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Swan

von

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Das neue Mädchen

Ich habe mir einen Tee geholt. Ich trinke nicht oft Tee, nur wenn ich mich beruhigen muss. Vor Prüfungen, vor Dates (die ich mittlerweile tatsächlich habe, aber auch nicht gerade en masse). Und bevor ich solche Nachrichten wie diese lese. Wobei ich mich an keine auch nur ansatzweise mit dieser vergleichbare Situation erinnern kann.
 

Ich klammere mich geradezu an der warmen Tasse fest, wärme meine Hände und mein Gesicht daran und inhaliere den beruhigenden, matten Teeduft. Dann nippe ich daran. Das heiße Getränk brennt auf meiner Zunge, und ich klappe die Augen wieder auf. Ich stehe jetzt vor dem Spiegel. Die Tasse dampft, ich habe mir den warmen Rollkragenpulli bis zum Kinn gezogen. Nur für einen Moment stelle ich die Tasse ab.
 

All die nostalgischen ... Moment, kann man es überhaupt so nennen? Verbindet man mit Nostalgie nicht etwas Positives, eine wehmütige Erinnerung an bessere Zeiten? Dann ist das bei mir eindeutig das falsche Wort. Die guten Zeiten sind jetzt, heute, und möglicherweise kann es noch besser werden, weil ich es nie wieder so weit kommen lassen werde wie damals.
 

Also all die Gedanken an früher haben mich ziemlich in diese Zeit zurückversetzt. Ich fühle mich wieder wie dieses kleine, unsichere Mädchen, das so unscheinbar ist wie ein grauer Fleck zwischen bunten Regenbogenfarben, das sich nicht traut, den Mund aufzumachen, das lieber ignoriert wird als von den anderen noch mehr gedemütigt zu werden, wie es sich selbst demütigt. Und so kann ich diese Nachricht auf keinen Fall lesen. Ich muss mich wieder in das Hier und Jetzt zurückversetzen, wieder die einigermaßen selbstbewusste junge Frau sein, zu der ich mittlerweile geworden bin. Ich starre mich im Spiegel an, und ich habe keine Ähnlichkeit mehr mit dem kleinen Mädchen. Das gesunde, rotbraune Haar fällt in weichen Wellen bis zu den Schultern, die blauen Augen werden nicht mehr von irgendwelchen Brillengläsern verdeckt. Die paar Sommersprossen auf der Nase sind nicht hässlich, sondern vielleicht sogar ein bisschen süß. Die Zähne sind gerade, wie sollten sie das auch nicht sein, nachdem ich jahrelang diese blöde Zahnspange getragen habe. (Wieso eigentlich? Damals war mir mein Aussehen egal oder nicht bewusst. Und wenn meinen Eltern meine schiefen Zähne aufgefallen sind, wieso konnten sie nicht auf den Rest achten und mir raten, etwas zu ändern?) Ich habe schon immer so ausgesehen, aber es ist, als hätte ich irgendwann eine graue Folie von mir abgezogen und wäre dann endlich selbst zum Vorschein gekommen.
 

Was sich inzwischen auf psychischer Basis geändert hat, an meiner Einstellung, meinem Charakter, kann man im Spiegel natürlich nicht sehen. Aber ich weiß es, und die äußerliche Veränderung erinnert mich noch zusätzlich daran, und das genügt. Ich atme tief durch, setze mich an den Schreibtisch vor den Computer.
 

Noch ein Schluck Tee, noch ein tiefer Atemzug. Reiß dich zusammen. Der unsichere, ängstliche Teil von mir, der wohl oder übel noch immer in mir schlummert und den ich zu allem Überfluss eben vorher aufgeweckt habe, hofft auf irgend etwas Absurdes, dass mein Computer abstürzt, oder dass ich aufwache und nur geträumt habe. Aber wie schlimm kann es sein? Nathan war niemals gemein. Er wird es auch jetzt, nach den ganzen Jahren, nicht geworden sein.
 

Klick.
 

*
 

Hey Olivia!
 

Ich habe gerade eben dein Profil hier entdeckt und nicht die geringste Ahnung, ob du dich noch an mich erinnerst. Wir waren einmal zusammen in einer Klasse, weißt du noch? Ich kannte dich leider nicht so gut, weil du nie was gesagt hattest, zu mir wenigstens nicht. Ich war der, der manchmal in der Öffentlichkeit geheult hat. (Ich würde ja etwas hinzufügen wie „blöd, was?“, aber ich fürchte, ich mach das immer noch ab und zu.) Ich glaube, ich plappere zu viel, entweder weißt du es eben noch oder nicht.
 

Hmm, falls du dich wunderst... ich bin über irgendwelche Umwege und Zufälle über deinen Namen gestolpert, du kennst das ja bestimmt, und mir ist eingefallen, dass ich dich ja mal kannte. Ich dachte aber im ersten Moment ganz ehrlich, dass das jemand anderer mit dem selben Namen ist, auch wenn ‚Olivia Candace’ vielleicht nicht gerade der häufigste Name ist... aber ich hab mal dein Fotoalbum angesehen und bemerkt, dass du es tatsächlich sein musst, außer natürlich, du bist irgend eine gleichaltrige Cousine von dir, die den selben Namen trägt und die selben Augen, die selbe Nase und die selben Sommersprossen hat... Ich meine es nicht aufdringlich oder anmaßend, aber du siehst irgendwie um einiges glücklicher und selbstbewusster aus als früher, das steht dir.
 

Wie ich gerade bemerke, habe ich wahrscheinlich noch nie so viele Worte auf einmal mit dir gewechselt, obwohl, ich hätte viel mehr zu dir gesagt, wenn du dich nicht immer so schnell zurückgezogen hättest – das soll jetzt kein Vorwurf sein oder so – und hoffentlich lag es nicht daran, dass du mich nicht mochtest oder so etwas, denn dann nehme ich an, du würdest diese Nachricht jetzt gleich löschen und dann hätte ich sie umsonst getippt. Ich weiß gar nicht, worüber ich mich mit dir nun unterhalten könnte, ich wusste ja nie so viel von dir, und wahrscheinlich hast du dich in der Zeit auch noch ziemlich verändert, vier Jahre sind ja auch eine halbe Ewigkeit... ich könnte zwar versuchen, mir anhand de Gruppen, in denen du Mitglied bist, ein ungefähres Bild zu machen, aber ich weiß nicht, ob du zu denen gehörst, die immer lange erwägen, ob sie sich in den Gruppen anmelden, oder sich gleich zu denen gesellen, bei denen ihnen bloß der Name gefällt...
 

So, jetzt habe ich eine ganze Menge Blödsinn geschrieben, und ich hoffe, ich habe dir nicht allzu viel von deiner Freizeit gestohlen... auf jeden Fall würde ich mich natürlich sehr freuen, mal wieder von dir zu hören. Ich bin sehr gespannt, ob du mittlerweile gesprächiger geworden bist :)
 

Liebe Grüße,
 

Nat
 

*
 

Ich lese die Nachricht, und ich lese sie gleich noch einmal. Einzelne Absätze lese doppelt und bleibe sogar an Worten hängen. Ich sauge diesen Text am Bildschirm so gierig auf, als wären sie eine Art Süßigkeit oder gar Droge. Ich bin überwältigt, erstaunt und vor allem positiv überrascht.
 

Vor allem anderen kann ich ganz einfach nicht glauben, dass er sich an mich erinnern kann. Ich versuche, irgendeine Erklärung zu finden, irgend eine Information, der er entnommen haben kann, dass wir einmal auf der selben Schule waren, aber ich finde es nicht heraus. Es ist ganz überwältigend, er muss es wirklich noch wissen. Meinen vollen Namen, und er hat mein Gesicht erkannt. Mein Gesicht! Trotz all der Veränderungen – so genau kennt er es, dass es ihm versichert hat, dass ich es sein muss, auch wenn ich ein paar... Veränderungen vorgenommen habe. (Oh du meine Güte – das klingt ja, als wäre ich Michael Jackson. So drastisch ist es dann vielleicht doch wieder nicht.)
 

Und er glaubt auch noch, ich könnte ihn vergessen haben. Bei manchen Leuten könnte man ja glauben, dass sie so etwas nur sagen, um andere genau das denken zu lassen – „Oh nein, den könnte ich nie vergessen!“ Eine Masche, um noch mehr auf sich aufmerksam zu machen. Aber Nathan ist nicht so jemand, das weiß ich. Nicht wegen getrübter Wahrnehmung, da er schließlich jemand ist, in den ich einmal schwer verliebt war, sondern weil ich ihn lange und oft genug beobachtet habe, um das mit Sicherheit sagen zu können.
 

Auch sein Schreibstil verwundert mich ein wenig... er klingt anders als früher, was vielleicht auch daran liegt, dass man sich in geschriebener Sprache eben anders ausdrückt. Aber vielleicht hat ja auch er sich geändert. Was gleich geblieben ist, ist die Höflichkeit und der Respekt, der unterschwellige, leicht ironische Humor, der mitschwingt. Aber was neu ist, ist die Selbstironie. Es wirkt wie vertauschte Rollen, als hätte ich ihm geschrieben. Aus Ehrfurcht vor ihm, die ich mit Sicherheit noch immer besitze, hätte ich mich nicht getraut, einen nur ansatzweise anmaßenden Satz zu schreiben. Aber er – Nathan kann es sich noch leisten, oder etwa nicht?
 

Und aus irgend einem Grund bringt mich diese seine Art zu schreiben wieder auf den Boden zurück. Nicht in dem Sinne, dass ich ihn nicht mehr toll finde oder Ähnliches – hey, ich weiß es besser – sondern in dem, dass auch er nur ein Mensch ist, dass ich mich nicht vor ihm fürchten muss, auch wenn ich damals einen ganz anderen gesellschaftlichen Stand hatte als er. Ich fasse mir ein Herz und beschließe, gleich zurückzuschreiben. Schließlich wollte er das ja auch, er hat es geschrieben. (Und er hätte mir doch gar nicht erst eine Nachricht geschickt, wenn das nicht das Ziel wäre.) Nat. Diesem Spitznamen habe ich noch nicht gehört. Aber er gefällt mir und besonders, dass er eine Nachricht an mich so unterschreibt. Es ist kumpelhaft und ungezwungen.
 

Ich werde in diese Nachricht Selbstbewusstsein und Unbeschwertheit stecken, damit zeigen, dass ich mich verändert habe. Eigentlich nicht, weil ich ihn beeindrucken will, sondern weil ich das Gefühl habe, dass ihn das freuen würde. Früher hätte ich niemals gewagt, so zu denken – viel zu hoffnungsvoll, das wird meistens nur enttäuscht. Aber jetzt bin ich die neue Olivia – ebenfalls mit einem ungezwungenen Spitznamen übrigens, ich werde inzwischen meistens Liv genannt – und traue Nathan Grean, der sich in Nat verwandelt hat, durchaus zu, dass er sich auf diese Weise für Mitmenschen freuen kann.
 

Ich sehe mir noch einmal kurz sein Profil an, finde aber nicht viel. Offensichtlich ist er erst seit zwei Tagen registriert. Das wundert mich nicht. Ich gebe seinen Namen regelmäßig ein, um danach zu suchen. Ich sage doch – ich kann ihn nicht wirklich vergessen. Noch hat er sein Profil nicht ausgefüllt, ist nur bei ein paar Gruppen angemeldet, die nichts aussagen, da sie nur mit seinem Namen und seinem Geburtsdatum zu tun haben, noch nicht einmal ein Foto. Das ist schade... ich hätte gern wieder einmal ein Bild von ihm gesehen. Aber der Mangel an den restlichen Informationen gibt wenigstens ein wenig Gesprächsstoff.
 

Ich klicke auf „antworten“, fange an zu tippen, und es geht erstaunlich leicht. So leicht, dass ich ein melancholisches Gefühl bekomme. Warum habe ich nie zugelassen, dass er ein Gespräch mit mir führt? Wieso habe ich immer dümmlich geschwiegen? Mit Nathan kann man sich unterhalten, das weiß ich, und man konnte es auch früher. Nur habe ich mich nicht getraut.
 

*
 

Hallo Nat,
 

Ich freu mich sehr, von dir zu hören. Ich hätte eher geglaubt, dass du dich nicht mehr an mich erinnerst, du weißt ja sicher noch, dass ich damals nicht gerade auffällig war. An dich kann mich noch genau erinnern, und nicht nur, weil du geweint hast (das fand ich übrigens immer gut!). Aber du warst ein etwas anderes Kaliber, das musst du zugeben.
 

Was machst du denn eigentlich inzwischen? Studierst du, und was? (Ich nehme es mal an, da du beim StudiVZ angemeldet bist... aber vielleicht gehörst du ja zu denen, die schummeln!) Hast du denn noch zu irgendwelchen Leuten aus dem Gymnasium Kontakt?
 

Ich selbst habe mit Philosophie und Psychologie angefangen, ich bin jetzt im ersten Semester. Besonders Zweiteres klingt vielleicht komisch, das weltfremde Mädel, das nie den Mund aufbrachte, als Psychologin – aber ich bin zum Glück nicht mehr so schlimm (dran) wie damals, wie du richtig erkannt hast, und ich war schon immer eine kleine Beobachterin, das könnte mir durchaus liegen. Aber es ist wahr, das wirst du nicht beurteilen können, weil ich früher nie geredet hab. Um mich nachträglich zu entschuldigen: es lag nicht daran, dass ich dich irgendwie nicht mochte oder so etwas, das hab ich früher immer gemacht. Ich habe keine autistischen Veranlagungen, ich war einfach nur ziemlich, ziiiemlich schüchtern.
 

Schade, dass dein Profil noch so leer ist! Ich hoffe, du füllst da noch ein bisschen was aus – aber du kannst mir ja genauso gut in einer Nachricht erzählen, was du inzwischen so gemacht hast. Ich freu mich auf jeden Fall auf deine Antwort, und danke, dass du dich mal gemeldet hast!
 

Liebe Grüße,
 

Olivia
 

*
 

Ich lese alles noch einmal durch, überlege. Erst will ich die Anrede doch in „Nathan“ zurückändern, überlege mir dann aber, dass er diesen Spitznamen schließlich selbst angeboten hat. Ich kann ihn also getrost verwenden. Aber die Klammer, das auf das Weinen bezogene „(das fand ich übrigens immer gut!)“, das lösche ich wieder. So mutig bin ich noch immer nicht, und ich weiß nicht recht, ob ich es denn je sein werde.
 

Dann sehe ich meine Unterschrift an, und beschließe, dass wenn Nathan sich Nat nennt, ich mich genauso gut Liv nennen kann. Und ändere es. Die neue Liv, neues Selbstbewusstsein, das erste mal, dass ich – und das auch noch ausführlich – auf Nathans Worte antworte.
 

*
 

Diese neue Liv entstand langsam, als Olivia vierzehn war. In dem letzten Jahr, in dem ich an diesem Gymnasium war. Ich weiß nicht, wieso ich gerade da plötzlich das Gefühl hatte, etwas ändern zu müssen, warum ich es nicht schon lange zuvor gehabt habe oder erst, als ich in der neuen Umgebung war, wo ich – als die „Neue“ – vielleicht sowieso wieder beachtet worden wäre. Ich habe damals, als ich meine Drehung um hundertachtzig Grad begann, noch keine neuen Leute kennen gelernt, das kam erst, als ich dann nach dem Umzug auf der neuen Schule war.
 

Ich wusste natürlich vorher, dass wir umziehen würden, und möglicherweise war das ja das Ausschlaggebende. Ich wusste irgendwo tief drin, dass ich nicht den anderen die Schuld dafür geben konnte, dass ich mich nicht traute, auch nur einmal etwas zu sagen. Ich musste mich ändern, aus mir herausgehen, und ich war im Begriff, eine richtige Chance zu bekommen, um aus diesem ewigen Teufelskreis des ignoriert werden und sich ignorieren lassen herauszukommen. Nur die Basis dafür musste ich schon vorher schaffen.
 

Ich hatte auf einmal die ersten selbstbewussten Gedanken. Plötzlich waren da ganz große Ideen, Vorsätze. Teilweise waren sie viel zu groß für die damalige Olivia, sie konnte sie noch nicht umsetzen. Als erstes wusste ich, dass ich lernen musste, mit den anderen zu reden. Dann wusste ich, dass es da noch einen Aspekt geben musste, was mit mir nicht stimmte, denn sonst wäre es nie so weit gekommen, dass ich erst unsichtbar wurde. Und letztendlich steckte ich mir das Ziel, mit Nathan zu reden. Ich wollte ihn ansprechen, ihm ein Liebesbriefchen schreiben oder irgend so etwas. Ich weiß gar nicht mehr, was davon wirklich Pläne und was nur als Hirngespinste und Träumerein zu bezeichnen war.
 

Meine Charakterveränderung begann ich sofort durchzusetzen, im letzten Monat vor den Sommerferien, nur dass sie nicht so drastisch herüberkam: mittlerweile versuchte so gut wie niemand mehr, mich anzusprechen, da ohnehin schon jeder wusste, dass ich wahrscheinlich nicht antworten würde. Aber falls doch jemand etwas zu mir sagte, riss ich mich ernsthaft zusammen und gab eine Antwort. Anfangs sehr leise und zögerlich, aber deutlich genug, um verstanden zu werden. Dies steigerte ich in den letzten Wochen so weit, dass ich mit fester Stimme sprach, bereits auch lauter wurde, so dass meine Äußerungen, die ich als Antworten auf Lehrerfragen gab, auch in der letzten Reihe in der Klasse gehört wurden. Ich traute mich sogar ab und zu, selbst aufzuzeigen. Einige schienen schon zu staunen, dass ich mich plötzlich doch meldete. Es fiel mir nicht einmal so schwer, da ich immer das Mantra im Hinterkopf behalten konnte, dass ich, falls ich doch irgendeinen Blödsinn sagte oder mich verplapperte, all diese Leute bald höchstwahrscheinlich nicht mehr wiedersehen würden. Wir standen kurz vor einem Umzug in eine andere Stadt, und ich hatte einem Schulwechsel – auch wenn es nicht übermäßig problematisch gewesen wäre, auf der selben Schule zu bleiben, und nur mit einer längeren Busfahrt verbunden gewesen wäre – sofort zugestimmt. Ich witterte es sofort als eine Chance, neu anzufangen, und diese Chance ergriff ich auch; einer meiner Schritte und Handlungen, auf die ich am stolzesten bin. Ich konnte tatsächlich mein Leben verändern, und ich machte es. Ich zog mich aus der Misere.
 

Natürlich fiel mir auf, dass niemand zu mir sagte „Wer bist du und was hast du mit Olivia gemacht?“ Ich hatte nicht gerade erwartet, dass sich gleich meine ganze Welt ändern würde, aber über eine kleine Veränderung, die über leicht erstaunte Gesichter hinausging, hätte ich mich schon gefreut. Ich überlegte mir, dass das alles nicht nur daran liegen konnte, dass ich so schüchtern war.
 

Dass der fehlende Aspekt vielleicht sein konnte, dass ich mich äußerlich so wenig anpasste, fiel mir erst nach meinem letzten Schultag an dem Gymnasium ein, ansonsten hätten die anderen sich über die folgende Veränderung mit Sicherheit tatsächlich gewundert. Im ersten Moment gefiel mir der Gedanke nicht, er schockierte mich fast: man sollte doch nicht oberflächlich sein und so weiter. Aber wenn man darüber nachdachte, war das Problem nicht, dass ich nicht hübsch genug war, sondern weil ich mich unsichtbar machte. Unvorteilhafte Brille, langweiliger Haarschnitt, trostlose Kleidung. Das höchste der Gefühle war vielleicht noch, dass ich etwas „Freakiges“ an mir hatte, aber nichts Hübsches oder Schönes.
 

Ich glaubte, gar nicht zu wissen, wo ich mit der Verbesserung überhaupt anfangen sollte. Ich wusste doch nicht, wie man sich hübsch machte, das hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie versucht. Aber dann nahm ich mir das viele Geld, das ich mir im Laufe der Jahre zusammengespart hatte – ich hatte mich nie sehr für teure Dinge interessiert und Schminke und Kleider kaufte ich ja ohnehin nicht, das Einzige, wofür ich ab und zu etwas ausgab, waren Bücher – und ging shoppen. Wohl zum ersten Mal in meinem Leben, so unglaublich es klingen mag. Es war gar nicht so schwierig. Was gerade in war, wusste ich eigentlich von meinen Mitschülerinnen, denn ich beobachtete sie ja schließlich und wusste genau, was momentan häufig getragen wurde; wie ich es kombinieren konnte, zeigten mir die Ankleidepuppen, die in den Geschäften posierten, und was mir stand, erklärten mir freundliche Verkäuferinnen. Das Kombinieren war gar nicht schwer. Ich hatte einen guten Sinn für Farben, wie ich feststellte, konnte auch verschiedene Stile auseinanderhalten. Ich merkte, was elegant und was dagegen eher lässig war.
 

Das erste mit etwas Hilfe selbst zusammengestellte Outfit war immer noch ein wenig langweilig, aber für meine damaligen Verhältnisse fast ausgeflippt. Ich war mir nie richtig meines Körpers bewusst gewesen. Als ich in einen roten, anliegenden Rollkragenpulli schlüpfte und dazu dunkelgraue Jeans anzog, kam ich mir plötzlich so bunt, so fröhlich vor, und ich war erstaunt darüber, wie schlank ich eigentlich war, wie viel Oberweite ich hatte. Ich war nie vor dem Spiegel gestanden, denn ich hatte nie überprüft, ob ich in meinen Sweatshirts und Jogginghosen gut aussah, und ich hatte nie anliegende Kleidung getragen. Die freundliche Verkäuferin drehte mir auch noch eine lange Kette mit verschiedenförmigen, schwarzen Perlen an. Als ich mich damit im Spiegel sah, gefiel ich mir wirklich gut, die Brille und die Haare machten gar nicht mehr so viel aus. Aber die Kette war zu viel des Guten, wenigstens für den Anfang. Sie lag ein gutes Jahr nur in irgend einer Schublade.
 

Die letzten äußerlichen Veränderungen kamen eher schleichend. Die ganzen Sommerferien lang hatte ich neue Ideen, was ich machen konnte. Erst einmal folgte der Haarschnitt. Ich machte nichts Großartiges, ich ließ mir nur die langweiligen Stirnfransen anders schneiden, um sie irgendwann wachsen zu lassen, und ließ mir von der Frisörin einen leichten Stufenschnitt einreden. Wie bei der Kleidung war die erste Reaktion, dass es viel zu drastisch sei. Aber im Gegensatz zu meinem alten „Stil“ wäre wahrscheinlich alles drastisch gewesen.
 

Danach folgte, dass ich endlich die Zahnspange loswurde. Ich hatte sie bereits jahrelang, und meine Zähne waren im Grunde perfekt. Ich brauchte das Ding mit Sicherheit nicht mehr. Und dann schlugen meine Eltern vor, vielleicht angestachelt davon, dass sie mich plötzlich so erblühen sahen, dass ich es mit Kontaktlinsen versuchen könnte. Und dem stimmte ich ebenfalls zu.
 

Im Juli hatte ich Geburtstag, ich wurde fünfzehn. Und wenn man die Fotos von meinem fünfzehnten Geburtstag mit denen der Jahre zuvor vergleicht, hat man das Gefühl, man sähe Olivias große Schwester. Liv eben.
 

Ich hatte mich tatsächlich geändert, äußerlich, im Umgang mit anderen und mit mir selbst. Ich hatte dafür nicht meinen Charakter oder mich selbst aufgegeben, wie viele mir vielleicht gerne einreden möchten. Ich hatte überhaupt nichts aufgebeben, ich hatte eher mich selbst gefunden. Ein Mensch, der irgendwo in mir schlummerte, sich aber bis jetzt nie herausgetraut hatte. Mein Charakter hatte sich nicht geändert, ich hatte ihn noch nicht gekannt. Natürlich behielt ich einige Eigenschaften noch immer. Etwa war ich anfangs noch immer nicht besonders selbstbewusst, denn aus jahrelangen Enttäuschungen kann man keines schöpfen. Und meinen Respekt vor allem Menschen behielt ich, wie gesagt, noch immer bei, ohne mich ihnen zu unterwerfen, sondern einfach, indem ich ein natürliches Interesse zeigte und niemanden verurteilte. Das Gute war, dass ich dieses Interesse nun auch noch zeigen konnte, indem ich diese Leute anredete und ihnen Fragen stellte, was ich mich nach einer gewissen Zeit auch traute. Es bedurfte nur ein wenig Übung, aber dazu war es mit fünfzehn Jahren noch lange nicht zu spät. Noch dazu blieb mir natürlich auch die Beobachtungsgabe und vor allem das Interesse daran, zu beobachten. Ich konnte es nicht mehr so gut ausüben wie früher, klar, denn ich wurde nun bemerkt, war ein Mitglied der Gesellschaft, der neuen Klasse, wie jeder andere auch, und es fiel mehr auf, wenn ich irgendjemanden eine Weile lang anstarrte. Aber nur weil ich nicht mehr offensichtlich beobachten konnte, bedeutet es nicht, dass ich es gelassen habe. Ich schielte nun zu den einen, während ich mich gerade mit jemand anderem unterhielt, um aus dem Augenwinkel mitzubekommen, oder im Unterricht, während ich mit einem Ohr zuhörte. Ich lernte so alle schnell kennen und ließ ihnen trotzdem noch die Chance, auch umgekehrt mich kennen zu lernen.
 

Und als ich an der neuen Schule war und mich schneller eingelebt hatte, als es jemals in meinem Leben in irgend einer Situation gegangen war, zeigte sich, dass sich diese Mühe auf jeden Fall gelohnt hatte. Ich konnte mein Glück überhaupt nicht fassen. Ich redete mit einigen Mädchen aus meiner Klasse, und auch, wenn sie eigentlich schon einen gefestigten Freundeskreis besaßen, lehnten sie mich nicht ab, sondern eine von ihnen bot mir schon in der zweiten Schulwoche an, zu ihrer Geburtstagsfeier zu kommen. Ich war noch nie bei einer Geburtstagsfeier eingeladen gewesen. In der nächsten Pause verzog ich mich auf die Toilette und weinte vor lauter Freude.
 

Und tatsächlich waren diese drei Mädchen bald meine besten Freundinnen. Sie waren alle so nett und zuvorkommend, und ich hatte wohl auch noch besonderes Glück – es ist nicht immer leicht, in eine Klasse zu kommen, in der sich alle schon gut kennen, und dann gute Freunde zu finden, denn meist haben sich schon längst Gruppen gebildet. Gemma – das Geburtstagskind – war ein großes, fröhliches Mädchen mit zierlichen Gesichtszügen, heller Haut und weichen, dunkelbraunen Locken, ein kleines Schneewittchen sozusagen; Meredith war honigblond, war vorlaut und sarkastisch und hatte immer unglaubliche, kuriose, aber auch äußerst kreative Ideen; und Samantha, von allen nur Sammy genannt, war ruhig und höflich, so dass sie mich im ersten Moment beinahe an mein voriges Selbst erinnerte, bis ich merkte, dass sie einfach nur eine ruhige Persönlichkeit war, die jeden Streit sofort schlichten konnte, und außerdem war sie sehr hübsch, mit hellbraunen Haaren, sanften Augen mit der Farbe von Milchkaffee und einer bemerkenswerten Stilsicherheit. Die drei blieben meine besten Freundinnen bis nach unserem Schulabschluss, und sie sind es noch immer. Sie kennen die ganze Geschichte von meinem früheren Dasein als graue Maus, Mauerblümchen und hässliches Entlein. Sammy, der ich am meisten vertraue – natürlich vertraue ich auch Gemma und Meredith, aber bei Sammy hat man einfach das Gefühl, alles zu erzählen und sich von der Seele reden zu können – habe ich als Einziger noch von einem weiteren Detail erzählt: sie weiß auch von Nathan. Sie versteht, was ich damals durchgemacht habe, in meiner ständigen Angst, etwas falsches zu sagen oder zu tun, obwohl ich ja sowieso kaum etwas sagte oder tat, und in der ausweglosen Situation, die sich dadurch ergab. Sammy war nie so schüchtern wie ich, aber trotzdem war sie immer sehr ruhig, was die anderen oft irritiert hat, denn die meisten reden ja unheimlich gerne, am liebsten über sich selbst. Ich bin nicht sicher, ob sie vielleicht selbst schon einmal unglücklich verliebt war. Sammy tendiert mehr dazu, zuzuhören – was sie sehr gut macht, man fühlt sich nachher grundsätzlich besser – aber wenn es um sie selbst geht, erzählt sie selten etwas, lässt es sich aus der Nase ziehen und weicht manchmal sogar aus. Ich habe sie noch nie auf das Thema angesprochen, aber höchstwahrscheinlich wäre es, falls ich Recht habe, genau so ein Ausweich-Thema.
 

*
 

Nachdem ich Nathan geschrieben habe, habe ich sofort das Bedürfnis, Sammys Zuhör-Talent in Anspruch zu nehmen. Es ist erst acht Uhr abends, also kann ich sie getrost noch anrufen, und ich bin sehr gespannt, wie sie reagiert. Ich weiß nicht, ob ich beraten oder beruhigt werden muss. Jetzt, wo ich die Nachricht schon versendet habe, bin ich nicht mehr so angespannt. Nur regt sich irgendwo in mir ein leises Glücksgefühl, so dass ich nicht weiß, ob ich befürchten soll, dass ich noch immer etwas für ihn empfinde. Vielleicht ist dieser Verdacht, denn mehr ist es im Moment nicht, noch unbegründet, denn man sich einmal richtig in jemanden verliebt hat, hat es auch lange danach noch diese Nachwirkungen, und das Kribbeln, falls man mit dieser Person wieder einmal redet, geht niemals ganz weg. Zumindest meiner Erfahrung nach nicht. Aber falls er mir nun weiter schreibt und ich mich wieder verliebe, diesmal vielleicht in seine Worte anstatt in sein Auftreten... nun, was ist dann eigentlich? Wäre es denn überhaupt so schlimm wie damals? Ich habe mittlerweile den Mut, mich Leuten zu „stellen“ und sogar den ersten Schritt zu machen, wie wäre so ein Neuanfang? So etwas nennt man, glaube ich, Aufarbeitung.
 

Ich schnappe mir den Telefonhörer und wähle Sammys Nummer. Ich bin leicht aufgeregt, aber eher wegen der Vorfreude, ihr davon zu erzählen. Sammy teilt nämlich freudige Dinge so mit dir, dass sie sich zu verdoppeln scheinen, und wenn du traurig bist, schafft sie es, dir mit wenigen Worten einen Großteil der Last abzunehmen. Auch Sammy studiert Psychologie, was bei ihr tatsächlich eine großartige Wahl ist. Sie muss unbedingt Therapeutin werden.
 

„Samantha Devon?“, meldet sie sich. Die Stimme ist wie immer ruhig, ausgeglichen freundlich und ermuntert sofort, ein Gespräch mit ihr zu beginnen.
 

„Ich bin’s, Olivia.“, antworte ich.
 

„Liv! Ist etwas passiert oder willst du nur plaudern?“, will Sammy wissen. „Du klingst fröhlich.“
 

Niemand außer ihr kann drei neutralen Wörtern eine Stimmung entnehmen. Dabei bin ich mir selbst gar nicht so bewusst, wie gut ich drauf bin. Aber jetzt wo sie es sagt, die Nachricht muss tatsächlich meine Stimmung gehoben haben.
 

„Du wirst es nicht glauben können.“, sage ich, obwohl Sammy immer alles glaubt, von dem sie nicht erkennt, dass es eine Lüge ist. Das hat bei ihr übrigens nichts mit Naivität zu tun. „Ich habe eine Nachricht beim StudiVZ bekommen. Von Nat.“
 

„Nat?“, wiederholt sie. Kurze Stille. „Du meinst doch nicht etwa... nein! Nathan? Ehrlich?“ Und schon klingt sie überglücklich, als hätte sie selbst eben eine wunderbare Nachricht erhalten. Ich sage es doch.
 

„Nathan.“ Ich nehme mir einen Moment, um andächtig zu lächeln, auch wenn Sammy es nicht sehen kann. „Ich weiß nicht so wirklich, was ich denken soll. Er war aber sehr nett. Er hat mich noch gekannt. Klar, sonst hätte er mir ja nicht geschrieben.“
 

„Siehst du. Ich hab es dir doch immer gesagt.“, meint Sammy, ihrer Stimme nach zu urteilen strahlt sie. So oft hat sie mir es aber gar nicht gesagt, sonst hätte ich auf jeden Fall angefangen, es zu glauben.
 

„Ja.“, sage ich trotzdem. „Er war irgendwie genauso, wie ich ihn von damals kenne, und dann irgendwie auch wieder nicht. Ich weiß nicht, woran es liegt.“
 

„Lies mir die Nachricht vor.“, bittet sie. Ich komme dem sofort nach, setze mich an den Computer und öffne das, was Nathan mir geschrieben hat. Als ich geendet habe, fährt Sammy fort: „Hmm. Er ist wirklich sehr freundlich. Er scheint lieb zu sein. Aber er scheint sich irgendwie nicht so wirklich zu trauen, er entschuldigt sich ja die halbe Zeit... meintest du nicht, er sei beliebt gewesen? Warum ist er dann so zaghaft?“
 

Ich halte einen Moment inne, überfliege alles noch einmal. Sie hat Recht. Ist es das, was mich so wundert? Dass sein Selbstbewusstsein auf einmal gar nicht mehr ausgeprägt zu sein scheint? Früher hatte er es doch, soweit ich mich erinnere. Aber vielleicht erkennt man Eigenschaften, die man selbst nicht besitzt, bei anderen nicht so gut.
 

„Du hast Recht“, sage ich, direkt ein wenig erstaunt, zu Sammy. „Er war früher wirklich einmal selbstbewusster. Er hatte ja auch keinen Grund dafür, es nicht zu sein. Glaub mir, ich war bei weitem nicht die einzige, die ihn toll fand. Er wurde von vielen bewundert.“
 

„Aber irgend etwas muss doch passiert sein, wenn er es jetzt nicht mehr ist.“, meint sie nachdenklich. Der Gedanke gefällt mir eigentlich nicht, ganz und gar nicht. „Vielleicht haben sich ja eure Rollen getauscht – jetzt hast du es geschafft, dich zu ändern, dafür ist er nun der Außenseiter.“
 

„Du sprichst aus, was ich befürchte.“, sage ich traurig. „Aber... Sammy, das gibt’s doch nicht. Davon abgesehen, dass es ganz und gar keine vertauschten Rollen sind, da ich jetzt zwar normal, aber trotzdem nicht das bin, was weitgehend unter der Bezeichnung ‚beliebt’ verstanden wird – nicht dass ich das überhaupt sein möchte – also, davon abgesehen, was soll passiert sein, um Nathan zu einem Außenseiter zu machen? Er hatte damals einen Freundeskreis, und er hätte ihn ohne weiteres noch weiter aufbauen können. Schließlich hatte er ja nie das Problem, dass er sich nicht an Leute herantraute. Entweder man kann mit Leuten reden oder nicht, und dann kann man es immerhin trotzdem noch lernen.“
 

„Ich glaub dir, dass du dir das nicht vorstellen kannst.“, sagt Sammy sanft. „Aber vielleicht wollte er die Beliebtheit nicht. Du sagst doch selbst, dass du dir das überhaupt nicht wünschen würdest. Und nach dem, was du immer von ihm erzählt hast, war er, auch wenn so viele ihm nachgerannt sind, ob aus Liebe oder auch nur Bewunderung, sehr bodenständig. Möglicherweise wollte er sich einfach von all dem abkapseln.“
 

„Aber das erklärt doch nicht, wie daraus mangelndes Selbstbewusstsein, sogar unterschwellige Selbstironie wird!“, sage ich bestimmt. „Wenn er sich aus eigenem Willen von den anderen abgesondert hat, dann braucht er sich doch gar nicht zu überlegen, wieso keiner mit ihm redet, wieso er nicht mehr richtig beachtet wird. Wenn er das selbst so wollte... und er könnte es doch jederzeit wieder rückgängig machen. Er bräuchte nur in ein Lokal spazieren, wo ihn vielleicht auch noch gar niemand kennt, und jemanden ansprechen. Er sieht gut aus, würde – du kennst ja unsere Gesellschaft – dadurch gleich einmal als Gesprächspartner akzeptiert werden, und dann würde er sich gut unterhalten. Er hat diese unaufdringliche Art von Humor und gibt in Gesprächen niemals das Gefühl, sich für etwas Besseres zu halten.“
 

„Liv, ich weiß, dass das traurig ist, aber das sind Eigenschaften, die nicht mehr so gerne gesehen werden. Was unter ‚cool’ fällt, sind Typen, die herumgrölen, sich nicht beherrschen können und vielleicht noch den Aufreißer spielen. Was in der Unterstufe damals gut auf andere wirkte, ist jetzt uninteressant.“
 

Wenn mir das jemand anderer sagen würde oder ich um einen Deut zickiger wäre, wäre ich jetzt eingeschnappt, würde vielleicht einen beleidigten Kommentar erwidern. Aber bei Sammy weiß ich, dass sie Recht hat.
 

„Ich wünsch ihm das nicht.“, murmle ich. „Ich weiß doch genau, wie es ist, sich einsam zu fühlen und Angst zu haben, dass man da nie wieder rauskommt. Niemand weiß es besser als ich.“
 

„Ich weiß.“, sagt Sammy mit weicher Stimme. „Aber so schlimm ist es sicherlich nicht. So verkrochen wie du damals kann er sich doch noch nicht haben. Er hat sich beim StudiVZ angemeldet, er hat nach Leuten gesucht, er hat dich angeschrieben.“
 

„Weil er weiß, dass ich nicht so den besonderen Leuten gehöre, bei denen es egal ist, wenn sie eigentlich keine Lust auf Kontaktwiederaufnahme haben.“
 

„Hör auf, das zu sagen, Liv.“, sagt Sammy fast scharf. Nicht so, dass ich schuldbewusst werde oder zusammenzucke, aber fest und bestimmt, so dass ich darüber nachdenke, dass meine Aussage vielleicht nicht wahr ist. Das wollte sie bezwecken. „Es gibt keine nicht besonderen Leute. Und er hat sicherlich nicht aus diesem Grund gerade dich angeschrieben. Möglicherweise hat er noch mehrere aus deiner alten Klasse gefunden, falls dich das tröstet. Aber Liv, es steht mit Sicherheit nicht so schlimm um ihn. Er hat bestimmt noch ein gesundes Selbstvertrauen, und das, gepaart mit etwas Selbstironie, ist besser als zu viel davon. Oder etwa nicht? Du magst doch selbst keine Leute, die sich unerschütterlich cool und überheblich benehmen.“
 

„Ja.“, stimme ich etwas kleinlaut zu. „Das stimmt schon. Ich mach mir nur Sorgen, dass er... dass er auch so abrutscht.“
 

„Für diesen Fall bist du ja jetzt wieder da.“, sagt Samantha. „Du kannst den Kontakt doch halten, wenn du willst. Mittlerweile hast du den Mut dazu.“
 

„Das hab ich.“ Ich schlucke. Ich hab mich schon ein bisschen beruhigt. Und ihr letzter Kommentar freut mich irgendwie. Es klingt fast, als meinte sie, dass eine neue Chance auf mich warten könnte. So viele Dinge, die ich damals nicht getan habe... und sie hat Recht. Ich kann dafür sorgen, dass wir den Kontakt beibehalten, wenn ich möchte, und das will ich auch versuchen. „Vielen Dank, Sam.“
 

„Das ist selbstverständlich, Olivia. Und mach diesmal das Richtige.“
 

Es ist keine Beleidigung, sondern ein Rat. „Das werd ich. Danke. Gute Nacht, Sammy, schlaf gut.“
 

„Und du auch, Liv. Gute Nacht, und träum was Schönes.“
 

Das sagt sie nicht nur so. Sie weiß wahrscheinlich genau, wovon ich träumen werde.



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