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Anders

Nicht noch eine Vampirgeschichte...!
von

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Anders

Anders
 

Ein Licht erschien in der Ferne, kam schnell näher, wurde heller und blendete schmerzhaft in meinen ohnehin empfindlichen Augen. Ich spürte förmlich wie meine Pupillen kleiner wurden. Schützend hielt ich die Hand vor die Augen und versuchte, sie vor dem grellen Schein zu verbergen.
 

Vielleicht wollte ich aber auch mich verbergen.
 

Kleine Steinchen spritzten in die Höhe, Staub wirbelte auf, als das Motorrad direkt vor mir eine scharfe Kurve fuhr und wenige Meter von mir entfernt stehen blieb.

Der Fahrer nahm den Helm ab und lachte laut auf, als er mein wütendes Gesicht sah.
 

„Kleiner, wie war ich?“, rief er, während er abstieg. Immer noch zierte ein breites Grinsen sein Gesicht.
 

„Wer hat dir erlaubt, die Harley zu fahren?“

Eine Frage beantwortete ich meistens mit einer Gegenfrage, besonders wenn sie von ihm kam.

Er rollte mit den Augen – dunkle, exotische Augen, die Mädels fuhren voll drauf ab – und lehnte sich lässig gegen seinen fahrbaren Untersatz.
 

„Das muss mir niemand erlauben, ich mach, was ich will!“, murmelte er verstimmt.

Volltreffer, jetzt hatte ich seine gute Laune vertrieben. Der Kerl war unausstehlich mit guter Laune.
 

„Ach ja?“
 

Der Spott triefte aus meiner Stimme, aber das juckte ihn nicht. Hatte es noch nie. Er war der Einzige, der meine Launenhaftigkeit genauso gut ertragen konnte, wie ich seine schlechte Laune. Zumindest besser, als seine gute Laune.
 

Aber dafür sind Brüder schließlich da.
 

Wieder ließ er seine Augen kreisen, dann schüttelte er den Kopf und deutete mit einer Hand in den Himmel. Eine Hand in Leder. Edel, edel.
 

„Wenn wir noch ein bisschen länger debattieren, geht die Sonne auf. Und auch wenn dich das vielleicht nicht interessiert… mich interessiert es sehr wohl!“, meinte er und kam endlich auf mich zu.
 

„Wer hat mich denn warten lassen?“, brummte ich, aber er hörte nicht zu. Wäre auch mal was ganz Neues gewesen. Er hörte nie zu.
 

Ich ging ihm hinterher, knurrte noch ein paar Verwünschungen, aber ich ging ihm nach. Es blieb mir auch gar nichts anderes übrig. In dieser Dunkelheit wäre ich ohne seine Augen hoffnungslos verloren.

Vollkommen verloren.
 

Manchmal, wie in solchen Momenten, beneidete ich ihn. Das war zwar nichts Außergewöhnliches unter Brüdern, aber bei mir war es das schon. Normalerweise war ich sehr zufrieden mit mir und der Welt. Na ja… mit der Welt vielleicht nicht. Wenn es nach mir ginge, wäre zum Beispiel die Tatsache abgeschafft, dass Verletzungen bluteten. Oder dass man zum Fliegen den sicheren Erdboden verlassen musste. Oder dass man im Sonnenlicht braun wurde.
 

Aber zurück zum Thema.
 

Wir stapften durch meterhohes, feuchtes Gras, es hatte heute Mittag erst geregnet. Ich wusste, dass er es hasste, nass zu werden, egal, ob jetzt Wasser seine Haut oder nur seine Kleidung berührte, aber es war mir gleich. Er hatte sich immerhin freiwillig bereiterklärt, mir zu helfen.

Okay, vielleicht nicht ganz freiwillig, aber er ließ sich einfach zu leicht bestechen. Und erpressen. Zum Beispiel mit der Tatsache, dass ich wusste, dass er die Harley fuhr, um damit vor den Mädchen im Dorf anzugeben. Und ich hatte keine Scheu, das auch unseren Eltern zu erzählen. Die waren aber auch so schon nicht gut auf ihn zu sprechen, also willigte er ein.

Er half mir.
 

Mitten auf der stockfinsteren Wiese blieb er plötzlich stehen, ich wäre fast in ihn hineingerannt. Verschlagen grinste ich ihn an, als er sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir umdrehte. Zumindest vermutete ich, dass er die Augenbrauen hob. Aber ich war mir immerhin ziemlich sicher, dass er sich umgedreht hatte. Was in dieser Finsternis eine kleine Meisterleistung war.

Dann spürte ich plötzlich, wie sich seine Hand um meinen Arm schloss.
 

„Du hast ziemlich mickrige Muskeln“, meinte er, ich konnte das düstere Grinsen geradezu heraushören.
 

„Geht’s dann mal los?“, fauchte ich zurück und musste mich stark zusammenreißen, um mich nicht umzudrehen und in weiten Schritten davonzujagen. Obwohl das für ihn sicherlich kein dramatischer Abgang gewesen wäre. Und auch für niemanden sonst, wenn es mich in der Dunkelheit auf die Fresse gehauen hätte.
 

„Bist du sicher?“
 

Holla, die Waldfee, hörte ich da Sorge aus seiner Stimme heraus?

Ich musste ihn ziemlich blöd angestarrt haben, denn er stöhnte auf und riss mich etwas näher zu ihm heran.
 

„Hör mal zu, Kleiner“, sagte er eindringlich. Diese Eindringlichkeit verlor aber schon daran an Wirkung, dass ich es hasste Kleiner genannt zu werden. Und das wusste er nur zu genau.

Jetzt seufzte er und der Druck an meinem Arm ließ etwas nach.
 

„Wir legen einfach los, okay?“
 

Ich nickte nur, ersparte mir aber das ohnehin überflüssige „Ja“, er konnte immerhin etwas sehen.
 

Der Griff seiner Hand wurde wieder fester, ich spürte, wie er tief Luft holte und dann…

Mein Magen vollführte mindestens fünf doppelte Saltos, doch die Anstrengung, mein Frühstück nicht der ganzen Welt zu präsentieren, wurde noch von der übertroffen, nicht laut zu schreien.
 

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, flüsterte ich deshalb nur und war ausnahmsweise mal froh, dass es dunkel war, denn so konnte ich immerhin nicht sehen, wie tief ich fallen konnte. Aber dass es tief genug war, um die Knochenanzahl in meinem Körper zu verdreifachen, das war klar.
 

Da es also ohnehin sinnlos war, nach unten zu sehen, wandte ich meinen Blick nach oben. Die riesige, schemenhafte Gestalt verursachte mit ihren weiten, lederartigen Schwingen ziemlich viel Wind, aber trotzdem konnte ich noch hören, was er mir zurief: „Alles klar bei dir?“
 

„Ja!“, schrie ich, das geflüsterte „Aber wer weiß, wie lange noch“ konnte er trotz der großen Ohren nicht hören.

Ich hasste diese Art, sich fortzubewegen. Das meinte ich genau so: Ich hasste es! Das Fliegen. Menschen waren nicht zum Fliegen gemacht. Menschen sollten auf dem Boden bleiben, dem festen, sicheren Erdboden.
 

Dumm nur, dass ich kein Mensch war.
 

„Sieh dir nur diesen Ausblick an!“, rief er zu mir herunter und lachte klickernd, als ich wild mit dem Kopf schüttelte. Ich würde nicht runter sehen, unter keinen Umständen. Ich hatte Höhenangst. Ich dürfte eigentlich keine Höhenangst haben. Ich nicht.
 

Manchmal war das Leben echt unfair.
 

„Wer hat gesagt, dass das Leben fair ist?“
 

Warum musste er das nur immer wieder machen? In meinem Kopf herumstöbern, obwohl er genau wusste, dass ich das nicht ausstehen konnte. Ich fühlte mich dann so verdammt… nackt. Das war wohl das passende Wort.

Eigentlich sollte ich das auch können. Eigentlich.
 

„Konzentrier dich auf den Himmel!“, brüllte ich ihm nur entgegen und wieder war da dieses klickernde Lachen.

Er lachte mich aus. Ich nahm es ihm nicht übel, wusste ich doch, dass er es nicht böse meinte. Schade, dass das nicht bei allen Lachenden so war.
 

Ohne Vorwarnung legte er plötzlich seine Flügel an und ging mit atemberaubender Geschwindigkeit in den Sturzflug. Mein Magen war plötzlich nicht mehr an Ort und Stelle, eher fünf Meter hinter mir… über mir. Ich konnte nur schreien.
 

„HÖR AUF!!!“, kreischte ich, es musste sich ziemlich mädchenhaft angehört haben, aber in diesem Moment war es egal. „HALT AN!!!“
 

Er lachte nur wieder klickernd und sagte wohl irgendetwas, aber der Wind blies die Worte an meinen Ohren vorbei.
 

Und dann war alles vorbei.
 

Ich landete unsanft auf dem Gras, überschlug mich zweimal und lag dann ziemlich krumm auf der Erde. Der sicheren Erde.

Im nächsten Moment übergab ich mich.
 

„Zumindest bist du jetzt bleich genug.“ Sein Lachen war wieder normal und auch seine Statur wieder vollkommen menschlich. Außer diesen Merkmalen, die man nur sah, wenn es hell war, er sie zeigen wollte und… wenn man so wie er war. Und so war ich nicht.
 

Verdammt!
 

Ich schlug mit der Faust ins Gras und schrie auf. Oder zumindest versuchte ich es. Heraus kamen nur ein zittriges Fingerflattern und ein gequältes Röcheln.

Als ich die widerlichen Tränen und schließlich auch seine Hand auf meiner Schulter spürte, spürte ich wieder einmal die Verzweiflung in mir aufsteigen und den Zorn, der in mir brodelte.

Zorn auf mich selbst.
 

„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“, fluchte ich und war froh, dass ich schon saß, ansonsten hätten meine bebenden Knie sicher nachgegeben. Überhaupt… blöder Körper. Blöder, blöder, verfluchter Körper! Warum konnte ich nicht so sein wie er?
 

„Weil du nun mal du bist“, sagte er sanft und ich war mir nicht sicher, ob er schon wieder einen Blick in meinen Kopf gewagt oder ob ich das wirklich laut gesagt hatte. Er ging neben mir in die Hocke, ich hörte kaum seinen Atem, so leise war er. Und schon wieder ein Unterschied…
 

„Warum kann ich nicht normal sein?“, flüsterte ich in die Nacht und auch wenn ich meine Worte selbst kaum verstanden hatte, er hatte es sicher. Sein Gehör war herausragend. Selbst in unserer Familie.
 

„Was ist schon normal?“

Er lachte auf. Es klang bitter. Verdammt bitter.
 

Hey, was hatte er denn zu meckern? Er war vollwertig, nicht so ein halber Loser, wie ich. Klar hatte auch er seine Macken, aber… er konnte Blut sehen, ohne dabei gleich das Frühstück wieder auskotzen zu müssen, er konnte sich in eine überdimensionale Fledermaus verwandeln und hatte keine Höhenangst, er konnte…
 

„Ich kann nicht das, was du kannst“, fuhr er in meine Gedanken. „Ich kann fliegen und Gedanken lesen, aber du…“ Er seufzte auf und ließ sich schwer neben mich ins Gras fallen. „Du kannst so viel, Kleiner.“
 

Ausnahmsweise machte mir nicht einmal dieser Kosename etwas aus. Ausnahmsweise. Und außerdem schien ihm das, was er sagen wollte, wirklich wichtig zu sein.
 

„Du kannst Flugbahnen und Fluggeschwindigkeit im Kopf berechnen“, sagte er, ließ sich nicht von meinem gleichgültigen Schulterzucken aus der Fassung bringen. „Du kannst unseren Familienstammbaum auswendig und der reicht übers Mittelalter hinaus! Und von jedem Familienmitglied weißt du die Blutgruppe.“
 

Ja und? Das wusste ich. So besonders war das nun wirklich nicht. Wirklich nicht!
 

„Du bringst gute Noten heim, du bist klug und denkst nach, bevor du handelst. Du manövrierst dich nicht ständig in neue Katastrophen und…“ Da stockte er und ich spürte plötzlich seinen intensiven Blick auf mir.
 

„Und was?“, hakte ich nach. Was war noch an mit so besonders, dass ich mich nicht dafür schämen musste, anders zu sein.
 

Lange sagte er nichts, auch seinen Blick hatte er wieder abgewendet, er sah jetzt die Sterne über uns an. Und den fast vollen Mond. Eigentlich hätten wir mal verschwinden sollen, für uns war es mehr als gefährlich, zu dieser Uhrzeit bei fast vollem Mond auf einer Wiese ohne großartige Deckung zu sitzen.

Lebensbedrohlich!
 

Ich wollte ihn eigentlich darauf aufmerksam machen, aber… irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es noch zu früh war. Noch war nicht alles gesagt und getan worden. Und so wartete ich darauf, dass er zu sprechen begann… oder gleich ein lang gezogenes, lautes Heulen und Jaulen durch die Nacht vibrierten, mir meinen baldigen Tod verkündeten. Die Mondschatten würden kommen diese Nacht, dessen war ich mir sicher.
 

„Mutter und Vater“, wisperte er plötzlich in den kühlen Wind, der sanft um unsere Köpfe strich und meinen Nacken kitzelte.
 

Mutter und Vater. Was sollte mit ihnen sein? Sie waren doch die schlimmsten, die schlimmsten von allen. Sie würden mich nie akzeptieren und das tat weh, es tat weh, machte mich traurig und wütend. Ich war ihr Sohn, also warum liebten sie ihn nicht als solchen?
 

„Sie reden die ganze Zeit nur von dir“, sagte er in die Stille hinein. „Besonders Vater. Er ist stolz auf dich.“
 

Stolz?

Auf mich?

Vater?
 

Er hörte wohl meine Ungläubigkeit in dem Schnauben, dass ich ausstieß. Mal ehrlich: Wieso sollte ich ihm glauben? Ich, der Versager? Die Schande unserer alterwürdigen Familie und das nur, weil ich kein Blut sehen und nicht fliegen konnte und all diesen anderen magischen Quatsch.
 

„Wieso sollte ich dir glauben?“
 

Sein Lächeln blitzte bitter in der Dunkelheit auf und er jetzt fiel mir auf, dass es heller wurde, dass die Sonne sich langsam hinter dem Horizont hervor schob und der Himmel ein zartes Violett angenommen hatte, die Sterne langsam verblassten.
 

„Du kannst nicht fliegen“, meinte er plötzlich und ich knurrte unwillig auf. Als ob ich das nicht selber wüsste! „Du kannst nicht fliegen und kein Blut sehen und auch sonst nichts, was du können solltest, aber…“
 

Es folgte eine lange Pause, ein tiefes Schweigen, das nur vom einsetzenden Klang der Vögel durchbrochen wurde. Langsam wurde ich nervös. Wir konnten nicht mehr lange hier sein, wir sollten uns vom Acker machen. Ich hatte keine Lust, später ein Häufchen Asche vom Feld zu kratzen.
 

„Aber was?“, hakte ich ungeduldig nach. Wirklich ungeduldig. „Was?“
 

„Du bist klug.“
 

„Und du wiederholst dich“, meinte ich genervt. Er sollte endlich zur Sache kommen. Es ging hier immerhin um sein Leben!
 

„Du bist klug genug, um dich nicht zu verlieben.“
 

Hä? Etwas Intellektuelleres fiel mir in diesem Moment nicht dazu ein.

Liebe? Ich war erstaunt, dass er überhaupt dieses Wort kannte. Warum sollte ich klug genug sein, mich nicht zu verlieben? So wie ich mein Glück kannte, würde das irgendwann noch eintreten, vermutlich in die heißeste Braut unserer Art, die mich dann kaltschnäuzig ignorierte, weil ich ihr nicht gut genug war und – oh Gott! – Gefühle entwickelte. Schreckliche Vorstellung.
 

„Jetzt denk nicht so einen Schwachsinn“, grinste er und klopfte mir auf den Rücken. „Du solltest mal deine eigenen Gedanken sehen.“
 

„Lass das!“ Ich schlug seine Hand weg und starrte ihn weiter verständnislos an. „Wenn du schon in meinem Kopf rumschnüffelst, dann sag mir wenigstens, dass ich Recht habe.“
 

Er schüttelte nur den Kopf. Es war beängstigend, wie gut ich ihn schon sehen konnte. Wirklich beängstigend, seine Konturen wurden immer klarer.

„Vielleicht hast du Recht“, meinte er und sein Blick wanderte zum Horizont. Jetzt musste er einfach das Licht sehen. Und vorschlagen, zu gehen. Verdammt! „Vielleicht. Aber du bist klug.“
 

Er wiederholte sich schon wieder. Was war nur in ihn gefahren?
 

„Du würdest dich in eine von uns verlieben, selbst wenn sie unerreichbar für dich wäre… was sie nicht ist, nur mal so.“ Er wuschelte mir abwesend durch die Haare. Seine Finger zitterten. Hey, was ging hier ab?
 

„Was…?“, begann ich, doch er schüttelte wieder den Kopf und brachte mich zum Schweigen.
 

„Kleiner, ich kann dir vertrauen“, meinte er und jetzt zitterte auch seine Stimme. „Du bist klüger, als ich. Ich verhaue die einfachsten schriftlichen Prüfungen und baue ständig Mist. Du weißt, wie Mutter und Vater auf mich zu sprechen sind. Aber jetzt… ich kann dir vertrauen…“
 

Er ließ den Kopf auf die angezogenen Knie sinken. Wenn er jetzt zu Heulen anfing… Aber seine Stimme sprach gedämpft weiter.
 

„Ihr Name ist Leyla“, sagte er.
 

„Leyla? Schöner Name. Kenn ich sie?“ Ich fragte es so unbefangen, wie möglich, aber in mir breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Leyla war kein Name für eine von uns.

Wie zur Bestätigung meiner Gedanken – und vielleicht war das ja auch so, wer wusste das schon? – lachte er auf. So verdammt bitter, dass es mir einen Schauer über den Rücken jagte.

Eiskalt.
 

„Du kennst sie nicht“, lachte er leise. „Du kennst sie nicht.“
 

Meine Ahnung wurde immer deutlicher. Nein. Nein, so dumm konnte er doch gar nicht sein. Bitte nicht!
 

„Sie kommt aus der Stadt.“
 

Heutzutage bringt Beten auch wirklich gar nichts mehr. Ich stöhnte auf und ließ mich rücklings ins Gras fallen, verschloss meine Augen vor dem Anblick des heller werdenden Himmels. Ja, sollte er doch abkratzen, wenn das ans Tages… äh, ans Nachtlicht kam, war er ohnehin tot. Aber so was von!
 

„Ich weiß“, murmelte er, ich spürte seinen Blick auf mir. „Ich weiß, dass es dumm ist, aber… wenn du sie kennen würdest, wenn du sie kennen würdest…“
 

Ein Mensch. Ein Mensch. Ein Mensch. Ich fasste es nicht. Er hatte sich… in einen Menschen!
 

„Liebst du sie?“, fragte ich und ich wusste selbst nicht, warum. Aber es platzte einfach aus mir raus, als wäre es die natürlichste Frage der Welt. Als wäre das alles nicht so verdammt irreal, so verboten bescheuert.

Meine eigene Frage verwirrte mich, aber die Antwort verwirrte mich noch mehr.
 

„Ja.“
 

Dieses kleine, schlichte Wort nur. Es ließ meine gesamte, fast perfekt unperfekte Welt in sich zusammenstürzen und vor meinem inneren Auge tauchten Bilder auf. Blutige Bilder. Ich hasste Blut. Und wieder einmal wurde mir deutlich bewusst, warum.
 

Neben mir raschelte es im Gras. Ich sah auf, er hatte sich erhoben und starrte nun gen Osten, wo der Himmel eine immer ungesundere Farbe annahm. Auf seiner Haut konnte ich schon rote Flecken erkennen. Er musste hier weg oder er würde seine kleine Liaison gar nicht beichten müssen, um eines schmerzhaften Todes zu sterben.
 

„Ich treffe sie jetzt“, meinte er plötzlich.
 

Na, toll. Auch das noch. Wollte er wegen ihr sein Leben riskieren?
 

„Für sie riskiere ich alles. Und es ist dunkel, wo ich hingehe“, sagte er.
 

„Weiß sie, was du bist?“
 

Lange schwieg er wieder und ich wurde immer nervöser. Ich wollte keinen toten Bruder, verdammt!
 

„Sie ahnt es“, meinte er dann langsam. „Sie ahnt es.“
 

Das wurde ja alles immer besser. Dieser Kerl war doch echt verrückt geworden. Aber in einer Sache hatte er Recht: Darauf wären Mutter und Vater garantiert nicht stolz, wenn sie es erfahren würden. Da wäre es ja doch besser, auf den Sonnenaufgang zu warten.

Aber… ich verriet ihn nicht. Garantiert. Immerhin… half er mir. So gut er eben konnte mit dem Fliegen und dem Blut und dem ganzen Kram, den ich hasste wie die Ratten die Pest und ich war genauso anziehend dafür. Er hat mir immer geholfen, mein großer Bruder.
 

„Danke, Kleiner“, lächelte er in den blassen Himmel und dann lief er los. Irgendwohin, ich wollte gar nicht wissen, wohin genau. Es war seine Sache. Genauso wie es meine Sache war, was ich mit dem angebrochenen Tag machen würde.
 

Ich starrte in den Himmel, sah wie die Farben wechselten, wie die Wolkenschleier in Gold getunkt werden, funkelnd der Tau auf den Gräsern aufblitzte. Ich war glücklich, in diesem Moment. Diese Momente gehörten ganz allein mir. Niemand aus meiner Familie würde das hier jemals so betrachten können, wie ich es tat.
 

Es hatte also nicht alles nur schlechte Seiten.
 

Ich war anders. Na und? War ich es eben. Mein Bruder war auch anders. Auf seine Art.

Ich war ein Vampir, der kein Blut sehen konnte.

Er war ein Vampir, der einen Menschen liebte.

Anders eben.
 

So verschieden waren wir gar nicht.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Himmelweis
2010-07-09T20:39:10+00:00 09.07.2010 22:39
Erstaunlich ernst. Aber gut geschrieben. Obwohl ich mir nach der Zusammenfassung etwas anderes darunter vorgestellt hatte.
Du greifst die ganzen gängigen Klischees auf ohne sie gänzlich zu widerlegen oder ins Gegenteil zu 'verdrehen'. Wenn du verstehst, was ich damit sagen will.
Also, mir gefällt's.
Von:  bells-mannequin
2008-09-27T19:16:50+00:00 27.09.2008 21:16
Umpf. Okay. Die erste Seite - war humorvoll angehaucht. Nicht zum Weghauen, aber dennoch ganz witzig. Danach wurde es... ernst. Mit dem großer-Bruder-Zeug und so. Alles in allem ganz nett^^
Von:  il_gelato
2008-09-19T16:12:22+00:00 19.09.2008 18:12
Sehr schön geschrieben!


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