Zum Inhalt der Seite

Kurzgeschichten

24-Stunden-Schreibaufgabe
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

1944

Als ich noch ein Kind war, tobte hier ein Krieg, der viele Opfer forderte, darunter auch Familienmitglieder und Freunde, die mir sehr am Herzen lagen.
 

Es war das Jahr 1944, als die Amerikaner Heilbronn aus der Luft angegriffen hatten.

Wir hatten noch nicht lange das Abendessen beendet und ich stand mit Mutter in der Küche, um ihr beim Abwasch zu helfen, während Vater im Wohnzimmer in seinem Sessel saß und seine frisch angezündete Pfeife rauchte und Zeitung las.

Es war kurz nach sieben Uhr, als wir uns zu Vater gesellten und über unseren gemeinsamen Nikolaustag sprachen. Mutter stickte nebenbei, während ich in mein Tagebuch schrieb.

»Ich hoffe, dass der Krieg bald vorbei ist. Es steht doch jetzt noch kaum ein Stein auf dem anderen. Was wollen die Engländer und Amerikaner noch zerstören?“, seufzte meine Mutter.

»Liebling.« Mein Vater blickte über den Rand seiner Zeitung. »Das werden wir wohl nie wissen. Wir können leider nur abwarten. Ich würde ja gerne an vorderster Front mitkämpfen, aber die Franzosen haben mir vor zwei Jahren das Bein weggeschossen.«

Mutter und ich schwiegen betroffen. Über dieses Thema sprach mein Vater sehr ungern, da er uns voller Stolz erzählt hatte, dass er für das Vaterland kämpfen sollte und somit sein Land und seine Familie beschützen konnte.

Er war fast vier Jahre fort, in Frankreich, als wir ein Telegramm erhielten, dass er schwer verwundet war und dass ihm ein Bein abgenommen werden musste. Wenige Wochen später kehrte Vater zurück. Doch war er nicht so, wie wir ihn kannten, als er einberufen wurde.

Der Krieg hatte ihn verändert. Er war apathisch und schrie in der Nacht, da er häufig Alpträume hatte, doch auch darüber sprach er nicht gern.

Das einzige, worauf er stolz war, war das Ehrenzeichen, welches er verliehen bekam.

Das Schweigen hielt jedoch nicht lange an, da Vater unruhig wurde. Er blickte immer wieder zum Fenster.

»Soll ich das Fenster öffnen, Vater?«

Als Antwort bekam ich nur ein Nicken. Mit einem Lächeln legte ich mein Tagebuch beiseite und stand auf.

Ich öffnete das Fenster einen Spalt und sah dabei auf die Straße unter mir. Die Menschen liefen aus ihren Häusern, blieben stehen und blickten in den Himmel.

»Vater?« Angst schwang in meiner Stimme mit. Auch ich starrte den Himmel an. Es waren viele Lichter zu sehen. »Was ist das?«

Mein Vater griff nach seiner Krücke. Er drückte sich aus seinem Sessel und kam zu mir. Zaghaft legte er eine Hand auf meine Schulter und kniff seine Augen zusammen. Sein Griff wurde immer fester.

»Vater, du tust mir weh«, jammerte ich.

»Packt eure Sachen ... Sofort!« Er zerrte mich vom Fenster weg. Er schubste mich zu meiner Mutter und verließ, so schnell er konnte, das Zimmer.

»Elisabeth, hab keine Angst«, beruhigte meine Mutter mich, in dem sie über mein Haar streichelte.

»Maria!«, brüllte mein Vater. »Du sollst unsere Sachen packen. Wir müssen fort von hier.«

»Geh deine Sachen holen, sonst rastet er vollkommen aus.«

Schweigend und mit Tränen in den Augen ging ich in mein Zimmer und packte ein paar Kleidungsstücke und einen kleinen Koffer. Ich lief zurück ins Wohnzimmer, da dort noch mein Tagebuch lag. Ich steckte es noch hinein und gesellte mich zu meinen Eltern, die bereits im Hausflur standen.

Vater blickte mich grimmig an. »Wurde auch Zeit. Nun komm, Elisabeth.«

Wir gingen die Treppe hinunter, als ein ohrenbetäubender Lärm ertönte und eine Detonation uns fast die Treppe unter den Füßen wegriss.

Während wir, Vater und ich, uns noch festhalten konnten, stürzte Mutter.

»Mutter!« Ich ließ meinen Koffer los und lief die Treppe hinunter.

»Elisabeth! Sei vorsichtig!«

Eine weitere Detonation erschütterte die Grundmauern des Hauses. Ich klammerte mich am Treppengeländer fest. Ich hatte fast meine Mutter erreicht. Die Erschütterung hatte nachgelassen, sodass ich die Chance ergriff und weiter bis zum Fuß der Treppe lief.

Ich kniete mich neben meine Mutter nieder und schüttelte erst zaghaft ihre Schulter. Als sie sich jedoch nicht regte, liefen Tränen über meine Wangen und schüttelte heftiger.

»Mutter, wach auf!«

»Lass das, Elisabeth«, sagte Vater trocken, »hol deinen Koffer. Wenn wir nicht sofort von hier verschwinden, wird es uns so ergehen, wie deiner Mutter.«

Fassungslos starrte ich meinen Vater an. War er in Frankreich auch so? Hatte er auch eiskalt seine toten Kameraden liegengelassen?

Ich ging langsam die Treppe hoch und nahm meinen Koffer auf. Schweigend ging ich vor ihm die Stiege hinunter. Kurz blieb ich vor meiner Mutter stehen, schloss die Augen und stieg mit einem Kloß im Hals über ihren leblosen Körper. Danach half ich meinem Vater.

Zusammen verließen wir unser Wohnhaus.

Menschen liefen schreiend und in Panik durcheinander. Eine Hitze empfing uns, sodass wir unsere Arme vor unsere Augen halten mussten.

Das stetige Brummen, das vom Himmel kam, dröhnte in meinen Ohren. Ängstlich griff ich nach Vaters Hand.

»Komm, mein Liebling.« Vater zog mich fort von unserem Haus.

Kurz wagte ich einen Blick über meine Schulter und sah das Gebäude an, in dem meine Mutter lag.

Vater und ich gingen ein paar Schritte weiter, als das Dröhnen lauter wurde.

»Was ist das Vater?«

»Das sind Bomber. Heilbronn wird aus der Luft angegriffen, deshalb müssen wir schnell einen Bunker erreichen. Hier ist einer in der Nähe. Wenn wir Glück haben, ist dieser noch nicht überfüllt.«

Ich nickte nur. Die Angst in mir war zu groß. Ich war doch noch zu jung, um zu sterben.

Ein hohes Pfeifen mischte sich zum Dröhnen.

Vater zog mich enger an sich. »Schneller, Elisabeth.«

So schnell es ging, entfernten wir uns immer mehr von unserem Haus, doch der Einschlag, der durch das Pfeifen angekündigt wurde, kam für uns unerwartet.

Wir stolperten und fielen hin. Kleine Steine rieselten auf uns hinab.

Die Angst wurde immer größer, ich konnte das Zittern nicht mehr kontrollieren. Ich zitterte wie Espenlaub.

»Steh auf, wir müssen weiter.«

Ich funktionierte nur noch, weil mein Körper überleben wollte. Selbst merkte ich nicht, wie ich aufstand und meinem Vater aufhalf. Den Arm, den er nicht für seine Gehhilfe benötigte, legte ich über meine Schulter und zusammen wankten wir voran. Unsere Sachen ließen wir liegen.

Immer wieder wurden wir von Detonationswellen erfasst und zu Boden geworfen. Doch unser Überlebenswille trieb uns weiter voran.

»Es ist für Mutter, es ist für Mutter ...«, murmelte ich stetig. »Sie hätte es gewollt, dass wir überleben.«

Vater selbst sprach gar nicht mehr. Wenn ich in seine Augen blickte, erkannte ich, dass er mit seinem Geist nicht mehr anwesend war. Ich vermutete, dass er wieder in Frankreich gefangen war.

Ich betrachtete meine Umwelt, viele Gebäude standen in Flammen. Viele Menschen lagen auf der Straße.

Überall brannte es. Es war so heiß, wie im Hochsommer. Der Schnee, der die Tage zuvor gefallen war, ist unter den Flammen geschmolzen.

Blut vermischte sich mit dem Schmelzwasser.

Meine Lunge brannte bei jedem Atemzug. Ich war gezwungen den Rauch der brennenden Häuser einzuatmen.

Nicht unweit von uns schlug eine weitere Bombe ein. Das Schaufenster des Ladens zerbarst in Tausenden von Scherben. Vater zog mich in seine Arme und stöhnte kurz auf. Er legte all sein Gewicht auf mich. Meine Knie gaben nach und wir stürzten wieder. Doch mein Vater regte sich nicht mehr.

Sein Atem ging rasselnd.

»Wir müssen weiter«, flüsterte ich ihm zu. »Vater, wir müssen den Bunker erreichen.«

»Ich kann nicht mehr, Elisabeth. Geh du allein weiter. Lass mich hier liegen.«

»Nein«, rief ich empört. »Wir gehen zusammen hin. Ich möchte dich nicht verlieren. Nicht wie Mutter.«

Meine Kleidung fühlte sich langsam warm und nass an.

»Ich bleibe bei dir.«

»Rette dich.«

Mein Unterbewusstsein wusste, dass mein Vater Recht hatte. Ich wand mich unter seinem schweren Körper hervor. Mit wackeligen Beinen stand ich auf und stolperte meinen Weg weiter.

Ich erreichte den Bunker. Und zu meinem Glück, gab es für mich noch einen Platz. Die Leute drängten sich zusammen, damit ich mich hineinquetschen konnte und überlebte so den Luftangriff.
 

Am nächsten Morgen öffneten wir wieder den Bunker. Der Anblick, der uns erwartete, versetzte uns in Schrecken. Die gesamte Innenstadt war zerstört. Das Leben, das wir all die Jahre hier aufgebaut hatten, wurde zunichte gemacht.

Wir gingen in den Straßen umher, um nach Verwandten und Freunden zu suchen.

Immer wieder wurde ich angesprochen, ob ich verletzt wäre, da meine Kleidung blutdurchtränkt war.

An mir klebte das Blut meines Vaters.

Allein ging ich den Weg zurück, den ich gegangen war, bis ich den Leichnam meines Vaters fand. Ich setzte mich neben ihn und fing an zu weinen.
 

Ich wusste, nicht wie lang ich bereits hier saß, als ich meinen Namen hörte. Verwirrt sah ich mich um und sah meine Tante, die auf mich zugelaufen kam.

Das Aufstehen erwies sich als schwierig, doch meine Tante war schnell bei mir und zog mich auf die Beine. Schluchzend umarmte sie mich. Ich erzählte ihr von Mutter und Vater.

Mit einem traurigen Lächeln versprach sie mir, sich um mich zu kümmern.
 

Nun ist es 64 Jahre her.

Ein kalter Wind zog durch die Gassen Heilbronns. Es war kurz nach sieben. In wenigen Minuten würden die Glocken der Killianskirche läuten.

»Oma?«

Meine Enkelin zog ungeduldig an meinem Arm.

»Ich möchte einen Karamelapfel«, nörgelte die Kleine.

»Ja, mein Schatz.«

Sie summte laut, als wir weitergingen. Ich betrachtete die neue Innenstadt. Nach dem Angriff dauerte es nicht lange, bis der Aufbau begann.

Heilbronn ist wie ein Phönix aus der Asche wieder auferstanden.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück