Der weiße Nebel setzte sich langsam auf dem Boden ab, die Wolken hüllten den Mond in Dunkelheit und somit auch das am Rande der Stadt liegende Haus. Ein Hauch von Finsternis durchfuhr jeden, der sich in diese Gegend wagte. Aber ihn hielt das nicht von seinem Vorhaben ab. Er lief schnurstracks auf das Gebäude zu, ohne auch nur eine Änderung seiner Gesichtszüge vorzuweisen, bis er es schließlich erreichte und hineinging. Jedem anderen wäre in diesem Moment ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Doch nicht ihm! Er behielt den gleichen Gesichtsausdruck wie zuvor. Ein Gesicht, das Kälte und Entschlossenheit zugleich ausstrahlte.
Er schritt die Treppe hinauf bis in das oberste Geschoss und fand sich dort in einem Raum wieder, in dem er sie endlich sah. Doch wie es auch die anderen Male war, verschwand sie, sobald sich ihre beiden Blicke trafen.
Im selben Moment griff er in seine Jackentasche, holte sein Messer heraus und rannte auf den leeren Platz zu, auf dem sie noch zuvor stand, in der Hoffnung, dieses Mal schneller als sie zu sein. Seine Bewegungen waren so schnell und preziese, dass man sie mit bloßem Auge nicht erkannt hätte. Doch das half ihm nicht. Er konnte sie einfach nicht erreichen. Er war zu spät und sie schon weg.
Sein Blick wanderte im ganzen Raum umher. Seine Ruhe, die er noch am Anfang ausgestrahlt hatte, war nun vollständig weg. Er geriet in Panik. Denn wenn er sie nicht mehr sehen konnte, war er ihr hilflos ausgeliefert. Seine Gedanken überschlugen sich von Sekunde zu Sekunde, doch er kam nicht zu einem klaren Plan, als er plötzlich etwas an seiner Schulter spürte. Etwas, das so weich wie Seide und so kalt wie Eis war, hielt ihn fest. Er war paralysiert und konnte sich nicht mehr bewegen, während eine zarte Stimme an seinem Ohr ihm etwas zuzuflüstern begann. „Wieso tust du das, Schatz?“, fragte sie leicht enttäuscht. Er versuchte sich wieder zu beruhigen und schloss dafür seine Augen. Das Messer in seiner Hand schien sie nicht für besorgniserregend zu halten und achtete nicht auf dieses. Er festigte seinen Griff um das Messer, wodurch es sich zu einem Schwert formte, von dem man nur die Hälfte der Klinge sehen konnte. Die andere Hälfte, die ein Mensch nicht sehen konnte, war aber für die Geister und somit auch für sie, sichtbar. Etwas, womit man in die Geisterwelt eingreifen konnte.
Er öffnete seine Augen und lies ein Lächeln sein Gesicht entlang flitzen. Gleichzeitig spürte er, dass sie ihn losgelassen hatte, um Abstand zu seinem Schwert einzunehmen. Er konnte ihre Angst vor seiner Waffe förmlich spüren. „Zeig dich!“, rief er mit seiner festen Stimme, die keinerlei Spur von Furcht aufzeigte. Im Gegenteil, er war nun wieder fest entschlossen. Er war bereit für einen Kampf.
„Erst wenn du das furchtbare Ding wegnimmst“, flüsterte sie.
„Damit du mich dann in aller Ruhe töten kannst?!“, entgegnete er ihr abfällig.
„Ich will dich nicht töten…“ Ihre Stimme wurde immer leiser und man konnte ihre Enttäuschung, die schon fast zur Verzweiflung wurde, heraushören. „…ich will nur für immer mit dir zusammen sein, Kai, so wie es früher war. Vor meinem Tod…“
„Wann begreifst du es endlich? Ich bin nicht der, für den du mich hältst! Und mein Name ist nicht Kai! Ich bin Seiji, merk dir das endlich!“
Hinter sich hörte er ein leises Rascheln und drehte sich sofort um. Dort sah er erneut das Bild, was sie ihm jedes Mal von neuem zeigte, in der Hoffnung, ihn doch noch überzeugen zu können.
„Nicht schon wieder!“, Seijis Stimmung wurde immer finsterer. Er hatte sich schon lange genug mit ihr herumgeplagt. Nun wollte er endlich Ruhe. „Ich sag es dir zum letzten Mal! Das auf dem Bild bin nicht ich!“, erwähnte er mit Mühe in einer noch gelassenen Haltung.
Das Portrait auf der Wand glich Seiji bis auf die Haare. Es anzusehen war er schon gewohnt und er empfand das nicht mehr so wie beim ersten Mal, als Angst einflößend. Dennoch mochte er es nicht, wenn sie es zum Vorschein brachte, um ihre Theorie damit zu bestätigen. Immer wieder hat sie versucht, ihn davon zu überzeugen, dass er auf diesem Bild abgebildet und deswegen auch ihr Freund ist, den sie vor einigen Jahren durch ihr Ableben verlassen musste und auf dessen Rückkehr sie noch heute in diesem Haus wartet. Für Seiji war das ein reiner Zufall, denn er kannte das Mädchen nicht. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Sein ganzes Leben verbrachte Seiji in einer ganz anderen Stadt und an jemanden wie sie würde er sich sicher erinnern, schließlich hatte er nie einen Unfall oder dergleichen und konnte sich relativ gut sein ganzes Leben ins Gedächtnis rufen. Aus diesem Grund hielt er ihre Behauptung für reinen Schwachsinn.
„Du bist es, du hast es nur vergessen“ Eine Träne floss die Wange des Mädchens herunter. „Du hast mich vergessen, obwohl du mir versprochen hast, genau das nie zu tun!“ Eine leichte Wut kam in ihr hoch, die jedoch von ihrer Trauer unterdrückt wurde. Sie nahm allmählich wieder Gestalt an, sodass Seiji sie erneut sehen konnte. Sie stand direkt vor dem Bild ihres Freundes und hatte einen bedrückten Gesichtsausdruck. Auch achtete sie nicht mehr auf seine Bewegungen und starrte nur noch auf den Boden unter ihren Füßen. Seiji erkannte genau, wie viel Schmerz ihr das ganze bereitete, aber er sah auch seine Chance. Würde er sie töten, würde er auch sie von ihren Qualen befreien. Außerdem war sie schon tot.
Er dachte nicht lange darüber nach und stürmte mit einem erneuten und viel versprechenden Versuch auf sie los, indem er sein Schwert ihr entgegen hielt. Als sie zu ihm aufschaute, war es schon zu spät. Seiji hat das Schwert gezielt so in sie hinein platziert, dass es noch nicht einmal ein Mensch überleben würde, wenn man ihn sofort behandelt hätte.
„Es ist auch für dich das Beste“, flüsterte Seiji ihr freundlich zu. Er war erleichtert darüber, da nun alles vorbei sein würde, da es niemanden mehr geben würde, der versucht ihn in seinen Träumen so zu manipulieren, dass er Angst davor haben muss, diese Nacht nicht überleben zu können.
Sie fiel langsam zu Boden und, ohne auf diesen aufzukommen, sah sie Seiji direkt in die Augen und sprach leise: „Yuki“ Ihr Atem reichte noch für dieses letzte Wort, bevor sie sich endgültig im Nichts auflöste. Es war ihr Name, den Seiji an diesem Tag zum ersten Mal hörte.
Im selben Moment griff sich Seiji an seine Brust und lies sich auf genau die Stelle fallen, auf der sie gerade noch zu sehen war. Dort prallte er auf den Boden und konnte sich noch mit einer Hand abstützte. Er zitterte am ganzen Körper und in seinem Gesicht war pure Verzweiflung zu sehen. In seiner Handfläche hielt er einen Anhänger umschlossen, der an einer silbernen Kette um seinen Hals hing. Seiji schaute ihn sich vorsichtig an und erkannte dort genau das, was er befürchtet hatte, den Buchstaben Y.
Sie hatte Recht und nur durch ihren Namen hat er sich endlich an sie erinnert. „Wieso hast du es mir nicht gleich gesagt?“ Seine verzweifelte Stimme erfüllte den ganzen Raum. Er schlug mit der Faust so fest er konnte auf den Boden. Er war wütend auf sich selbst und spürte genau denselben Schmerz, wie er ihn noch vor einigen Minuten in ihr sehen konnte. Ihm war bewusst, dass er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie ist durch seine Hand gestorben, durch die Hand ihres eigenen Freundes. Das würde er sich nie verzeihen!
Kai schlug seine Augen urplötzlich auf. Etwas hatte ihn aus seinem Traum gerissen, doch er wusste nicht, was es war. An den Traum selbst konnte er sich auch nicht erinnern. Er schaute zum Fenster hinaus, wo noch alles pechschwarz war. Aus einem ihm unbegreiflichen Grund stand er auf, zog sich an und verließ das Haus. Er wusste nicht wo es ihn hinzog, aber er ging einfach weiter, ohne darüber nachzudenken, bis er sich vor einem großen Haus wiederfand.
Die Wolken verdeckten den Mond und die gesamte Gegend war in Dunkelheit gehüllt. Er spürte den Dunst und wie sich der Nebel um das Haus herum niedersetzte, aber er schritt weiter darauf zu. Er war dazu verdammt alles von vorne durchzustehen. Er sollte sich die Auslöschung ihrer Existenz immer wieder von neuem ansehen. Er war gezwungen für immer das durchzustehen, was er als das schlimmste auf der Welt empfand. Doch das war ihm nicht bewusst.