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Kurzgeschichtensammlung

Short stories, Spontangeburten...
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Tanz der Dryaden

Alle zwanzig Jahre, erheben sich die Geister der Bäume aus ihrem wachen Schlaf. Dann tanzen sie ihre geheimnisvollen Tänze auf der mondbeschienenen Lichtung des Alten Waldes; und keinem Sterblichen soll es je vergönnt worden sein, ihnen dabei zuzusehen. Denn ihr grünes Antlitz und die knorrigen Körper sind nichts, das ein beschränkter menschlicher Verstand hätte ertragen können.

So lautete die Geschichte, wie sie mein Onkel mir immer zu erzählen pflegte und stets schenkte ich seinen Worten Glauben. Denn wer weiß schon, welche Geheimnisse noch zwischen den gewundenen Stämmen lauern mögen?

Als er dann mit eigenen Augen ihren verzauberten Bewegungen folgen wollte und seit diesem Tage nie wieder gesehen wurde, da war mir bewusst, was geschehen war.

Und trotzdem ich mir genau im Klaren darüber war, was sein Ende herbei geführt hatte, so erwartete ich doch ungeduldig jenen Tag, an dem sie wieder tanzen mochten, denn eine unstillbare Sehnsucht schien mich direkt in die Arme des Verderbens zu schicken. Gegen diese Sehnsucht war ich nicht imstande anzukommen und darum trieb es mich an jenem Tage, genau zwanzig Jahre nach dem Tode meines Onkels, ebenfalls in die unergründlichen Tiefen des Alten Waldes. Ein unwiderstehlicher Ruf pulste durch meine Adern und erfüllte mich mit dem brennenden Verlangen, ebenfalls die Wunder des Tanzes der geheimnisvollen Baumgeister zu erblicken.

Der Himmel war monderhellt, als ich mir meinen Weg durch die seltsam gekrümmten Äste bahnte. Vorbei an grinsenden Baumhöhlen, greinenden Blattgespenstern, die sich bei näherem Hinsehen doch nur als seltsam geformtes Laub erwiesen und über den Boden, dessen trockene Äste unheilvoll zu knacken und zu brechen schienen bei jedem Schritt, den ich mich tiefer in das Unterholz wagte.

Ein seltsame Stimmung lag über dem uralten Holz. Geheimnisse waberten durch die Luft und schienen mit zarten Fingern nach dem schwarzen Grün der Bäume zu greifen und mich mit ihren dünnen Schleiern zu umhüllen. Ich war wie in Trance; ein Gefangener jenes geheimnisvollen, immer stärker lockenden Rufes, der mich zu einem bestimmten Ziel zu treiben schien und dem ich ohne Sinn und Verstand Folge zu leisten gezwungen war, auch wenn sich ein Teil von mir danach sehnte, endlich selbst jenes Wunder zu erblicken, von dem ich sonst nur vage Berichte vernommen hatte.

Seit dem Verschwinden meines Onkels vor zwanzig Jahren hatte ich mich zunehmend mit den Geheimnissen der alten Welt beschäftigt. Auf der Suche nach den Spuren, die sie hinterlassen haben mochten, hatte ich Dinge gesehen, die normale Menschen nicht einmal in einem Traum erahnen mochten und Erzählungen gelauscht, deren Inhalt schon manchen in den Wahnsinn getrieben hatte. Ich hatte trotz meines jungen Alters von gerade einmal 36 Jahren schon auf den Berggipfeln mit den Sylphiden getanzt, mich mit den Ghoulen durch die verwesende Erde von Friedhöfen gewühlt. Ich hatte mit eigenen Augen das monströse Erwachen der Gargoylen geschaut und war mit den Nixen in die Tiefen des Meeres getaucht, in denen versunkene Städte von Algen bedeckt ihren ewigen Schlaf schliefen. Greif und Phoenix hatte ich gesehen, mit Elfen und Feen gesprochen und in den düsteren Steinkreisen des alten Irland namenlose Riten vollzogen, während die dunklen Gesänge der Druiden an den Felsen widerhallten. Und dennoch hatte ich nicht einmal in meinem bisherigen Leben die Ehre gehabt, den Baumseelen bei ihrem Tanz im Mondlicht zusehen zu dürfen. Bis heute.

Inzwischen rannte ich fast meinem Ziel entgegen. Mich packte die Angst, ob ich nicht stolpern könnte und damit meinen ungestümen Lauf ein für alle mal stoppen. Doch es war fast, als sichere dieselbe unsichtbare Macht, deren Ursprung der Ruf war, der mich erfüllte, auch mein eigenes unbeschadetes Fortkommen, denn bis auf ein paar durch die schlagenden Zweige verursachten Kratzer war mein Leib noch unversehrt, obwohl ich die Stämme neben mir schon kaum mehr richtig wahrnehmen konnte.

Endlich schwächte sich der wahnsinnige Lauf ein wenig ab, denn inmitten dieser grünschwarzen Ebene aus Blattwerk, Gesträuch und dem uralten Holz schien sich ein Hügel zu erheben, auf dessen Spitze es mich nun augenscheinlich rief. Um mich herum begannen nun Findlinge ihr steinernes Haupt gen Himmel zu strecken. Es waren große und kleine und sie erschwerten mein Fortkommen auf der Steigung noch zusätzlich.

Erst jetzt begann sich in meinem Kopf die Erkenntnis zu bilden, wie unheimlich still es bisher gewesen war. Außer den Geräuschen meiner eigenen hastigen Schritte hatte ich nichts vernommen, keinen Windhauch, der die Wipfel streichelte, kein einsamer Wolf, der seinen Kummer in die Nacht heulte oder sonst irgendein Lebewesen, das ein Geräusch verursacht hätte.

Nun aber hörte ich zum ersten Mal etwas anderes an mein Ohr dringen, etwas, das nicht durch meine Anwesenheit verursacht worden war. Dennoch waren es Geräusche von der Art, wie ich sie selbst erzeugte auf meinen rennenden Füßen - das Kollern kleiner Steine, das Brechen trockener Zweige, das Trappeln von Schritten und ein hastiges Atmen. Doch noch blieb mir kaum Zeit mich zu wundern, dass auch andere sterbliche Wesen ihren Weg hierher gefunden haben sollten, denn ich hatte den Gipfel erreicht.

Oben bot sich mir ein Anblick, der einem wahrhaft den Atem hätte nehmen können. Und sogar mich, der ich schon so viel mit eigenen Augen gesehen hatte, erfasste für einen Moment maßloses Erstaunen und Bewunderung ob der Einzigartigkeit dessen, was sich hier abspielte. Vor mir breitete sich eine flache, lediglich durch vereinzelte Steine unterbrochene Fläche aus, die von kurzem Gras bewachsen war und den ganzen Hügel einnahm - so, als wäre die Erhebung von Millionen Fußtritten abgeflacht und eingestampft worden. Dahinter erstreckte sich die unendlich scheinende Fläche des Alten Waldes. Eigentlich hätten von hier aus die ersten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation sichtbar sein müssen, doch die monotonen Grünschattierungen erstreckten sich ununterbrochen soweit meine Augen fähig waren zu blicken.

Aber nicht das war es, was meinen Blick gänzlich gefangen nahm. Es war ein ungeheuer alter Baum, der sich in der Mitte der Fläche erhob. Jedes seiner kleinen Blätter atmete förmlich die Zeit, jede kleine Biegung des knorrigen Stammes erzählte von Jahrhunderten. Seine Äste schienen, schon allein durch die unheimliche Größe bedingt, gleich der alten Weltenesche die gesamte Fülle des Lebens zu umfassen, ja den Ort zu bilden, an dem das Leben entspringt und wieder vergeht, die unendliche Quelle selbst.

Und um ihn herum...Es waren hunderte. Menschen und Baumgeister. Die langen, dünnen Astfinger gespreizt, und den seltsam, aber wunderbaren hölzernen Körper in sanften Wellen wiegend, erfüllten die Dryaden die ganze Ebene. Ihre fein geschnittenen Gesichter waren, obwohl kaum menschlich, auf eine Art und Weise schön, wie sie nur die reine Magie der Natur hervorbringen konnte. In ihren schmalen, schlitzförmigen Augen lohte das grüne Feuer der Alten Tage, als die Urkraft noch stark war.

Die Menschen zwischen ihnen wirkten so winzig und unbedeutend neben dieser Macht, als wären sich nichts mehr als kleine trockene Äste, die unter einem einzigen Tritt der verwurzelten Füße in tausend Stücke zerbarsten. So zerbrechlich...und doch mitten unter ihnen. Junge und Alte sah ich; Greise standen neben kleinen Buben, die nicht älter als zehn sein konnten. Ich sah Afrikaner, Indianer, Asiaten und hellhäutige Menschen, große und kleine, füllige und schmale. Und doch waren sie alle männlich, so wie die alten Geister der Bäume am ehesten als weiblich zu bezeichnen gewesen wären.

Es war absurd. Ich hatte gedacht, damals wäre mein Onkel der einzige gewesen und heute ich derjenige, denen dieses große Privileg zugekommen war, die heiligen Geister beobachten zu dürfen. Ein aberwitziges Gefühl der Enttäuschung überkam mich, die Regung, bitter betrogen worden zu sein in dem Versprechen der Einzigartigkeit. Jedoch, ich spürte, warum sie alle gekommen waren: alle hatten sie diesen Ruf gehört, dieses unwiderstehliche Verlangen, welches auch durch meinen Kopf gespukt war und mich während meines Weges hierher nicht ein einziges Mal hatte fehlgehen lassen. Aber auch diese Empfindung schwand und machte dem grenzenlosen Bedürfnis danach platz, sich ebenfalls unter die Menge zu begeben und Teil ihrer Magie zu werden.

Alle Wesen vermischten sich, Leiber drängten sich an Leiber, hartes Holz an weiche Haut, sanfte Blätter an harte Nägel, kratzendes Moos an weiche Haare. Eine einzige Bewegung lebendiger Masse; niemals stehend, niemals ruhend, ein pulsierender Block aus Leben. Auch ich ging in ihnen auf, bewegte mich wie in einem Rauschzustand mal hierhin, mal dorthin. Alle Individualität ging verloren, ich wurde zum Teil eines einzigen großen Ganzen. Die Nacht schien vorbei zu rasen und gleichzeitig still zu stehen, als wäre man selbst nur ein einziger Tropfen im Strom der Zeit, der einen schneller und schneller herum wirbelte. Es gab keine Musik, keine irgendwie gearteten Laute, welche die Nacht durchschnitten hätten - lediglich das leise Stapfen unzähliger Füße und Wurzeln auf diesem geheiligten Boden. Es machte keinen Unterschied mehr ob Dryade oder Sterblicher, alles wurde eins. Heilige Urkraft erfüllte mich und alle anderen mit einem Leben, welches mir sonst fremd geblieben wäre, einem Leben und einem Gefühl des absoluten Aufgehens in der Unendlichkeit.

Unmerklich jedoch verlangsamte sich der Fluss, flauten die weichen Bewegungen ab, wurden weniger und hörten schließlich ganz auf. Noch immer verhielt sich die Menge wie ein Lebewesen. Wie die winzigen Fische eines großen Schwarmes strebten einzelne auseinander, andere zusammen; so bildete sich schließlich ein Ring, dessen Zentrum der riesenhafte Weltenbaum war. Nichts bewegte sich nun noch, die ganze Szenerie wirkte wie erstarrt. Alle Blicke hatte sich in gespannter Erwartung auf diesen alten, den ersten aller Bäume gerichtet.

Endlich schien sich dort etwas zu regen. Scheinbar unendlich langsam begann die Rinde ihre Form zu ändern. Erst nur unmerkliche Verschiebungen in der dunkelgrauen Borke, dann das sekundenschnelle Bilden kleiner Äste und schließlich das beständige Herausformen einer Gestalt - der Prozess war faszinierend und einzigartig, als beobachte man, wie ein Kind geboren und in sekundenschnelle erwachsen wird.

Eine Aura von Macht umgab die Dryade des Alten Baumes, als sie sich endgültig von dem Stamm ihres Heimes löste. Sie musste uralt sein; ihr Körper war gekrümmt, die Äste leicht verdreht und von Moos und graugrünen Flechten überwachsen. Doch sie strahlte Stärke aus, und so wie das Funkeln in ihren Augen noch unverändert lohte, so zweifelte man keinen Augenblick daran, dass in ihr mehr Leben tobte als in den meisten von uns. Mit langsamen, gemessenen Schritten trat sie aus dem Holz heraus, vollkommen erhaben über die Geschehnisse dieser Welt und doch ein unabdinglicher Teil von ihnen. Ihre leuchtenden Augen glitten über die versammelte Menge. Dabei hatte dennoch jeder, so wie ich wohl das Gefühl, dass ihr Blick eine Sekunde lang ganz auf ihm allein verweilte.

Endlich hob sie ihre verknorpelten Arme und deutete mit dem Finger auf einen älteren Mann, nur ein paar Schritte von mir entfernt. Dieser setzte sich fast augenblicklich in Bewegung, als ziehe ihn ein unsichtbares Band zu der Gestalt vor dem Baum; und ebenso selbstverständlich wichen die Gestalten, deren Weg er kreuzte, beiseite, eine Gasse bildend, die sich ebenso schnell und lautlos wieder schloss wie sie sich zuvor geöffnet hatte. Gebannt beobachteten hunderte Augenpaare, wie der Mann sich der einzelnen Dryade nährte, in seiner Welt nur noch Platz für sie und ihn selbst habend.

Der alte Baumgeist schien seine knorrigen Lippen zu einem einladenden Lächeln zu verziehen. Sie umschlang ihren Auserwählten mit langen, knotigen Fingern und presste ihren dürren Leib aufreizend an seinen alten Körper. Ihre Augen schlossen sich, ihr Mund öffnete sich leicht, während sie offenbar den Kuss ihres Gegenübers erwartete. Dieser schien vollkommen von ihr fasziniert; und so wunderte es nicht, dass er ihre deutliche Einladung beinahe sofort annahm.

Aber noch während sie ihre Lippen aufeinander pressten und sich sein Gesicht in höchstem Entzücken verzerrte, änderte sich eine winzige Nuance der Stimmung, die um sie her in der Luft war. War sie zuvor noch friedlich und fast erfüllt von knisternder Spannung gewesen, so wandelte sie sich nunmehr, bis man ein stummes Gefühl der Gefahr fast mit den Fingern hätte erhaschen können. Doch die Glückseligkeit, die der Geküsste ausstrahlte, änderte sich nicht; er war nun vollkommen gefangen in einer fremden Welt aus Holz, Moos, Blättern und reiner Lust. Einer Welt, zu der wir noch keinen Zugang hatten...

Und als veränderte jene Welt ihn nun auch in dieser Gegenwart, so begann er nun selbst langsam, seine Gestalt zu ändern. Seine Kleider rissen auf und dünne braune Verästelungen durchzuckten die Falten auf seinem Gesicht, sein Haar begann zu schrumpfen und auszufallen. Der Körper wechselte seine Form, wurde gekrümmt und wandte sich in fast unmöglichen Biegungen immer näher der Dryade entgegen, bis es schien als würde er mit ihr verschmelzen.

Ein Seufzen, das erste Geräusch seit dieses seltsame Fest begonnen hatte, durchbrach die Stille, als wir sahen, wie sie tatsächlich zusammenwuchsen. Seine Gliedmaßen schienen sich nun ganz in Holz, altes knorriges Holz, verwandelt zu haben und umflossen die momentan Geliebte, bis sie sich an einigen Stellen wortwörtlich zu vereinigen begannen. Ihre Körper gingen ineinander über, wurden zu einem grotesken Gebilde zweier sich umschlingender Leiber. Eine Statue eines verrückten Holzschnitzers hätte vielleicht so aussehen können. Doch noch heute ist diese monströse Seltsamkeit mit nichts zu vergleichen, was ich je in meinem Leben gesehen hatte.

Dieser unglaubliche Prozess setzte sich jedoch noch weiter fort. Schon waren ihre Köpfe zu einem seltsamen Bastard aus Mensch und Geist verschmolzen, schon war sein Körper nahezu in ihr aufgegangen. Das letzte, was von ihm verschwand, waren seine Schultern, die für einen momentan fast zum Lachen reizend aus ihrem Oberkörper ragten; und doch blieb einem dieses Lachen im Halse stecken ob der Ungeheuerlichkeit, deren Zeugen wir gerade geworden waren. Nichts deutete mehr auf die Existenz hin, die in diesen wenigen Sekunden zuvor so unvergleichlich beendet worden war, nichts, außer seinen zerrissenen Kleidern, die nun den Boden und bedeckten und dem Gefühl leiser Zufriedenheit, das sich auf dem Gesicht der Dryade malte - als wäre sie nun vollkommen gesättigt.

Als hätte sie ein Zeichen gegeben, wandten sich nun alle Dryaden Männern in ihrer Nähe zu, forderten sie mit einem Blick und sanften, verführerischen Bewegungen auf, sich ihnen ebenfalls hinzugeben, so wie es zuvor geschehen war. Ohne Zweifel würde jeder einzelne ebenso enden wie der unglücklicher Liebhaber vor ein paar Momenten - jedoch schien es niemanden zu kümmern, was mit seinem Körper geschehen würde, solange sie nur einmal den Kuss einer Dryade genießen dürften.

Niemanden außer mir.

Mit einem Mal packte mich eine Welle von Ekel und Abscheu über diese Art von gestohlenem Leben, mit dem die Baumgeister sich durch ihren geheimnisvollen Tanz zu erfüllen pflegten und ich stolperte zurück - direkt in die Arme eines dieser mir jetzt nur noch grotesk und angsteinflößend erscheinenden Wesen. Ich schrie auf und mein Laut hallte von den hohen Zweigen dieses Baumes wieder, wurde zurück geworfen und in vielfachem Echo verstärkt, bis sich all meine Angst selbst in der Luft zu manifestieren schien.

Ich hatte blutige Rituale gesehen, bei denen man den Opfer bei lebendigem Leib die Haut abzog, hatte Ghoule geschaut, wie sie ihrem Leichschmaus frönten und doch war ich nicht ein einziges Mal so sehr abgestoßen gewesen wie bei diesem Anblick. Nun wusste ich, warum nie mehr als Gerüchte dieses Tanzes an die Außenwelt gedrungen waren - vielleicht durch solche wie mich, die das wahre Grauen in diesem Akt der menschlichen Selbstaufgabe erkannt hatten. Mit Schaudern dachte ich an meinen Onkel. Nun wusste ich, warum er niemals wieder gekehrt war nach jener Nacht.

Den Schrei noch auf den Lippen stolperte ich vorwärts, schlug blind und angsterfüllt um mich, um heraus zu kommen aus diesem Teufelskessel aus Holz und Fleisch. Ich traf auf abgestorbene Zellen, auf lebendes Gewebe und verstärkte nur noch mein Bemühen, endlich den Rand der Ebene zu erreichen, um dem wahnsinnigen Tanz zu entkommen. Niemand versuchte wirklich, mich aufzuhalten - sie waren alle in ihrem gegenseitigen Anblick gefangen.

Während meiner Flucht sah ich Paare in jedem Zustand der Vereinigung. Halb verwachsene Körper, Küssende, Ineinander Geflossene - es war wie auf einem Höllengemälde. In manchen dunklen Nächten schreckt mich dieses Bild noch aus dem Schlaf. Ich weiß nicht mehr, wie ich dieser furchtbaren Orgie entkam, denn ich befand mich erst wieder vollständig in dem Bewusstsein dessen, was ich tat, als ich am Fuße des verfluchten Hügels in den Alten Wald eintauchte und mir meinen Weg aus ihm heraus bahnte.

Zwanzig Jahre sind nun seid dieser Nacht vergangen und seitdem habe ich noch mehr gesehen, was das Gefühl von Abscheu in mir hervorrief. Ich bin jetzt ein Mann von durchaus stattlichem Alter und doch ist mir diese Nacht noch immer in ihrer Einzigartigkeit im Gedächtnis geblieben, denn auch ich war von der Magie einen Augenblick lang nicht unberührt und spürte für eine winzige Sekunde das unbedingte Bedürfnis, mich ganz den Baumgeistern hinzugeben und ihren Körper an meinem zu fühlen. In denen Momenten, in denen jene spezielle Erinnerung mich wieder überkommt, spüre ich fast Abscheu vor mir selbst.

Später, als ich an jenen Ort zurück kehren wollte, waren der Hügel und der Baum verschwunden, der Wald wieder normal und fast jegliche Magie erloschen. Und doch bin ich immer sicher, nicht geträumt zu haben.

Ich spüre den Ruf wieder in meinem Kopf erklingen, stärker als er je war. Ich weiß, dass ich ihm nicht entkommen kann und vielleicht will ein Teil von mir es nicht einmal. Darum werde ich, wenn ich diese Zeilen niedergeschrieben und meine Hand den Stift fortgelegt hat, dem unendlichen Verlangen in mir statt geben und tun, was es mir befiehlt.

Heute Nacht werde ich mich ein letztes Mal in jenen Wald auf den verwunschenen Hügel begeben um unter dem Alten Baum die Dryaden tanzen zu sehen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  CoraChan
2013-04-25T20:35:52+00:00 25.04.2013 22:35
Ein paar kleinere Fehler drin, aber wirklich schön^^
Von: abgemeldet
2008-07-23T18:46:10+00:00 23.07.2008 20:46
Ich bin Schuld? o.O...O.o...O.O
Wow. Dann habe ich der Menschheit hiermit einen Gefallen getan - an Deinen Geschichten kann ich mich ohnehin nicht sattlesen *Q*

Aaalso, hier der versprochene Endlos-Kommentar für heute:

Den Einstieg finde ich gut - durch das Kursive und den 'Sprung' aus der erzählen Geschichte zum Jetzt wird schonmal Spannung aufgebaut. Vielleicht noch eine Leerzeile zwischen kursiv und normal, dann wäre der 'Bruch' klarer - aber das ist nur Formsache und daher für den Verlauf unerheblich. ^^ Und die Bezeichnung "wacher Schlaf" ist toll - sei es Paradoxon, Oxymoron oder was anderes, ich mag das. Klingt schön, als würde man einem Geschichtenerzähler zuhören. ^^

Die Bezeichnung 'Alter Wald' hat bei mir augenblicklich Assoziationen zu Tokliens 'Der kleine Hobbit' hervorgerufen - und damit zu lebendigen Bäumen, mit denen nicht zu scherzen ist. Und zu Gollum, aber das würde zu weit führen XD

>grinsenden Baumhöhlen, greinenden Blattgespenstern...<
Das ist toll gemacht - erst mal der Gegensatz grinsend-greinend, und dann auch noch alliterativ verpackt. Schönes Bild, Karen-chan.
Ich empfehle zur Untermalung Klaviermusik, bei mir läuft gerade Liszt querbeet, und die Gänsehaut wird immer schlimmer. Hat was von einem Film - von Sleepy Hollow, wie Nightstalker schon gesagt hat ^^.

Ai, dieser Erfahrungsbericht lässt meinen Lesezahn tropfen - kann man Dich rein zufällig dazu animieren, die Geschichten, auf die der Erzähler hier anspielt, auch noch zu Papier/Bildschirm zu bringen? Mich würden Dinge wie die Gholgrabungen oder das Gargylenerwachen brennend interessieren... da könnte man sicher eine schöne Reihe daraus machen... *unauffällige Suggestion Ende*


Deine Steigerung der Dichte gefällt mir ausnehmend gut - erst langsame Beschreibungen, die in aller Ruhe in den Walt führen, dann wird es immer schneller, bis der Erzähler rennt, und dann wird es steinig. Und mit den Findlingen bremst Du wieder ab, sodass der Leser hibbelig wird, weißt Du das? Und dann kommt der Wechsel von der reinen Aufnahme der Umgebung hin zur persönlichen Wahrnehmung - wenn der Leser sich biher eher auf das konzentriert hat, was im Unterholz lauern könnte, so lauscht er jetzt. Und das schon mit einer gewissen Unruhe. Wenn dann der Platz beschrieben wird, und die darauf befindlichen Wesen, dann weiß man schon, dass tewas passieren muss. Der leichte Unmut des Erzählers, weil so viele Andere anwesend sind, ist übrigens süß, weil er die Stimmung wieder ein wenig auflockert.

Die Dryade *Q* - dieses Sich-aus-dem-Baum-Lösen war so grandios geschildert, dass man es als Filmvorlage verwenden könnte, eine komplette Szene, als würde die Kamera auf den Baum schwenken und dann die Dryade auftreten. Der man deutlich anmerkt, dass sie etwas Raubtierhaftes an sich hat. Das, was dann folgt, hat etwas leicht Verstörendes, der Gedanke an Menschen, die voll und ganz dem Bann der Dryaden unterliegen. Wenn ich wollte, könnte ich das Bild des Dryadenkusses, der die Männer zu Holz macht für eine Metapher halten - und das ganze auf Aristoteles zurückführen, der für die goldene Mitte zwischen Überschwang und Askese plädiert. Hmja. Ich fange an zu interpretieren ^^°.

Mir fällt auf, dass >Mit einem Mal packte mich eine Welle von Ekel und Abscheu über diese Art von gestohlenem Leben,< einen Abschnitt einleitet, der sich vom vorangegangenen abhebt - ich hatte das Gefühl, dass ich die Stille des Augenblickes ein lauter Schrei eindringt, fast so, als würde sich der Erzähler zum Fremdkörper inmitten der (magisch-) harmonischen Situation machen. Mein Kopfkino zeigt mir derzeit ein fließendes Zoomen auf den Erzähler, bis man mit ihm auf Augenhöhe ist, und seinem Blick folgt, als er sich der Dryade gegenübersieht.

Das Ende war einfach schön. Rund und ein wenig offen und eine Klammer, die das Geschehene mit dem Anfang - also der vorigen Generation - verbindet und den Leser mit dem Bild eines erneuten Tanzes entlässt.

Sprachlich ist Dein Text natürlich erste Sahne - und inhaltlich war er faszinierend. Ich habe immer wieder von Dryaden gelesen, aber Du bist die Erste, die sie aus der Rolle der 'harmlosen' Naturgeister herausschreibt und zu gefährlichen, tödlichen Tänzerinnen macht. Ehrlich gesagt mag ich Deine Dryaden lieber als den Einheitsbaumgeist, der normalerweise und den gängigen Klischees entsprechend herzensgut und menschenfreunlich ist. Deine 'Damen' sind Jägerinnen, Fallenstellerinnen und sich dabei keiner Schuld bewusst, weil sie Teil eines uralten Ganzen sind. Schön, schön, schön, Karen-chan ^^b
Außerdem sehe ich auch eine Entwicklung des Charakters, aus dessen Perspektive Du die Geschichte aufrollst: Zuerst ist es Neugierde, dann Faszination, dann Angst, dann Ekel und zuletzt Sehnsucht. Wie eine sehr subtile Achterbahnfahrt, der Text - mit viel Fingerspitzengefühl und tollen Bildern umgesetzt.
Ich als Film-Fan könnte mir die Umsetzung als nur mit Musik unterlegten Szenen ohne Eigenton vorstellen, dazwischen die Erzählerstimme. Das wäre sicher was ^^~
Von: abgemeldet
2008-07-23T13:47:52+00:00 23.07.2008 15:47
Ahhhh, welch schaurig-schöne Erzählung!!! *gänsehaut hab*
Solche Geschichten sind doch was Feines. ^^ Voller Fantasie und Mystik. Und du kannst es wirklich sehr gut, dem Leser einer derartige Stimmung zu vermitteln. Und damit unterstützt du den Inhalt deiner Geschichten auf sehr erstaunliche Art und Weise.
Zu allererst hatte ich die Wälder vom Harz vor Augen. Dann den Baumk aus Sleepy Hollow. ^^ Alles wirkt so friedlich und schön...aber trotzdem vermittelst du auch schon auf der ersten Seite das Gefühl, als würde hier etwas an diesem Bild ganz und gar nicht stimmen.
Mir ein Rätsel, wie man sowas hinbekommt... o_o
Und spätestens, als die Dryade dann aus dem Baum kam... da war mir klar: Jetzt gehts los!
Toll wie du ihr Erscheinen beschrieben hast. Und noch viel besser deine BEschreinbung der Verschmelzung. Ich bin begeistert!!! Das ohne Hake und Ösen hinzubekommen, und ohne sich dabei albern zu machen, ist wahrlich nicht einfach. Aber DU kannst das. *lach*
Sehr gruslig.
Die Erzählungsweise aus Sicht dieses Mannes ist auch sehr gelungen. Und dadurch auch das unheilvolle Ende. Düster, wie im Grunde die ganze Geschichte.

Respekt! Wiedermal ein toller OneShot. Du Naturtalent!!! *neid* ^^


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