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Das Prinzesschen und das Biest

Zwei Mädchen wie Tag und Nacht - oder?
von

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Pläne und Sticheleien

Mischa
 

Ich bin gestern noch in die Buchhandlung gegangen, nachdem ich kurz zu Hause war, und habe in der Englisch-Abteilung nachgesehen, ob sie „Holes“ dort haben. Ich habe Glück gehabt und konnte mir sofort mein Exemplar kaufen. Es wundert mich ohnehin, dass die Hammer uns aufgegeben hat, die Bücher selbst zu kaufen, denn es wird die englischen Bücher – auch wenn sie Klassiker sind – nicht in jedem Laden geben, und vielleicht brauchen sie länger, um geliefert zu werden oder kosten besonders viel.
 

Wie auch immer, ich habe am selben Abend noch mit dem Lesen angefangen. Ich wusste noch viel von der Handlung, weil ich es ja vor einigen Jahren schon einmal gelesen habe und mir immer ziemlich gut merke, wie ein Buch abläuft. Darum habe ich mir schon einmal die Dinge zusammengeschrieben, an die ich mich noch erinnert habe, natürlich auch gleich auf Englisch. Das hat nicht wirklich viel gebracht, da ich das Buch ja sowieso noch einmal lesen muss und auch möchte, aber ein bisschen Vorarbeit kann ja nicht schaden. Während ich dann mit dem Lesen begonnen habe, habe ich mir auch nebenbei Notizen gemacht, ein Lesetagebuch geführt, um nachher genügend Stoff für eine gute Zusammenfassung zu haben. Mir fiel dann wieder mein Vorhaben ein, Anna ungefragt aus der Partnerarbeit zu verbannen, sodass sie im letzten Moment selbst alles erarbeit muss – wie es mir schon oft genug selbst ergangen ist, nicht selten gerade durch ihr Verschulden – und ich begann gleich schon einmal, die Hauptcharaktere aufzulisten, um mir ein paar Fakten über sie aufzulisten.
 

Auch heute Morgen habe ich wieder an dieses Vorhaben gedacht, und nun plane ich, spätestens in der großen Pause zum Lehrerzimmer zu gehen und mit der Hammer über meinen – oder unseren, wie ich angeben werde – Beschluss zu reden. Ich lüge nicht häufig und bin mir nicht sicher, wie gut ich es kann, aber ich beschließe, einfach nur „wir“ statt „ich“ zu sagen und ansonsten nicht viel zu schwindeln, dann ist es nicht so schlimm.
 

Ich habe vor, es Anna gerade zwei Tage vor der Deadline zu sagen. Viele meiner Mitschüler beginnen nicht selten etwa in diesem Zeitraum erst mit der Arbeit, und so wird Anna es auch schaffen, nur dass sie sich einmal dafür reinhängen wird müssen, wenn ihr an der Note doch irgendwie etwas liegt. Das schadet ihr keineswegs. Und wenn sie es darauf ankommen lässt, eine schlechte Beurteilung auf diese Arbeit zu bekommen, und sich lieber auf die nächste Schularbeit verlässt (auf die sie dann wahrscheinlich auch nicht lernen wird), soll es mir auch egal sein. Meinetwegen kann sie ruhig sitzen bleiben, dann wäre ich sie dafür los, und sie hätte es verdient: durchgekommen ist sie bis jetzt doch ausschließlich durch Glück und ein bisschen Schmarotzen.
 

Die Vorstellung gefällt mir, rein logisch ergibt alles einen Sinn, Anna bekäme auch im schlimmsten Fall nur, was sie verdient. Aber Genugtuung erfüllt mich trotzdem nicht wirklich. Ich weiß schon, woran es liegt: Gemeinsein steht mir nicht wirklich. Dazu bin ich nicht geboren – ich bin die, die immer freundlich und zuvorkommend auf andere zugeht. Aber das habe ich bei Anna alles schon versucht, mehr als einmal, und es hat nun einmal einfach nicht funktioniert, weil sie es nicht zugelassen hat. Warum sollte ich ihr nicht so begegnen wie sie mir? Sie würde mich ohne Skrupel auf diese Weise hereinlegen, wenn sie nicht zu faul wäre, sich einmal ein bisschen dafür anzustrengen und wenn sie gegen mich einen Trumpf im Ärmel hätte wie ich gegen sie: mich mögen die Lehrer, ich bin die vorbildliche, brave Schülerin, mich würden sie nicht verdächtigen, mutwillig jemand anderen hereinzulegen.
 

Kurz bevor die dritte Stunde vorbei ist, packen mich doch noch ein wenig die Zweifel. Was, wenn Anna am Ende der Hammer erzählt, dass ich sie hintergangen habe? Würde sie ihr glauben? Würde Anna sich überhaupt die Mühe machen, auf diese Weise um ihre Note zu kämpfen? Und was könnte die Lehrerin dann überhaupt noch ändern – den Abgabetermin für Anna verschieben? Würde sie mit mir schimpfen, weil ich Selbstjustiz angewandt habe? Hieße es, dass es ganz egal sei, wie oft Anna schon bei mir Trittbrett gefahren ist, auf diese Weise dürfe man sich nicht rächen? Oder würde die Hammer Verständnis für mich zeigen, vielleicht sogar sagen, dass es Anna einmal eine Lehre gewesen sei?
 

Ich reiße mich ein bisschen zusammen. Es geht nur um eine kleine Arbeit, sage ich mir vor, nur wegen der wird sie schon keine ernsthaften Konsequenzen davontragen, und ich auch nicht. Nur glaube ich meinen Gedanken selbst nicht so ganz, weil es für mich so etwas wie „kleine Arbeiten“ nicht gibt. Selbst der einfachsten fünf Minuten-Hausaufgabe messe ich noch Bedeutung zu, ich lasse nie etwas aus, nur weil es mir unwichtig erscheint – und diese Arbeit an den Büchern ist es auch gewiss nicht. Kleine Zwischenprojekte wie dieses machen bei der Hammer sehr oft einen Großteil der Note aus. Schon letztes Jahr hat Jakob, ein Mitschüler, gerade noch durch eine positive Note in der Schularbeit die Kurve gekriegt, weil das Portfolio, das wir zusammenstellen musste, bei ihm leider ziemlich danebengegangen ist.
 

Da klingelt es schon, ganz automatisch verräume ich die Biologie-Sachen – ich bemerke betroffen, dass ich in den letzten paar Minuten nicht mehr alles mitgeschrieben habe, und blättere aus diesem Grund gleich die nächsten paar Wochen in meinem Filofax durch, um mich zu vergewissern, ob wir in nächster Zeit auch sicher keinen Test haben – und erhebe mich, nicht ohne vorher einen letzten prüfenden Blick auf den Stundenplan zu werfen.
 

„Ich muss kurz mit der Hammer wegen dem Buchprojekt reden.“, erkläre ich Stella, die bereits mit ein bisschen Kleingeld in der Hand auf mich zugeht. „Kauf dir ruhig inzwischen was.“
 

„Okay.“, sagt sie. „Passt etwas nicht mit Anna? Könnt ihr euch jetzt schon nicht einigen?“
 

Ich halte inne und überlege, ob die Leute, die in ihrem Leben ständig lügen und betrügen, wohl auch ihre Freunde darüber einweihen. Kurz darauf bin ich über den Gedanken entsetzt. Natürlich werde ich es Stella sagen! Sie ist meine beste Freundin, und außerdem weiß sie, wie ich in den letzten Jahren unter Anna gelitten habe und wird mein Vorhaben bestimmt billigen. Nur möchte ich es ihr nicht gleich hier in den Gängen der Schule berichten, wer weiß, wer von den Schülern mit Anna befreundet ist und ihr davon erzählen könnte. Und außerdem will ich erst mal mit der Lehrerin reden, wer weiß, wie lange es dauert, Stella von meinem Plan zu erzählen, und wie viel Zeit danach noch ist – vielleicht artet meine Frage ja doch zu einer Diskussion aus. „Nicht so ganz... ich erkläre es dir später.“, sage ich und nicke ihr zu.
 

„Na gut.“ Stella zuckt die Schultern, sie erwartet ja auch nichts Besonderes, und steuert auf den Stand mit Essen zu, um sich ihren Donut – oder worauf sie nun Lust hat – zu kaufen. Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung, zum Lehrerzimmer.
 

Ich habe Glück und treffe die Hammer noch auf dem Weg, da sie ebenfalls gerade zum Lehrerzimmer will. Ich laufe ein paar Schritte zu ihr hin, um sie gleich abzupassen.
 

„Frau Professor“, halte ich sie auf, und sie bleibt stehen und sieht mich erwartungsvoll an. „Anna und ich haben bemerkt, dass wir uns nicht wirklich zusammenraufen können, und wir haben uns entschieden, dass es für uns beide besser wäre, wenn wir die Arbeiten separat erledigen.“
 

„Das heißt, ihr möchtet keine Partnerarbeit machen.“, wiederholt die Hammer langsam. Ich nicke dazu. „Und das habt ihr beide entschieden?“
 

Oje, sieht man mir schon jetzt an, dass ich schwindle? Ein wenig verunsichert, vor allem, weil ich nun auf ihre direkte Frage hin lügen muss, nicke ich erneut. „Ja. Wir haben schon angefangen zu streiten, als wir nur die Arbeitseinteilung erledigen wollten.“ Ich lache nervös, und breche sofort wieder ab, als ich merke, dass es zu nervös klingt.
 

„Na gut, dann rede ich noch einmal mit Anna darüber.“ Ich zucke zusammen, aber ich zwinge mich, ihr nicht sofort ins Wort zu fallen, sondern versuche, ruhig und gefasst zu antworten.
 

„Das wird nicht notwendig sein, Frau Professor.“ Ich schüttle beschwichtigend den Kopf. „Sie meinte, sie wolle eigentlich nicht mehr mit der Sache zu tun haben, als es sein muss. Sie wissen ja, wie sie ist.“ Diesmal füge ich besser kein Lachen hinzu, das klingt zu gestellt.
 

Sie mustert mich kurz, und unter ihrem Blick bricht mir der Schweiß aus. Kriege ich rote Ohren, wenn ich lüge? Flattern meine Nasenflügel? Wirke ich zu nervös? Aber dann sagt sie: „Okay, in Ordnung. Dann macht ihr eure Arbeiten einzeln.“
 

Ich atme unhörbar aus. Der gute-Schülerin-Bonus hat anscheinend doch etwas gebracht – das erste Mal, dass ich ihn eingesetzt habe, soweit ich mich erinnere. „Gut, Dankeschön, Frau Professor.“, sage ich, und dann laufe ich, ohne eine weitere Antwort abzuwarten, schnell zurück zu Stella, die sich heute eine Brezel gekauft hat.
 

„Wolltest du mir nicht irgendwas erzählen?“, erkundigt sie sich nun kauend. Ich hebe leicht die Schultern.
 

„Na ja... ich wollte... nun... Anna mal eins auswischen.“, sage ich verlegen. Stella sieht sehr erstaunt zu mir und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund.
 

„Eins auswischen? Du? Seit wann wischt du Leuten eins aus?“, wundert sie sich. Oh je, ich bin wirklich das „brave Mädchen“.
 

„Ja... ich dachte mir, da sie mir nun zum wiederholten Mal das Thema weggeschnappt hat, das ich haben wollte, um aus meiner Arbeit dann ihren Vorteil zu ziehen, hat sie es mal verdient, dass ihr Plan, nichts zu tun, den Bach hinunter geht.“
 

„Wegschnappen?“ Stella sieht nachdenklich aus. „Eigentlich hat sie sich ja vor dir eingetragen... und du kannst sowieso jederzeit zur Hammer gehen, wenn du meinst, dass Anna nicht arbeitet.“
 

Ich verziehe ein wenig das Gesicht. Zu wem hält sie eigentlich? „Ja, ja. Egal, zur Hammer bin ich ja jetzt auch gegangen.“
 

„Ah ja.“ Sie hebt eine Augenbraue. „Und das war das mit dem Auswischen?“
 

„Nicht ganz. Ich habe gesagt, dass Anna und ich nicht zurechtkommen würden und jeder seine eigene Arbeit abgeben würde.“ Stella sieht nicht sehr beeindruckt aus, eher abwartend. Ich fahre fort: „Und der Punkt an meinem Plan ist – das werde ich Anna erst im letzten Moment, vielleicht zwei Tage vorher, sagen!“
 

Ich warte begeistert auf Stellas Reaktion, die gerade wieder in ihre Brezel gebissen hat und mit dem Kauen beschäftigt ist. Als sie meinen erwartungsvollen Blick sieht, hält sie inne. „Das war’s?“
 

Ratlos starre ich meine beste Freundin an. „Ähm, ja?“
 

Sie runzelt kurz die Stirn, scheint zu überlegen und fängt dann an, zu kichern. „Sehr fies. Du bist ja ein richtiges Biest.“
 

Stolz nicke ich. Endlich nicht mehr das Vorzeige-Mädchen! Mir ist diese Rolle sowieso langsam langweilig geworden. „Ja, und das Beste ist, dass so etwas von mir nicht erwartet wird!“
 

Stella schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirn, und ich werfe ihr einen verwunderten Blick zu. „Ähm... Mischa? Was versprichst du dir davon?“
 

„Ich dachte, du fändest den Plan gut?“, frage ich besorgt. Langsam verstehe ich sie nicht mehr. Findet sie die Aktion vielleicht doch ein bisschen übertrieben?
 

„Mischa... zwei Tage vorher sind eine Ewigkeit für uns... gewöhnliche Schüler.“, erklärt Stella mit bedauerndem Schulterzucken. „So eine Aufgabe – Charakterbeschreibung, Zusammenfassung, Reflexion... das schafft man, wenn es sein muss, noch, wenn man am Vortag um zehn Uhr nachts anfängt. Im Notfall schwänzt man noch ein, zwei Stündchen oder – die Methode für die etwas gewissenhafteren, zu denen Anna zugegebenermaßen wahrscheinlich nicht gehört – man arbeitet halt die Nacht durch. Aber man wird nicht daran verzweifeln. Vor allem kann ich mir bei Anna gut vorstellen, dass sie das Internet zu Rate zieht und sich in ein paar Minuten einen passenden Text ausdruckt.“
 

„... Ach.“ Mehr fällt mir nicht ein. Und das war es dann mit meinen tollen Plänen, mit meinem Racheakt. Anscheinend stört das eine – wie hat Stella eben gesagt? Gewöhnliche Schülerin nicht einmal. Und ich bin mir noch besonders gemein vorgekommen. Plötzlich ist mir das ganze peinlich.
 

„Hey, Mischa. Änder doch deinen Plan ein wenig.“, schlägt Stella vor, um mich aufzuheitern, und wirft die Serviette weg, die bei ihrer Brezel dabei war. „Sag es ihr einfach gar nicht.“
 

„Aber dann wird sie doch der Hammer sagen, dass ich sie nicht informiert habe...“, gebe ich zu bedenken.
 

„Wenn sie das macht, hätte sie es auch getan, wenn du es ihr erst zwei Tage davor gesagt hättest. Und selbst wenn, dann kannst du bestimmt eine Ausrede erfinden. Dir glaubt die Hammer sicher eher, du lügst doch sonst nie. Sag eben, du hättest es Anna sehr wohl mitgeteilt, sie habe die Sache aber absichtlich ‚vergessen’ und zu ihrem Vorteil verdreht. Oder behaupte, du wolltest sie anrufen, hast sie aber nicht erreicht. Oder du hättest ihr eine SMS geschickt und fest angenommen, dass sie von der Sache wusste.“
 

„Aber ich hab doch eben zur Hammer gemeint, dass ich das bereits mit Anna beredet habe und sie einverstanden war.“
 

„Dann sagst du halt, dass Anna schon zugestimmt hätte, nun aber lügt. Ich sag es dir, du hast den Vorteil. Im Zweifelsfall glaubt die Hammer dir, oder im schlimmsten Fall weiß sie nicht, wem sie glauben soll und gibt halt Anna noch ein paar Tage mehr Zeit, ihre Sache fertig zu machen.“
 

Für Stella scheint das alles ganz klar, und sie scheint auch keine Skrupel in irgend einer Form zu hegen, obwohl sie gar nicht wirklich mit Anna verfeindet ist. Sie sind natürlich nicht gerade befreundet – Anna sucht sich selbst aus, mit wem sie gerne redet, und da nimmt sie sicher nicht meine beste Freundin – aber sie kommen miteinander aus.
 

„Bin ich zu nett?“, seufze ich bei dem Gedanken. „Irgendwie ist mir nämlich unwohl dabei, Anna so hereinzulegen.“
 

„Ach. Was kann schon groß passieren, außer dass Anna sich ein bisschen ärgert?“ Stella zuckt die Schultern. „Selbst wenn das Ganze für Anna zum Fünfer ausarten sollte, was es nur im schlimmsten Fall tun wird, dann wird sie wohl nicht so blöd sein und die Schularbeit auch noch auf gut Glück vermasseln und hoffen, dass noch ein Wunder geschieht. Nur wegen dir wird sie nicht sitzen bleiben. Und ich glaube, du willst sowieso mit der ganzen Sache erzielen, dass sie mal selbst arbeitet, anstatt sich dauernd von anderen – also großteils von dir – die Arbeit abnehmen zu lassen, oder nicht?“
 

„Jaa...“, murmle ich. „Aber wenn ich ihr gar nichts sage, dann wird sie gar nicht mehr dazu kommen, zu arbeiten. Dann habe ich mein Vorhaben sowieso verfehlt.“ Genau, da habe ich schon ein Gegenargument zu der Möglichkeit, es ihr ganz zu verschweigen.
 

„Was ist dir nun wichtiger: Rache oder eine Lehre, die Anna sich sowieso nicht fürs Leben merken wird? Sie wird sich so oder so nicht ändern, Mischa. Sie hasst...“ Sie bricht jäh ab und schüttelt dann den Kopf, „Ihr versteht euch nun mal einfach nicht, und ich bezweifle, dass sich das ändern wird, vor allem nicht wegen einer solchen Aktion.“
 

„Meinst du, ich sollte es ganz lassen?“, schlage ich mit ein wenig Verzweiflung in der Stimme vor.
 

Stella seufzt. „Mir ist es eigentlich egal, ob du das durchziehst oder nicht, ich muss Anna nicht leiden sehen, falls das überhaupt passieren sollte. Aber: du machst immer Rückzieher. Immer, Mischa. Ich denke, das solltest du dir mal abgewöhnen – lass dir nicht alles gefallen und wehr dich.“ Sie nickt mir bestimmt zu, und auf so einen Rat kann ich nichts mehr erwidern. Dann werde ich es wohl machen.
 

*
 

Anna
 

Als Mischa mit Stella zurückkommt, ist die große Pause noch nicht vorbei. Ich langweile mich ein bisschen, weil ich gerade sehr faul bin und keine Lust auf ein Gespräch mit Lukas habe – dazu muss ich zu viel denken – und schon gar nicht darauf, Helena irgendwo suchen zu gehen, weil sie jetzt in der großen Pause wahrscheinlich nicht in der Klasse herumhängt, so wie ich es gerade tue. Wenn ich kein gutes Jausenbrot dabeigehabt hätte, hätte ich mich wohl doch erhoben, um mir was kaufen zu gehen.
 

Aus eben dieser Langeweile heraus habe ich gute Lust, mal wieder Mischa ein bisschen zu ärgern, aber ich muss mir was überlegen. Wenn’s nicht sein muss, gehe ich nicht extra zu ihr rüber.
 

Ich mustere sie, während sie sich niederlässt und offensichtlich wieder mal ihre sieben Sachen für die nächste Stunde bereitlegt, eine Weile, um festzustellen, ob sie irgendetwas Lästernswertes an sich trägt. Das lange blonde Haar sauber mit einem Haarreif aus dem Gesicht gehalten – den, wohlgemerkt, ein kleiner, glitzernder, hellgrüner Schmetterling ziert, und ich verfasse schon mal eine mentale Notiz deswegen; dazu ein zartgrünes Shirt mit V-Ausschnitt und knielange, dunkle Jeans mit irgendwelchen Perlenapplikationen. An den Füßen trägt sie, wie fast immer, Ballerinas, farblich passend in hellem Grün mit weißem Schleifchen vorn und weißen Blümchen in der Nähe der Ferse, denn diese Trendschühchen hat sie in sämtlichen Farben dreimal, oder so.
 

Ich greife in Ermangelung von etwas Besserem auf die erste Entdeckung zurück. „Hey, Paolini. Ich wusste ja, dass du einen Vogel hast, aber wieso gesellt sich jetzt auch noch ein Schmetterling dazu?“, frage ich. Gott, ich weiß, dass der schwach war, aber sie lässt sich ja seit Neuestem sooo leicht ärgern.
 

Erst einmal weiß sie gar nicht, was ich meine. Dann flüstert ihr Stella, die noch neben ihr sitzt, ihr etwas ins Ohr, offensichtlich muss sie ihre Freundin an ihre eigene Garderobe erinnern. Mischas Hand wandert zum Haarreif, wie um sich zu vergewissern, dass Stella und ich sie nicht verarschen, und saust dann wütend wieder herunter. „Wenigstens versuche ich nicht, meinen ‚Vogel’ damit zu verscheuchen, dass ich mich kleide wie Morticia Addams, Strasser.“
 

Schade nur – für sie – dass mein Nachname nicht so schön abfällig auszusprechen ist wie der ihre – dazu ist er nun mal einfach nicht exotisch genug. Außerdem hinkt ihr Vergleich ein wenig. „Du hast wohl noch keinen echten Goth gesehen, Paolini, wenn ich dir schon Angst mache.“ Ich betrachte meine – unlackierten – Fingernägel und die paar Ringe daran, die aber weder Totenköpfe noch sonst irgendwelche grausigen Gravuren aufweisen. Ich habe lediglich schwarze Haare, allerdings mit einigen bunten Strähnen darin, und einen Hang zum Punk. Gegen Sicherheitsnadeln, Nieten und ähnlichen Kram habe ich nichts einzuwenden, aber ich rühre sehr wohl auch buntere Stücke an. Heute bin ich, was ihrer Argumentation zugute kommen könnte, zwar ganz in Schwarz gekleidet – ein Top mit Trägern, durch die jeweils im Zopfmuster ein schwarzes Lederband gefädelt ist, und ein schwarzer Falten-Minirock (mit schwarzem, kaum sichtbarem Tüll gefüttert, damit er nicht schlaff herunterhängt); dazu ausnahmsweise schwarze, hochhackige Sandalen, weil ich mit meinen schweren, schwarzen Schnürstiefeln bei der Hitze eingehen würde – aber an sich nicht besonders „Grufti“-mäßig. Ich trage keinen Eyeliner, habe mir keine Smokey-Eyes geschminkt, habe nirgendwo einen Nietengürtel oder etwas Derartiges, bin nicht über und über mit Ketten behangen – nur eine, und das ist eine Schnur mit einer Feder dran, eine meiner wenigen uralten Sachen, die noch tragbar sind, und dann noch ein mehrmals um mein rechtes Handgelenk gewickeltes schwarzes Lederband – trage auch meine Netzstrümpfe nicht und habe, wie bereits erwähnt, untypische Schuhe an. Ich bin heute so gar nicht Goth. Und erst recht nicht „Morticia Addams“ – soweit ich mich an die Addams Family erinnere, trug die nämlich bestimmt kein Augenbrauen-Piercing. Und ich besitze auch keine natürliche Blässe, und es liegt mir fern, dem mit Schminke zu behelfen. Wie gesagt, ich bin kein – ach lassen wir das, ich hab’s eh schon zehnmal gesagt. „Wenn du mir drei Gemeinsamkeiten von mir und Morticia aufzählst, dann...“ Ich überlege eine Weile, ob es irgendetwas gibt, was ich tun oder ihr geben könnte, was möglichst keinen zusätzlichen Aufwand für mich bedeutet. „Dann lass ich dich einen Tag lang in Ruhe.“ Immerhin muss ich mir dann nichts Gemeines für sie überlegen.
 

„Langes, schwarzes Haar, schwarze Klamotten, gelangweilter Gesichtsausdruck, und, ach ja, sollte zum Davonlaufen sein, ist aber im Grunde eher zum Lachen.“, sagt sie, ohne zu zögern. Ich bin nicht sehr beeindruckt.
 

„Das waren vier, also wird’s leider nichts mit unserem Deal.“, sage ich pseudo-bedauernd. „Ich werd’s übrigens nicht überprüfen – als ob ich die Serie so genau kennen würde. Und dass meine sarkastischen Äußerungen zum Lachen sind, will ich auch bezwecken.“ Schon klar, dass sie das nicht gemeint hat, aber sie macht sich nicht die Mühe, mir das zu erklären. Beleidigt, trotzig, schmollend oder was auch immer dreht sie sich weg und wendet sich „Wichtigerem“ zu, wie zum Beispiel ihren Matheaufgaben. Ich hab keinen Stundenplan, aber ihr Buch liegt schon sichtbar aufgebreitet auf dem Tisch, und sie geht noch irgendwas durch. Meine Güte – wir hatten nicht mal was auf. Das Mädel ist schon unterbeschäftigt – gut, dass es mich als Pausenfüller hat, sonst müsste es sich noch Hobbys zulegen oder so.
 

Kaum läutet es, stöpsle ich mir die Ohren mit meinen Kopfhörern zu, wobei ich diese gut mit meinen Haaren verberge und den iPod in mein T-Shirt gleiten lasse, und starte meine Playlist. In Mathe geht das nicht schlecht, weil ich da eh nicht vielen Erklärungen lauschen muss, es wird ja fast alles praktisch gemacht, indem sie ein Beispiel vorrechnet oder so was. Also selbst wenn ich aufpassen wollte, würde die Musik mir dabei nicht im Weg stehen...
 

Es ist zwar bald eine Schularbeit, aber ich habe trotzdem keine Skrupel, mich völlig abzuschotten. Mathe ist überhaupt eins der Fächer, mit denen ich mich am leichtesten tue, da muss ich schon mal nicht besonders viel lernen. Für die Formeln haben wir ein Formelheft, das wir auch verwenden dürfen, und die Grundlagen seh ich mir in drei Minuten im Buch an, falls ich sie nicht sowieso schon mitbekommen hab. Also alles in Allem sind Mathestunden äußerst bequem, so dass ich mir nicht mal die Mühe mache, sie zu schwänzen. Toll ist nebenbei nämlich, dass die Lehrerin es echt nicht checkt, wenn ich im Unterricht was anderes mache – neben Musik hören herumkritzeln, SMS schreiben, das Mathebuch bemalen, und so weiter.
 

*
 

Anna war schon immer ein gescheites Mädchen gewesen. In der Volksschule hatte sie alles mühelos geschafft: sie hatte ohne langwieriges Üben fehlerlose Diktate geschrieben, hatte gerechnet, ohne jemals Denkfehler einzubauen, konnte auch hohe Zahlen im Kopf multiplizieren. Sie merkte sich sehr vieles, gewann schon damals ein hohes Allgemeinwissen. In der vierten Klasse hatte sie ihre ersten Englischstunden, hatte schon ein wenig Vorwissen und sprach alles richtig aus.
 

Anna hatte nie Schwierigkeiten gehabt. Mit Leichtigkeit schaffte sie ihr Zeugnis voller Einsern, um an ein Gymnasium gehen zu können. Aber trotz allem wirkte sie nie besonders wissbegierig oder fleißig, sie freute sich nicht über ihre Erfolge. In der Volksschule hatte es leicht gereicht, selten in ein Buch zu schauen und die damals noch einfachen und kurzen Hausübungen nur fahrlässig zu erledigen. Auch in der ersten Klasse des Gymnasiums war es noch genug, und so ging es weiter.
 

Die Noten waren immer in Ordnung. Nie stand Anna an der Kippe, brachte in den ersten Jahren nicht einmal Vierer nach Hause. Aber die Lehrer lernten sie nie als das tüchtige Mädchen kennen, das sie eigentlich war. Sie war desinteressiert, sah selten im Unterricht einem Lehrer ins Gesicht. Jeder wusste, dass sie sehr wohl etwas mitbekam, aber das nur am Rande. Anna wurde häufig ermahnt, weil sie es nicht für nötig befand, mitzuschreiben. Es erschien ihr als eine nervende Tätigkeit, die sinnlose Anstrengung bedeutete, auch wenn diese gering war.
 

Früher, als sie noch kleiner gewesen war, war Anna immer gelobt worden. Von Eltern, Großeltern, Freunden der Eltern. Annas kleine Schwester Johanna war zwar ebenfalls klug, aber nicht so makellos wie Anna: in ihrem Diktaten fanden sich sehr wohl Fehler, auch wenn die Mutter am Abend zuvor alles mit ihr durchgegangen war, und sie machte ab und zu blöde Rechenfehler. Johanna stand vollkommen im Schatten ihrer großen Schwester, auch wenn sie sich bemühte und genau wie sie ihre Einser in der Volksschule schaffte. Aber das große Lob erreichte sie nie.
 

Anna dagegen hätte liebend gerne mit Johanna getauscht. Sie konnte den Aufruhr nicht leiden, der um ihre Fähigkeiten gemacht wurde. Anna sah nicht ein, wieso sie in der Woche mehrere Stunden auf einem Stuhl sitzen und Leuten zuhören musste, wie sie ihr etwas erzählten, das sie entweder schon wusste, aus einem Buch herauslesen konnte oder was in ihrem Augen in ihrem Leben nie wieder wichtig oder von Belang sein würde. Je stolzer ihre Eltern und alle anderen auf sie waren, desto mehr kürzte sie an ihrer Lernzeit. Sie wollte mittelmäßig sein, sie wollte für andere Dinge gelobt werden, nicht für diese eine Sache, an der ihr nichts lag.
 

Anna beschäftigte sich, so gut es ging, mit anderen Dingen. Damit, ihre Schulzeit dafür zu nutzen, Freunde zu finden. Damit, andere zu beleidigen, wenn sie es in ihrem Augen verdient hatten, besonders gerne Mischa, die sie aus tiefstem Herzen verachtete, da sie sich für diese Sache, die Schule, so ins Zeug legte, wie es Anna überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Und damit, den Lehrern den Eindruck zu geben, dass die Zeit, die sie da vorne standen und mit Reden zubrachten, zumindest in Annas Fall völlig verschwendet war.
 

Den Tiefpunkt erreichte Anna irgendwann in der vierten Klasse auf dem Gymnasium. Sie hatte angefangen, sich immer mehr von ihrer Familie zurückzuziehen, ihren Freundeskreis ausgeweitet, ihren Stil verändert. Was sie schon lange vorhatte, sich ihre Haare schwarz zu färben, hatte sie schon im letzten Jahr durchgezogen, trotz der Proteste ihrer Eltern, die wie bei so vielen Dingen wie gegen eine Wand prallten. Sie beobachtete nicht weiter ihre Schwester, die sich abmühte, gute Noten zu schreiben, bessere als Anna, was sie auch bald schaffte. Anna war nicht mehr die Bessere, aber das änderte nichts an der fixen Vorstellung, dass Anna das Genie war, und diese Wirkung wurde, wenn überhaupt, nur dadurch verstärkt, dass sie mit so wenig Aufwand immer noch so leicht durchkam.
 

Und dann hörte sie ganz auf. Sie nahm kein Buch mehr in die Hand, keinen Zettel, keinen Stift. Sie verschloss ihre Ohren vor allen Lehrern, schrieb keine Hausaufgaben mehr, begann, in allem Stunden Musik zu hören, antwortete auf Fragen nicht mehr. Am Elternsprechtag dieses Jahres brach die ganze Kritik über Annas neues Verhalten auf ihre Eltern herein. Anna schrieb ihre ersten Vierer in Tests, sogar einen Fünfer, der daraus resultierte, dass sie ein leeres Blatt abgegeben hatte. Und von jedem Lehrer hörte Annas Mutter, dass ihre Tochter nichts mehr machte; von vielen wurde sie als „stinkfaul“ bezeichnet, von anderen als stur und frech, und wieder andere sahen sie ganz einfach als hoffnungslosen Fall.
 

Besonders für Annas Mutter war das ein schwerer Schlag. Sie war so stolz gewesen auf ihre Tochter, die zwar nicht besonders viel Fleiß zeigte, aber Allgemeinwissen und so viele Talente besaß. Und nun wurde ihr gesagt, dass man mit jeder Ermahnung, Anna solle doch einmal aufpassen, auf taube Ohren stieß, sie trotzig genau das Gegenteil dessen machte, was man verlangte, und dass sie so gewollt unbeteiligt am Unterricht war, dass manche Lehrer es als „aktiv passiv“ bezeichneten.
 

In diesem Fall war es ausnahmsweise gut, dass Annas Eltern nicht dazu neigten, ein ernstes Wort mit ihren Kindern zu reden, sondern ihnen einfach zusahen, wie sie ihre Sache machten oder eben nicht. Auf den Elternsprechtag hin passierte nichts Besonderes. Anna wurde nicht einmal richtig gerügt. Es wurde ihr lediglich mitgeteilt, dass die Eltern von allen Lehrern nur Schlechtes gehört hatten. Niemand schimpfte, sie solle sich auf ihren Hosenboden setzen und ihre Arbeit machen, weil sie es viel besser konnte, als sie momentan demonstrierte. Das Einzige, was passierte, war, dass ihre Eltern ihre Aufmerksamkeit Johanna zuwandten. Anna hatte erreicht, was sie bezweckt hatte, und nun war sie nicht mehr das Genie der Familie, sie war nur mehr das faule Mädchen, dass eben in ihrem Zimmer lag und sich mit Videospielen beschäftigte, das Beiwerk, wie es Johanna vorher gewesen war.
 

Und dann legte Anna ihr aktives Passiv-Sein wieder ab. Sie nahm die Kopfhörer aus den Ohren und begnügte sich mit Stift und Papier, um darauf herumzukritzeln. Sie hörte wieder das, was die Professoren sagten, las, wenn auch etwas halbherzig, das, was in den Schulbüchern zur Untermalung ihrer Erklärungen stand. Sie las sich wenigstens den Stoff durch, wenn ein Test anstand. Und bei Schularbeiten und Tests gab sie nie mehr einen leeren Zettel ab, sodass sie selbst ohne einen Blick auf ihre Unterlagen zu werfen noch ein paar Punkte erzielen konnte.
 

Die gute Schülerin, als die sie früher einmal gegolten hatte, obwohl ihr Notendurchschnitt bei weitem nicht perfekt gewesen war, wurde sie nie wieder – Johanna hatte ihren Platz als die Klügere abgelöst. Und nun wusste Anna nicht mehr, ob ihr das Recht war.



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