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Meine Wochenaufgabe-Beiträge

24h Schreibwettbewerb
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Wöchentliche Schreibaufgabe vom 21.06.08

Am Tag danach
 

Es war der 2.Juli 1982. Es war der Tag danach.

Die Wolken über dem beinahe spiegelglatten Lake Tahoe hingen wie gigantische Wattebäusche am tiefblauen Himmel; so kitschig, so schön. Die Bäume reckten ihre grünen Zweige hinaus über den See und trotzten der Hitze des Tages. Zufrieden mit sich und der Welt saß Wolfgang Güllich am Ufer des Sees im groben Schotter und ließ dieses idyllische Bild auf sich wirken. Zum ersten Male seit einer Woche spürte er diese unbeschwerte Freiheit. Von seinem Zwang, von seiner Manie, hatte er sich befreit.

Die Route ‚Grand Illusion‘ in der biederen Mittelgebirgslandschaft von Nevada galt damals als die schwierigste Kletterroute der Welt. Nach der Erstbegehung durch den phänomenalen Tony Yaniro bissen sich die folgenden drei Jahre über die besten Kletterer der vereinigten Staaten die Zähne an ihr aus. Schnell waren die ‚Experten‘ bei der auf zwölf Meter Höhe neun Meter überhängenden Route mit dem Adjektiv ‚unmöglich‘ zur Stelle. Wolfgang hatte von dieser Route gehört und wie so viele ambitionierte Sportkletterer von ihr geträumt. Ganz oben war sie auf seiner Liste gestanden, als er den Sommer des Jahres 1982 seine Reise in die USA angetreten war. Und als er dann letztendlich unter dem ehrfurchtgebietenden Rissdach gestanden war, hatte ihn fast der Mut verlassen. Aber nur fast.

Sieben Tage. Eine ganze Woche voller Anstrengung und Erschöpfung, voller hartnäckiger Versuche. Eine Woche des Scheiterns, wenn seine abgetapten Finger wieder mal aus dem schmalen Riss herausgerutscht waren und die Schwerkraft ihn unerbittlich ins Seil gerissen hatte. Bis zum letzten Tag.

Die Welt fühlte sich so anders an. Die Luft war klarer, das Wasser des Sees frischer und das Licht der Sonne heller. Er hatte es geschafft und die Tage der totalen Erschöpfung, nach denen er kaum hatte schlafen können, überwunden. Sein Körper hatte reagiert mit Appetitlosigkeit, Brechreiz und allen anderen Symptomen der Entkräftung, mit denen sich der überforderte Körper wehren konnte. Doch letztendlich hatte er es geschafft und die schwerste Sportkletterroute Nordamerikas und wahrscheinlich der ganzen Welt wiederholt. Nun war er wieder mit sich zufrieden, hatte seine innere Ruhe wiederhergestellt. Ein Scheitern hätte ihn nicht mehr losgelassen, zu wichtig war dies für ihn gewesen. Und das nicht für die Titelseiten der Kletterzeitschriften, nicht für die Sponsorenverträge und auch nicht für die Bewunderung seiner Kollegen und Freunde in der vertikalen Zunft. Nein, nur für sich selbst, für seine Art zu leben und fühlen, dafür hatte er es getan. Dafür hatte er all das auf sich genommen und seinen Körper bis ans Äußerste getrieben. Die ‚Grand Illusion‘ war keine Illusion mehr, der zehnte Grad war Wirklichkeit.

An diesem Tag danach fühlte er sich wieder in seinem Lebensmotto bestätigt. Auch wenn sein Tun auf Außenstehende befremdlich, ja fanatisch wirken musste, all dem lag sein Kredo zugrunde. ‚Klettern heißt frei sein‘. Auch wenn er zeitweilig wie ein Gefangener seiner Projekte, seiner Routen wirkte, die Freiheit nach einem gelungenen Durchstieg war mit nichts zu vergleichen und ließ seine Seele weit über allen Alltagschwierigkeiten schweben. Dafür lebte er. Dadurch war er wirklich lebendig. Dies spürte er in diesem Moment mehr als je zuvor in seinem Leben, an diesem Tag danach.
 

ENDE
 

© by C.S., auch bekannt als Rahir
 

Wochenbeitrag vom 21.06.08



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