Zögerlich schloss er die Tür und ging den Saal weiter.

„Philander?“, Ichabod betrat den Speisesaal. Dort standen einige Teller und Speisen vom Abendmahl, doch Nirgends eine Spur von dem schönen Mönch. Er kam zu dem großen Tisch und legte da sein Geschenk nieder.

„Philander, wo sind Sie?“, ihn überkam eine langsame Nervosität, die ihn terrorisierte. Er beschloss, nach dem Mönch zu suchen. Ichabod rannte zu dem Gang, um in das Wohngebäude zu gelangen, zu Philanders Zimmer. Glücklicherweise fündig, traf er auf den Mönch schon im Meditationsraum. Er hatte ein Gebet gesprochen und drehte sich, als er fertig war, lächelnd zu Ichabod.

„Ichabod, da bist du ja“, er erhob sich und umarmte den jungen Mann. Der schmale Körper Philanders drückte gegen den teils muskulösen Ichabod. Normalerweise waren solche Momente tabu für Philander. Als Mönch bekam er einen Rang und war eine hochangesehene Person, durfte sich nicht zu freundschaftlich verhalten. Neutralität war stets an der Tagesordnung. Aber, der heutige Tag war, wie sonst auch immer, eine Ausnahme. Ichabod war seine Ausnahme.

„Ich hab dir etwas zu geben. Schnell, wir müssen uns beeilen.“

Philander hetzte den Jungen in sein Zimmer und gab ihm ein Päckchen, blau mit goldener Schleife. Ichabod machte sich daran, es zu öffnen. Als das Paket vom Geschenkpapier befreit war, schob er den Deckel auf. Ihm glitzerte etwas entgegen.

„Oh!“, entzückt griff er mit der Hand hinein und holte eine glitzernde Kreuzkette raus. Es war dieselbe Kette, die die Mönche des Klosters trugen. So eine hatte sich Ichabod gewünscht.

„Vielen Dank, Philander. Ich habe auch etwas. Es ist nicht groß, aber es wir Ihnen gefallen. Es liegt auf dem Tisch im Speisesaal.“

Er nahm Philanders Hand und ging mit ihm in den Saal. Hastig gab er dem Mönch das kleine Paket und wartete gespannt auf die Reaktion ab. Philander entpackte es vorsichtig. Seine braunen Augen leuchteten auf, als er einen silbernen Ring vorfand. Ein Ring mit einem Brillanten versehen. Philander linste den jungen Mann sprachlos an.

„So etwas teueres kann ich doch nicht annehmen!“

„Doch. Sie müssen, denn es kommt vom Herzen“, Ichabod strahlte förmlich. Er hatte Philander bis jetzt nicht so vor Freude aufgewühlt erlebt. Der Mönch fiel ihm lachend um den Hals.

„Ich muss dir danken, Ichabod. Aber das hätte nicht sein müssen.“

Für Ichabod war es Routine, dem Mönch alles Mögliche zu geben und sich auf die Gegenleistung zu verlassen.

Sie redeten noch eine Weile im Speisezimmer, interessante Dinge tauschten sie aus: Was sie in den vergangenen paar Wochen alles erlebt hatten, ihre Gefühle und Empfindungen, die eine untergeordnete Rolle einnahmen. Als Philander ihn erneut zur Tür begleitete, fand es Ichabod schade, dass die Zeit so schnell vorüberging.

„Du musst jetzt aber gehen, es ist sehr spät. Deine Familie wird sich um dich sorgen“, drängte ihn Philander, zwar auch enttäuscht über den Zeitfluss, doch seine Vernunft siegte. Ichabod begann zu schmollen, legte ein trauriges Gesicht auf.

„Ach, Ichabod“, der Mönch strich ihm über die wuscheligen schwarzen Haare.

„Es ist ja nicht so, dass ich dir böses will. Ich mache mir genauso große Sorgen. Nun, gehe lieber.“

Seine Hand kniff die Wange des jungen Mannes und ließ von ihm ab. Erneut musste Ichabod gehen, diesmal gegen seinen Willen. Der Junge drehte sich wieder um und wollte lächeln, doch Philander hatte die Tür bereits verschlossen, konnte ihn nicht mehr sehen. Noch schmollend, stampfte Ichabod durch das Weiß. Er hinterließ mittelgroße Spuren im Schnee der Novembernacht.
 

Am nächsten Tag hatte Ichabod vor, Philander ,wie sonst auch, zu besuchen. Als er an dem Klostertor ankam, sah er die Menschenmasse von gestern an der linken Seite des Klosters stehen. Sie hatten sich dort offenbar wegen etwas versammelt. Ichabod quetschte sich durch, um zu sehen, was so besonderes die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zog. Sein Blick wurde leer, als er sah, was auf dem weißen Boden lag.

„Philander!“, er rannte zu der am Boden liegenden Gestalt. Es war wirklich Philander, der da lag und sich nicht regte.

„Philander!“, rief er, seine Stimme erstickte langsam. Er hob Philanders Körper an und presste ihn fest an sich. Er spürte, wie ihm das Wasser in die Augen stieg. Die Leute waren genauso emotional angeschlagen. Den Frauen liefen die Tränen endlos, sie konnten sich nicht fassen, mussten von ihren Männern beruhigt werden.

„Philander, bitte!“, flehte er, die Worte gequält rufend. Doch der Mönch regte sich weiterhin nicht. Er hörte nicht auf, zu weinen. Seine Tränen fielen und fielen, in den kalten Schnee, der um Philander herum eine blutrote Färbung hatte. Es war dasselbe Blut. Das Blut der kalten Novembertage, dass mit Ichabods Tränen sich langsam vereinte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2008-10-29T15:22:38+00:00 29.10.2008 16:22
Ooooh ich liebe diese Geschichte und das Ende ist sowas von traurig Q_Q


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