Von Irrungen und Wirrungen
Der Sänger fuhr hoch und riss die Augen auf, während er nach Luft schnappte. Die eiskalten Worte raubten ihm den Atem, doch nun, da er die Augen wieder offen hatte, drängte sich ihm eine viel wichtigere Frage auf: Wo war Miyavi hin?
Suchend blickte Ruki um sich, während er versuchte, seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Allerdings stellte er fest, dass er sich allein im Bad befand. Was war hier nur los? Was spielte Miyavi diesmal für ein Spiel mit ihm?
Ruki stieß einen erschrockenen Laut aus, als er sah, wie die Tür aufging und der Kopf des Gastgebers zu ihm hereinblickte, sich jedoch sofort wieder mit einem ähnlichen erschrockenen Laut zurückzog.
„Was… wie…“ Ruki brachte keinen anständigen Satz zustande. Was machte Miyavi draußen vor der Tür? Und wieso schien er so überrascht zu sein?
„Miyavi?“, rief er etwas unsicher und wartete gespannt auf eine Antwort. Was hatte der Kerl nun schon wieder geplant, um ihn zu quälen? Doch statt eines selbstgefälligen Tons, kam ihm nur eine peinlich berührte Stimme entgegen, die durch die dicke Badezimmertür fast nicht zu vernehmen war. „Tut mir Leid! Ich wusste nicht, dass du schon im Wasser bist!“
Ruki runzelte die Stirn und machte erst einmal die Brausen aus. Hatte er sich etwa verhört? Wieso entschuldigte sich Miyavi plötzlich dafür, dass er ohne anzuklopfen ins Bad kommen wollte, obwohl er vor nicht mal einer Minute noch ganz andere Sachen mit Ruki gemacht hatte als nur zusammen mit ihm in einem Zimmer zu sein? Miyavis Verhalten ergab im Moment doch überhaupt keinen Sinn! Es sei denn…
„Ein Traum“, stellte der Sänger verdutzt fest. Alles, was er in den letzten paar Minuten erlebt und gefühlt hatte, war nicht real gewesen! „Alles nur ein Traum!“
„Was sagst du? Ich kann dich nicht verstehen!“ Miyavi schien immer noch vor der Badezimmertür zu stehen, was Ruki auch dazu zwang, wieder zu Vernunft zu kommen.
„Ähm.. nichts“, gab er zurück und hätte sich am liebsten selber dafür geschlagen, dass das die intelligenteste Antwort war, die ihm einfiel. Einen Moment herschte Stille.
„Okay… und mit dir ist alles in Ordnung? Ich dachte ich hatte gehört, wie du meinen Namen rufst und deshalb hab ich auch nicht damit gerechnet, dass du schon…“
„Ist schon gut!“, unterbrach Ruki den Anderen grinsend. Es war doch unglaublich, wie freundlich der echte Miyavi im Gegensatz zu dem aus seinem Traum war. Trotzdem… bei dem Gedanken, dass er den Namen des Anderen wirklich laut ausgerufen hatte, wurde es ihm etwas mulmig. Was hatte Miyavi sonst so alles mitbekommen?
Und was hatte er sonst noch außer Miyavis Namen gesagt? Der Gedanke daran ließ ihm die Hitze ins Gesicht steigen. Jetzt konnte Ruki nur hoffen, dass der Andere noch nicht lange dort stand.
„Ähm…“, hörte er die unsichere Stimme von draußen. „Ich hab dir was zum Anziehen und ein Handtuch mitgebracht…“
Der Sänger verdrehte die Augen. Er war in die Wanne gestiegen, ohne daran zu denken, dass er eventuell auch irgendwann wieder das Bad verlassen würde! Zumindest nach einem Handtuch hätte er vorher suchen können. „Okay, dann… Legs am besten irgendwo hier rein…“ Zum Glück war die Wanne auf der anderen Seite des Bads, sodass Miyavi eigentlich problemlos reinkommen konnte.
Zögernd wurde die Tür geöffnet. Im selben Moment bemerkte Ruki allerdings, dass der Schaum mittlerweile verschwunden war und auch kein sprudelndes Wasser das verdeckte, was ihm gerade erst auffiel. Der Traum war wohl doch nicht so spurlos an ihm vorbeigegangen!
Voller Panik blickte er zuerst an sich herunter und dann zur Tür hinüber, durch die gerade ein schüchtern lächelnder Miyavi kam. Er erwiderte das Lächeln, was ihm allerdings ziemlich misslang. Hoffentlich bemerkte der Gastgeber nichts! In diesem Moment war Ruki mehr als jemals zuvor dankbar dafür, dass das Zimmer so groß war und dass er, dank der Einrichtung, mit dem Rücken zur Tür saß. Trotzdem versuchte er so schnell wie möglich wieder die Drüsen in Gang zu setzen, um das Wasser in Bewegung zu bringen, was aber irgendwie schwieriger war als bei ersten Mal.
„Kriegst du das hin?“, hörte er Miyavi irgendwo hinter sich. „Klar!“, rief der Angesprochene nur schnell. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war, dass der Solokünstler herüberkam und ihm dabei half.
„Bist du sicher? Ich kann auch…“
Ruki hörte schon die Schritte seines Gastgebers langsam auf sich zukommen und geriet noch mehr in Panik. „Weißt du was“, rief er seinem Gastgeber zu, traute sich im selben Moment allerdings nicht sich zu ihm umzudrehen. „Ich glaub, ich hab jetzt genug vom Whirlpool. Ich dusch noch ganz schnell und dann komm ich mal wieder raus.“
„Wenn du meinst.“ Die Skepsis in Miyavis Stimme war nicht zu überhören und Ruki zwang sich nun endlich auch dazu den Anderen anzuschauen.
„Klar, ich hab dein Bad jetzt schon lange genug in Anspruch genommen. Leg die Sachen einfach irgendwo hin.“ Bei den Worten versuchte der Rothaarige so normal wie möglich zu wirken, was ihm anscheinend misslang. Der Gastgeber schien immer noch skeptisch zu sein, doch fragte Gott sei Dank auch nicht weiter. Er nickte Ruki nur noch einmal zu und legte die Sachen, die er mitgebracht hatte, neben sich auf den Boden.
„Ich warte dann draußen“, meinte Miyavi noch etwas unsicher und verließ mit diesen Worten auch das Zimmer. Ruki atmete einmal tief durch und legte seinen Kopf auf den Beckenrand. Ihm war wirklich zum Weinen zumute.
Einen Moment verharrte er noch in dieser Position, ehe er sich zusammenriss und aufstand. Nachdem er noch einmal an sich heruntergeguckt hatte, schlug er mit einem „Oh Gott“ seine Hand gegen die Stirn. Das war jetzt wirklich peinlich! Wenn Miyavi das gesehen hätte… nein, darüber wollte er nicht noch einmal nachdenken. Schweren Herzens verließ er das warme Wasser und stieg er aus der Wanne, um zur Dusche in der Ecke des Bades hinüberzulaufen. Allerdings zögerte er, den Hahn aufzudrehen. Eigentlich war er ja in den Whirlpool gestiegen, um sich aufzuwärmen, aber jetzt war eine warme Dusche wohl nicht sehr sinnvoll.
Ruki hob mit zusammengebissenen Zähnen die Hand und legte sie auf den Wasserhahn für das kalte Wasser. Was sein musste, musste sein! Er kniff die Augen zusammen und drehte ihn voll auf. Fast hätte er einen Schreckensschrei losgelassen, als das eiskalte Wasser seine Haut berührte, doch er wies sich selbst zurecht und blieb unter dem Strahl stehen, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte. Das bisschen kalte Wasser würde er auch noch aushalten!
Allerdings wurde aus dem „schnellen Duschen“ ein doch recht ausgiebiges Duschen, da sein Körper nicht ganz so wollte, wie er selbst. Zehn Minuten später stieg er fröstelnd aus der Duschkabine und hob das Handtuch vom Boden auf, um sich damit abzutrocknen.
Obwohl es im Bad immer noch recht warm war, zitterte Ruki am ganzen Leib. Nachdem er sich gründlich abgetrocknet hatte, hob er die Kleidungsstücke auf, die Miyavi ihm dagelassen hatte. Allerdings musste er auch sogleich feststellen, dass die Kleidung ihm wohl nicht die Wärme spenden würde, die er erhofft hatte. In seinen Händen befanden sich nämlich nur ein paar Boxershorts und ein T-Shirt. Ruki verdrehte die Augen. Wie sollten diese Sachen ihn denn warm halten? Sobald er Miyavi finden würde, würde er ihn umbringen!
Immer noch innerlich grummelnd zog der Rothaarige beide Stücke an und ging dann zum großen Spiegel, welcher sich direkt neben der Dusche befand. Skeptisch betrachtete er sich und sein viel zu großes Outfit.
So konnte er Miyavi doch nicht vor die Augen treten. Er sah aus wie ein Kleinkind! Auch die babyblauen Shorts sorgten nicht gerade dafür, dass dieser Eindruck gelindert wurde. Das T-Shirt war zwar im Gegenteil dazu in einfachem Schwarz, doch durch die enorme Größe wirkte Ruki noch kleiner als er eh schon war.
Die Tatsache, dass er jetzt nicht mehr geschminkt war und dass seine Haare wirr in alle Richtungen abstanden, tat das übrige. Der Sänger seufzte wieder gequälte, während er sich so betrachtete. Stylen konnte er sich jetzt zwar nicht, aber wenigstens seine Haare konnte er ein wenig in Ordnung bringen. Schnell war auch schon eine Bürste gefunden und Ruki machte sich an die mühsame Arbeit, während er gelangweilt den Blick durchs Bad schweifen ließ. Ungewollt blieb er am Whirlpool hängen und die Bilder des Traumes schossen ihm mit schmerzhafter Genauigkeit wieder in den Kopf. Es war zwar nicht sein erster perverser Traum gewesen – noch nicht mal der erste mit Miyavi! - doch dieser unterschied sich stark von den Vorstellungen, die er sonst immer hatte.
Sonst träumte er nicht so schlecht. Obwohl… als „schlecht“ konnte man diesen Traum ja eigentlich auch nicht bezeichnen. Aber in seinen vorherigen Träumen war Miyavi nie so rücksichtslos gewesen… so kalt. Was brachte Rukis Fantasie dazu, sich solche Sachen auszudenken?
Seufzend wandte er sich wieder vom Whirlpool ab und blickte erneut in den Spiegel. Mittlerweile waren seine Haare gebändigt, allerdings sah er dafür jetzt aus wie ein begossener Pudel. So wollte er dem Anderen eigentlich auch nicht unter die Augen treten, aber was blieb ihm für eine andere Wahl? Er konnte nicht im Bad herumstehen und warten bis seine Haare trocken waren, damit er sich richtig stylen konnte. Die Utensilien dafür befanden sich mit Sicherheit in einem der Schränke über dem Waschbecken und Miyavi würde – hoffentlich – auch nicht wütend werden, wenn er als Gast diese Dinge benutzte. Aber wenn Ruki einmal mit Stylen anfing, dann würde er heute sicher nicht mehr fertig werden. Also beschloss er, seine Haare einfach irgendwie notdürftig herzurichten und sich anschließend auf die Suche nach Miyavi zu machen.
Der Sänger öffnete die Tür, woraufhin ihm gleich ein kalter Luftzug entgegenkam. Aus Reflex schloss er die Tür wieder. Vielleicht sollte er doch noch ein bisschen hier bleiben. Unschlüssig sah er sich im Raum um. Dabei fiel ihm seine eigene Kleidung auf, die einfach am Wannenrand liegendgeblieben war. Schnell ging Ruki hinüber und legte sie über den Rand des Waschbeckens, damit sie wenigstens bis morgen trocknen konnten. In Boxershorts und einem viel zu großen T-Shirt würde er sicher nicht nach Hause laufen! Dann nahm er all seinen Mut zusammen und öffnete erneut die Tür, die in die Kälte führte.
Mit vor der Brust verschränkten Armen stürmte Ruki zielstrebig den langen Gang entlang, nur um gleich wieder umzudrehen und in die andere Richtung zu laufen. Wo musste er denn hin? Miyavi hatte zwar gemeint, dass er auf ihn wartete, aber wo? Sie hatte keinen „Treffpunkt“ vereinbart und der Gastgeber war auch nirgendswo zu sehen.
Der Rothaarige stapfte noch um die nächste Ecke, um dann frustriert stehen zu bleiben. Wo war er nur? Eigentlich hatte Ruki ja einen ziemlich guten Orientierungssinn, doch Miyavi hatte ihn vorher durch soviele Gänge geschleift, dass er sich nicht mal sicher war, in welchem Stock er sich befand! Vielleicht war es einfach am klügsten zurück ins Badezimmer zu gehen und dort auf Miyavi zu warten. Außerdem war es dort wenigstens warm!
Allerdings war der Sänger erst einige Schritte zurückgelaufen, als er bemerkte, dass er gar nicht aus dieser Richtung gekommen war. Verständnislos blickte er sich um. Wo war nur das Bad hinverschwunden? Ruki zog es so langsam wirklich in Betracht, sich einfach in eine Ecke zu setzen und zu weinen. Allerdings sah er schon so kindlich genug aus und da musste er den Eindruck nicht auch noch dadurch verstärken, dass er sich weinend auf den Boden setzte. Also machte er sich auf die Suche nach einem Fenster. Sobald er wusste in welchem Stock er war, könnte er sich sicher bis zum Wohnzimmer durchkämpfen und dann dort auf Miyavi warten.
Allerdings gestaltete sich auch dieser Plan als schwieriger als gedacht. Der riesige Korridor in dem er sich im Moment befand, besaß nämlich gar keine Fenster, sondern nur Türen! In der Hoffnung vielleicht in einem der Zimmer ein Fenster zu finden, öffnete Ruki vorsichtig die schwere Holztür zu dem nächstbesten Raum.
Der Raum war stockdunkel. Ruki tastete nach einem Lichtschalter, konnte allerdings keinen finden. Verwirrt schloss er die Tür wieder. War er hier etwa in einer Besenkammer gelandet? Vielleicht war es aber auch besser, nicht zu wissen, was Miyavi in einem stockdunklen Raum ohne Lichtschalter versteckte.
Nachdem er abgeschätzt hatte, in welche Richtung er die größeren Chancen auf eine Treppe hatte, wandte sich der Sänger nach links und ging den Gang entlang, bis er um eine Ecke bog und dort, zu seiner Verwunderung, wirklich eine Treppe vorfand. Erleichtert stieg er diese nach unten, war nun aber genauso ratlos wie zuvor. Er stand erneut in einem langen Gang.
Na gut, dann würde er jetzt Plan B anwenden.
„Miyavi!!!!“, schrie der Kleine so laut er konnte, wobei er sich selbst – zu seinem Leidwesen – an ein kleines Kind erinnerte, das sich verlaufen hatte und nach seinen Eltern rief. Allerdings regte sich nichts, weshalb er den Gang wieder entlangging und wahllos eine Tür zu seiner Rechten auswählte, um sie zu öffnen. Verwundert blickte er in den Raum. Das Licht brannte und Kleidung lag wild auf dem Boden verteilt. So wie es aussah, war das hier eins von Miyavis Schlafzimmern. Hier könnte er sich doch eigentlich vernünftige Kleidung mitnehmen, oder?
Ruki stand hin- und hergerissen im Türrahmen. Aber konnte er sich wirklich einfach so etwas nehmen, was ihm nicht gehörte? Der Andere musste sich schon etwas dabei gedacht haben, als er ihm die Sachen gegeben hatte – was, wollte allerdings nicht in seinen Kopf gehen. Seufzend schloss er die Tür wieder, da sich auch hier kein Fenster befand, und drehte sich um. Aus welcher Richtung war er denn jetzt eigentlich gekommen? Schulterzuckend ging er nach rechts den Gang entlang.
Leider stellte sich auch dieser Weg schnell als Sackgasse heraus. „Myv, verdammt!“, rief er frustriert und erhielt auch dieses Mal keine Antwort. Also stapfte Ruki in die andere Richtung. So konnte er wenigstens seiner Wut irgendwie Luft machen und wenn er Glück hatte, hörte sein ach so tolles Gastgeber ihn sogar durch die Gegend poltern und kam dann zu seiner Rettung. Und dann würde es erst einmal richtig Ärger geben! Während der Sänger immer noch fluchend herumlief, fiel sein Blick plötzlich auf eine geöffnete Tür nicht weit von ihm entfernt. Verdutzt schaute sich Ruki um. War die Tür vorher etwa auch schon offen gewesen oder war das mal wieder ein ganz neuer Gang und eine fremde Tür? Der Vocal zuckte nur mit den Schultern und bewegte sich gespannt auf die Tür zu. Egal, was davon der Fall war, vielleicht war ja Miyavi in dem Zimmer.
Gespannt schaute Ruki in den dunklen Raum. „Myv, bist du hier?“ Keine Antwort. Unschlüssig machte er einige Schritte in das Innere des Zimmers, um sich etwas genauer umzuschauen.
