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Kurzgeschichten

24-Stunden-Schreibaufgabe
von

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Die Bucht der weinenden Muscheln

Es war später Nachmittag, als Kouros die Taverne betrat. Für den heutigen Tag hatte er seine Arbeit auf den Feldern seines Vaters verrichtet und wollte mit seinen Freunden ein paar Becher Wein trinken. Während er sich umsah, stellte er enttäuscht fest, dass er noch kein ihm bekanntes Gesicht entdeckte.

Erschöpft ließ er sich auf eine harte Holzbank nieder und wartete darauf, dass die Wirtin ihn wahrnahm. Es dauerte nicht lange, als die dicke Wirtin mit einem mürrischen Gesichtsausdruck zu ihm kam.

»Heda, was bedrückt Euch, Frau Máthair?«

Die rundliche Frau sah ihn kurz an und seufzte. »Die Sommerhitze, junger Kouros. Die Weintrauben meines Mannes vertrocknen in den Bergen. Wenn es in diesem Monat nicht regnet, wird die Weinlese ausfallen. Mein Mann und ich rechnen jeden Tag aufs Neue durch, wie viel es uns kosten würde, Wein aus regenreicheren Gebieten zu kaufen. Das hieße aber für euch, dass jeder Becher teurer wird.«

»In einer Woche feiern wir das Fest des Regens. Wir werden Geshem Opfer darbringen, Frau Máthair. Er hat bis jetzt immer unser Flehen erhört und…«

»Ich weiß«, unterbrach ihn die Wirtin. »Aber ich hege Zweifel, weil es diesen Sommer nicht einmal geregnet hat. Dir und deinem Vater kommt die Hitze zu gute, da ihr Kornbauern seid.« Sie stockte. »Verzeih mir meine harten Worte, Kouros. Da hat der Neid aus mir gesprochen.«

Kouros wollte etwas erwidern, als ein junger Bursche und zwei Mädchen lachend in die Taverne kamen. Sein Herz fing an schneller zu schlagen, als er sah, dass eines der beiden Mädchen Ileana war. Nervös strich er seine langen dunklen Haare zurück.

»Tante Máthair! Wein für uns alle! Ich zahle heute!«

Die kleine Gruppe gesellte sich zu Kouros. Ileana setzte sich ihm gegenüber und lächelte ihn schüchtern an.

Máthair brachte ein Tablett mit Bechern und einer Amphore zum Tisch. »Deine gute Laune ist kaum zu übersehen, Zyrius. Was ist geschehen?«

Zyrius zog das andere Mädchen auf seinen Schoß, welches vergnügt kicherte. »Adrianas Vater hat mir endlich die Hand seiner Tochter versprochen«, antwortete er lächelnd und küsste das schwarz-gelockte Haar seiner Verlobten.

»Das sind doch gute Neuigkeiten«, erwiderte Máthair mit einem Zwinkern. »Du hast ihrem Vater sechs Monate bewiesen, dass du sie ernähren kannst. Du bist ein guter Junge mit einem reinen Herzen. Wenn er nicht eingewilligt hätte, dann hätte er mich kennen gelernt!«

»Das hat Mutter auch gesagt«, lachte Zyrius. »Genau dieselben Worte mit demselben Tonfall.«

Máthair stellte vor jedem einen Becher und füllte diese mit Wein. »Wir sind auch Schwestern, mein lieber Neffe.« Sie stützte sich auf dem Tisch ab und sah Ileana an. »Und dein Vater möchte immer noch, dass du Tempeldienerin wirst?«

»Ja«, sagte Ileana leise. »Aber ich will das nicht. Aber mein Vater ist so stur…«

»Nein«, fiel Kouros ihr ins Wort.

Alle sahen ihn fragend an.

Ihm steckte ein Kloß im Hals. Er blickte kurz auf und sah in Ileanas grüne Augen. Mit zitternder Hand strich er eine Strähne ihres blonden Haares aus ihrem Gesicht. »Nein, er ist nicht stur. Er möchte nur nicht, dass ein Mann ihm seine wunderschöne Tochter wegnimmt.«

Máthair bedachte ihm mit einem Blick, der ihm zu verstehen gab, dass sie nun um seine Gefühle zu Ileana wusste. Sie nahm das leere Tablett und ließ die kleine Gruppe allein.

»Der alte Paramis ist wieder in der Stadt«, begann Zyrius aufgeregt mit einem Grinsen zu erzählen. »Er hat dieses Mal von unserer Bucht erzählt.«

»Die Bucht der weinenden Muscheln? Die Geschichte wird jedem jungen Knaben zur Warnung erzählt. Dieses Märchen ist genauso alt wie die Menschheit«, lachte Adriana. »Paramis ist ein dummer alter Greis.«

»Und wenn es keine Lüge ist? Über Götter dürfen wir nicht spotten und sie in Frage stellen, Adriana, sonst überkommt uns deren Zorn.«

Adriana blieb das Lachen im Hals stecken.

»Bist du dir da so sicher?«, zischte Zyrius. Er war über die Worte seines besten Freundes gegenüber seiner Verlobten verärgert.

»Ja, bin ich. Ich glaube an die Götter.« Kouros’ Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wie wäre es mit einer Wette, Zyrius?«

»Das klingt interessant.«

Kouros nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher. »Ich werde diese Nacht zur Bucht gehen und dort auf sie, Veneridae, warten.«

»Nein«, entfuhr es Ileana. »Bitte fordere die Götter nicht heraus.«

»Er möchte es und ich sehe ihm an, dass es ihm auch ernst ist.« Zyrius war von der Wette angetan. »Nun, Kouros, um was sollen wir wetten?«

»Sollte ich zurückkehren, ist es ein Beweis, dass es keine Götter gibt. Dann werde ich wohl einsehen müssen, dass es nur Geschichten sind, die uns erzählt werden, damit wir Ehrfurcht vor den Göttern haben. Sollte ich nicht zurückkehren, so bitte ich euch die Anwesenheit der Götter zu respektieren.«

Zyrius’ Schultern zitterten. Er konnte es nicht mehr zurückhalten und fing an zu lachen. »Und woher sollen wir wissen, dass du die Nacht auch wirklich in der Bucht verbringst und du nicht ins Nachbardorf gehst?«

Ileana griff nach Kouros’ Hand. »Ich werde mit ihm gehen. Der Legende nach werden Mädchen verschont.«

Kouros schüttelte seinen Kopf. »Nein, Ileana. Das ist viel zu gefährlich für dich. Wenn dir etwas geschehen sollte, könnte ich es nicht verkraften.«

»So kann ich aber beweisen, dass du bei der Bucht warst. Ich werde sicher nicht ins Nachbardorf gehen. Und ich werde es auch nicht zulassen, dass er vor Morgengrauen diesen Ort verlässt.«

Er spürte die belustigten Blicke seiner Freunde auf sich ruhen. Zuerst hatte er vor, alleine zu gehen und sich für die Nacht einen anderen Schlafplatz zu suchen. Er fürchtete sich davor, was ihn in der Nacht erwarten würde, wollte dies aber nicht offen zugeben. Kouros glaubte an alle Legenden und Mythen, die ihm erzählt wurden, in denen Götter vorkamen.

»In Ordnung«, flüsterte Zyrius. »Ileana soll dich begleiten. In einer Stunde werden wir euch bis zur Bucht begleiten.«
 

Zyrius und Kouros sahen sich lange an. Jeder versuchte dem Blick des anderen standzuhalten.

»Bis morgen.« Zyrius blickte Ileana an und grinste. »Die Nacht wird nicht langweilig werden mit ihr an deiner Seite.«

Das Mädchen errötete bis zu den Haarspitzen und senkte verlegen ihren Blick.

»Ich werde nichts dergleichen mit ihr machen!«, erboste sich Kouros. »Was denkst du von mir? Ich bin ein anständiger Mann, der die Ehre eines Mädchens nicht zerstören möchte.«

»Wie niedlich«, erwiderte Zyrius süffisant und warf Adriana einen Blick zu, der mehr preisgab, als Kouros wissen wollte.

Das Paar ließ sie ohne ein anderes Abschiedswort alleine.

»Verzeih, Ileana. Er ist wirklich ein guter Freund, aber manchmal weiß er nicht, was er mit seinen Worten anrichtet.«

Sie wagte es nicht in seine Augen zu blicken. »Ist schon in Ordnung. Ich kenne ihn ja. Und seit er heute weiß, dass er Adriana heiraten darf, ist er irgendwie anders als sonst. So vergnügt. Das heißt nicht, dass er…«

Kouros setzte sich in den Sand und betrachtete den Sonnenuntergang. »Das ist wohl die Liebe in ihm.«

Sie setzte sich neben ihn. »Warum bist du dann so ruhig?«

»Ich… Ich…« Er sah sie an. »Jeder ist anders.« Dann starrte er wieder das schöne Schauspiel vor ihm an. In seinen Ohren rauschte das Blut. Sein Herz schlug so schnell, dass er dachte, es würde in seiner Brust zerspringen.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie die dünne Tunika vom Wind an Ileanas Körper gedrückt wurde und so ihre Rundungen preisgab. Nun war er wirklich unsicher, ob er seine inneren Triebe zügeln könnte.

Das orange-rote Licht ließ die Bucht mysteriös erscheinen.

»Ist es nicht seltsam, dass so hier so viele Venusmuscheln liegen?«, hörte er Ileanas Stimme. »Das ist mir zuvor nicht aufgefallen. Erst seitdem die Sonnenscheibe den Horizont geküsst hat.«

Kouros sah ihr direkt in die Augen, dann blickte er sich um. Überrascht zog er seine Augenbrauen hoch. »Du hast Recht. Das ist schon fast unheimlich. Mich beschleicht das Gefühl, dass die Legende wahr ist.«

Er zog seine Beine enger an seinen Körper und betrachtete gequält das Meer. Er fürchtete sich vor dem, was ihn erwarten würde. Stöhnend ließ er sich mit geschlossenen Augen in den Sand fallen.

»Du hast Angst, Kouros. Das spüre ich.«

Er setzte sich schnell wieder auf, sodass ihm schwindelig wurde. »Angst? Ich?« Er versuchte nicht unsicher zu klingen. »Ich fürchte mich doch nicht, Ileana. Es ist nur etwas aufgefrischt. Die Nacht kommt mit schnellen Schritten und der Himmel ist klar.«

Beide sahen sie hoch zum Himmel, an dem sich bereits die ersten Sterne abzeichneten.

Ileana stand auf. »Ich gehe eben den Überwurf holen.«

Kouros sah ihr nach, wie sie zu einem großen Stein ging, auf dem der Überwurf und das Essen lagen. Er lächelte. Wenn die Nacht vorüber war, dann würde er um ihre Hand anhalten. Dieses Mädchen hatte es nicht verdient, für immer in einen Tempel eingesperrt zu werden.

Der Wind frischte immer mehr auf und Sand wurde in die Luft gehoben. Die ersten Mondstrahlen trafen auf die Erde und tauchten die Bucht in ein mysteriöses Licht. Ein Wimmern erklang und es hörte sich an, als ob jemand weinen würde.

Besorgt wandte Kouros sich Ileana zu, die gerade erst den Felsen erreicht hatte. Er schüttelte den Kopf und schob es auf den Wind. Dann vernahm der junge Mann ein Flüstern. Es kam vom Meer und rief ihn.

Er schloss die Augen und horchte angestrengt.

»Kouros«, wimmerte es. »Mach die Augen auf.«

Der junge Mann sah auf. Die Wellen verwandelten sich in Schaum, als sie sich am Sandstrand brachen. Als eine neue Welle an Land getrieben wurde, wurde das Wasser davor wieder ins Meer zurückgezogen.

Kouros blickte über seine Schulter und lächelte. Ileana hatte gerade den Stein erreicht und winkte ihm zu. Sie strich sich nervös eine Strähne hinter ihr Ohr. Mit der anderen Hand legte sie den Überwurf über ihre Schulter. Mit einem Lächeln hob sie das Tuch mit den Früchten, doch Entsetzen breitete sich in ihrem Gesicht aus.

»Kouros, hinter dir!«

Er wandte sich wieder der Meeresoberfläche zu, konnte aber nichts entdecken, doch etwas war anders.

Das Wasser berührte seine nackten Zehen. Leichter Schaum umspülte seine Füße. Mit der langsamen Bewegung legte er sich hin. Die nächste Welle umspülte seinen gesamten Körper.

Aus dem Schaum bildete sich eine Silhouette.

»Veneridae«, trug der Wind Ileanas Flüstern zu Kouros hin.

»Ja«, hauchte eine rauchige Stimme. »Und nun schlafe, Mädchen.«

Kouros sah im Augenwinkel, wie Ileana in den Sand sank.

»Ich tu ihr nichts, mein hübscher Kouros.«

Auf ihn lag eine Frau, die eine überirdische Schönheit besaß. Ihre Locken waren silbern und ihr Körper war wohlproportioniert. Kouros blickte in die Augen der Göttin dieser Küste und diese hypnotisierten ihn.

»Dir wird nichts passieren. Du brauchst keine Angst haben.«

Kouros blinzelte verwirrt. Eben war es noch Veneridaes Gesicht, doch nun beugte sich Ileana über ihn.

»Ileana? Aber du bist doch eben noch…«

Sanft strich Veneridae ihm den Pony aus dem Gesicht. »Du bist kurz eingenickt, als ich zu dir zurückkam, und sahst so friedlich im Schlaf aus, sodass ich dich nicht wecken wollte.«

»W-Wo ist der Überwurf und das Essen?«, fragte Kouros verwirrt.

Veneridae legte die Stirn in Falten.

»Was hast du, Ileana?«

»Nichts, Kouros. Lausche einfach dem Wind und den Muscheln.«

Der Vollmond tauchte die Bucht in silbernes Licht. Die Venusmuscheln im Sand reflektierten das Licht.

Leiser Gesang breitete sich aus. Er klang traurig, fast wie ein Jammern.

»Singen sie nicht schön? Die Muscheln singen jedes Mal bei Vollmond und nun singen sie noch viel schöner, weil sie wissen, dass du hier bist.«

»Was hat dies zu bedeuten?« Er schwieg kurz. »Du bist nicht Ileana! Du bist Göttin Veneridae.«

»Ja«, hauchte sie.

Kouros versuchte aufzustehen, doch die Göttin hielt ihn in ihrem Griff gefangen.

»Was hast du mit Ileana gemacht?«

»Sie schläft nur. Ihr wird nichts geschehen, sei da unbesorgt.« Sie lachte. »Ah, ich verstehe: Du liebst dieses Mädchen.«

Der junge Mann nickte nur.

Veneridae setzte sich rittlings auf Kouros. Beschämt starrte er auf den blanken Busen.

»Bin ich schön?«

»J-Ja, wunderschön.« Er war von der Stimme verzaubert. Sie verzauberte seine Sinne.

»Dann küss mich. Ich bring dir das bei, was du als Mann wissen musst.«

Ihre Lippen trafen sich. Kouros’ Händen strichen über die nackte Haut der Göttin, die bereits seinen Hals liebkoste.

Das Jammern des Windes und der Muscheln nahm zu.

»Sie singen so wunderschön. Es hört sich fast zu an, als ob die Muscheln weinen würden.«

»Sie besingen dein trauriges Schicksal, mein Kouros.«
 

Die Sonne ging wieder auf und kleine Vögel kündigten mit Gezwitscher den neuen Tag an.

Ileana wachte auf. Müde richtete sie sich auf und sah eine Person vor sich, die im Sand lag und etwas streichelte. »Guten Morgen, Ileana.«

Ehrfürchtig senkte das Mädchen ihr Haupt, als sie erkannte, dass sie eine Göttin vor sich sah. »Veneridae, habt Ihr Kouros gesehen?«

»Ja, er ist hier.«

Vorsichtig stand Ileana auf und näherte sich Veneridae. Entsetzt erkannte sie eine Venusmuschel in der Hand der Göttin.

»Er wird nie altern und sterben. Kouros wird wie alle anderen Jünglinge unter meinem Schutz stehen. Als Dank singen sie mir jeden Monat ihr Klagelied, welches ich so sehr liebe.«

Verzweifelt sank Ileana in die Knie. Tränen liefen über ihre Wangen. »Kouros, nein.«

Veneridae küsste die harte Kalkschale, stand auf und ging zurück zum Meer. Mit der nächsten Welle verwandelte sie sich in Schaum und verschwand.

Ileana stand auf und tat einen Schritt. »Gib ihn mir zurück! Verwandel Kouros sofort zurück.«

Mit jedem verzweifelten Ruf, den sie der Göttin hinterher rief, näherte sie sich dem Meer. Kühles Wasser umspülte ihre Waden.

»Gib mir meinen geliebten Kouros wieder zurück!«

Das Wasser reichte ihr bis zur Taille, als eine Welle sie erfasste und die Strömung sie mit sich riss.

Nun war es wieder still in der Bucht der weinenden Muscheln.



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