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Seeräuber

Das Mädchen und die Piraten
von

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Cartagena

Sie waren nun schon wieder ungefähr eine Woche auf See und Charles hatte bei ihnen angeheuert. Erst diesen Morgen hatte Jon Kim eröffnet, dass sie Cartagena in zwei Tagen erreichten. Und noch immer war sie sich nicht sicher, ob sie Charles jemals lieben könnte, doch war sie bereit ihm eine Chance zu geben.

Da die Sonne schien und es nicht viel zu tun gab, saßen die Piraten, meistens ohne den Oberkörper bedeckt zu haben, an Deck und spielten, tranken, Jon hatte es, anlässlich eines Geburtstages erlaubt, oder redeten und lachten nur. Ebenso Kim, die ihren Kopf auf Charles Schoß gelegt hatte und bei Pio, Terry, Laffite, Aodh, Edward, Chidi und Jon saß. Wie immer verstand sie sich blendend mit Jon, was diesem einige eifersüchtige Blicke Charles einbrachte, die ihn jedoch völlig kalt ließen. Immer wieder beugte sich Charles zu ihr hinunter und küsste sie, streichelte ihr aber beständig durch die Haare. Kim genoss diese Zärtlichkeit und hörte größtenteils nur zu.

„Und dann ist das Mädchen doch tatsächlich schwanger geworden.“, erzählte gerade Terry und Edward fragte: „Und was hat der Kerl dann gemacht?“

„Na der ist auf und davon, was will ein Pirat schon mit einem Balg am Hals? Ich wäre auch weg, also ein Frauenzimmer und ein Kind brauche ich nicht.“ Nun meldete Kim sich doch zu Wort und warf empört ein: „Also echt, Terry, man muss zu seinen Fehlern stehen! Was soll denn das Mädchen allein mit dem Kind machen? Die Eltern haben sie wahrscheinlich rausgeworfen, eine richtige Anstellung wird sie vermutlich auch nicht gefunden haben. Wer soll denn sie und das Kind ernähren? Wer finanziert die Ausbildung des Kindes und wer gibt ihnen auch nur ein Dach über dem Kopf?“ Genervt entgegnete Terry: „Was hätte er denn machen sollen? Sie mit auf sein Schiff nehmen? Da hätte die Mannschaft sie doch missbraucht und misshandelt, ohne irgendwelche Skrupel.“

„Er hätte ja bei ihr an Land bleiben und sich einen ehrlichen Beruf suchen können.“ Belustigt mischte sich Charles ein: „Das hätte er natürlich tun können, aber ich glaube, er ist ein echter Seemann, so wie wir. Und wenn dich das nicht überzeugt, dann stell dir Terry oder Laffite oder sonst wen mal als Bäcker, als Schuster oder als Schreiber vor, irgendwie würde das doch nicht passen, oder?“ Schadenfroh kicherte Kim: „Stimmt und außerdem müsste man als Schreiber schreiben können, was ja die meisten hier nicht können. Aber ernsthaft, irgendetwas hätte er sicher gefunden, wenn er nur gewollt hätte.“ Auch Jon lachte und meinte: „Du gibst auch nie nach. Aber ich muss dir Recht geben, für das, was man getan hat, sollte man immer gerade stehen, egal was es ist.“

„Da hört ihr’s, Jungs, euer Captain hat gesprochen!“ Mit diesen Worten sah sie lächelnd nach oben zu Charles, der allerdings nur missmutig aufs Meer starrte. Sie zog ihn an seinem Halstuch zu sich nach unten und fragte: „Was ist denn los?“

„Nichts.“ Er wollte sich gerade wieder aufrichten, da schob sie die Unterlippe vor, klimperte ein wenig mit den Wimpern und fragte zuckersüß: „Bekomme ich keinen Kuss von meinem Liebsten?“

„Nein.“ Im gleichen Ton fragte sie weiter: „Warum nicht? Hast du mich nicht mehr lieb?“

„Doch.“ Nun doch ein bisschen beleidigt fragte sie weiter: „Und warum dann nicht? Ich habe dich lieb, du hast mich lieb, wir haben uns alle lieb. Warum bekomme ich also keinen Kuss obwohl ich doch unbedingt einen will.“ Nun grinste er süffisant und meinte: „Sag: Bitte, bitte, oh großer, starker Charles.“

„Bitte, bitte, oh großer, starker Charles.“ Und gnädig wie er war, beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie. Zufrieden lächelte sie ihn an und strahlte anschließend in die Runde. Laffite schüttelte den Kopf und meinte: „Wenn doch nur alle Frauen so anspruchslos wären, gibt sich das Mädchen nach einem Kuss zufrieden und verlangt nichts mehr, keinen Schmuck, kein Geld, kein teures Essen. Warum sind nicht alle Frauen so wie du, Kim?“ Unschuldig zuckte sie mit den Schultern und blieb im Schweigen darüber, dass sie vor ungefähr einer Woche Charles ganze Ersparnisse für Kleidung, Essen und sonstiges geplündert hatte, natürlich nur, weil er es so gewollt hatte, versteht sich. Jon, vor dem Kim rein gar nichts verheimlichte, grinste auch nur ein wenig und sagte nichts dazu. Charles hingegen legte die Stirn in Falten, massierte sich die Schläfen, angesichts des verschwendeten Geldes und schüttelte resignierend den Kopf. Was hatte er sich mit Kim nur eingefangen. Ob sein Bruder auch seine gesamten Ersparnisse hatte opfern müssen? Wahrscheinlich. Er hoffte nur, dass es nicht so weiterging, denn schließlich musste auch er von irgendetwas leben.
 

So in etwa verbrachten sie die nächsten beiden Tage, bis sie am Abend des zweiten Tages von Terry, der oben im Krähennest Dienst hatte, hörten: „Land in Sicht!“ Abrupt sprangen die Piraten auf und rannten zum Bug des Schiffes. Und tatsächlich, dort am Horizont konnte Kim einige Berge entdecken, nur ganz blass, doch sie wurden immer höher und ihre Farben immer kräftiger, bis sie schließlich auch, da es schon dunkel geworden war, die Blüse einer Stadt entdecken konnte.

Als sie in den Hafen einfuhren war die Stimmung an Bord gespannt. Noch niemand von ihnen war je in Cartagena gewesen und die Erwartungen an die Stadt waren hoch. Auch Kim fragte sich, was sie hier wohl erwarten würde, denn Cartagena war kein typisches Piratennest, eigentlich waren hier gar keine Piraten außer ihnen. Sie war in ihrer Kajüte um sich etwas anderes anzuziehen und sich Schuhe zu holen, da platzte plötzlich Jon herein. Sie stand gerade nur in Cargo-Jeans und BH da und war kurz davor aufzuschreien, da besann sie sich, dass höchstwahrscheinlich sofort Charles angestürmt kommen würde und womöglich noch etwas Falsches denken würde. Also schluckte sie den Schrei hinunter und fauchte den wie zur Salzsäule erstarrten Jon an: „Dreh dich doch wenigstens um!“ Dieser schüttelte verwirrt den Kopf und tat wie sie ihn geheißen hatte. Sie zog sich rasch ihr T-Shirt über und fragte: „Was willst du denn eigentlich hier? Und warum kannst du nicht anklopfen? Du kannst dich wieder umdrehen, Jon.“ Etwas erleichtert wandte er sich ihr zu und erklärte: „Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass du dich unauffällig benehmen sollst, wenn du an Land gehst, schließlich sollte nicht jeder sofort erkennen, dass wir Piraten sind, wenn wir die Stadt plündern wollen.“

„Und deshalb platzt du hier rein ohne anzuklopfen?“

„Ich wollte dich eben noch erwischen, bevor du von dannen ziehst, entschuldige bitte, das ist mir mehr als peinlich, ehrlich, obwohl ich sagen muss, so peinlich muss es dir eigentlich nicht sein, du hast nämlich ganz schön was zu bie…“

„Jon!“, rief sie empört aus und er grinste: „Ist ja gut, ist ja gut. Es tut mir Leid, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.“ Wütend fragte sie: „Und überhaupt, warum erzählst du das ausgerechnet mir? Ich benehme mich ja wohl nicht auffällig.“

„Nein, nein, ganz im Gegenteil. Es ist nur so, dass ich es jedem sagen muss und natürlich habe ich es schon der ganzen Crew gesagt, außer eben dir, bis eben zumindest. Also gut, ich gehe dann wieder. Vielleicht sieht man sich an Land.“ Er wollte schon die Tür aufmachen, da rief sie: „Warte, Jon, ich bin sofort fertig, dann können wir auch zusammen an Land gehen. Ich müsste an Deck nur noch schnell nach Charles suchen.“

„Charles? Der ist vorhin mit Juanito, Jack und Creetin an Land gegangen. Ich dachte nämlich, du würdest ihnen gleich hinterher wollen und bin deshalb hier so reingeplatzt.“ Creetin war der Marineoffizier den sie auf Folkhorns Schiff aufgegabelt hatten. Bisher hatte Kim es geschafft ihm erfolgreich aus dem Weg zu gehen, doch sie fragte sich, wie lange sie das noch schaffen würde.

Verwirrt drehte sie sich von ihrem Spiegel weg, setzte sich bedächtig aufs Bett und fragte ungläubig: „Er ist schon gegangen? Wieso?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte er ja Angst, dass er wieder seine ganzen Ersparnisse opfern muss“, lachte Jon. Doch Kim sah zerstreut zu ihm auf und fragte: „Glaubst du?“ Erst jetzt sah er, wie sehr es sie doch traf, dass Charles einfach ohne sie an Land gegangen war und er kniete sich zu ihr nieder, legte seine Hand auf ihr Knie und sagte milde lächelnd: „Ach was. Vielleicht wollte er einfach mal was unter Männern unternehmen…“ Wütend brauste Kim auf: „Na toll! Und deshalb kann er mir nichts davon sagen? Dieser Idiot! Zum Teufel mit ihm, ich kann auch ohne diese hirnlose, egozentrische, satyriasistische Blondine meinen Spaß haben. Ich werde einfach mit euch an Land gehen, der Kerl kann mir gestohlen bleiben!“ Jon wich ein wenig zurück und fragte abgeneigt: „Meinst du das ernst mit dem satyriasistisch?“ Belustigt stand sie auf, stellte sich wieder vor ihren Spiegel, trug den Kajal vollends auf und schmunzelte: „Nun ja, bei mir kommt er auf jeden Fall nicht ran seit diesem einen Mal und für die nächste Zeit wird das auch so bleiben. Dann wird sich ja zeigen, ob ihm wirklich was an mir liegt oder ob er nur ein Satyr ist.“ Inzwischen hatte sich Jon auf ihrem Bett niedergelassen und lobte sie: „Braves Mädchen, ich bin stolz auf dich. Sich niemals einfach so einem Kerl hingeben ist extrem wichtig fürs Überleben einer Frau an Bord eines Piratenschiffes, das hat schon Alice mir früher immer erzählt.“ Kim hielt inne und drehte sich zu Jon um. Er lag halb auf ihrem Bett und starrte an die Decke.

Verwirrt drehte sie sich wieder um und fuhr fort sich zu schminken. Das war das erste Mal gewesen, dass Jon von sich aus über Alice gesprochen hatte. Hatte er ihren Tod jetzt überwunden? Was war eigentlich mit Alice? Sie war doch zur Untoten geworden und hatte sie schon einmal angegriffen. Warum also nicht auch in den letzten drei Jahren? Ihr sollte es Recht sein, so hatte sie länger ihre Ruhe.

Just in dem Moment in dem sie fertig geworden war, öffnete sich die Tür erneut und Terry sagte genervt: „Jon, wo bleibst du denn? Kim ist wahrscheinlich mit Charles an Land gegangen. Mach dir keine Sorgen, die wird schon nichts anstellen, also lass uns endlich gehen!“ Er sah sich um und stockte, als er Kim sah. Verwirrt fragte er: „Was machst du denn noch hier? Ich dachte, du seist mit Charles liiert und würdest alles mit ihm zusammen machen?“ Aber als er Jon auf dem Bett liegen sah, grinste er: „Ach so, störe ich etwa? Ich kann euch auch alleine…“ Sie schob seinen Oberkörper unsanft zur Seite und zischte: „Laber nicht so einen Scheiß!“ Etwas lauter fügte sie hinzu: „Jon, ich bin fertig, kommst du?“ Träge richtete er sich auf und stapfte ihr und Terry hinterher an Deck und an Land. Als sie das Hafen-Gelände verlassen wollten, kamen sie an einem grauhaarigen, unrasierten Mann vorbei, der sie alle grimmig musterte.

Die Gruppe schob sich an ihm vorüber und er sagte nichts, doch als er Jon erblickte, der neben Kim das Schlusslicht darstellte, klarte seine Miene auf und er lächelte: „Guten Abend, Señor Son. Ihr seid noch so spät unterwegs? Na ja, ist ja kein Wunder, nach einer so langen Reise will man ja schließlich ein bisschen feiern, dass einen keine Piraten überfallen haben. Ihr könnt wirklich von Glück reden, hier in der Karibik treibt nämlich zurzeit ein ziemlich dreister Pirat sein Unwesen, er soll drei Schiffe haben, genau wie Ihr, und Genitson heißen, wenn Ihr wieder ablegt solltet Ihr Euch vor ihm in Acht nehmen, denn dem würde ich nicht gerne bei Dunkelheit über den Weg laufen.“ Jon warf Kim ein flüchtiges, selbstgefälliges Grinsen zu und sagte dann zu dem Hafenwärter: „Von dem habe ich auch gehört, der soll ja sogar ein Weibsbild an Bord haben, die soll selbst die Hölle wieder ausgespuckt haben und erst kürzlich habe ich in einer Spelunke aufgeschnappt, dass sie den berüchtigten und gefürchteten Captain Folkhorn ohne mit der Wimper zu zucken erschossen hat. Ein Teufelsweib sage ich Euch!“

„Recht habt Ihr, Señor Son, Recht habt Ihr. Ich wünsche Euch und Eurer reizenden Begleitung auf jeden Fall noch einen recht schönen Abend und genießt Euren Aufenthalt in Cartagena.“ Kim angrinsend legte er seinen Arm um ihre Schulter und rief dem Mann noch zu: „Ich danke Euch, Señor Rondinho und Euch auch noch einen guten Abend.“ Als sie außer Hörweite von ihm waren, fragte Kim ihn kopfschüttelnd: „Teufelsweib? Was sollte das denn? Und warum ist der Kerl so verdammt freundlich zu dir?“ Er wollte gerade antworten, da rief Terry von vorne: „Von dir hat er nur angefangen, weil unser ach so bescheidener Captain die Lorbeeren nicht alleine einheimsen wollte und der Kerl ist so verdammt freundlich, weil Jon noch ein paar Goldstücke zur normalen Hafengebühr draufgezahlt hat. Wohin wollen wir eigentlich gehen, Captain?“

„Ich hab keine Ahnung, aber der Hafenmeister hat mir vorhin erzählt, dass es hier eine Kneipe gibt mit dem Namen Nixenflügel. Die soll anscheinend nicht teuer sein, aber trotzdem einen hohen Standard pflegen.“ Etwas übermütig rief Aodh: „Also auf in den Nixenflügel, uns ordentlich besaufen! Schließlich müssen wir feiern, dass uns nicht dieser Genitson oder das Teufelsweib ausgeplündert haben, nicht wahr, Jon?“ Dieser lachte nur und fragte ihn: „Sag mal, Aodh, weißt du überhaupt, wo die Kneipe ist oder führst du uns hier einfach irgendwohin?“ Leicht verwirrt blieb Aodh, der sich an die Spitze der Gruppe gesetzt hatte, stehen und gab kleinlaut bei: „Nun ja, ich dachte ja, du würdest wissen, wo’s lang geht, Jon.“ Die anderen zogen lachend an ihm vorbei und klopften ihm auf die Schulter. Und Edward lachte noch: „Ein Glück, dass du nicht der Captain bist.“ Wütend brauste Aodh auf: „Ihr wisst doch wohl auch nicht, wie man in diese Kneipe kommt!“ Laffite aber lachte nur: „Mais nous n’avançons jamais. Et maintenant, Jon, dis donc, où est cet mastroquet?“

„Der Hafenmeister hat gesagt, immer nur geradeaus und dann auf der rechten Seite“, antwortete Jon.
 

Im Nixenflügel war es recht angenehm. An der Decke und der Wand die zur Tür lag, waren Netze befestig, in denen künstliche Fische, Seesterne und solche Dinge hingen. Und auf der Wand gegenüber der Tür war ein Bild gemalt, auf dem einige Nixen, deren Brüste nur von ihren Haaren verdeckt wurden, auf einem Stein saßen und einem Schiff zuwinkten.

Insgesamt war die Kneipe recht gut besucht, aber einen Platz zu finden hatten sie dennoch keine Probleme. Die Kundschaft bestand hauptsächlich aus Seeleuten, doch spürten diese wahrscheinlich, dass Jons Truppe keine ehrlichen Matrosen waren, denn als sie eintraten wurde es schlagartig still und aller Augen waren auf sie gerichtet. Kim fühlte sich ein wenig unwohl in ihrer Haut, doch die anderen schienen die Blicke kalt zu lassen, sie gingen zwischen den Tischen her, bis sie sich an einen der großen setzten. Anscheinend gab es keine Bedienung, so standen Terry, Laffite und Edward auf, um sich und den anderen etwas zu Trinken zu besorgen.

Sie ließen nicht lange auf sich warten, sondern kamen schnell wieder, jeder mit zwei Krügen Bier in Händen. Wenig später, als jeder einen Krug vor sich stehen hatte, stand Jon auf, hob seinen Pokal und sagte laut: „Lasst uns anstoßen, auf dass uns nicht dieser Genitson, mit dem Teufelsweib und den drei Schiffen voller skrupelloser Piraten angegriffen hat. Und selbst wenn er es gewagt hätte, gegen uns wäre er nicht angekommen, darauf wollen wir trinken! Prost!“ Alle, die am Tisch saßen, standen auf, stießen ihre Krüge aneinander und prosteten sich zu, dann wurde getrunken was das Zeug hielt.

Sie lachten und grölten durch die ganze Kneipe, doch mit der Zeit schwang die Stimmung auch auf die übrigen Besucher über, die auch schon einiges an Alkohol intus hatten. Kim jedoch konnte sich nicht von der guten Stimmung anstecken lassen. Sie war nach wie vor stinksauer auf Charles. Was sollte das nur? Da beteuerte er ihr doch tagtäglich, wie lieb er sie hatte und ging dann doch mit anderen an Land. An und für sich wäre ja das nicht relevant gewesen, doch er hatte es ihr nicht gesagt und sich nicht einmal verabschiedet. Jon, der neben ihr saß und ihren missmutigen Blick bemerkt hatte, fragte: „Was ist denn los mit dir? Du siehst irgendwie traurig aus.“ Sie wich ein wenig zurück, weil sie den starken Geruch von Alkohol, den er beim Reden verströmte, abstoßend fand und entgegnete: „Ich bin nicht traurig, ich bin wütend, weil Charles diese Kanaille, einfach mit Juanito, Creetin, Jack und den ganzen losgezogen ist.“ Er sah sie etwas verwirrt an und meinte dann: „Also das ist doch wohl nicht so schlimm, oder? Ich meine, soll er halt mal nur mit Kerlen was unternehmen, mit denen wird er dich schon nicht betrügen.“ Er lachte schallend, doch Kim zischte genervt: „Das ist es ja gar nicht, was mich wütend macht.“ Mit großen Augen musterte Jon sie und fragte verwirrt: „Und was dann? Hat er nicht die richtigen Kleider an?“

„Nein, es ist nur so, dass er mir nichts gesagt hat und sich noch nicht einmal verabschiedet hat. Sonst könnte er ja gerne was mit denen unternehmen, wenn er es mit ihnen aushält.“ Jon allerdings legte seinen Arm um sie und deutete mit dem anderen einladend in die Runde, dann grinste er: „Also wenn du es ihm heimzahlen willst, hier sind genug Männer, die sich ganz und gar nicht benutzt vorkämen.“ Sie schob ihn von sich und rief empört aus: „Jon, bitte! Ich bin kein Flittchen, was unterstellst du mir eigentlich damit?“ Unschuldig die Hände hebend beteuerte er jedoch: „Ich unterstelle dir gar nichts, das war nur ein gut gemeinter Vorschlag, weiter nichts.“

„Aber eigentlich solltest du wissen, dass ich so etwas niemals annehmen würde. Und so viel hast du ja nun auch wieder nicht getrunken. Was zum Teufel soll also der Mist?“

„Tut mir ja Leid, es war nur ein Spaß, nimm doch nicht alles so ernst!“

„Ein toller Scherz! Hörst du, wie ich lache? Ha ha ha!“

„Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt, du kannst einem ja jegliche Stimmung vermiesen, sei doch mal fröhlich, auch wenn Charles nicht da ist, dann sprichst du eben morgen mit ihm. Aber jetzt feire doch ein bisschen mit uns, bitte.“ Resignierend schüttelte sie den Kopf und lachte: „Na von mir aus, dann soll mir Charles, für diesen Abend zumindest, egal sein.“ Übermütig hob Jon seinen Krug, der gerade wieder mit Bier aufgefüllt worden war, sodass ein Teil des Inhaltes überschwappte und rief: „Darauf müssen wir trinken! Darauf, dass Charles Kim heute Nacht egal ist!“ Alle anderen in der Runde prosteten ihr zu und Terry fragte anzüglich grinsend: „Was heißt denn egal?“ Aber Kim grinste süffisant: „Nicht das, was du denkst Terry, auf dieses Niveau begebe ich mich sicher nicht.“ Gerade wollte dieser etwas erwidern, da kam Juanito angestürzt, vollkommen außer Atem und keuchte: „Captain, wir haben ein… Problem!“ Jons Gesicht wurde ernst und er fragte: „Was?“

„Du musst mitkommen, … es ist wegen Charles.“ Als er seinen Namen erwähnte, warf er einen flüchtigen Blick zu Kim, die aufgehorcht hatte. Sie sprang auf und fragte: „Was ist mit ihm?“ Aggressiv zischte aber Juanito, der gar nicht mehr gut auf sie zu sprechen war, seit ihrer Affäre mit Charles: „Das kann dir egal sein, ihm geht’s noch gut.“ Etwas dringlicher fügte er noch an Jon gewandt hinzu: „Bitte, Captain, beeil dich!“ Missmutig stand dieser auf und folgte Juanito aus dem Lokal. Auch Kim lief ihnen hinterher, sonst allerdings niemand.

Juanito eilte sich, zum Hafen zu kommen, von wo aus man schon von weitem Charles schallend singen hören konnte: „Kaperbriefe Überfälle

Wir sind nicht dumm, nein wir sind helle

So springt für uns am meisten raus

Mit den unsrigen ist’s niemals aus!
 

Denn wir sind Piraten

Der Teufel und eure Herrscher haben uns beraten

In Zeiten des Friedens erlauben sie’s uns

Zu holen euer Gut und auch euern Grund

Die Drecksarbeit, die erledigen wir

Doch wir tun’s gerne für Fässer voll Bier!“ Jons Miene verfinsterte sich zunehmend und er überholte Juanito. Auch Kim lief immer schneller. Was dachte sich Charles nur dabei? Wenn irgendeiner der Anwohner Wind davon bekam, dass sie Piraten waren, konnten sie das Plündern der Stadt vergessen. Schließlich stand sie, ganz außer Atem, neben Jon, vor Charles, der sie anstrahlte und weiter das Piratenlied sang. Creetin versuchte, mehr oder weniger verzweifelt, ihn vom Singen abzuhalten, doch schaffte er es nicht. Jon, der vollkommen in Rage geraten war, brüllte Charles an: „Halt gefälligst dein verdammtes Maul, du Idiot! Willst du denn, dass die ganze Stadt weiß, dass wir Piraten sind?“ Charles jedoch zeigte keine Reaktion und sang munter weiter. Nun versuchte auch Kim ihr Glück, sie trat an ihn heran, umarmte ihn, küsste ihn auf die Wange und flüsterte: „Bitte, Charles, hör auf zu singen, ich will nicht, dass sie dir wehtun. Wenn du aufhörst, dann werde ich auch … alles tun, was du verlangst.“ Für einen kurzen Moment wurde er still und fragte: „Wirklich alles?“ Tief durchatmend nickte sie und Jon musterte sie erstaunt. Das hätte er ihr nicht zugetraut.

Gerade wollte sie schon erleichtert von ihm ablassen, da begann er wieder schallend zu singen und genoss anscheinend die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Eine Weile versuchten sie noch auf ihn einzureden, dann platzte Jon der Kragen. Er packte ihn am Kopf und schlug diesen hart gegen die Hafenmauer, während er brüllte: „Charles, du dummes Schwein! Ich sollte dich erschießen! Halt jetzt endlich deine Fresse, oder ich werde richtig wütend!“ Und er schlug seinen Kopf noch einmal gegen die harte Steinwand.

Kim schrie auf, rannte zu ihnen und versuchte Jon von Charles loszukriegen, der allerdings nur benommen zu Boden sank. Sie schlug ihm auf die Wangen und rief: „Charles! Charles, wach auf!“ Verzweifelt sah sie sich um, da bemerkte sie, wie eine Person, im Morgenmantel, mit einer Laterne auf sie zu gerannt kam. Gleich erkannte sie den etwas dicklichen Hafenmeister, doch sie erwartete nicht, dass er zu ihnen kam.

Aber genau das tat er und fragte abgehetzt: „Was ist denn hier geschehen? Ich habe Gesang und dann Schreie gehört, was ist denn mit ihrem Kameraden passiert?“ Kim, den Tränen nahe, fragte sich, was Jon jetzt wohl antworten würde, doch er hatte schon längst die richtige Ausrede gefunden und sagte ruhig, ganz im Gegensatz zu seinem vorausgegangenem Temperamentsausbruch: „Genau wissen wir das auch nicht, doch bevor er das Bewusstsein verloren hat, hat er uns erzählt, dass zwei Kerle ihn angegriffen und seine Geldbörse entwendet hätten. Da sie davor noch diese Lieder gesungen haben, ist er davon ausgegangen, dass es Piraten waren und hat natürlich versucht, sie zu überwältigen, doch sie waren zu stark, haben seinen Kopf gegen diese Steinmauer geschlagen und sind lachend davongelaufen, mit seiner Börse.“ Der Hafenmeister wurde kreidebleich und fragte: „Wie viele sagte er waren es? Zwei? Und sie sangen Piratenlieder?“ Erstaunt, dass der Mann ihm die Geschichte so einfach abkaufte, nickte Jon. Der Hafenmeister jedoch murmelte: „Die Gebrüder!“ Kim war es nun genug und sie rief: „Ist doch egal, wer das war, er braucht jetzt einen Arzt! Wo ist hier einer?“ Abwesend antwortete ihr der Mann: „Die Straße entlang, dann die zweite links, beim Brunnen rechts und in der Labestraße auf der rechten Seite.“ Kurz bedankte sich Kim, dann versuchte sie sich Charles auf die Schultern zu laden und los zu marschieren. Jon, nun anscheinend doch von der Reue gepackt, sagte zum Hafenmeister: „Ich würde gerne noch einmal mit Euch über diese Gebrüder sprechen, vielleicht morgen. Ich wünsche Euch noch eine angenehme Nacht und entschuldigt bitte die Störung, Señor.“ Dann kam er Kim nach, die unter Charles Gewicht ächzte, legte sich einen seiner Arme um die Schultern und half ihr so, bis sie zu der Praxis kamen. Als beim ersten Klingeln keiner öffnete, begann Kim Sturm zu klingeln, da Charles stark aus einer Wunde am Kopf blutete.

Nach einer Weile öffnete ein sehr verschlafen wirkender Mann in Morgenmantel und Pantoffeln, der sie mürrisch fragte: „Was ist denn so wichtig, dass Ihr um die Unzeit so penetrant bei mir klingeln müsst?“ Kim, völlig außer Atem, erklärte ihm: „Es ist wegen Charles, also wegen ihm. Zwei Kerle haben seinen Kopf gegen eine Wand geschleudert, jetzt ist er bewusstlos und blutet stark am Kopf.“ Langsam hob Charles den Kopf und fragte benommen: „Was? Wer ist bewusstlos?“ Der Arzt allerdings gähnte herzhaft und sagte dann: „Das wird aber Teuer, dass Ihr’s wisst, Señorita, aber gut, kommt herein.“ Er trat beiseite und gab so den Weg in das Haus frei. Anschließen schloss er die Tür hinter ihnen und rief. „Elisa, Cariño, komm runter, wir haben einen Patienten!“ Er bedeutete Kim und Jon Charles auf einem Stuhl abzusetzen und bot ihnen dann auch zwei Hocker an, auf denen sie sich dankbar niederließen. Kim musterte den Arzt skeptisch. Er brachte eine Saite in ihrer Erinnerung zum schwingen; die Haare kurz und Braun, die Nase etwas zu klein für sein Gesicht, Arzt…

Inzwischen war seine Frau heruntergekommen, nicht im Morgenmantel, sondern nur im kurzen Nachthemdchen. So musste man es nennen. Sie schien recht jung, als Ehefrau des Arztes fast schon zu jung. Kim hätte fast geglaubt, sie sei seine Tochter, doch an ihrer rechten Hand trug sie, genau wie der Arzt einen goldenen Ehering. Ärgerlich flüsterte sie: „Kannst du nicht leiser sein? Robert, dein Sohn, hat morgen Schule und seine Eliteschule ist weiß Gott nicht billig, also lass ihm wenigstens seinen Schlaf, wenn er doch sonst so oft mit diesem Caliento zusammen ist.“ Robert? Caliento? Jetzt wusste Kim, an wen sie der Arzt erinnerte, an Blake O’Donnel von damals, in diesem afrikanischem Dorf. Aber diese Ähnlichkeit war wirklich verblüffend. Gerade wollte sie nach seinem Namen fragen, da stöhnte Charles auf und lenkte wieder die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Der Arzt drehte sich zu ihm und sagte zu seiner Frau: „Reichst du mir bitte mal die Tupfer, Schatz?“ Sie tat wie ihr geheißen und ganz ‚zufällig’ rutschte dabei der Träger ihres Nachthemdes. Sie warf einen flüchtigen Blick zu Jon, ob er es auch gesehen hatte und streifte ihn dann wieder über die Schulter. Kim warf ihr einen kurzen missbilligenden Blick zu, lenkte ihr Augenmerk dann aber wieder auf das Tun des Arztes.

Was sie sah gefiel ihr. Mit größter Sorgfalt und beständig mit Charles redend, tupfte er die Wunde ab, um zu sehen, was für eine Wunde er hatte. Vollkommen mit den Gedanken bei Charles sagte er: „Gibst du mir bitte das Jod und die Binde, Schatz?“ Erneut gab sie ihm, was er verlangt hatte. Da es allerdings in einer Schublade ganz unten in einem Schrank war, bückte sie sich gerade so, dass Jon ihr Höschen sehen konnte. Ein kurzer Seitenblick zu ihm verriet ihr, dass er demonstrativ zur Seite schaute, was Elisa anscheinend in Rage brachte. Doch sie reichte ihrem Mann stillschweigend die Sachen und stellte sich in eine Ecke, Kim und Jon missmutig beobachtend.

Ihr Mann hingegen tränkte einen der Tupfer mit dem Jod und tupfte dann damit über die Kopfwunde Charles. Dieser schrie auf und war kurz davor, den Arzt von sich zu stoßen, da brachte ihn ein Blick Kims zum Schweigen. War er doch immer noch betrunken und von Jons Schlägen benebelt, so konnte er sich wenigstens jetzt benehmen.

Als der Arzt die Wunde so weit versorgt hatte, legte er Charles den Verband an und sagte dann an Kim und Jon gewandt: „Wer zahlt denn jetzt die Rechnung?“ Als Jon sich nicht rührte, stand Kim wutentbrannt auf und fragte den Arzt: „Wie viel kostet es denn?“
 

Als sie wieder vor der Tür standen, fühlte sich Kims Geldbeutel um einiges leichter an. Zornig fuhr sie Jon an: „Was hast du dir denn dabei gedacht? Du hättest ihn umbringen können!“ Gleichgültig entgegnete dieser: „Na und? Was denkst du, hätte ein anderer Kapitän mit ihm gemacht? Der hätte ihn gleich erschossen, ohne ein Wort mit ihm zu wechseln.“ Trotzig fuhr Kim allerdings fort: „Was heißt hier na und? Ich liebe Charles und du bist kein anderer Kapitän! Außerdem…“

„Du liebst mich?“, unterbrach sie Charles, der immer noch von den beiden gestützt wurde. Verwirrt fragte sie: „Was?“

„Du hast gesagt, du liebst mich.“ Ihr Herz rutschte ihr in die Hose; sie hatte es wirklich gesagt, doch stritt sie es weiterhin ab, bis Jon sagte: „Du hast es wirklich gesagt, du musst es gar nicht abstreiten.“ Verzweifelt versuchte sie sich rauszureden: „Nein, ja, ich meine… es ist mir so rausgerutscht, weil…“

„Red dich nicht raus, du hast es gesagt und auch so gemeint.“, unterbrach sie Charles erneut. Gesagt hatte sie es wirklich, aber ob sie es auch meinte, da war sie sich nicht so sicher. Aber schlussendlich waren es doch nur drei Wörter, drei kleine belanglose Worte. Sie könnte es einfach so sagen.

Nein, sie konnte es nicht einfach sagen und seufzte: „Es tut mir Leid, Charles, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dich liebe, es ist mir vorhin wirklich nur rausgerutscht.“ Traurig sah er zu Boden und Kim fragte sich, ob er gehofft hatte, dass sie es ernst gemeint hatte. Ihren letzten beiden Freunden war das egal gewesen, ihm anscheinend nicht.

Sie ließ sich ihre Beziehung noch einmal durch den Kopf gehen. Doch liebte sie ihn noch nicht. Noch hing sie an Leo, konnte ihn nicht loslassen, ohne das Gefühl zu haben, ihn zu vergessen und davor fürchtete sie sich. Sie würde vergessen, wie er aussah, wie er sprach, wie er roch, sie würde alle Erinnerungen an ihn vergessen, bis sie nur noch seinen Namen kannte und, dass es schön mit ihm gewesen war. Sie hatte Angst ihn und damit einen Teil von sich selbst zu vergessen.
 

Bis sie am Schiff ankamen, schwiegen sie. Kim hatte ein schlechtes Gewissen und fragte Charles: „Soll ich heute Nacht vielleicht bei dir bleiben? Falls du irgendetwas brauchst.“ Ihr nicht in die Augen schauend entgegnete er: „Was ich will, willst du mir sowieso noch nicht geben.“

„Es tut mir Leid, Charles. Glaub mir, es tut mir so Leid.“ Sie war den Tränen nahe. Sie konnte in seiner Stimme hören, in seinen Augen lesen, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie sagte: „Komm, ich bringe dich in deine Kajüte.“ Jon war schon längst wieder an Bord gegangen, nur Charles und Kim waren noch schweigend davor stehen geblieben. Doch nun machten sie sich auf den Weg ins Innere des Schiffes. Als Kim Charles in seine Kabine geleitet hatte, umarmte sie ihn und gerade, als sich ihre Wangen berührten, lief eine heiße Träne über ihre Backe und berührte auch die Charles. Dieser sah sie verwirrt an und fragte: „Weinst du?“ Kim jedoch lächelte, wischte sich vergebens die Tränen weg und schüttelte den Kopf. Stutzig fragte Charles: „Warum weinst du denn?“

„Weil es mir so Leid tut, ich wollte dich nicht verletzen, bitte glaube mir, aber ich bin einfach noch nicht so weit. Verzeih mir!“ Verzweifelt suchte sie das Gesicht in ihren Händen zu verstecken, doch Charles hielt ihre Hände fest, sah ihr in die Augen und sagte: „Das ist kein Grund zu weinen. Wenn du meine Gefühle verletzen würdest, müsstest du doch nicht weinen. Warum weinst du also?“

„Ich weiß es nicht, ich möchte nicht, dass du verletzt bist und vorhin hatte ich eine Heidenangst, dass du sterben könntest, denn Jon hat wirklich hart zugepackt.“ Charles kratzte sich am Kopf und meinte: „Das erklärt dann auch die Kopfschmerzen, aber noch spüre ich nicht wirklich was, ich glaube, das kommt dann morgen, zusammen mit dem Kater.“ Sie musste ein wenig lachen. Charles wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht und sagte dann: „Na siehst du? Lachend bist du viel hübscher.“ Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie zärtlich. Kim schloss ihre Augen und genoss diesen Kuss, frei von Verlangen, frei von Vorwürfen, frei von Verzweiflung. Aber doch so voller Gefühle, dass sie dachte, sie würde platzen. Und für einen Moment wurde es in ihrem Kopf ganz still. Da war nichts mehr. Keine Reue, kein Zorn, keine Erinnerung. Nichts, nur der Augenblick.

Als er von ihr abließ, wurde ihr kalt, sie fröstelte und sagte schluckend: „Ich glaube, ich gehe schlafen.“ Gerade drehte sie sich um, da hielt er sie am Handgelenk fest, zog sie zu sich in seine Arme und fragte: „Willst du nicht bei mir schlafen? Ich glaube nämlich, ich liebe dich.“ Und da war wieder ihr schlechtes Gewissen. Aber wie als würde er es ahnen, fügte er schnell hinzu: „Keine Angst, ich kann warten, bis du es erwiderst. Ich will nur, dass du es weißt. Ich liebe dich, von ganzem Herzen und deswegen will ich, dass du meine Liebe erst erwiderst, wenn es auch wirklich von ganzem Herzen kommt, solange soll kein Wort von wegen Liebe über deine Lippen kommen. Kein Wort, versprich es mir.“ Verunsichert fragte sie: „Aber wenn du mich lie…“ anstatt sie ausreden zu lassen, versiegelte er ihre Lippen mit einem Kuss und flüsterte dann liebevoll: „Ich sagte doch kein Wort.“
 

Am nächsten Morgen wachte sie allein in seinem Bett auf. Sie sah sich um und fand ihn, sich den Kopf haltend, im Raum auf und ab gehend. Gähnend fragte sie: „Na? Wie geht’s deinem Kater?“ Er schrak auf und sagte dann wehleidig lächelnd: „Ich glaube, die Kopfschmerzen kommen nicht vom Alkohol, aber ich könnte etwas gebrauchen, das betäubend wirkt.“ Besorgt stand sie auf, sie hatte nur eins seiner T-Shirts und ihr Höschen an, ging zu ihm hin und sah sich den Verband an. Dann fragte sie: „Willst du nicht vielleicht doch noch mal zum Arzt?“ Lachend winkte er ab: „Und noch mehr Geld zum Fenster rauswerfen? Das geht schon vorbei. Apropos, wie viel schulde ich dir eigentlich für den Arztbesuch?“ Kim jedoch legte ihm den Finger auf die Lippen und flüsterte: „Ist doch egal, du hast mir in New Providence so viel gezahlt, da kann ich dir auch mal was spendieren und sei’s ein Arztbesuch.“

„Ach was, du musst doch nicht für meine Gesundheit aufkommen, das übernehme ich schon, also wie viel?“ Er drehte sich schon um und wollte nach seiner Börse greifen, da hielt sie ihn zurück und grinste: „Das sage ich dir nicht, deinem Bruder hab ich auch mal einen Besuch beim Arzt gezahlt und das war fast doppelt so teuer. Liegt bei euch irgendwie in der Familie, oder?“ Verwirrt drehte er sich wieder zu ihr um und fragte: „Wieso musstest du denn mit Leo zum Arzt?“

„Na so ein Franzacke hat ihm zwei Finger abgeschossen, das sah gut aus, sage ich dir.“ Traurig lächelnd fragte er weiter: „Du hängst immer noch an ihm, nicht wahr?“ Schuldbewusst sah sie zu Boden und schwieg eine Weile, dann sah sie wieder auf und nickte langsam. Noch immer ein bisschen melancholisch fragte er: „Habe ich denn eine Chance gegen ihn?“ Ehrlich antwortete sie: „Ich weiß es nicht. Ich brauche einfach Zeit, denn ich habe Angst Leo zu vergessen, seine Art, sein Aussehen. Es tut mir so Leid, bitte glaube mir.“

„Hat diese Beziehung dann überhaupt einen Sinn?“ Erschrocken erwiderte sie: „Natürlich! Ich will nicht nur trauern, zurück kommt er sowieso nicht.“

„Bin ich dann so was wie ein Ersatz? Weil ich ihm ähnlich sehe, sein Bruder bin?“

„Nein! Auf keinen Fall, du bist doch ganz anders als er, mag sein, dass ihr euch in mancher Hinsicht ähnelt, aber du bist doch kein Ersatz!“

„Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst.“ Er nahm ihre Sachen und drückte sie ihr in die Hand. Vollkommen entmutigt verließ sie seine Kajüte und ging in ihre eigene. Dort zog sie sich an und konnte noch nicht wirklich verstehen, was passiert war. Bedächtig ging sie in Jons Kajüte, doch sie traf ihn nicht an. Niedergeschlagen kam sie an Deck und schaute sich um, da sah sie, wie Jon gerade vom Schiff ging. Sie lief zu ihm und umarmte ihn von hinten. Als sie wieder von ihm abließ und er sich umdrehte, fragte er verwirrt: „Was ist denn los? Ist etwas passiert?“ Sie atmete tief durch und sagte: „Nein, nein, ich wollte dich einfach mal umarmen, darf ich das etwa nicht? Wohin gehst du denn so früh?“

„Ich wollte doch noch mit dem Hafenmeister über diese Gebrüder reden. Willst du mitkommen?“

„Darf ich denn?“ Lachend legte er ihr den Arm um die Schultern und sagte, sich in Bewegung setzend: „Warum denn nicht. Aber nachher erzählst du mir dann, was los ist, ja?“ Erleichtert nickte sie und ging neben ihm her, bis sie am Ende des Hafens auf den Meister trafen, der mit ihnen in ein Lokal ging. Erst musterte er Kim skeptisch, doch Jon fragte missbilligend: „Habt Ihr etwas dagegen, wenn mein Vizekapitän dabei ist?“ Ungläubig fragte Rondinho aber: „Eine Frau? Eine Frau ist Euer Vizekapitän?“

„Habt Ihr etwa ein Problem damit?“ Diese Aussage wurde mit einem so garstigen Blick Jons begleitet, dass der Hafenmeister schwer schlucken musste und lieber still war. Doch Jons Gesichtsausdruck wurde gleich wieder freundlicher und er fragte: „Nun, Señor Rondinho, was hat es mit den Gebrüdern auf sich? Ihr sagtet, sie sängen Piratenlieder? Sind es Piraten?“

„Nein, um Gottes Willen, Piraten hier in dieser Stadt… Nein, nein, ich glaube, sie waren einmal Piraten, aber nun ziehen sie hier in der Gegend umher und plündern die Leute aus. Wenn sie schon etwas getrunken haben, singen sie diese Lieder, ich glaube fast, sie kennen keine anderen.“

„Und wie heißen diese Scharlatane?“

„Der eine heißt glaube ich Maury und der andere Brian, das sind ganz üble Spießgesellen. Skrupellos und sie haben auch genauso wenig ein Gewissen, denen wollte ich nicht nachts auf der Straße über den Weg laufen.“ Jon blieb ruhig, doch hatte Kim gemerkt, wie er bei den Namen der beiden Kerle aufgehorcht hatte. Kühl fragte er: „Und wie sagtet Ihr doch gleich, hießen sie? Brian und Maury? Wisst Ihr wie sie aussehen?“

„Nein, tut mir Leid, aber ehrlich gesagt bin ich froh drum, denn ansonsten würde ich jetzt vielleicht nicht mehr leben.“

„Wie meint Ihr das?“

„Nun ja, Euer Kamerad gestern hatte wirklich Glück, denn sie schienen gut gelaunt zu sein. Für gewöhnlich bringen sie ihre Opfer um. Ihr solltet auch auf Euren Vizekapitän gut aufpassen, Señor Son, denn die Beiden rauben ab und zu auch gerne mal eine schöne Frau, die kommt dann nie mehr zurück.“ Er zwinkerte Kim zu, doch als er Jons missbilligenden Blick sah, rutschte er nervös auf seinem Stuhl hin und her. Für einige Zeit herrschte gespannte Stille, dann sagte Señor Rondinho: „Entschuldigt mich bitte, aber ich muss wieder zum Hafen, die Hafengebühr trägt sich ja nicht von selbst ein. Ich wünsche Euch noch einen schönen Tag, auf Wiedersehen.“ Er nickte den beiden noch einmal zu und verschwand dann hastig aus dem Lokal.

Kim konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen, sie prustete: „Oh mein Gott! Hast du gesehen, wie nervös der Kerl war? Ich glaube, er hat geglaubt, du könntest ihn jeden Moment abstechen!“ Auch Jon lächelte etwas gequält, blieb aber still. Verwundert fragte Kim: „Was ist denn? Kennst du die Gebrüder etwa?“ Jon jedoch lächelte: „Ich weiß es nicht, ich müsste sie sehen. Aber das ist jetzt irrelevant, mich würde viel mehr interessieren, was vorhin mit dir war, du sahst so bedrückt aus.“ Nun war sie es, die sich zu einem Lächeln zwingen musste und sagte: „Nun ja, ich glaube, Charles, er… er will nicht mehr mit mir zusammen sein.“ Erst blinzelte Jon ungläubig, dann knallte er die Hände auf den Tisch und brüllte: „Was? Was fällt diesem Schmarotzer ein? Als hättest du auch so nicht schon genug Probleme am Hals! Ich habe ihn hier aufgenommen, damit er nicht mit ins Mittelmeer musste, du hast ihm deine Zuneigung entgegengebracht und gestern Nacht auch noch die Arztrechnung für ihn übernommen und jetzt will der Kerl von alledem nichts mehr wissen? Wie kommt er denn dazu? Na warte, wenn ich mit dem fertig bin, kann ihm kein Arzt der Welt mehr helfen!“ Kim allerdings legte den Finger an die Lippen und flüsterte: „Psst! Willst du denn, dass das ganze Lokal davon erfährt? Außerdem hat er doch eigentlich Recht, ich hänge noch an Leo und kann ihm nicht die Art Liebe geben, die er sich wünscht.“

„Na und? Das ist doch vollkommen nebensächlich! Nur weil du nicht mit ihm schlafen willst, oder was? Und dass du noch an Leo hängst, muss er doch wohl verstehen, schließlich hast du ihn geliebt und warst mehr als zwei Jahre mit ihm liiert, da kannst du doch wohl ein bisschen Verständnis und Geduld erwarten.“

„Das ist ja nicht das Einzige, er kommt sich ausgenutzt vor, er denkt, ich würde ihn nur als Ersatz für Leo nehmen, weil er ihm ähnlich sieht.“

„So ein ausgemachter Blödsinn! Wenn er dir zuhören würde, wüsste er, dass dem nicht so ist, denn du gehst davon aus, dass jeder Mensch anders ist, was ja auch richtig ist. Und er sollte sich glücklich schätzen, dass du dich überhaupt mit ihm abgibst, basta.“ Schwermütig seufzte sie: „Das hilft mir aber auch nichts, er ist nun mal eifersüchtig und…“

„Auf einen Toten eifersüchtig sein, Schwachsinn!“

„Lass mich doch ausreden, er ist doch nicht nur auf meine Liebe zu Leo eifersüchtig, sondern auch auf meine Beziehung zu dir, er fragt die ganze Zeit, ob da was läuft.“

„Sag mal, so langsam platzt mir wirklich der Kragen. Für was für ein Allermannsliebchen hält der dich denn? Na dem werd ich was flüstern, dass ihm hören und sehen vergeht.“ Kim aber ergriff seinen Arm und sagte lächelnd, mit Tränen in den Augen: „Nein, bitte Jon, tu das nicht, er hat auch so noch Schmerzen wegen gestern, außerdem habe ich ihn wirklich sehr lieb.“ Eine Träne kullerte ihre Wange hinunter. Jon nahm sie kopfschüttelnd in den Arm und fragte ruhig: „Tut es sehr weh?“ Sie schluchzte unterdrückt auf und sagte: „Ja, es schmerzt in meinem Herzen. Es ist, als würde es bersten, in tausend Teile springen. Warum glaubt er mir denn nicht? Warum nur? Warum tut er mir das an?“ Jon hielt sie fest und flüsterte: „Ich weiß es nicht, ich kann ihn beim beten Willen nicht verstehen. Er könnte sich glücklich schätzen, so jemanden wie dich lieben zu dürfen. Du bist freundlich, wunderschön, von Herzen gut. Und wenn ich sehe, wie er dich behandelt, dann steigt in mir eine Wut auf, dass ich ihn am liebsten verprügeln würde, dass er froh sein kann, dich noch einmal sehen zu dürfen.“ Melancholisch lachte sie auf und sagte: „Danke, dass du für mich da bist. Ohne dich würde ich verrückt werden.“

„Natürlich bin ich für dich da und du weißt auch, dass du immer zu mir kommen kannst, schließlich hab ich dich ja lieb, genauso wie die anderen und wenn die wüssten, wie Charles mit dir umgeht, dann gnade ihm Gott.“ Sie löste sich aus seiner Umarmung, wischte sich die Tränen weg und lachte: „Ich bin schon ein dummes Ding, weine, nur weil dieser Kerl mich nicht mehr will.“ Nachsichtig schüttelte Jon den Kopf und lächelte: „Das ist überhaupt nicht dumm. Du hast so viel Leid und Schlechtes erfahren, da ist es gar nicht verwunderlich, dass dir das so nahe geht, schließlich dachtest du, dass er dich verstehen und dir Kraft geben würde. Aber dann enttäuscht er dich so und das tut weh, das ist eine herbe Erfahrung.“

Sie schwieg. Es war wirklich herb, aber sie konnte nichts dagegen tun. Zwar fühlte sie sich jetzt erleichterter, es drückte sie nicht mehr so, aber der Schmerz war noch immer der gleiche. Wenn sie ihn doch nicht wirklich liebte, warum tat es ihr dann so weh?
 

Schließlich stand Jon auf und sagte: „Die Rechnung geht auf mich, lass uns noch ein wenig durch die Stadt bummeln, ich muss die Straßen erkunden und vielleicht gibt es hier irgendwo eine Karte zu erwerben.“ Sie nickte, wartete, bis er an der Theke gezahlt hatte und ging dann mit ihm zusammen hinaus. Es war ein trüber Tag und es nieselte, was sich aber bald in einen strömenden Regenguss wandelte. Da Kim und Jon ohnehin schon absolut durchnässt waren, gingen sie gemütlich durch die Gassen und genossen den warmen Regen schon fast.

Cartagena war größer als Kim es erwartet hatte und nach einer geschlagenen Stunde des Laufens brauchte sie eine Pause. Sie war so viel Bewegung nicht mehr gewohnt, was durch die nassen und schweren Kleider auch nicht gerade erleichtert wurde.

Jon war schon ein Stückchen weitergegangen und sie stand, an eine Wand gelehnt, in einer kleinen Seitenstraße und stützte sich auf ihre Schenkel.

Gerade wollte sie Jon wieder hinterher, da spürte sie, wie ihr eine Pistole in den Rücken gedrückt wurde und jemand flüsterte: „Ein Mucks und du bist tot, Herzchen.“ Ihr stockte der Atem und ihr Herz raste, wer war das? Einer der Gebrüder? Doch kaum hatte sie sich das gefragt, da sagte eine andere Stimme: „Komm schon, beeil dich, sonst kommt er wieder und der sah nicht so aus, als würde er Scherze machen.“ Trotzig zischte sie: „Oh nein, die macht er sicher nicht und wenn Jon euch erwischt, dann könnt ihr froh sein, wenn er euch einen schnellen Tod beschert.“ Im nächsten Moment sah sie, wie ein Mann vor sie trat und sie heftig ohrfeigte, dann sagte er: „Maury sagte doch, du sollst still sein!“ Sie hatte sich auf die Lippe gebissen, doch das Blut spuckte sie Brian nur vor die Füße und fauchte: „Warte nur ab.“ Dann spürte sie, wie die Pistole aus ihrem Rücken genommen, dafür aber ein Messer an ihre Kehle gehalten wurde, aber so fest, dass sie spürte, wie es, als sie schluckte, ihren Hals fein einritzte. Sie machte ihren Hals so lang und dünn wie möglich, traute sich nun aber nicht mehr, irgendetwas zu sagen. Maury drehte sie unsanft um und führte sie vor sich her, da hörte sie hinter sich Jon. „Kim, kannst du wieder weiter? Was ist denn los? Ich dachte, du seist so sportlich? Jetzt mach mal hinne! Kim?“ Anscheinend hatte er bemerkt, dass diese beiden Kerle gerade dabei waren, sie zu entführen und sie konnte schnelle Schritte hören.

Laut fluchte Brian: „Scheiße! Verdammt noch mal, das musste ja so kommen!“ Und Maury brüllte: „Na los, renn, wenn dir dein Leben lieb ist, Mädchen!“ Er zerrte sie am Handgelenk hinter sich her und sie schrie verzweifelt: „Jon, Jon, das sind diese,… diese Gebrüder! Hilf mir!“

„Halt die Klappe, Miststück!“, herrschte sie Maury an. Sie bogen um einige Ecken und als Jon immer noch hinter ihnen war, blieb Brian plötzlich stehen, zog eine Pistole, zielte und schoss. Doch zum Glück war er anscheinend kein guter Schütze, denn er traf nicht. Fluchend drehte er sich um und eilte sich, Kim und Maury einzuholen, von dem er sich gleich einen Tadel zu seinen Schützenkünsten anhören musste.

Als Jon gerade noch hinter einer Ecke war und sie an eine Kreuzung kamen, liefen sie geradeaus und versteckten sich hinter einem großen Container, Kim wieder eine Klinge an den Hals drückend, um ihr zu bedeuten ja leise zu sein. Sie war vollkommen außer Atem und konnte nichts außer diesem hören oder wahrnehmen. Irgendetwas zu sagen hätte sie wahrscheinlich sowieso nicht geschafft, so überanstrengt wie sie war. Auch ihre beiden Entführer schienen sich völlig verausgabt zu haben, denn sie schnauften schwer und warteten länger, als eigentlich notwendig war, bis sie aus ihrem Versteck kamen. Kim wehrte sich nicht mehr großartig. Jetzt war ohnehin alles aus.

Aber für was sollte sie sich eigentlich wehren? Wen würde es interessieren, ob sie zurück kam? Vielleicht Jon, Terry, Edward. Wahrscheinlich auch Garret und Laffite, aber der einzige, von dem sie es sich am meisten wünschte, würde ihr voraussichtlich nicht einmal ein müdes Lächeln schenken. Warum also sollte sie kämpfen, es hatte keinen Sinn.
 

Nach gut einer halben Stunde waren sie aus der Stadt draußen und in einem Wald. Anscheinend wussten die Gebrüder genau, wo sie hin mussten, denn nicht ein einziges Mal zögerten sie und so kamen sie irgendwann an eine Höhle, in der es sogar halbwegs wohnlich aussah. Brian schubste sie auf eine der beiden Matratzen, die auf dem Boden lagen, und machte sich selbst daran, ein Feuerchen zu machen. Kim zog die Beine eng an ihren Körper und sah ihm zu. Maury war nicht da, er war eben wieder in den Wald gegangen.

Kühl drehte sich Brian, als das Feuer brannte, zu ihr um und fragte: „Was ist eigentlich mit dir los? Eben hast du dich noch gewehrt, warst rotzfrech und jetzt sitzt du da wie ein Trauerkloß. Gib mir deine Kleider.“ Erschrocken fragte sie: „Wieso? Nein, ich werde mich nicht ausziehen, das kannst du vergessen!“ Gleichgültig stand er auf, zog sein Hemd und seine Hose aus, hing sie an einer Leine auf und sagte dann zu ihr: „Wenn du dich unbedingt erkälten willst.“ Kurz überlegte Kim, dann fragte sie: „Hast du vielleicht etwas, was ich mir, solange bis meine Kleider getrocknet sind, überziehen könnte?“ Er hatte etwas in der Hand, das er sich anscheinend gerade überziehen wollte, doch er warf es ihr zu und sagte: „Ich glaube, das T-Shirt müsste reichen.“ Sie fing es, stand auf, drehte sich um und zog sich bis auf die Unterwäsche aus, streifte sich gleich darauf allerdings auch das T-Shirt über. Sie setzte sich wieder und versuchte Brians Grinsen zu ignorieren, doch er sagte: „Weißt du eigentlich, dass du einen wunderschönen Rücken hast? Und ich glaube, die Frontseite würde mir noch besser gefallen.“ Er warf ihr zwinkernd einen Luftkuss zu und sie zog das Shirt noch weiter über ihre Beine. Doch Brians Grinsen verschwand von seinem Gesicht und er meinte: „Gib mir deine Sachen, damit ich sie aufhängen kann.“ Sie tat wie ihr geheißen und fragte dann: „Ihr seid also die Gebrüder?“ Brian stocherte etwas im Feuer herum und nickte stumm, doch Kim fuhr fort: „Und ihr ward Piraten? Zumindest kennt ihr ihre Lieder, mein Captain kennt euch, glaube ich jedenfalls.“

„Und wie heißt dein seltsamer Captain, der uns deiner Meinung nach kennt?“

„Jon. Jon Genitson, momentan Captain dreier Schiffe, der Vengeance, der Satisfaction und der Fortune. Außerdem Pirat, mit Leib und Seele.“ Ungläubig wandte Brian seinen Blick zu ihr und fragte: „Jon Genitson sagtest du? Das kann nicht sein. Der ist doch schon längst tot, wahrscheinlich kannte dein Kapitän ihn und benutzt seinen Namen jetzt als Künstlernamen. Aber sag, du bist Pirat? Oder Piratin, oder was auch immer?“ Selbstsicher nickte sie und sagte dann: „Also ich bin mir sicher, dass Jon Genitson sein richtiger Name ist, schließlich steht er mir sehr nahe und würde mir so etwas erzählen.“ Ihr Gegenüber grinste allerdings: „Wie nahe denn? Ist das eine Bezahlung, dass du an Bord sein darfst, oder was?“ Grimmig entgegnete sie: „Von wegen! Wir sind nur Freunde, gute Freunde, aber ich habe nie, niemals mit ihm geschlafen, nur einmal geküsst habe ich ihn und das ist drei Jahre her.“

„Und? Wie war’s?“

„Himmlisch, er kann küssen wie kein Zweiter, ich sage dir… Halt! Wieso erzähle ich dir das überhaupt? Das geht dich rein gar nichts an. Außerdem hast du dich noch nicht einmal vorgestellt, unverschämter Flegel.“

„Ach nein, wie unhöflich, dass ich mich, als dein Entführer, auch nicht sofort vorgestellt habe. Mein Name ist Brian Suffix aber du darfst mich auch gerne Gott nennen.“

„Ho, ho, jetzt geht’s los. Du weißt wohl nicht mit wem du hier sprichst. Ich bin nämlich immerhin eine Kimberley von Merrylson, also hüte deine Zunge und sprich mich nur mit Ehrwürdige an.“

„Nein! Verzeiht mir, meine Unverfrorenheit, ehrwürdige Kimberley von Merrylson, ich hatte ja keine Ahnung mit wem ich es hier zu tun habe. Aber lasst Euch eins gesagt sein: Besser macht dich das auch nicht. Namen sind Schall und Rauch, es bedeutet nichts, du bist eine wehrlose Frau, uns auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, also nimm dich in Acht. Und überhaupt, du sagst doch, du seist Pirat, wo hast du dann deine Waffen gelassen?“

„Auf dem Schiff. Doch wenn du mir nicht glaubst, ich kann dir gerne mein Amulett zeigen, hier.“ Sie war zu ihm gegangen, hatte ihr Amulett aus ihrem Ausschnitt gefischt und hielt es ihm unter die Nase. Er schnupperte ein wenig und bemerkte dann: „Hm, noch warm und wenn es mir gestattet ist, lass mich dir sagen, dass du ein wundervolles Parfüm verwendest.“ Im nächsten Moment packte er sie an ihrem Hintern und zog sie näher zu sich heran, sodass sein Gesicht an ihrem Bauch lag; er saß selbstverständlich. Ihr Atem beschleunigte sich und sie versuchte, ihn weg zu stoßen, doch schaffte sie es nicht und da hörte sie Maurys Stimme sagen: „Lass sie los, Brian, du kannst doch sehen, dass sie keine Hure ist, also verschreck das arme Ding nicht, dazu hast du in der Nacht noch genug Zeit.“ Enttäuscht ließ Brian von ihr ab, grinste sie allerdings noch einmal süffisant an. Kim stolperte rückwärts und ließ sich wieder auf die Matratze sinken. Doch Maury kam auf sie zu und setzte sich neben sie. Er erklärte: „Da ich nicht so stillos wie unser guter Brian hier bin, setze ich mich nicht einfach auf den Boden und du sitzt auf meiner Matratze. Aber bleib ruhig sitzen, dann weißt du schon, wo du heute Nacht schlafen wirst.“ Empört rief Brian: „Wieso darf sie bei dir schlafen? Das ist ungerecht! Ich wollte sie zuerst haben, vielleicht ist sie ja noch Jungfrau.“ Bei diesen Worten leckte er sich über die Lippen und schwelgte anscheinend in Erinnerungen, da meinte Maury gelangweilt: „Erstens wirst du sie gar nicht bekommen, zweitens werde auch ich sie mir nicht nehmen und drittens: sieh sie dir doch mal an, glaubst du im Ernst, die ist noch Jungfrau?“

„Aber du hast doch gesagt, sie sei keine Dirne. Apropos, sie hat gesagt, sie sei auf einem Piratenschiff angeheuert, dessen Kapitän Jon Genitson hieße. Merkwürdig, was?“ Maury musterte Kim eindringlich und sie fühlte sich extrem unwohl unter seinem scharfen Blick. Es war, als könnte er direkt durch sie hindurch sehen, als könnte er alles sehen, was in ihr vorging. Sein Blick war wie der Alice damals, als Kim sie wieder gesehen hatte. Dann fragte er kühl: „Stimmt das? Heißt dein Captain wirklich Jon Genitson?“ Sie schluckte schwer und nickte dann. Wie sehr hoffte sie, dass Jon kam und sie rettete. Da würde sie lieber mit diesem Brian schlafen, als neben diesem Maury. Aber wie sie vermutete, hatte der hier das Sagen und ließ sich von ihr in nichts reinpfuschen. Nun stand auch er auf und zog seine nassen Kleider aus, aber gleich zog er sich wieder etwas anderes über. Er musterte Kim noch einmal missbilligend und fuhr dann Brian an: „Hast du ihr absichtlich das knappste T-Shirt gegeben?“ Stolz nickte dieser und strahlte: „Ich finde es sehr erotisch.“ Maury aber ging zu ihm und schlug ihn hart auf den Hinterkopf. Anschließend sagte er: „Das ist bei ihr völlig egal, versteh es doch, sie ist keine gewöhnliche Frau, sie ist anders, ganz anders.“

„Aua! Warum ist sie denn anders? Sie hat ein hübsches Gesicht, zwei Arme, zwei Brüste, zwei Beine. Für mich sieht sie ganz normal aus.“

„Idiot! So etwas kann man nicht sehen, das musst du spüren, du musst es sehen! Mit deinen Augen kannst du natürlich nichts Ungewöhnliches erkennen.“
 

Es war schon lange dunkel geworden, aber neben Maury konnte und wollte sie einfach nicht schlafen. Gerade fragte sie sich, ob Jon wohl nach ihr suchte, da flüsterte jemand: „Hey, Kimberley, bist du wach?“ Sie setzte sich vorsichtig auf und sah vor sich Brian in der Dunkelheit stehen. Gerade wollte sie etwas erwidern, da sagte er: „Komm mit mir, ich will dir etwas zeigen.“

„Aber wenn dein Bruder…“

„Er ist nicht mein Bruder, zumindest nicht richtig, nur mein Blutsbruder. Und selbst wenn er davon Wind bekäme, was sollte er machen? Schlagen tut er mich eh.“ Mit diesen Worten half er Kim auf und gab ihr ihre Hose, die inzwischen getrocknet zu sein schien. Rasch zog sie diese an und folgte Brian aus der Höhle. Zu ihrem bedauern hatte er allerdings ein Messer und eine Pistole dabei, was eine Flucht nahezu unmöglich machte. Er ging schnell und hielt beständig ihre Hand. Einmal stolperte sie fast, doch er zog sie an sich, um ihr Halt zu geben. Etwas erleichtert bedankte sie sich und beobachtete, wie er leicht rot anlief.

Irgendwann kamen sie an einer Klippe an, unter der das Meer rauschte. Brian ließ sich auf den Boden fallen und zog sie mit sich hinunter. Verwundert fragte sie ihn: „Was wollen wir denn jetzt hier?“

„Willst du nicht lieber bei mir schlafen?“ Er kam ihr vor, wie ein leicht verschüchtertes Kind, doch sie nickte etwas bedrückt und dachte an Maury. Gerade fröstelte sie, da spürte sie, wie er sein Gesicht an ihre Brust legte, schrak zurück und fragte: „Was machst du denn da?“

„Ich wollte deinen Herzschlag hören, darf ich?“ Sie hatte das ungute Gefühl, dass das nicht wirklich eine Bitte war und die Waffe in seiner Hand bestärkte das Gefühl noch weiterhin, also nickte sie gequält und ließ ihn gewähren, als er erneut sein Ohr an ihre Brust legte und dort verweilte. Schließlich sagte er: „Du bist erregt, nicht wahr?“

„Ich habe Angst.“, korrigierte sie ihn.

„Aber wieso? Ich tue dir nichts, ich will nur hören, wie dein Herz schlägt, ob es so schlägt wie das meine.“ Nun hatte sie doch genug, drückte ihn von sich und sagte: „Daran hege ich keinen Zweifel.“ Beleidigt sah er zum Himmel auf, der nur von ein paar Wolken und nur teils bedeckt war und sagte: „Sieh nur, heute ist Vollmond, da kann ich nie gut schlafen, geht es dir auch so?“

„Mir ist egal, ob Vollmond, Neumond oder Sichelmond ist, schlafen kann ich immer.“ Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und sahen den Mond an, dann fragte er: „Darf ich dich küssen?“ Erschrocken wich sie erneut zurück und fragte: „Wieso das denn? Maury hat doch gesagt, du sollst die Finger von mir lassen, außerdem kannst du doch dafür auch eine viel hübschere als mich haben.“ Er kam ihr wieder näher und flüsterte: „Nein, jemanden hübscheres als dich gibt es nicht und Maury hat gesagt, ich soll nicht mit dir schlafen, von küssen war nie die Rede, also lass mich dich küssen, nichts weiter.“

„Aber was bringt dir das?“ Sie hörte unwillkürlich das Klicken der Sicherung seiner Steinschlosspistole und er sagte: „Bitte, ich habe noch nie eine Frau geküsst, ohne auf irgendetwas hinauszuwollen und ich habe noch nie eine geküsst, für die ich etwas empfunden habe.“ Er legte die Hand in der er seine entsicherte Pistole hatte auf ihren Schenkel und berührte sanft ihre Lippen. Aus der Berührung wurde ein verlangender Kuss und Kims Glieder versteiften sich. Sie konnte diesen Kuss bei Gott nicht erwidern und musste jede Sekunde an Charles denken. Warum war er jetzt nicht da und rettete sie? Zum zweiten Mal an diesem Tage lief ihr eine Träne die Wange hinunter und sie schluchzte unterdrückt auf. Verwundert ließ Brian von ihr ab und fragte: „An wen denkst du? Und warum weinst du jetzt? Hat es dir nicht gefallen?“ Sie schüttelte allerdings nur, die Tränen hinunterschluckend, den Kopf und sagte: „Bitte lass uns zurückgehen, ja?“
 

In dieser Nacht tat sie kein Auge mehr zu. Unentwegt dachte sie an den Kuss, den ihr Brian gegeben hatte. Hatte sie Charles damit betrogen? Ganz und gar am Ende saß sie da auf dem kalten Steinboden der Höhle und dachte an Charles und Jon. Ob sie sie wohl suchten? Und ob Charles wohl überhaupt nach ihr suchen würde? Aber selbst, wenn sie nach ihr suchten, wie sollten sie sie finden? Sie war hier irgendwo im Nirgendwo und wusste es selbst nicht. Erschöpft lehnte sie den Kopf an die Wand und schloss die Augen, doch im nächsten Moment schlief sie ein.
 

Sie sah Jon. Er lief durch die Straßen Cartagenas und rief nach ihr, triefend nass vom Regen. Irgendwann gab er es auf und schlich zurück zum Hafen und aufs Schiff. Dort kam Charles auf ihn zu und fragte: „Captain, weißt du, wo Kim ist? Ich glaube, ich habe heute Morgen etwas Falsches zu ihr gesagt und jetzt ist sie sauer auf mich.“ Jon jedoch atmete tief durch, um nicht auszurasten, brüllte aber dennoch: „Zum Teufel noch mal, Charles! Sie ist nicht sauer, sie ist verletzt, tief traurig, melancholisch! Was denkst du dir eigentlich dabei, ihr eine Affäre mit mir zu unterstellen und ihr vorzuwerfen, dass sie noch immer an Leo hängt? Sie gibt sich selbst die Schuld an deiner verdammten Blödheit und macht sich jetzt fertig, hätte ich dich doch nicht mitgenommen, verdammter Bastard, ist dir eigentlich klar, wie teuer so ein Arztbesuch ist?“ Ungläubig starrte Charles Jon an und fragte dann: „Also weißt du, wo sie ist?“ Kim konnte sehen, wie sehr diese Frage an Jons ohnehin schon mehr als strapazierten Nerven zerrte und er zischte, immer lauter werdend: „Nein, verdammt, diese vermaledeiten Gebrüder haben sie verschleppt und ich habe sie verloren. In Cartagena können sie nicht sein, ich habe alles abgesucht, jetzt kann nur noch Gott uns ein Zeichen geben.“ Charles wurde kreidebleich und Kim glaubte erkennen zu können, wie seine Knie weich wurden und er sich nichts sehnlicher wünschte, als einen Stuhl, auf den er sich setzen konnte. Jon schnaubte vor Wut auf sich selbst und Charles, dem er die Schuld an alledem gab und suchte nach Worten. Schließlich sagte er: „Ich werde jetzt in den Wald gehen, dort nach ihr zu suchen, aber was mir die Anwohner erzählt haben, macht mir keine großen Hoffnungen.“

„Was haben sie erzählt?“, keuchte der Blonde.

„Nun, zum Einen soll der Wald größer sein, als wir es uns ausmalen könnten und zum Anderen pflegen diese Delinquenten ihre Opfer gleich umzubringen, beziehungsweise Frauen erst zu schänden und dann umzubringen.“

„Was reden wir hier also noch? Lass uns in den Wald gehen.“ Wütend fragte Jon: „Was heißt hier wir? Denkst du wirklich, ich erlaube dir noch länger hier auf dem Schiff zu bleiben, geschweige denn, mit uns nach Kim zu suchen, nach dem was du ihr angetan hast? Niemals, pack deine Sachen und komm mir nie wieder unter die Augen, wenn dir dein Leben lieb ist.“ Nun war es Charles, der zornig brüllte: „Wenn das ein Befehl ist, dann werde ich eben auf eigene Faust nach Kim suchen, aber denk nicht, dass ich aufgebe, bevor ich sie gefunden habe! Apropos, wieso hast du es eigentlich nicht verhindert, dass diese Gebrüder sie verschleppen konnten? Bist wohl doch nicht so ein fähiger Captain, wie alle meinen!“ Mit diesen Worten stampfte er wütend von Deck und in Richtung Wald.

Was hatte sich Jon denn dabei gedacht? Sie brauchte Charles! Was, wenn er im Wald umkommen würde? Sie mochte gar nicht daran denken, sondern folgte lieber seinen Schritten.

Langsam wurde es dunkel und er stakste noch immer ziellos durch den Wald, auf der Suche nach ihr. Irgendwann jedoch hörte er ein Geräusch und versteckte sich abrupt hinter dem nächst besten Gebüsch. Von dort aus konnte er sehen wie ein Mann eine junge Frau hinter sich herzog, die anscheinend aber gar nicht davon begeistert war, sondern sich einfach nur von seiner Pistole beeindrucken ließ. Er erkannte Kim sofort und tat sich sichtlich schwer in seinem Versteck zu bleiben. Als er sich sicher war, schlich er den Beiden hinterher und beobachtete, wie der Mann sie an eine Klippe führte. Charles fürchtete schon, er würde sie hinunter stoßen, doch als er sah, wie er sich einfach nur hinsetzte und auch Kim lediglich zu sich hinunterzog, suchte er sich wieder ein geeignetes Versteck. Wutschnaubend beobachtete er, wie er seinen Kopf an ihre Brust legte, am liebsten wäre er eingeschritten, doch hatte er keine Waffe dabei und hatte das Klicken der Entsicherung nicht überhört. Solange es jedoch nicht zu weit ging, würde er nicht einschreiten. Als der Kerl sie dann küsste und Charles sehen konnte, wie eine Träne auf Kims Wange im Mondlicht glitzerte, wurde ihm ganz plötzlich bewusst, wie sehr er ihr wehgetan hatte und es war ihm, als gelte diese Träne ihm. Schließlich hörte er, wie Kim sagte, dass sie zurück wolle und wunderte sich, dass der Mann auf ihre Bitte einging.

Wieder folgte er ihnen, diesmal zu einer Höhle, die gut versteckt hinter einigen Sträuchern lag. Eigentlich wollte er warten, bis der Mann eingeschlafen war und Kim dann mit sich nehmen, doch gerade noch rechtzeitig entdeckte er, dass Kim an eine Wand gelehnt schlief und gerade ein anderer Mann erwachte. Erschrocken zog er sich zurück und suchte sich ein geeignetes Versteck in dem er warten könnte, bis die Beiden nicht mehr auf Kim achteten und er mit ihr verschwinden konnte.
 

In diesem Moment wachte Kim auf und konnte etwas zu essen riechen. Sie sah Maury, der am Lagerfeuer saß und eine Pfanne darüber hielt. Noch immer schlaftrunken fragte sie: „Was machst du denn da, Maury?“ Ohne sich umzudrehen, antwortete er: „Frühstück, magst du Toast?“ Sie sagte nichts, sondern blieb stumm an der Wand gelehnt sitzen. Er fuhr fort: „Wo warst du denn heute Nacht mit Brian?“ Etwas erschrocken entgegnete sie: „An einer Klippe, er… nein, ist egal.“ Nun drehte sich Maury doch um und fragte eindringlich: „Was hat er getan?“ Kurz überlegte sie, ob sie ihm erzählen sollte, was Brian getan hatte, entschloss sich aber doch dagegen und antwortete ihm: „Nichts, er hat nichts getan.“ Nüchtern entgegnete er allerdings: „Ich glaube dir nicht und wenn du mich belügst, dann werde ich andere Saiten aufziehen. Also, was hat er getan?“

„Wirklich nichts, wir haben uns den Vollmond angesehen und geredet.“

„Jetzt hör mir mal zu, Kleine, wenn du denkst, du könntest mir weiß machen, dass Brian nur dagesessen ist und mit dir geredet hat, dann hast du dich geschnitten und ich will jetzt endlich wissen, was du mit ihm getrieben hast, Herzchen.“ Er war nicht laut geworden, ganz im Gegenteil, er hatte fast geflüstert und doch wäre es Kim lieber gewesen, wenn er sie angebrüllt hätte, dann hätte sie wenigstens gewusst woran sie war, aber so konnte sie beim besten Willen nicht herausfinden, ob er wütend oder enttäuscht oder dergleichen war und auch seine Mimik gab ihr keinen Einblick.

Er war zu ihr gekommen und hatte sich vor sie gekniet, aber noch immer beteuerte sie, Brian habe sich nur mit ihr unterhalten. Nun kam Maury ihr ganz nahe, sodass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. Er hatte sein Messer gezückt, nahm mit der anderen Hand die ihre und flüsterte: „Ich würde es, um ehrlich zu sein, wirklich genießen, dich bluten zu sehen, deine Schmerzensschreie zu hören, dein warmes Blut zu fühlen und zu schmecken“, er leckte sich über die Lippen, „aber ich denke, das ist nicht unbedingt was du willst, also spuck schon aus, was du in Wahrheit mit Brian gemacht hast, das würde mich nämlich brennend interessieren.“ Ein boshaftes Grinsen umspielte seine Lippen, doch sie schüttelte erneut den Kopf in der Erwartung, er würde nur drohen.

Aber sie hatte sich gewaltig getäuscht, denn im nächsten Moment zog er ruckartig die Handfläche ihrer rechten Hand zu sich und ehe sie überhaupt realisieren konnte, was er tat, ritzte er ganz langsam und genüsslich die Haut der Innenseite ihres Zeigefingers auf. Als sie das Blut hervorquellen sah, schrie sie entsetzt auf und jäh in dem Augenblick breitete sich ein unbändiger Schmerz in ihr aus, der langsam von dem Schnitt aus ihren Arm heraufkroch und sich von da ab in alle Winkel ihres Körpers zwängte. Er hielt noch immer ihre Hand fest und flüsterte ihr ins Ohr: „Wenn du nicht still bist, tue ich noch einmal das Gleiche, aber dann bei deinen Lippen.“ Er kicherte insgeheim und sie schluckte die Schmerzensschreie runter. Verzweifelt versuchte sie Maury von sich zu stoßen, doch er hielt ihr nun die Klinge an die Lippen und sie bewegte sich nicht mehr, getraute sich fast nicht zu atmen. Gehässig bleckte er die Zähne und grinste: „Na also, Herzblatt, geht doch.“ Langsam führte er ihre blutende Hand zu seinem Gesicht und küsste die Wunde. Als er wieder von ihr abließ, leckte er sich vergnügt ihr Blut von den Lippen und sagte: „Erzählst du mir jetzt, was Brian und du wirklich getan habt oder muss ich meine Drohung wahr machen und dein so makelloses Gesicht verunstalten?“ Gerade wollte sie ihm antworten, da hörte sie Brian sagen: „Ich habe sie geküsst, nichts weiter, also lass sie bitte in Ruhe und tu ihr nicht weh, du hast doch selbst gesagt, sie sei etwas Besonderes.“

Ihr die Wangen küssend grinste Maury: „Warum konntest du mir das nicht einfach sagen?“ Und stand auf. Kim schluchzte unterdrückt auf und besah sich die Wunde. Er hatte tiefer geschnitten als sie gedacht hatte, doch was sollte sie jetzt tun? Nähen konnte sie es schlecht und es blutete wie verrückt. Der Schmerz war kaum erträglich, da hörte sie Maury sagen: „Na toll, wegen deiner Sturheit ist jetzt der Toast verbrannt, dumme Gans.“ Brian aber ließ sich zu der zitternden Kim nieder, streichelte ihr über den Kopf, zog ihre rechte Hand behutsam zu sich und flüsterte, sodass Maury es auf keinen Fall hören konnte: „Keine Angst, ich werde es verarzten und du sollst auch einige Schlücke Rum gegen den Schmerz bekommen. Warte kurz.“ Sie war nicht fähig zu sprechen, sie hätte niemals gedacht, dass Maury Ernst machen könnte. Hasserfüllt sah sie zu ihm, wie er wieder am Lagerfeuer saß, die Pfanne in der Hand und ein Lied vor sich hin pfeifend, als wäre rein gar nichts geschehen. Aber just in dem Moment hörte sie einen Schuss und Maury ließ fluchend die Pfanne fallen, hielt sich den rechten Arm und schrie auf vor Schmerz. Im nächsten Augenblick konnte sie sehen, wie Jon vor den Eingang der Höhle trat, mit gezückter Waffe. Hinter ihm standen Charles, Terry, Garret, Laffite und Edward.

Erschrocken fragte Brian, zu Maury eilend: „Verdammt, wer zur Hölle seid ihr?“ Angewidert ausspuckend entgegnete Jon: „Gestatten? Jon Genitson, Kapitän eurer Gefangenen, die ich gerne wieder hätte. Die da hinten sind Fußvolk.“ Sofort konnte Kim Gebrummel vom ‚Fußvolk’ vernehmen, doch ein Blick Jons brachte sie zum Schweigen. Brian starrte ihn mit großen Augen an und fragte ungläubig: „Bist du wahrhaftig der Jon Genitson? Wir dachten, du wärest tot, seit wir damals getrennt wurden, ich von einer Welle weggespült und Maury von Franzosen über Bord geworfen. Du bist jetzt Captain von drei Schiffen?“ Aber anstatt auf die Rührseligkeit Brians einzugehen trat er ihm in den Bauch und sagte, auf ihn herabsehend: „Ja, genau der, Brian, aber hoffe nicht, ich würde Gnade walten lassen, nur weil ich dein Blutsbruder bin, du hast einen unserer Kameraden verschleppt und sie verletzt, das wird normalerweise mit dem unverzüglichen Tod geahndet.“ Brians Augen weiteten sich und er suchte nach Worten, aber Maury kam ihm zuvor und sagte aufstehend: „Bitte, töte uns, wir haben es nicht besser verdient. Wir sind Gesindel; rauben, morden und misshandeln. Aber halt, das macht ein Pirat doch auch, nicht wahr? Ich bin bereit zu sterben, aber bist du es auch, wenn vor dir ein Marineoffizier steht, dir den Kopf abzuschlagen? Tu das, was nötig ist, aber vergiss meine Worte nicht, Jonathan.“ Erneut ließ ein Schuss die Vögel aufschrecken und Maury sank zu Boden, im nächsten Augenblick war er tot und Jon murmelte: „Niemand, absolut niemand nennt mich bei diesem Namen und lebt noch lange.“ Nun lag seine ungeteilte Aufmerksamkeit bei Brian, der auf dem Boden zu seinen Schuhen kroch und versuchte, sich bei ihm einzuschmeicheln, aber Jon herrschte ihn an: „Steh auf und stirb wie ein Mann!“ Brian jedoch rührte sich nicht. Er lag wie ein zitterndes Bündel zu Jons Füßen.

Schließlich sagte Jon etwas zu Terry und Laffite, was Kim nicht verstehen konnte, aber kurz darauf traten sie an Brian heran, packten ihn bei den Armen und zerrten ihn auf die Beine. Jon schüttelte angesichts der Tränen in Brians Gesicht den Kopf und sagte: „Du konntest noch nie etwas verkraften; auch bei der Blutsbruderschaft musstest du natürlich anfangen zu heulen. Ich dachte wenigstens im Angesicht des Todes wärst du ein Mann, aber anscheinend habe ich mich in dir getäuscht.“

„Nein.“, flüsterte Brian. Jon horchte auf und fragte: „Was sagtest du? Nein? Doch ein Mann? Terry, Laffite, lasst ihn los.“ Die beiden taten wie ihnen geheißen, und entfernten sich einige Meter von ihm. Die nächsten Sekunden kamen Kim wie in Zeitlupe vor, Brian stand tatsächlich selbst vor Jon, doch zog er seine Pistole und schoss auf ihn. Jon allerdings schoss auch.

Es war Kim, als könnte sie die beiden Kugeln während des Fluges sehen und ihr brach der kalte Angstschweiß aus.

Eigentlich wollte sie die Augen schließen, aber dann hätte sie nicht sehen können, ob die Kugel Jon traf. Sie hielt die Luft an und sah, wie Brians Kugel Jon in die Schulter traf. Die Jons aber traf präzise in Brians Kopf. Er sank zu Boden und verendete neben Maury. Nun wurde alles wieder normal schnell. Jon schrie auf und hielt sich die Schulter. Sofort kamen die anderen auf ihn zu, er aber scheuchte sie weg und herrschte sie an: „Na los, sucht nach Kim!“ Hatte er sie etwa nicht gesehen? Wahrscheinlich, weil sie im Schatten und eng an eine Wand gedrängt saß. Nun kamen ihr die Wörter wieder und sie flüsterte, rufen konnte sie nicht: „Jon, Charles.“ Und als hätte er es gehört, kam Charles zu ihr und sah sie erleichtert lächelnd an. Sie wollte zurück lächeln, doch erneut durchzuckte sie ein stechender Schmerz. Besorgt kniete sich Charles zu ihr und fragte: „Was ist los? Haben sie dir etwas angetan? Ich habe dich schreien gehört, als ich mit Jon herkam.“ Er wollte ihre Hand ergreifen, doch sie zog sie verschreckt weg und streifte die seine nur. Auf ihre Hand schauend bemerkte er entsetzt: „Ist das Blut? Mein Gott, was haben die nur mit dir angestellt? Komm, ich helfe dir auf.“ Kim allerdings schüttelte den Kopf und flüsterte: „Ich kann nicht, meine Beine gehören nicht mir.“ Anscheinend wusste er, dass sie meinte, dass ihre Beine ihr nicht gehorchten. Er küsste sie sanft, doch sie zuckte zurück und musste unwillkürlich an den Kuss denken, den ihr Brian diese Nacht gegeben hatte. Beschämt sah sie zur Seite. Charles allerdings fragte nicht, was vorgefallen war, sondern drehte sich um und bot ihr an, sie huckepack zu nehmen, was sie dankbar annahm.

Am Eingang der Höhle hatte sich Jon hingesetzt, den Rücken und Kopf an die Wand gelehnt und hielt sich die stark blutende Schulter. Als er Kim sah, lächelte er ihr milde zu und erhob sich. Sofort eilte Laffite an seine Seite und stütze ihn, was er nicht abwies.

Die beiden Leichen zurücklassend marschierte die kleine Truppe in Richtung Cartagena, wo sie von den Passanten ziemlich verwundert gemustert wurden. Charles und Jon stoppten vor der Praxis des Arztes, bedankten und verabschiedeten sich vorläufig von den anderen und klingelten. Als ihnen der Arzt, nun mit einem weißen Arztkittel bekleidet, die Tür öffnete, weiteten sich seine Augen und fassungslos fragte er: „Um Himmels Willen, was ist denn mit Euch Geschehen?“ Nüchtern entgegnete Jon: „Die Gebrüder, aber die tun niemandem mehr etwas.“ Und trat, den Arzt zur Seite schiebend ein und in das Behandlungszimmer. Charles, mit Kim auf dem Rücken, die immer noch zitterte, ging ihm nach und lud sich Kim auf einem Stuhl ab. Er streichelte ihr behutsam über die Wange und wollte gerade einige Schritte zur Seite gehen, da hielt sie ihn fest, zog ihn noch einmal zu sich und küsste ihn liebevoll.

Der Arzt wollte sich als erstes um Jon kümmern, da dieser offensichtlich schlimmer verletzt war und tröstete Kim damit, dass sie dafür einen Rabatt bekäme. Ihre Schmerzen linderte das trotzdem nicht. Gerade wollte sie den Arzt fragen, wie lange es noch dauern würde, da rief dieser in den Flur: „Rob, bist du das? Komm her, Junge, ich brauche deine Hilfe!“ Sie hörte, wie draußen eine Tasche zu Boden geworfen wurde und gleich darauf trat ein schwarzhaariger Junge mit braunen Augen ein und fragte: „Was willst du denn, Dad? Ich habe zu tun.“ Nüchtern sagte der Arzt, den Blick nicht von Jon abwendend, dem er gerade die Kugel entfernte: „Ich auch, aber zu zweit geht es schneller. Kümmere dich doch bitte mal um das Fräulein dort auf dem Stuhl, ihr rechter Zeigefinger muss genäht werden.“ Jon aber protestierte prompt: „Hat der Junge denn überhaupt eine Ahnung von Medizin?“

„Natürlich hat er die, schließlich hilft er mir schon von klein auf in der Praxis und wird jetzt Medizin studieren, da ist so ein bisschen Übung immer gut, also macht Euch keine Sorgen, Señor…“

„Son.“

Rob kam auf Kim zu, lächelte sie freundlich an und sagte: „Hallo, Señorita, mein Name ist Robert Noolden, darf ich mir Euren Finger mal ansehen?“ Missmutig streckte sie ihm ihre rechte Hand entgegen, dessen Zeigefinger gerade wieder aufgehört hatte zu bluten. Robert allerdings riss die Wunde wieder auf, sodass Kim die Zähne zusammen beißen musste und es wieder begann zu bluten. Abwesend entschuldigte er sich: „Oh, Verzeihung, ich wollte Euch nicht wehtun, ich werde es gleich betäuben und dann nähen. Aber sagt, wie ist das denn passiert? Die Wunde sieht nämlich ziemlich sauber aus, ist aber auch beträchtlich tief.“ Unverbindlich entgegnete Kim: „Das geht Euch nichts an, Señor Noolden.“ Kopfschüttelnd wandte er sich von ihr ab und ging zu einer Kommode an die oberste Schublade und holte dort ein kleines Gläschen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt und eine kleine Spritze heraus.

Er kam wieder zu ihr, mit der Flüssigkeit in der Spritze und fragte: „Habt Ihr Angst vor Spritzen?“ Angespannt schüttelte sie den Kopf. Normalerweise hatte sie tatsächlich keine Angst vor Spritzen, aber bei diesem Kerl war sie sich nicht sicher, ob es nicht doch besser verheilte, wenn sie sich jetzt davon machte.

Aber sie blieb sitzen und ließ es über sich ergehen. Während er die Flüssigkeit neben die Wunde spritzte, spürte sie, wie ausgiebig Blut über ihre Hand lief. Hinsehen konnte sie nicht, denn sie hatte Angst, sich übergeben zu müssen und wie als würde er es ahnen, fragte der Junge, als er die Spritze wegwarf: „Ist Euch Übel? Müsst Ihr Euch übergeben?“ Erneut schüttelte sie den Kopf und lehnte ihn gegen Charles Arme, der neben ihr stand. Nach einer kurzen Weile kam Robert mit Nadel und Faden an, setzte sich neben sie, legte ihre Hand auf ein Tischchen und begann sie zu nähen. Sie spürte rein gar nichts, aber bei dem grauenhaften Geräusch, das es machte, wenn er die Fäden festzog, fuhr es ihr durch Mark und Bein und sie drückte mit der anderen Hand die Charles.

Parallel zu ihr wurde auch Jon verbunden, zog sich dann sein Hemd wieder über und fragte: „Was schulde ich Euch, Señor? Ich zahle auch für die junge Frau.“ Doch Charles trat neben ihn und sagte: „Nein, lass nur, das erledige ich schon, dann sind Kim und ich wenigstens wieder quitt.“ Tief durchatmend sagte der Arzt: „Ihr sagtet, Ihr hättet die Gebrüder zur Strecke gebracht? Nun, dann will ich Euch kein einziges Achterstück abnehmen.“ Robert protestierte jedoch: „Aber Vater, das kannst du nicht machen, selbst wenn sie die Gebrüder umgebracht haben, wir brauchen auch was zum überleben!“ Zornig fuhr der Arzt ihn an: „Robert, du verdammter Bengel, hüte deine Zunge und sei dir gewiss, dass wir genug Geld haben. Aber erinnere dich daran, wer deine Mutter tötete, nachdem sie sie geschändet und psychisch zerstört hatten.“ Betreten sah Robert zu Boden und sein Vater wünschte den Piraten noch einen angenehmen Tag.
 

Auf dem Weg zurück zum Hafen sprach keiner von ihnen ein Wort, sondern sie gingen schweigend nebeneinander her, Charles den Arm um Kims Schulter gelegt und ihr hin und wieder ein Küsschen auf die Wange drückend. Zum Glück war der Hafenmeister zu diesem Zeitpunkt nicht da, sodass sie ihm nicht auch noch Rede und Antwort stehen mussten. So gingen sie an Bord der Vengeance, wo sie von der Crew aufs Herzlichste begrüßt wurden. Kim lächelte sie alle nur müde an und zog sich so schnell wie möglich in ihre Kajüte zurück, in der sie sich gleich aufs Bett warf und die Augen schloss, als könnte sie so das Geschehene und den Schmerz, der sich langsam wieder breit machte, vergessen. Aber so wurde sie nur noch mehr an Brians Anzüglichkeiten und Maurys Brutalität erinnert, weil sie noch einmal alles vor ihrem geistigen Auge sah. Also starrte sie an die Decke und versuchte weiterhin vergeblich das Geschehene zu verdrängen.

Irgendwann jedoch klopfte jemand an ihre Tür und sie rief heilfroh: „Ja?“ Charles trat ein und schloss die Tür wieder hinter sich. Bedächtig setzte er sich neben sie auf das Bett und fragte zu Boden schauend: „Wie geht es dir?“ Lächelnd erwiderte sie: „Wieder ganz gut. Danke, dass ihr gekommen seid, ich glaube, Maury hätte mich noch umgebracht und wenn nicht er, dann hätte ich es getan.“ Er lachte nicht, sondern hüllte sich in Schweigen, was Kim allerdings stutzig machte und sie fragte: „Was ist los, Charles? Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Er schwieg weiterhin, was sie leicht hysterisch werden ließ. Sie setzte sich auf, legte ihre Arme um ihn und fragte ihn erneut, was los sei, da antwortete er: „Nein, du hast nichts Falsches gesagt. Aber ich. Ich habe dich gestern so sehr verletzt, das wollte ich nicht, wirklich. Gäbe es irgendeinen Weg das rückgängig zu machen, dann würde ich es tun. Aber sei dir bewusst, dass ich dich liebe und sich daran nichts geändert hat. Und auch dass der eine dich geküsst und begrabscht hat ändert nichts daran. Glaube mir bitte, wenn ich dir sage, dass ich noch niemals zuvor in meinem Leben einem so wundervollen Menschen begegnet bin. Es tut mir wirklich Leid, wie ich mit dir umgegangen bin. Ich verspreche dir, dass ich mich ändern werde.“ Sie allerdings schüttelte den Kopf, küsste ihn und flüsterte: „Nein, ändere dich nicht. Ich liebe dich genauso, wie du jetzt bist.“ Ungläubig drehte er den Kopf zu ihr und sie lächelte: „Ja, Charles, du hast richtig gehört und ich meine das vollkommen ernst. Ich liebe dich.“

„Aber was ist mit…“

„Leo? Nun, ich denke, ich werde niemals ganz aufhören ihn zu lieben, aber durch seinen Tod stehen mir neue Möglichkeiten offen, zum Beispiel meine Liebe zu dir. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich. Ich kann es gar nicht oft genug sagen. Und mit jedem Mal, das ich es dir sage, werde ich sicherer, dass es wahr ist und ich fühle mich jedes Mal glücklicher und befreiter. Ich liebe dich.“ In seinen Augen konnte sie lesen, wie glücklich er war, dass sie genauso wie er empfand. Langsam schloss sie ihre Augen und gab sich seinem Kuss hin.

Sanft drückte er sie in das Bett, fuhr ihr durch die Haare und sie knöpfte vorsichtig sein Hemd auf. Schließlich liebkoste sie seine Brust und flüsterte immer wieder, dass sie ihn liebe. Und jedes Mal, wenn sie es sagte, überkam die Beiden eine Gänsehaut. Was sie verband war so groß, dass es beängstigend, aber gleichzeitig auch behütend war. Nun zog auch er ihr das T-Shirt aus und öffnete ihren BH.
 

Sie lag bei ihm im Arm und er kraulte ihr durch das lockige Haar. Sanft beugte er sich noch einmal über sie und küsste sie zärtlich, dann fragte er: „Kommst du heute Abend mit was trinken? Wir müssen doch feiern.“ Lächelnd nickte sie, sagte aber nichts. Ein bisschen war sie sauer auf Charles, dass er gesprochen hatte, damit hatte er die ganze Stimmung zunichte gemacht, aber jetzt war es auch egal und er grinste: „Willst du vielleicht deinen Jeansrock anziehen? Den finde ich echt toll.“ Ihn leicht in die Seite knuffend lachte sie: „Doch nur, weil er so verdammt kurz ist, aber wenn du willst, mein geliebter Charles, dann ziehe ich ihn an.“

„Geliebter Charles, das hört sich gut an, willst du mich ab jetzt nicht immer so ansprechen?“ Ihn von sich drückend und aufstehend, lachte sie: „Na das hättest du wohl gerne, Honigbärchen, aber das ist mir viel zu umständlich. Wie wäre es denn mit Sklave, oder ganz klassisch, Schatz?“ Er hielt sie am linken Handgelenk zurück zog sie noch einmal an sich, küsste sie und flüsterte, ihr ein wenig am Ohrläppchen knabbernd: „Also von mir aus kannst du mich auch Gott nennen.“ Lachend machte sie sich von ihm los, holte ihre Kleider aus ihrer Truhe und zog sich an, dann sagte sie: „Und was wäre, wenn wir einfach bei Charles und Kim blieben?“

„Charles, Gott, wo ist der Unterschied? Also von mir aus, ich hätte kein Problem damit.“

Schließlich stand auch er auf und zog sich an, damit sie gehen konnten.

Als sie an Deck kamen, waren die anderen gerade drauf und dran zu gehen und sie schlossen sich ihnen unauffällig an. Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt und sie ihren um seine Hüften. So gingen sie in den Nixenflügel, der besser besucht war, als sonst. Kim setzte sich zwischen Jon und Charles und prompt fragte Jon sie hämisch grinsend: „Na, Kim, was habt ihr schönes unter Deck getrieben?“ Zurück grinsend entgegnete sie: „Etwas, das dich eigentlich nichts angeht, mein lieber Jon.“ Aber da Charles gerade mit Terry redete, beugte er sich näher zu ihr und fragte leise: „Und wie war’s?“ Genauso leise antwortete sie ihm: „Ich hatte dir doch eigentlich gesagt, dass es dich nichts angeht, aber wenn du schon fragst, es war göttlich.“ Charles, der ihnen wohl doch mit einem Ohr zugehört hatte, wandte sich nun zu ihnen und grinste: „Soso, göttlich, aber Gott willst du mich nicht nennen?“ Schnippisch antwortete Kim: „Aber in Gottes Geboten steht, man solle keine anderen Götter neben ihm haben.“ Und ganz unschuldig schlug sie die Augen auf. Charles aber lachte: „Seit wann scherst du dich darum, was in Gottes Geboten steht und hältst dich auch noch daran?“

„Darf ich das etwa nicht, nur weil ich Pirat bin?“ Aber noch bevor sie es aussprechen wollte, hielten Jon und Charles ihr gleichzeitig den Mund zu. Jon sah sich skeptisch um und flüsterte: „Fängst du jetzt an wie Charles? Denk nicht, mit dir würde ich sanfter umgehen, als mit ihm, wenn es nötig wäre.“ Kim aber streckte ihm die Zunge heraus und meinte eingeschnappt: „Mit deiner angeschossenen Schulter kannst du eh nicht mehr gescheit zupacken.“

„Soll ich es dir beweisen?“, fragte Jon sie ernst. Charles jedoch nahm sie sogleich schützend in seine Arme und sagte: „An meine Kim lasse ich dich brutale Sau nicht ran.“ Jon lachte auf und prustete: „Brutale Sau! Das ist gut! Also so hat mich noch keiner genannt, ob nun aus Angst oder Kreativlosigkeit. Dir ist aber schon klar, dass ich dich dafür erschießen könnte?“

„Und wie klar mir das ist und ich hoffe dir ist klar, dass ich dich trotzdem nicht an meine Kim ranlasse.“ Unschuldig hob Jon die Hände und lachte: „Ich werde sie nicht anrühren, solange sie sich gut benimmt, versprochen.“ Nun meldete sich Kim wieder zu Wort: „Ihr fangt ja schon an zu handeln, als wäre ich irgendeine Wahre auf einem Bazar!“ Die beiden Männer sahen sich an und mussten schallend anfangen zu lachen, was Kim allerdings ein wenig aufregte, da sie das durchaus ernst gemeint hatte. Sie befreite sich aus Charles Umarmung, rutschte näher an Jon heran und flüsterte: „Sag mal, Jon, wann werden wir eigentlich anfangen zu plündern?“ Skeptisch rutschte auch Charles näher an sie heran und legte besitzergreifend seinen Arm um sie, was sie allerdings noch mehr aufregte, doch sie versuchte ruhig zu bleiben und Jon antwortete: „In zwei Tagen, am Abend des 19. Augusts um Punkt 23 Uhr werden wir beginnen. Morgen um 17 Uhr werde ich mich noch einmal mit Bartholomew, Garret und Laffite unterreden, damit alles glatt läuft und die Mannschaft gleichmäßig in verschiedene Distrikte der Stadt aufgeteilt werden kann. Aber nun genug übers Geschäft geredet, lass uns lieber feiern, dass Brian und Maury, auch bekannt als die Gebrüder, nicht mehr am Leben sind und dir nichts getan haben, Kim.“ Unter nichts antun verstand Kim etwas anderes, als jemandem den Finger aufzuschlitzen, aber sie wusste, dass Jon es in anderer Hinsicht meinte. Also hob auch sie ihr Glas und stieß mit den anderen auf ihre „Unversehrtheit“ an. Charles zog sie an sich und küsste sie leidenschaftlich, sie sah ihn trunken vor Liebe an und flüsterte: „Danke, dass du mich getragen hast, Charles, du bist wirklich der Beste und deswegen liebe ich dich.“
 

Am Ende des Tages, kurz vor Mitternacht, war sie nicht mehr nur vor Liebe, sondern auf vor Alkohol Betrunken und sie torkelte, Charles Hilfe abweisend, den Weg hinab zum Hafen entlang. Gerade standen sie an der Promenade, unmittelbar neben dem Wasser, da wurde ihr unwahrscheinlich übel und schnell drehte sie sich zum Wasser und übergab sich im nächsten Moment. Charles, auch nicht mehr ganz nüchtern, streichelte ihr über den Rücken und hielt ihr die Haare aus dem Gesicht. So schlecht war es ihr schon lange nicht mehr gegangen.

Irgendwann ging es dann wieder und sie schleppte sich, nun dankbar für die Hilfe, auf Charles Schulter gestützt zurück an Bord. Dort wusch sie sich ausgiebig Hände und Gesicht und ging dann unter Deck zu Charles in seine Kajüte. Dieser lag schon auf seinem Bett und fragte auffordernd: „Na? Lust fortzusetzen, was wir heute Mittag begonnen haben?“ Doch sie schüttelte wehleidig den Kopf, hielt sich den Bauch und flüsterte: „Tut mir Leid, aber ich habe schreckliche Bauchschmerzen.“ Besorgt setzte er sich auf und fragte: „Woher das denn? Bekommst du deine Tage oder so was?“ Abwesend schüttelte sie den Kopf und sagte: „Nein, nein, die Bauchschmerzen sind ganz anders, die sind eher stechend, nicht krampfartig.“ Beunruhigt stand er auf, kam auf sie zu, legte ihr die Hand auf den Bauch und fragte: „Soll ich dir irgendetwas bringen? Was zu trinken, etwas zum Essen?“ Schwindelnd entgegnete sie allerdings nur: „Nein, danke. Aber bitte, halt mich fest, bitte.“ Und prompt schloss er sie in seine Arme und gab ihr ruhig atmend den Halt, den sie in diesem Moment brauchte. Sie war heilfroh ihn zu haben und darüber hinaus noch besänftigt, da er sie weder auslachte, noch sich sonst irgendwie über sie lustig machte. Schließlich löste sie sich aus seiner Umarmung und legte sich hin. Er legte sich neben sie, legte seinen Arm um sie und küsste noch einmal sanft ihren Nacken, bis sie einschlief.

Mitten in der Nacht wurde sie unsanft von ihren Schmerzen geweckt. Sie setzte sich auf und krümmte sich unter der Pein. Nun wurde auch Charles wach und er fragte besorgt: „Was ist los? Tut es so sehr weh? Soll ich einen Arzt holen? Gibt es irgendetwas, was ich tun kann?“ Nach Luft schnappend, keuchte sie: „Luft… frische Luft!“ Abrupt schleuderte er die Decke weg, schnappte sich eine Jacke und trug Kim huckepack an Deck. Dort legte er ihr die Jacke um die Schultern und fragte hysterisch: „Wird es besser? Hören die Schmerzen auf?“ Aber die Schmerzen waren in diesem Moment ihr geringstes Problem, denn in erster Linie schnappte sie nach Luft, die allerdings nicht ihre Lunge füllte. Auch ausatmen konnte sie nicht mehr und so fiepte sie unverständlich: „Charles,… ich… ich ersticke!“ Er jedoch wurde kreidebleich im Gesicht, fasste sie an den Oberarmen, schüttelte sie und brüllte: „Nein, du erstickst nicht, das lasse ich nicht zu! Und jetzt ganz ruhig! Atme ein und wieder aus.“ Sie versuchte es, aber es ging nicht. Schließlich spürte sie, wie es ihr hochkam. Sie rannte an die Reling, beugte sich darüber und übergab sich erneut.

Anschließend konnte sie wieder ganz normal atmen. Sie keuchte und genoss jeden Atemzug, den sie tun konnte. Auch Charles atmete auf und schloss sie erleichtert in seine Arme. Für eine Weile lehnte sie einfach nur vollkommen sorglos ihren Kopf an seine Brust und lauschte seinen immer noch erregten Herzschlägen, doch dann bekam sie wieder Bauchschmerzen und sie hielt sich den Bauch. Erschrocken ließ Charles sie los und fragte: „Hast du wieder Bauchschmerzen? Bekommst du noch Luft?“ Gerade hatte er das gesagt, da konnte sie wieder weder ein-, noch ausatmen. So stand sie vor ihm, röchelnd, sich an den Hals und die Brust fassend, als könnte sie es so lindern. Selbst keuchend drückte Charles sie kurz an sich und sagte dann: „Hör mir zu, du musst ganz ruhig durchatmen. Ein und aus und wieder ein…“ Sie versuchte es, ganz ruhig, doch es ging einfach nicht, sie bekam keine Luft und erneut breitete sich in ihr die panische Angst aus zu sterben. Aber sie wollte nicht ersticken, das war so ein unehrenvoller Tod, nein, das wollte sie nicht. Vorhin hatte es doch aufgehört, als sie sich erbrochen hatte.

Erneut rannte sie zur Reling und steckte sich dort den Finger in den Hals, doch es brachte nichts. Sie konnte sich nicht mehr übergeben, ihr Magen war vollkommen leer. Was sollte sie jetzt tun? Noch einmal versuchte sie ruhig durchzuatmen, doch es funktionierte wieder nicht. So setzte sie sich an die Reling gelehnt auf die Planken und zog ihre Beine so eng es ging an ihren Körper. Ihr wurde plötzlich ganz schwummrig und sie musste sich an Charles festhalten, der sich gerade zu ihr runtergebückt hatte, damit sie nicht umfiel. Aber kaum hatte sie das getan, öffneten sich ihre Atemwege und sie bekam langsam wieder Luft, zum zweiten Mal in dieser Nacht. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals solche Todesangst gehabt zu haben, aber das war ihr jetzt egal, denn zum dritten Mal setzten die Bauchschmerzen ein.

Hieß es nicht aller guten Dinge seien drei? Würde sie jetzt beim dritten Mal sterben? Und da bekam sie auch wieder diese Luftnot. Verzweifelt schnappte sie nach Luft und wollte die Hoffnung nicht aufgeben, da hörte sie Jon verschlafen fragen: „Was ist denn hier los? Was ist das für ein Lärm?“ Sich an Charles festhaltend sah sie zu ihm und sah, wie er mit offenem Mund stehen blieb und zusah, wie sie immer weniger Luft bekam. Noch einmal wollte sie es probieren, vielleicht funktionierte es diesmal. Sie ging, von Charles gestützt zur Reling, lehnte sich darüber und steckte sich erneut den Finger in den Hals. Es funktionierte nicht. Erneut versuchte sie es und tatsächlich kam etwas, aber es war lediglich die grüne Magengalle. Aber wie schon beim ersten Mal half es und sie bekam wieder Luft. Nun liefen ihr die Tränen über die Wangen und sie barg das Gesicht an Charles Brust, der schützend seine Arme um sie legte.

Sie hatte panische Angst, dass diese Schmerzen wiederkommen könnten und sog die Luft ein, als seien es ihre letzte Atemzüge. Sie füllte ihre Lungen mit so viel Luft, dass es sie schon schmerzte und ihr schwindelig wurde, aber noch niemals war sie dankbarer für die Luft zum Atmen gewesen. Nun kam Jon auf sie zu und fragte: „Was ist denn los? Geht es dir gut, Kim?“ Zornig blaffte ihn aber Charles an: „Natürlich nicht! Sie wäre eben fast erstickt und hat fürchterliche Bauchschmerzen, Idiot!“ Jon allerdings zischte: „Hüte deine Zunge, Charles, sonst hat sie noch einen Grund mehr zu weinen.“ Kim ihrerseits schluckte die Tränen herunter, lächelte Jon und dann Charles an und flüsterte, laut sprechen konnte sie nicht: „Nein, ich habe keine Bauchschmerzen mehr, es geht mir besser, danke. Aber ich will schlafen. Bitte, Charles, kannst du mich in die Kajüte bringen?“ Er nickte stumm und warf Jon, der ihr noch eine gute Besserung nachrief, einen wütenden Blick zu, bevor er mit Kim im Bauch des Schiffes verschwand.

Behutsam setzte er sie aufs Bett und fragte: „Wie geht es deinem Bauch?“ Lächelnd entgegnete sie: „Wieder besser, danke. Danke, dass du da bist.“ Mit diesen Worten legte sie sich wieder hin. Charles legte sich neben Kim, legte wieder seinen Arm um sie, deckte sich und sie zu und schlief ein. Kim jedoch lag noch eine ganze Zeit lang wach, aus Angst, sie könnte nicht mehr aufwachen, doch anscheinend war alles wieder normal und endlich legte der Schlaf auch über sie seine Fittiche.
 

Am nächsten Morgen wachte sie erst spät auf, es war schon eher Mittag und Charles war nicht mehr im Raum. Einerseits war sie heilfroh noch einmal aufgewacht zu sein, andererseits konnte sie nicht verstehen, dass Charles nicht da war. Immer noch nicht richtig wach stand sie auf, zog sich etwas anderes an und ging dann an Deck, wo Jon das Gespräch mit Terry und Laffite prompt fallen ließ, als er sie sah und auf sie zugestürmt kam. Sofort nahm er sie in den Arm und fragte aufgebracht: „Was war denn los? Als ich Charles vorhin noch mal zum Arzt geschickt habe, hat er gemeint, du seist dreimal fast erstickt und hättest davor starke Bauchschmerzen gehabt? Ein Glück, dass du noch Atmest, Kim! Hoffentlich kann uns Charles nachher sagen, was mit dir los war. Wie geht es dir denn jetzt?“

„Etwas schlapp, aber sonst okay.“ Liebevoll streichelte er ihr durch die Haare, zog aber wie von der Tarantel gestochen seine Hand weg, als er hinter sich Charles hörte, der rief: „Nimm deine Griffel von ihr, sie gehört mir!“ Kim, die fand, dass er zu weit ging, brüllte ihn an: „Jetzt langt’s aber! Wer seine Griffel an mir haben kann und wer nicht, entscheide immer noch ich!“ Und wie aus Protest zog sie Jon an sich und küsste ihn zärtlich auf die Lippen. Jon lief leicht rot an, schob sie aber gleich von sich und Charles blieb schlagartig stehen, sodass der Arzt, der hinter ihm hergelaufen war, gegen ihn prallte. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung und tat, als hätte er es nicht gesehen.

Unsicher sagte er: „Ich habe den Arzt mitgebracht, damit er dich abchecken kann, Kim, das ist wahrscheinlich besser.“ Der Arzt nickte bestimmt und sagte: „Ganz genau. Nachdem Señor Marou mir erläutert hat, was Ihr heute Nacht durchlitten habt, habe ich entschieden, dass ich Euch lieber noch einmal ganz untersuchen möchte.“ Skeptisch hob Kim eine Braue und fragte: „Was versteht Ihr unter ‚ganz untersuchen’, Doktor?“ Der Arzt aber lachte: „Nein, nein, nicht was Ihr denkt, Señorita, nur noch einmal die Reflexe testen, Fieber messen, die Brust abhören; nichts obszönes.“ Charles packte sie dennoch grob am Arm und raunte ihr zu: „Lass uns trotzdem in die Kajüte gehen, hier oben sind mir zu viele Gaffer.“ Bei den Worten warf er Jon einen missbilligenden Blick zu und Kim tadelte ihn, als sie, einschließlich dem Arzt, in seiner Kajüte waren: „Charles, du solltest dein Temperament zügeln, denke daran, Jon ist immer noch dein Captain und verfügt somit fast schon über dein Leben.“ Charles aber winkte ab: „Ja, ja, schon gut. Nun, Doktor, fangt schon an!“ Dieser stellte seine Arzttasche ab, holte das Stethoskop heraus und sagte zu ihr: „Könntet ihr bitte ihre Bluse öffnen, Señorita?“ Nicht wirklich begeistert tat sie, wie ihr geheißen und bekam eine Gänsehaut, als sie den kalten Kopf des Stethoskops auf ihrer Haut unter ihrer Brust spürte. Er hörte beide Brustseiten ab und dann auch noch den Rücken und immer sollte sie tief ein- und ausatmen. Schließlich packte er es weg, holte dafür ein verpacktes Holzstäbchen heraus und sagte zu Kim: „Würdet Ihr bitte den Mund weit öffnen und ‚A’ sagen, Señorita?“ Erneut tat sie was er sagte und streckte auch die Zunge heraus, als er es verlangte. Mit seinem Holzstäbchen drückte er ihre Zunge noch weiter nach unten und leuchtete ihr mit einem kleinen Lämpchen in den Hals. Als er ihr die Zunge so rabiat nach unten drückte, wurde ihr Würgereflex aktiviert und sie begann zu husten, was der Arzt anscheinend als gutes Zeichen abtat. Er legte nun auch das Stäbchen weg, die Lampe behielt er bei sich und kramte in seiner Tasche, bis er ein Fieberthermometer herauszog. Er steckte es ihr in den Mund mit der Aufforderung es unter die Zunge zu klemmen und sagte dann: „Würdet Ihr bitte den Kopf ein wenig zur Seite neigen, Señorita, ich würde gerne noch einmal in Eure Ohren sehen.“ Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und drehte den Kopf so, dass er mit seiner Lampe hineinleuchten konnte, das tat sie auch beim zweiten Ohr und schließlich nahm er ihr das Thermometer aus dem Mund. Undeutlich murmelte er: „Hm, interessant, 38,3.“ Dann packte er alles weg, machte die Tasche zu und sagte: „Nun, Señorita Kim, ich denke, Ihr habt die Betäubung, die mein Sohn Euch gab, nicht vertragen. Das passiert zwar nicht häufig, aber wenn, dann sieht es genauso aus. Wegen des Fiebers würde ich mir keine Sorgen machen. Vielleicht solltet Ihr es die nächsten Tage einfach noch mal ruhig angehen und die Finger vom Alkohol lassen, dann renkt sich das schnell wieder ein. Ansonsten sehe ich keinen Grund zur Besorgnis und wünsche Euch noch einen schönen Tag. Señorita; Señor; adiós!“ Er nickte ihr und Charles noch einmal freundlich zu und verließ dann den Raum, ohne irgendetwas von einer Rechnung zu sagen.

Charles setzte sich neben sie und wollte seinen Arm um ihre Schultern legen, doch sie wandte sich von ihm ab und fauchte: „Lass deine Finger von mir. Was soll denn das? Ich hätte keinen Arzt gebraucht, alles was er mir gesagt hat, hätte ich auch selbst diagnostizieren können und hätte mich dafür noch nicht einmal ausziehen müssen. Und das vorhin an Deck, Jon hat sich nur Sorgen gemacht, nichts weiter. Ich habe dir schon zig mal gesagt, dass da rein gar nichts läuft, glaub mir doch einfach, oder noch besser, vertrau mir nur mal, ansonsten kannst du die Beziehung gleich vergessen!“ Aber Charles brauste auf: „Was sagst du da? Ich habe mir Sorgen gemacht! Tut mir Leid, dass ich einen Arzt geholt habe. Und mit Jon, du hast ihn geküsst, richtig, auf den Mund!“ Nun drehte sie sich wieder zu ihm um, sprang auf und rief: „Na und? Nach deiner ganzen Eifersuchtsmasche musste das doch einfach mal kommen und wenn es nur war um zu beweisen, dass du mir vertrauen kannst!“

„Dadurch, dass du ihn küsst, beweist du mir, dass ich dir vertrauen kann? Tolle Taktik, erstklassig! Auf so eine bescheuerte Idee kannst auch nur du kommen!“

„Verdammt, Charles, versteh doch endlich, dass ich nur mit ihm befreundet bin, ich will nicht mehr von ihm als ab und zu eine freundschaftliche Umarmung, aber denke nicht, du könntest mir vorschreiben, mit wem ich befreundet bin…“

„Halt’s Maul, halt deine Klappe!“

„Ich kenne Jon seit nunmehr über drei Jahren und ich weiß, dass ich nicht in ihn verliebt bin, oder umgekehrt.“ Er hielt es nicht mehr aus. Er hasste Streit mit ihr und so versiegelte er ihren sich ständig bewegenden Mund mit seinen Lippen und küsste sie innig. Erst ließ sie sich überwältigen, doch dann drückte sie ihn von sich und flüsterte: „Denk nicht, dieses Problem ließe sich so einfach wegküssen, Charles. Im Leben ist nicht alles so einfach. Gerade die Liebe ist das Komplizierteste, was dir passieren kann, also tu mir den Gefallen und nimm es nicht so auf die leichte Schulter, bitte, tu es mir zuliebe.“ Verständnislos suchte er in ihren Augen nach einer Antwort und fragte, wie ein kleiner Junge, den man ohne Abendessen ins Bett schickte: „Kein Kuss?“ Traurig schüttelte sie den Kopf und wiederholte leise: „Kein Kuss. Ich kann nicht so tun, als würde es mich kalt lassen, wenn du so gemein zu bist Jon, nur weil ich ihn lieb habe und ich habe ihn sehr lieb. Aber ich kann nicht verstehen, warum du so eifersüchtig bist, wie gesagt, ich kenne ihn seit fast vier Jahren und noch nie ist etwas zwischen uns passiert und das wünsche ich mir auch gar nicht, genauso wenig wie er.“

„Aber ich habe Angst“, murmelte er. Kim, die es nicht verstanden hatte, fragte: „Was sagtest du?“

„Ich habe Angst dich an ihn zu verlieren. Du verstehst dich so gut mit ihm, du lachst mit ihm, weinst bei ihm, teilst alle deine Gefühle mit ihm und ihr habt schon so viel gemeinsam durchgemacht. Ich fürchte, dass ich da nicht mithalten kann, so sehr ich mich auch bemühe, ich habe das Gefühl, ich stehe immerzu in seinem Schatten und das Schmerzt mich und ich will auch so viel mit dir erleben wie er; ich will auch deine Gefühle teilen.“

„Ach Charles, ich teile meine Gefühle mit dir, heute Nacht zum Beispiel, wärst du nicht da gewesen, wäre ich wahrscheinlich qualvoll verendet und glaube mir, wir werden noch so viel zusammen erleben und erleben schon jetzt Dinge, die ich niemals mit Jon erleben werde, oder möchte. Ich liebe dich über alles und von ganzem Herzen und diese Liebe nimmt dir keiner, die ist dir sicher. Versuche einfach mir zu vertrauen, auch wenn ich weiß, dass es schwer ist.“ Nun war sie es, die ihn küsste, doch er schob sie nicht von sich, sondern zog sie noch näher zu sich, setzte sich auf die Bettkante und wollte gerade ihr T-Shirt ausziehen, doch hielt sie seine Hände fest und sagte, traurig lächelnd: „Bitte, Charles, so gerne ich jetzt auch würde, ich fühle mich noch nicht so gut, bitte hab noch ein wenig Geduld, mein Schatz.“ Er nickte nur etwas enttäuscht, fuhr aber fort sie zu küssen, zog sie trotzdem zu sich aufs Bett, kniete sich über sie und fuhr ihr leidenschaftlich durchs Haar, während er sie zärtlich küsste.
 

Als sie aufwachte, strahlte die Sonne golden durch ihre Kajüte. Neben ihr lag Charles und schlummerte tief und fest. War sie etwa eingeschlafen? Wie peinlich!

Moment, wie viel Uhr war es? Sie schaute auf die Nachttischuhr Charles und sah, dass es punkt fünf Uhr nachmittags war. Abrupt sprang sie auf und eilte aus der Charles in Jons Kajüte, wo Jon, Laffite, Garret und Bartholomew um einen Tisch herum saßen. Kim, nun etwas unsicherer, fragte: „Ehm, habt ihr was dagegen, wenn ich mich zu euch geselle?“ Jon, Laffite und Garret schüttelten den Kopf und Bart sah demonstrativ nicht zu ihr. Er hatte es ihr nie verzeihen können, dass sie ihn damals, als Leo ihm die Liste stibitzt hatte, angelogen hatte, aber ihr war das ganz recht, so ließ er sie wenigstens in Ruhe.

Jon holte noch einen Stuhl der in einer Ecke stand und bot Kim an sich darauf zu setzen, was sie dankbar annahm. Auch er setzte sich wieder und erklärte: „Nun, Kim, wir wollten gerade beginnen. Hier habe ich einen Plan von Cartagena, den ich in vier Teile aufgeteilt habe. Jeder von uns wird ein Teil übernehmen, mit seiner Crew, versteht sich. Laffite wird eine Hälfte der Mannschaft der Vengeance bekommen, die andere nehme ich, außerdem werden wir uns noch von den zwei anderen Gruppen jeweils vier Mitglieder auswählen, wobei ihr natürlich auch ein Veto-Recht habt. Jetzt geht es erst mal darum, die Bezirke einzuteilen. Irgendwelche Vorlieben?“

„Ich habe eine Frage, Genitson, warum hast du auf das Viertel der besten Wohngegend schon deinen Namen eingetragen?“, fragte Bartholomew geringschätzig aber Jon antwortete, ohne eine Mine zu verziehen: „Ich bin der Captain und habe das Vorrecht zuerst zu wählen, Bart.“

„Soll’s der Teufel holen! Ich bin auch Captain auf der Satisfaction!“ Er war aufgesprungen und hielt Jon einen Dolch an den Hals. Laffite und Garret waren ebenfalls aufgesprungen und hatten ihre Entermesser gezückt, trauten sich aber nicht, irgendetwas zu tun, da Barts Messer in der Tat sehr scharf war. Jon aber führte die Klinge mit dem bloßen Finger von seinem Hals und sagte kühl: „Nun, Bart, vielleicht hast du das Kommando über die Satisfaction, aber das Schiff gehört noch immer mir und nicht zu vergessen, du unterstehst ebenfalls meinem Befehl. Also steck dein Messer weg und gib dich mit dem östlichen Hafenviertel zufrieden.“ Brummend tat Bartholomew tatsächlich wie ihm geheißen, steckte sein Messer weg, setzte sich und knurrte, die Arme vor der Brust verschränkend: „Ai, Sir.“ Laffite und Garret ließen ebenfalls die Waffen sinken und setzten sich wieder.

Kim allerdings griff schon nach Jons Hand, dessen Finger blutete. Er jedoch zog sie weg und sagte: „Lass nur, ist nicht schlimm. Wie auch immer, Laffite, Garret, könnt ihr euch einigen wer das westliche Hafenviertel und wer das östliche Nobelviertel bekommt?“ Die Beiden mussten sich nur einen flüchtigen Blick zuwerfen, da sagte Laffite: „Ich nehme das Hafenviertel.“ Jon sah zu Garret und fragte: „Ist dir das recht?“ Er nickte nur und sagte: „Mir ist gleich welches Viertel ich bekomme, Hauptsache, da gibt es ein paar hübsche Juwelen, wenn ihr versteht, was ich meine.“ Er grinste in die Runde und bekam zur Antwort verständnisvolles Gelächter. Einzig Kim begann sich die Schläfen zu massieren. Waren denn wirklich alle Männer so? Wahrscheinlich, aber da konnte man nichts tun.

Nun beschlossen sie noch, welche Männer der Satisfaction und der Fortune sich zu Jon und Laffite gesellen würden, Jon sagte noch einmal die Zeit, wann es losging und dann verabschiedeten sie sich. Kim blieb in Jons Kajüte und als die anderen draußen waren, fragte er: „Was hat der Arzt gesagt, Kim?“

„Er hat gesagt, dass ich die Betäubung gestern wahrscheinlich nicht gut vertragen hätte, vielleicht lag das aber auch daran, dass ich etwas zu tief ins Glas geschaut habe, mein Kopf bringt mich um!“ Er lachte schallend auf und sie fragte: „Sag, wie geht es eigentlich deiner Schulter, Jon, wird es denn morgen gehen?“ Eine wegwerfende Handbewegung machend meinte er: „Ach was, das ist nichts. Etwas Blei in der Schulter hat noch keinem geschadet. Und das morgen übersteh ich schon, die Adligen haben ihre Waffen meist nicht so direkt griffbereit wie der Pöbel im Hafen, also wird es schon gehen, außerdem nehme ich mir dich und Charles mit, dazu auf jeden Fall noch Terry, glaub mir, ich kriege Laffite noch überredet, dass er ihn mir überlässt.“ Skeptisch fragte Kim: „Und wie willst du das anstellen? Vorhin wollte Laffite ihn noch auf jeden Fall.“

„Tja, lass mich nur machen, das geht schon“, meinte er grinsend. Sie nickte nur mit hochgezogenen Brauen, da klopfte es und auf Jons Antwort trat Charles ein. Dieser schaute sich erst im Raum um und stierte dann Kim finster an, mit den Worten: „Kim, du solltest dich lieber wieder hinlegen, wegen deinem Fieber. Hey, Jon! “ Mehr sagte er nicht zu Jon, sondern zischte Kim zu, als die sich an ihm vorbei schob: „Wieso bist du schon wieder mit ihm allein?“ Sie drehte sich noch einmal zu Jon um und sagte: „Heute Abend komme ich wohl nicht mit in die Stadt, Charles hat Recht, ich sollte es langsamer angehen lassen. Aber halte du dich auch im Zaum.“ Er aber lachte: „Jetzt lass ich mir schon Gesundheitstipps von einem Weib geben, wie tief bin ich gesunken? Gute Besserung!“ Charles schloss hinter ihr die Tür und blaffte sie an: „Was sollte denn das? Als ich aufgewacht bin und du nicht da warst habe ich mir furchtbare Sorgen gemacht, an Deck hat dich niemand gesehen und als ich dann an Land auf Bartholomew getroffen bin, hat der irgendwelche komischen Andeutungen gemacht, dass du bei Jon seist und beschäftigt wärst…“

„Ach, sei doch still. Ich dachte, ich hätte dir schon einmal erklärt, dass du mir vertrauen kannst und was Bartholomew über mich sagt ist meistens gelogen, weil er mich nicht ausstehen kann. Also langsam bin ich es wirklich leid mit dir, ich hasse diese ständige Eifersucht!“ Sie war stehen geblieben und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Vorsichtig wollte Charles ihre Hand nehmen, doch sie zog sie weg, ging in ihre Kajüte und wetterte: „So brauchst du mir jetzt gar nicht zu kommen, erst tadeln dann streicheln, entscheide dich gefälligst!“ Unsicher fragte er: „Aber ich liebe dich doch…“ Noch einmal brüllte sie: „Halt deine verdammte Klappe, Charles, ich liebe dich auch, aber jetzt gerade nervst du mich, also lass mich meiner Gesundheit wegen in Ruhe, Idiot!“, dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu.

Rasend vor Wut warf sie sich auf ihr Bett und verharrte dort, sich über Charles aufregend, bis es an ihre Türe klopfte und jemand eintrat. Ohne hinzusehen knurrte sie: „Raus hier, ich habe schlechte Laune und will niemanden sehen!“ Die Tür schloss sich wieder und sie dachte, der Störenfried sei gegangen, doch nicht viel später spürte sie, wie sich jemand neben sie aufs Bett setzte, drehte sich um und blaffte: „Ich sagte doch, du solltest raus gehen, Schwachkopf, warum tust du nicht, was man dir sagt?“ Als sie jedoch in Jons Gesicht blickte, verstummte sie jäh und er grinste: „Nun, ich dachte immer, der Kapitän gibt die Befehle, aber wenn sich das geändert hat, werde ich mich dem Willen des Volkes beugen.“ Sie aber setzte sich auf und druckste: „Oh Jon, du bist das, tut mir Leid, ich wusste nicht, dass du es bist. Ja, der Kapitän gibt noch immer die Befehle…“ Jon lachte nur, setzte sich auf den Stuhl, der bei ihrem Bett stand, legte die Füße auf ihr Bett und meinte: „Ach was, lass mal, ist doch kein Problem.“ Etwas ernster fügte er jedoch hinzu: „Du hast dich schon wieder mit Charles gestritten, nicht wahr?“

„Ja und deswegen ist es auch nicht so gut, wenn du hier drinnen bist, wenn Charles vorbeikommt, könnte er das falsch verstehen.“

„Mach dir da mal keine Sorgen, der ist vorhin mit Juanito, Jack und Creetin an Land gegangen. Außerdem hat er mir nichts zu sagen, schließlich bin ich immer noch sein Captain, glaube mir, stünde er nicht so in deiner Gunst, hätte ich ihn schon längst ausgesetzt, sei dir dessen versichert.“

„Es tut mir wirklich Leid, wie er sich dir gegenüber verhält…“ Er ließ sie nicht ausreden, sondern unterbrach sie: „Jetzt ist es schon so weit, dass du dich für ihn entschuldigen musst. Bei Leo war es nie so schlimm.“ Sie sah zu Boden und fühlte wieder die alt bekannte Leere in sich aufsteigen, die sie seit Leos Tod so oft umklammert hatte. Wieder musste sie an die Wärme in ihrem Herzen denken, die er verbreitet hatte und die Geborgenheit, die sie in seiner Nähe verspürt hatte. Bei Charles war das anders, sie fühlte sich zwar auch geborgen und warm in seiner Nähe, doch Leo war viel sensibler gewesen, auch wenn er schnell ausgerastet war, mehr als nur oft hatte er gewusst was sie fühlte, hatte das gleiche gefühlt oder war einfach nur auf ihre Stimmung eingegangen. Einige Sekunden besann sich Jon und meinte dann verlegen: „Verzeih, ich wollte dich nicht traurig stimmen, ich wollte nur sagen, dass du es nicht so weit kommen lassen solltest, dass du dich für Charles Verhalten entschuldigen musst.“ Sie nickte stumm und musste doch weiter traurig an Leo denken. Jon legte vorsichtig seine Hand auf ihr Knie und fragte leise: „Kim, ist alles in Ordnung? Ich wollte nicht…“ Er stockte. Anscheinend fehlten ihm die Worte, doch sie sah auf, lächelte und entgegnete: „Nein, nein, ist schon gut, alles in Ordnung. Aber glaubst du ich war zu hart zu Charles? Ich habe ihn vorhin einfach so vor die Tür gesetzt.“

„Na und? Das wird er schon überleben, außerdem hat er dich doch auch mal vor die Tür gesetzt, ich möchte dich nur an jenen verhängnisvollen Tag erinnern, an dem du auch Maury und Brian zum Opfer gefallen bist.“ Sie dachte einen Moment und fragte dann: „Waren die beiden deine Blutsbrüder, mit denen du zusammen Pirat geworden bist?“ Er nickte und erwiderte: „Ja, das waren sie, aber sie haben sich verändert und ich denke auch darüber nach den Jolly Roger zu verändern, denn ich habe das Gefühl, dass mich mit diesen Beiden nur die Vergangenheit verbindet und an der will ich nicht hängen.“

„Und wie willst du ihn ändern? Ich mag ihn eigentlich so wie er ist, außerdem finde ich, dass du Brian und Maury nicht in Erinnerung behalten solltest, wie sie zuletzt waren, sondern so, wie sie als Knaben waren, denn du hättest sie sicher nicht zu deinen Freunden erklärt, wenn sie auch damals so gewesen wären. Aber nebenbei, Maury hat mal zu Brian gesagt, er solle seine Finger von mir lassen, weil ich keine gewöhnliche Frau sei, sondern anders, glaubst du, er wusste es?“ Kurz überlegte Jon und kam dann zu dem Schluss: „Das könnte gut sein, er hatte schon immer einen Sinn für übernatürliches und hat schon als Kind in diesen Büchern über Mythen geschmökert. Aber sag, was ich dich eigentlich schon früher fragen wollte, haben sie Hand an dich gelegt?“ Entschieden schüttelte sie den Kopf und verneinte. Nach einem kurzen schweigen sagte sie dann leise: „Ich hatte aber eine Vision, als ich bei ihnen war. Darin hast du nach mir gesucht und dann mit Charles gestritten, du hattest ihn des Schiffes verwiesen, warum ist er wieder hier?“ Grinsend antwortete Jon: „Nun, ich weiß ja, dass du ohne einen Mann an deiner Seite nicht leben kannst und Charles ohne uns untergehen würde. Aber im Ernst, er hat dich gefunden, ist dann am nächsten Morgen zu uns auf die Vengeance gerannt und hat uns von der Höhle erzählt. Aus Dankbarkeit habe ich ihn dann doch wieder aufgenommen.“

„Aber was habt ihr gemacht, als Charles euch von der Höhle erzählt hat?“

„Na wir sind gleich dorthin gegangen und Charles hat dann kurzerhand Maury angeschossen, weil der Idiot ja nicht zielen kann. Den Rest des Liedes kennst du ja.“ Sie nickte und erinnerte sich nur zu gut, wie Jon Maury und Brian erschossen hatte.

„Und sie haben dir wirklich nichts angetan? Außer das mit dem Finger? Warum hat, wer auch immer von den Beiden, das eigentlich getan?“ Nervös spielten ihre Finger mit dem Saum ihrer Bluse und sie entgegnete: „Das hängt alles irgendwie zusammen, In der Nacht konnte ich nicht schlafen und dann hat Brian mich mitgenommen zu so einer Klippe. Dort wollte er mich dann unbedingt küssen und ich habe es zugelassen, was nicht zuletzt an der Waffe lag, die er in der Hand hielt. Aber wir sind auch gleich wieder gegangen. Am nächsten Morgen dann wollte Maury wissen, was wir gemacht hätten und ich wollte es nicht sagen, dann hat er mir gedroht, aber ich dachte, er würde mir nur etwas vormachen, was er, zu meinem Leidwesen, aber nicht getan hat und dann hat er meinen Finger aufgeschlitzt.“

„Dann hat Brian dich also geküsst? Und weil du es nicht sagen wolltest, hat Maury dich verletzt? Mein Gott, Kim, das tut mir so Leid, glaub mir, früher waren sie ganz anders, sehr schüchtern und zuvorkommend. Ich habe immer geglaubt, sie wären tot.“ Betreten sah er zu Boden und versuchte dann abzulenken: „Wie geht es dir eigentlich? Hast du noch Fieber?“ Ohne eine Antwort abzuwarten legte er ihr die eine Hand auf die Stirn und seine andere auf die seine. Dann stellte er fest: „Hm, noch ein bisschen, aber nicht arg. Und wie geht es deinem Bauch? Hast du noch Bauchschmerzen?“

„Nein, nein, mir geht es gut, aber ich glaube, es ist trotzdem gut, dass ich heute Abend nicht weggehe, schließlich ist Alkohol in meinem Zustand nicht gut.“ Er nickte langsam und fragte: „Willst du schlafen? Wenn ich gehen soll, musst du es nur sagen.“ Entschlossen schüttelte sie den Kopf und lächelte: „Nein, ich will nicht, dass du gehst, ich finde es schön, dass du mal wieder bei mir bist, ohne dass ich Angst haben muss, dass Charles eifersüchtig wird.“ Er lachte auf und meinte: „Also ich würde das nicht aushalten, wenn jemand so gottverdammt eifersüchtig wäre, du bist wirklich bewundernswert!“
 

Es war kurz vor elf Uhr nachts und Kim, Charles, Terry, Edward und Jon standen vor einer Villa in der sogar noch um diese Zeit Licht brannte. Die anderen hatten sich in ihrem Bezirk aufgeteilt. Nun schlug die Turmuhr und Jon klopfte hart mit dem Griff seiner Pistole gegen die Tür des Hauses. Alle hatten sie ihre Waffen gezückt und Charles hatte Kim noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange gedrückt, bevor ein Diener öffnete.

„Guten Abend, wir sind die Piraten, die die Herrschaften bestellt hatten“, grinste Jon und erschoss ihn in der nächsten Sekunde. Terry und Edward gingen ins obere Stockwerk und Kim, Charles und Jon gingen in das Zimmer in dem noch Licht brannte. Von innen hörten sie eine hysterische Frauenstimme rufen hören: „Nun geh schon nachsehen, Cariño! Ich könnte wetten, es war ein Schuss!“ Kim musste ein wenig lachen, glaubte ihr Gatte der holden Dame etwa nicht? Im nächsten Augenblick stieß Jon aber die beiden Flügeltüren auf und rief freudig: „Nun, mein bester Cariño, Ihr solltet auf Eure Gattin hören. Tut mir wirklich Leid, wegen dem Diener, aber er sah sowieso nicht wirklich vertrauenswürdig aus, hat zu oft im Hafen rumgelungert.“

Es war ein Wohnzimmer. An der Wand, im Kamin, loderte ein gemütliches Feuerchen und davor standen zwei Sofas. Gegenüber standen einige Regale, voll gestopft mit etlichen Büchern. Die Frau, sie war vermutlich um die dreißig, stand vor ihrem Mann, der auf einem der Sofas saß und Pfeife rauchte. Nun starrte sie vor Angst erstarrt auf die drei Personen die vor ihr standen. Kim hielt sich jedoch im Schatten und musterte das Ehepaar. Sie vermutete, dass sie nicht aus Liebe geheiratet hatten, denn der Mann war mindestens zehn Jahre älter als sie und hatte graues Haar und einen Vollbart. Sie hatte braune, glänzende Locken, die sie sich hochgesteckt hatte, wie es sich für eine Dame gehörte. Im nächsten Moment, als sie sich wieder etwas gefasst hatte, setzte sie zum schreien an, aber Jon, der ihren nächsten Schritt erahnte, kam auf sie zu und hielt ihr den Mund zu. Nun schaltete sich doch ihr Mann ein, er stand auf und brüllte: „Was erlaubt Ihr Euch? Das ist meine…“ Weiter kam er nicht, denn ein Schuss aus Charles Waffe tötete ihn. Wie ein Sack viel er wieder zurück auf das Sofa und färbte den einstmals makellosen weißen Stoff mit seinem Blut rot. Die Augen der Frau starrten entsetzt zu ihrem Mann und im nächsten Moment begann sie zu weinen. Doch Jon ging nicht darauf ein, sondern nahm ihr zunächst ihre rubinroten Ohrringe ab. Nun nahm er seine Hand von ihren Lippen und ließ sie los. Sie stürzte zu ihrem Mann, barg ihr Gesicht in seinem Schoß und schluchzte laut. Charles sah sich im Zimmer um und steckte ein, was er für wertvoll hielt.

Jon allerdings kümmerte sich weiter um die Frau, zog sie auf die Beine und umrundete sie einmal. Er hatte sie scharf gemustert und küsste sie jetzt. Das ließ sie sich jedoch nicht gefallen und scheuerte ihm eine. Er rieb sich grinsend die Backe, zog seinen Hut, deutete eine Verbeugung an und grinste: „Verzeiht, Señorita, wo bleiben denn meine Manieren, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Jon Genitson, aber ich bezweifle, dass Ihr schon einmal von mir gehört habt. Von Beruf bin ich Pirat. Und wie heißt Ihr, Teuerste?“ Kim gefiel die Art, wie er mit ihr umging, gar nicht, aber sie konnte nichts machen. Jon liebte es, seine Opfer ein bisschen zu necken und sie dann umzubringen. Sie hasste das, aber er war ihr Captain und seinen Befehlen hatte sie sich zu beugen, obgleich er auch ihr bester Freund war. Sie jedoch flüsterte angsterfüllt: „Mein Name ist Bernadette De L’Aubery, bitte tut mir nichts, Señor Genitson, ich habe zwei kleine Kinder, die eine Mutter brauchen!“ Wieder begann sie zu schluchzen und just in dem Moment kam Terry reingeplatzt mit zwei kleinen Kindern, einem zirka fünf jährigen Jungen und einem ungefähr zehn-jährigen Mädchen, die schrieen und heulten wie am Spieß. Als ihre Mutter sie sah, stürzte sie auf die Beiden zu, nahm sie in den Arm und flehte, zu Jon aufblickend: „Bitte, Señor, tut uns nichts, nehmt alles mit was wir haben, hier seht, meine Kette, nehmt sie, ich brauche sie nicht, aber lasst mich und meine Kinder unversehrt am Leben!“

Jon überlegte kurz und fragte dann: „Ich habe schon zwei meiner besten Freunde und eine Frau die ich liebte umgebracht, warum sollte ich dann nicht auch Euch erschießen, Señora Bernadette De L’Aubery?“ Die Frau zitterte wie Espenlaub, während ihre Kinder die Gesichter an ihrer Brust bargen und bitterlich weinten. Anscheinend suchte Señora De L’Aubery verzweifelt nach einer Antwort, doch nun trat Kim aus dem Schatten und sagte: „Weil ich nicht will, dass sie sterben.“ Mit zu Schlitzen verengten Augen musterte Jon sie und fragte: „So, Kim, willst du das?“ Entschlossen zischte sie: „Ja, Jon Genitson, das will ich, also sei nicht so hartherzig.“ Sie nahm der Frau die Kette aus der Hand, ging damit zu Jon, drehte sich um und sagte, sich die Haare aus dem Nacken streifend: „Willst du sie mir nicht umlegen?“ Mürrisch tat er, um was sie ihn gebeten hatte und sie spürte genau Charles missbilligenden Blick im Rücken, doch nun sagte Jon: „Nun gut, wenn du das so willst, dann werde ich noch einmal ein Auge zudrücken. Die Kette steht dir übrigens ausgezeichnet, meine Liebe.“ Als die Frau das hörte, rutschte sie auf Knien zu Jon, küsste seine Füße und rief erleichtert aus: „Habt tausend Dank, Señor, habt Dank!“ Jon aber tat einen Schritt zurück und meinte: „Steht auf, meine Liebe Bernadette, für eine Frau Eures Standes gehört es sich nicht auf Knien zu rutschen, gebt mir lieber einen Kuss zur Belohnung.“ Sie stand auf, näherte sich ihm aber in keinster weise. Schließlich fragte Jon etwas beleidigt: „Bin ich so abstoßend, dass Ihr mir noch nicht mal einen Kuss geben wollt, verehrteste Bernadette?“ Versuchend sich rauszureden stotterte sie: „Nein, ganz im Gegenteil, ihr wirkt sogar sehr anziehend auf Frauen, aber Ihr müsst verstehen, die Kinder.“

„Soso, die Kinder. Wie heißen denn Eure zwei Bälger?“ Terry war schon längst wieder gegangen und hin und wieder hörte Kim jemanden aufschreien und sie vermutete, dass Terry oder Edward gerade einem Diener die Kehle durchschnitten.

Jon lud seine Pistole nach und wartete auf die Antwort auf seine Frage. Als diese allerdings ausfiel, sah er auf und erkannte, dass sie gebannt auf seine Pistole starrte. Lachend meinte er: „Habt keine Angst, Señora Bernadette, ich habe der guten Kimberley von Merrylson mein Wort gegeben und das breche ich nicht. Also, wie heißen Eure Kinder?“

„Camila und Paco.“

„Was für schöne Namen, habt Ihr oder Euer Mann sie ausgesucht?“

„Mein Mann, aber es sind in der Tat schöne Namen, Señor. Wann wollt Ihr uns denn wieder verlassen?“ Gehässig lachte Jon auf und grinste: „Also wenn es nach mir ginge, könnte ich die ganze Nacht mit Euch verbringen, Teuerste, aber ich glaube fast, dass meine Crew nicht so einverstanden damit wäre.“

„Dann seid Ihr also der Captain?“ Gerade wollte er antworten, da tippte ihm Charles auf die Schulter und sagte: „Wir sollten weiter, Captain, Terry und Edward sagen, hier sei nichts mehr.“ Jon nickte, erfasste die Hand Bernadettes und küsste sie. Diese atmete schon auf, da zog Jon sie an sich und küsste sie richtig. Sie traute sich aber nicht mehr, sich zu wehren, da sie seine Waffe an ihrer Seite spürte.

Endlich ließ Jon von ihr ab und ging mit den anderen hinaus. Draußen tadelte Kim ihn sogleich: „Musst du denn immer diesen Bilderbuchpiraten spielen, Jon? Das nervt wirklich.“ Charles aber fuhr sie an: „Lass ihn doch eine Frau küssen, du wirst doch nicht eifersüchtig sein?“ Kim aber zischte: „Nein, weil ich dich liebe und ich, Gott sei Dank, nicht so bin wie du, Charles.“

In etwa lief es in den fünf Häusern in denen sie danach waren gleich ab, aber im letzten war der Mann mit einer Muskete bewaffnet und schoss auch. Aber anscheinend war er nicht geübt und schoss daneben. Im nächsten Moment fiel er aber zu Boden, getroffen von dem Schuss aus Terrys geübter Hand.

Während sie durch die Straßen liefen, konnten sie vom Hafen her große schwarze Rauchwolken erblicken und sie liefen an brennenden Häusern und etlichen Leichen vorbei zum Hafen. Dort trafen sie auf Laffite und Garret, die gerade mit dem Hafenmeister beschäftig waren, der blutend am Boden lag. Als er Jon sah, rief er: „Bitte, Señor Son, helft mir, dieses Gesindel, es sind Piraten!“ Jon aber trat mit einem breiten Grinsen auf ihn zu, beugte sich zu ihm herunter und flüsterte: „Gestatten, Señor Rondinho, Jon Genitson, Pirat. Und hier bei mir sind meine Männer, allesamt mit dem Teufel im Bunde. Und das Mädchen, ich erzählte Euch von ihr, sie tötete Folkhorn, diesen Lump, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.“ Der Mann riss die Augen auf, doch im nächsten Augenblick durchtrennte Jon mit seinem Dolch die Kehle des Hafenmeisters und ging dann weiter in Richtung Schiff, von wo aus man die Piraten schallend singen hören konnte.

Aus dem Hafen zu kommen hatten sie keine Probleme, da eine Sondertruppe der Piraten zuvor sämtliche Kanoniere gelyncht hatten.

Anstatt sich jedoch sofort mit den anderen zu betrinken, stand sie an der Reling des Achterdecks und schaute zurück auf das einstmals so schöne Cartagena, das nun lichterloh brannte und nahezu niemand war mehr am Leben, um die Flammen zu löschen.
 

Sie waren schon einige Meilen weit auf hoher See, da förderte Laffite eine völlig verängstigt dreinblickende Frau, mit einem Mantel über den zerrissenen Kleidern, an Deck und rief: „Wer zur Hölle hat die mitgenommen? Außer Schmuck nehmen wir keine Souvenirs mit! Captain, was sollen wir mit ihr anfangen?“ Er schleppte sie vor Jon, bei dem auch Kim und Charles standen, und ließ sie los, weshalb sie kraftlos auf die Knie sank, den Mantel enger um sich zog und leise schluchzte. Jon half ihr aufzustehen, lächelte sie freundlich an und fragte: „Wie heißt Ihr, meine Gute?“ Sie stockte, strich sich die braunen Locken aus dem Gesicht und schluchzte: „Erkennt Ihr mich denn nicht mehr? Ich bin Bernadette De L’Aubery und sie haben auch meine Kinder mitgenommen, Señor. Bitte, tut uns nichts, ich wurde schon geschändet, von zweien, nicht nur einem.“ Jons Miene verfinsterte sich und er rief durch die Reihen betrunkener Piraten: „Wer von euch Hohlköpfen hat sie mitgenommen und benutzt?“ Als sich niemand meldete, fragte er mit sanfter Stimme an die Frau gewandt: „Wisst Ihr noch wer es war? Könnt Ihr sie mir zeigen? Ich will sie bestrafen.“ Zögernd nickte sie und ging vorsichtig durch die Horde von Piraten. Schließlich blieb sie stehen und zeigte auf Juanito, der bei seinen Freunden stand und lachte. „War es Juanito? Nur er, oder noch jemand anderes aus der Gruppe?“, fragte Jon ruhig. Sie schüttelte verschüchtert den Kopf und zeigte als nächstes auf Ben, dann sagte sie: „Die Beiden waren es. Sie haben mich und meine Kinder hierher verschleppt und mich dann geschändet.“

Mit zornesrotem Gesicht ging Jon auf die Gruppe zu, Kim, Charles und Bernadette im Schlepptau und brüllte dann: „Juanito, Ben, stimmt es, dass ihr die Frau und ihre Kinder verschleppt und dann vergewaltigt habt?“ Grinsend und auch nicht mehr ganz nüchtern entgegnete Juanito: „Ist ja gut, ich gestehe, aber sie war noch lange nicht so gut wie die Huren, es war wahrlich kein Spaß, du kannst es ja selbst einmal probieren. Ich würde ja gerne mal Kim versuchen, aber die lässt ja außer Charles keinen an sich ran, das Miststück.“ Bevor Jon noch etwas sagen konnte, knurrte Kim: „Hüte deine Zunge, Juanito, sonst wird es dir schlecht bekommen!“ Gespielt ängstlich erwiderte er: „Oh mein Gott, ich zittere, was willst du kleines Flittchen mir denn antun?“

„Laffite! Komm und bring die Peitsche mit!“, rief Jon und schlagartig wurde es still. Nun wirklich angsterfüllt fragte Juanito: „Aber wieso das? Ich habe doch nichts getan!“

„Du hast die Regeln missachtet und Kim beleidigt, das ist Grund genug für zwanzig Peitschenhiebe und für Ben gibt es fünfzehn, da er die Regeln genauso missachtet hat, was meinst du, Laffite?“, fragte Jon. Laffite, der mit der Peitsche herangeeilt war, nickte stumm und herrschte Juanito an: „Zieh dein Hemd aus und dreh dich um!“ Murrend tat dieser wie ihm geheißen und hielt die ersten zehn Hiebe tapfer aus, dann aber begann er bei jedem Peitschenhieb vor Schmerzen aufzuschreien und zwei andere Piraten mussten ihn stützen. Sein Rücken blutete stark, nachdem Laffite mit ihm fertig war und nun kam Ben an die Reihe, der zuvor von Terry und Edward gehalten worden war, damit er sich nicht aus dem Staub machen konnte. Dieser hielt aber nicht so lange aus wie Juanito und musste schon nach dem achten von Terry und Edward gestützt werden. Währenddessen zog sich Juanito schwankend wieder sein Hemd über und ging durch die Menge der Piraten unter Deck, wohin ihm dann auch Ben folgte.

Kaum war dieser nicht mehr zu sehen, ging das Singen und Trinken weiter und Jon sagte zu Kim: „Willst du Señora Bernadette nicht etwas zum Anziehen leihen, Kim?“ Sie nickte nur und führte die Frau vor ihre Kajüte. Doch Bernadette wollte nicht eintreten, bis sie ihre Kinder an ihrer Seite wusste. So gingen sie zuerst diese holen und dann in ihre Kajüte, wo Kim in ihrer Truhe nach Kleidung für die Frau suchte. Als sie ihr ein T-Shirt und einen weiten, langen Rock zuwarf, bedankte sich die Frau überschwänglich und fragte dann: „Hegt Ihr eine Beziehung zu Eurem Kapitän, Señorita von Merrylson? Ihr scheint mir so vertraut mit ihm.“ Verblüfft schaute Kim die Frau an und entgegnete dann: „Wie kommt Ihr denn darauf, Señora De L’Aubery? Die Beziehung zwischen dem Captain und mir ist rein platonisch, außerdem bin ich mit einem anderen Piraten hier an Bord liiert und den liebe ich von ganzem Herzen.“

„Dann tut mir diese Unterstellung wirklich außerordentlich Leid, Señorita von Merrylson, bitte verzeiht meine Torheit.“

„Mama, ich habe Angst!“, schluchzte der kleine Paco und lief auf seine Mutter zu. Diese nahm ihn in den Arm, streichelte ihm sanft über den Kopf und flüsterte: „Ich weiß, Paco, ich auch, aber wir werden das schon zusammen überstehen.“ Sich in der Kajüte umschauend fragte er: „Wo ist denn Papa? Durfte er nicht mitkommen?“ Nun trat Camila an ihn heran, schlug ihm hart auf den Hinterkopf und zischte: „Papa ist tot, du Dummkopf! Und wir sind hier bei Piraten, das überstehen wir niemals, spätestens morgen früh werden sie uns auch hinrichten!“ Bernadette De L’Aubery aber stand auf, funkelte ihre Tochter zornig an, ohrfeigte sie und brüllte dann: „Hör sofort auf deinem Bruder so einen Unsinn zu erzählen! Wir werden nicht sterben und ihr solltet eigentlich schon längst im Bett sein!“ An Kim gewandt fragte sie dann leise: „Wisst Ihr, wo ich mich mit meinen Kindern schlafen legen kann? Es war ein anstrengender Tag.“ Hastig antwortete Kim: „Ja, natürlich, Ihr könnt hier in meiner Kajüte bleiben, ich habe auch einige Bücher, falls Ihr Euren Kindern etwas vorlesen wollt. Ich hoffe nur, mein Bett reicht Euch.“

„Ganz im Vertrauen, Señorita von Merrylson, werden heute Nacht Piraten hier hereinkommen? Mir tun noch immer sämtliche Glieder weh und noch einmal würde ich so etwas nicht ertragen. Auch um der Kinder Willen.“ Kim jedoch schüttelte lächelnd den Kopf und entgegnete: „Ich werde abschließen, nachdem ich die Kajüte verlassen habe, macht Euch also keine Gedanken und schlaft Euch aus, eine gute Nacht wünsche ich Euch noch und schlaft gut.“ Mit diesen Worten verließ sie die Kajüte und schloss nach ihrem Verlassen ab.
 

Am nächsten Morgen wachte sie in Charles Arm auf und verspürte einen seltsamen Heißhunger auf einen Apfel. So stand sie auf, schlich sich in die Kombüse und holte sich einen Apfel aus dem Fass. Gerade drehte sie sich um, da blickte sie in das aschfahle Gesicht Juanitos. Der Atem stockte ihr und sie wollte sich nervös an ihm vorbeischieben, doch packte er ihr Handgelenk, zog sie zu sich und flüsterte: „Wenn ich wollte könnte ich dich hier und jetzt haben, da der Rest der Mannschaft noch schläft. Aber wegen dir zieren noch fünf Striemen mehr meinen einst so makellosen Rücken. Nur wegen dir bin ich verunstaltet, dafür sollte ich dich umbringen! Eigentlich würde keiner davon mitbekommen, wenn ich dich einfach über Bord werfen würde.

Aber dennoch kann ich es nicht. Du bist so schön, dass ich wünschte blind zu sein, aber selbst dann würde deine innere Schönheit mich noch davon abhalten, dich von Bord zu werfen. Du bist so perfekt, schön, intelligent, freundlich, nur manchmal ein wenig naiv. Aber sieh mich an, ich habe nur meinen Stolz, mein Aussehen und meine Selbstverliebtheit, ich bin verdorben, keine ehrbare Frau würde mich auch nur ansehen, ich bin Pirat, mit dem Teufel im Bund. Warum kannst du so perfekt sein?“ Sein Griff wurde immer fester und Kim keuchte mit schmerzverzerrtem Gesicht: „Du tust mir weh!“ Sofort ließ er sie los und erwartete anscheinend, dass sie davonlief, doch sie blieb stehen und sagte leise, sich das Handgelenk reibend: „Vielleicht solltest du dich bei Señora De L’Aubery entschuldigen, sie hat sehr viel durchgemacht.“

„Glaubst du denn, sie würde es annehmen?“ Seine Augen starrten in die ihren und sein einstmals so stolzer Blick war gebrochen. Die Augäpfel lagen tief in ihren Höhlen und dunkle Augenringe rankten sich darunter. Seine ganze Gestalt wirkte sehr gedrungen, nicht mehr so hochmütig wie früher und auch nicht mehr so selbstbewusst. Selbst seine Stimme zitterte fast, doch in ihr schwang immer noch ein wenig seiner ehemaligen Eleganz mit.

Zu Boden schauend flüsterte Kim: „Ich weiß es nicht. Was sie durchlitten hat ist nicht so leicht zu verkraften und ich glaube, dass sie nicht die Art Mensch ist, die über so etwas einfach hinwegschreitet. Hätte sie ihre Kinder nicht, würde sie das alles nicht länger ertragen wollen, so habe ich das Gefühl.“

„Na du kannst einem ja echt Mut machen.“

„Tut dein Rücken noch sehr weh? Tut mir Leid wegen den Peitschenhieben, aber in gewisser Weise hast du es ja verdient.“, sie versuchte dem Thema auszuweichen, da sie wusste, dass es ihn nur noch mehr zermürben würde.

Juanitos eingefallene Lippen umspielte ein selbstquälerisches Lächeln und er erwiderte: „Er schmerzt wie nach zwanzig Peitschenhieben und mein Hemd klebt mir am Rücken, als wäre es festgewachsen.“ Den Kopf schüttelnd antwortete sie: „Was hast du auch dein Hemd wieder angezogen, du Dummkopf. Komm, ich helfe dir, es von deinem Rücken zu bekommen, bei Leo habe ich es damals ja auch geschafft, als der Verband an seiner Hand festgeklebt war.“ Sie tat einen Schritt auf ihn zu und fügte noch hinzu: „Keine Angst, ich werde es nicht einfach herunter reißen. Hol mir nur schnell einen Krug Wasser, dann geht es besser.“ Seine Augen blitzten auf und er drehte sich um, einen Krug Wasser zu holen, wie sie ihn geheißen hatte. Als er wiederkam, drehte er ihr bereitwillig den Rücken zu. Erst jetzt konnte sie sehen, dass sein Hemd aus Kaliko von Blut durchdrungen war und musste schwer schlucken, wenn sie an die Schmerzen dachte, die er gehabt haben musste.

Als er aus den Ärmeln seines Hemdes schlüpfte, wurde es von nichts anderem mehr gehalten als von der Kruste, die sich über seinen Wunden gebildet hatte. Nun begann Kim langsam Wasser darauf zu träufeln und es vorsichtig abzulösen. Einige Male stöhnte Juanito vor Schmerz unterdrückt auf, aber Kim entschuldigte sich jedes Mal prompt und beteuerte, dass sie wirklich ihr Bestes gäbe, doch er schüttelte jedes Mal nur den Kopf und erwiderte nichts.
 

Nach einer ihr endlos erscheinenden Zeit hatte sie das Hemd ganz von seiner Haut getrennt und sagte ihm, dass er sich nicht rühren solle.

Sie lief eilig in die Vorratskammer und holte eine Flasche Rum, von dem sie dann etwas über seinen Rücken laufen ließ, da die Verkrustung an einigen Stellen wieder aufgerissen war. Erschrocken schrie er auf, doch Kim sagte ruhig: „Scht, sei leise! Das ist, um die Wunden zu desinfizieren, also stell dich nicht so an, ich weiß wie es brennt.“ Eigentlich wusste sie es nicht, aber sie sagte es dennoch, weil sich jeder so anstellte, wenn sie eine Wunde desinfizierte. Er schnupperte ein wenig und fragte dann erstaunt: „Kippst du mir da etwa den teuren Rum über den Rücken?“

„Ja und jetzt stell dich nicht so an.“ Sie schaute noch einmal über den Rücken, ob er genäht werden musste, doch sie kam schnell zu dem Schluss, dass das nicht mehr nötig war. Also sagte sie: „Ich bin fertig, aber ich würde dir raten fürs Erste kein Hemd anzuziehen, das würde nur wieder festkleben.“ Mit diesen Worten biss sie genüsslich in ihren Apfel und wollte schon wieder gehen, da sagte er: „Danke, Kim.“ Sie nickte ihm noch einmal zu und ging dann in Charles Kajüte zurück. Als sie mit ihrem Apfel fertig war, legte sie sich wieder zu ihm, kuschelte sich an ihn, legte seinen Arm um sich und schlief wieder ein.
 

Er streichelte ihr sanft über die Wange, wovon sie wach wurde. Als er sah, dass Kim verschlafen blinzelte, fragte er: „Wo warst du denn schon so früh am Morgen?“ Erst verstand sie nicht, was Charles damit meinte, aber dann begriff sie, dass er anscheinend bemerkt hatte, dass sie diesen Morgen schon in der Kombüse gewesen war.

„Ich hatte Hunger auf einen Apfel“, murmelte sie. „Sag mal, weißt du eigentlich, wo wir als nächstes hin wollen?“ Unwissend schüttelte er den Kopf, richtete sich auf und meinte: „Aber ich glaube, dass Jon sich als erstes um die Frau kümmern wird, das würde ihm zumindest wieder ähnlich sehen.“ Auch sie setzte sich hin, lehnte den Kopf aber gleich wieder gegen Charles bloße Brust, da ihr von dem raschen Aufsetzen schwindelig wurde. Sie umarmend fragte er ruhig: „Was ist denn los? Du wirkst so matt.“

„Ach, ich weiß es auch nicht. Halt mich einfach nur fest, dann geht es mir besser.“ Sanft liebkoste er ihren Hals und flüsterte: „Ich liebe dich, Kim.“ Sie erwiderte nichts, sondern schloss die Augen und genoss seine Küsse. Nun schlang auch sie ihre Arme um seinen Oberkörper und schmiegte sich noch enger an ihn.

Wie lange sie so dasaßen wusste sie nicht, aber in diesem Moment wollte sie ihn nie wieder loslassen, doch nur einen Augenblick später platzte Jon herein und fragte: „Kim? Hast du den…“ Er stockte, lief leicht rot an und fragte verlegen: „Störe ich?“ Kim ließ Charles los, stand auf und sagte, während sie in ihre Hose schlüpfte: „Nein, nein, was gibt es denn?“ Noch immer etwas rötlich im Gesicht fuhr er fort: „Ich wollte dich fragen, ob du den Schlüssel zu deiner Kajüte hast, denn Señora Bernadette und ihre Kinder werden sicher hungrig sein.“ Trocken antwortete sie: „Ja, habe ich, wartest du kurz draußen, dann ziehe ich mir was anderes an und komme.“ Er nickte nur und verließ die Kajüte. Gerade zog sie sich das T-Shirt in dem sie geschlafen hatte aus und stand mit nacktem Oberkörper da, da stand auch Charles auf, trat von hinten an sie heran, umarmte sie, legte seinen Kopf auf ihre Schulter und fragte: „Willst du wirklich gehen? Gib Jon doch einfach nur den Schlüssel und komm dann wieder ins Bett.“ Sie lehnte ihren Kopf an den seinen, kraulte ihm durch die blonden Haare und hauchte: „Nein, Charles, ich will mit zu Señora De L’Aubery, weil ich bei ihr noch ein gutes Wort für Juanito einlegen möchte.“ Augenblicklich hob er seinen Kopf und fragte verwundert: „Warum denn ausgerechnet für Juanito?“ Sie löste sich aus seiner Umarmung, schnappte sich ihren BH, legte ihn sich um und sagte: „Ich hab es ihm versprochen.“ Aufgebracht fragte Charles: „So? Wann denn? Gestern Abend wohl kaum, war er vielleicht dein Apfel oder was? Soll der Apfel eine Art Metapher sein, für Adam und Eva, welche die Sünde begangen hat?“ Gleichgültig entgegnete sie: „Nein, ich habe tatsächlich einen Apfel gegessen und in der Kombüse bin ich zufällig auf Juanito gestoßen.“ Mit diesen Worten hatte sie sich ihr T-Shirt angezogen und ging aus der Kajüte hinaus zu Jon, Charles keines weiteren Blickes mehr würdigend. Skeptisch fragte Jon, als sie neben ihm herging: „Habt ihr schon wieder Streit? Weswegen diesmal?“ Sie ging nicht auf seine Frage ein, sondern fragte selbst: „Was sollen wir ihnen denn zum Frühstück bringen?“ Er zuckte nur mit den Achseln und meinte: „Ich wollte sie fragen, unsere Vorräte sind ja noch ziemlich frisch. Hast du den Schlüssel denn dabei?“ Nun standen die Beiden vor der Tür zu Kims Kajüte, welche diese gestern noch abgeschlossen hatte, zum Schutze Señora De L’Auberys. Kim nickte stumm, zückte den kleinen Schlüssel, den sie in ihrer Hosentasche getragen hatte und öffnete damit die Tür.

Señora Bernadette saß auf dem Bett, ihre Tochter zur Linken, ihren Sohn zur Rechten und las den Beiden aus einem der Bücher vor, die Kim ihr angeboten hatte. Als sich die Tür öffnete schrak sie auf und wartete angsterfüllt wer nun eintreten würde. Kim und Jon erblickend sah sie schon gleich ein bisschen beruhigter aus, jedoch noch immer sehr unsicher. Diese Unbehaglichkeit mit einem Lächeln überspielend fragte sie: „Señor Genitson, Señorita Kim, was verschafft mir die Ehre?“ Kim konnte ein leichtes Zittern in ihrer Stimme wahrnehmen, doch Jon redete sogleich drauflos: „Meine liebe Señora Bernadette, wir fragten uns nur, ob Ihr und Eure Kinder wohl hungrig seid, da Ihr ja nun schon sehr lange nichts mehr gegessen habt.“ Gerade wollte die Señora antworten, da zupften sie Camila und Paco an den Ärmeln und quengelten: „Mama, wir haben Hunger, wir wollen jetzt was essen und was trinken, lass sie uns etwas bringen.“ Die Lippen fest aufeinander gepresst wandte sie ihr Gesicht wieder den Beiden zu und nickte langsam. Dümmlich lächelnd fragte Jon: „Was hättet Ihr denn gerne, Señora?“ Gezwungen lächelte sie zurück: „Was habt Ihr denn an Bord?“ Sie zu sich winkend meinte er: „Nun, meine Gute, warum begleitet Ihr und Eure Kinder uns nicht einfach in die Kombüse? Irgendetwas wird sich schon finden, das Euch mundet.“
 

Verwundert sah Kim zu Jon, der pfeifend im Türrahmen zur Speisekammer gelehnt stand und Bernadette de L’Aubery ganz ungeniert musterte. Was war nur mit ihm los, so kannte sie ihn sonst nur, wenn er etwas getrunken hatte. So zog sie sein Gesicht nahe an das ihre und fragte: „Jon, hast du Alkohol getrunken? Sei ganz ehrlich, bitte.“ Verblüfft starrten seine glasigen Augen sie an. Mit ihrem wachsamen Blick brauchte sie eigentlich gar keine Antwort mehr, doch er flüsterte trotzdem: „Ich weiß ja, Kim, ich weiß, Alkohol ist schlecht, besonders weil ich der Captain des Schiffs bin und es offiziell eigentlich verboten hatte. Aber heute Morgen kam es irgendwie über mich, ich verstehe es auch nicht recht.“ Besorgt hielt sie seine Wangen in ihren Händen und sagte: „Aber Jon, pass bitte, bitte auf, dass du nicht abhängig von dem Zeug wirst, denn das ist wirklich nicht schön.“ Er nickte nur stumm und begann nun wieder ein plumpes Gespräch mit der Señora zu führen, während Kim sich um die beiden Kinder der Frau kümmerte. Was wollte Jon jetzt bloß mit ihr machen? Wahrscheinlich würde er sie aussetzen, das sähe ihm ähnlich. Später, wenn Señora De L’Aubery nicht da war, würde sie ihn fragen, was er zu tun gedachte und auch wegen der Kinder.
 

Die Sonne stand schon fast im Zenit, als auch Charles sich geruhte an Deck zu kommen. Wie so oft ächzten die Piraten unter der Hitze und auch die Frau fächerte sich ungeschickt mit der Hand Luft zu. Kim hatte sich inzwischen umgezogen, sie trug nun eine kurze Hose und das T-Shirt hatte sie bis knapp unter der Brust hochgeschlagen. So lag sie rücklings, den Kopf auf Charles Schoß gebettet, auf den heißen Planken und versuchte, sich so wenig wie möglich zu bewegen, um nicht noch mehr Energie zu verbrauchen als irgend nötig. Ihr Blick war gen den strahlend blauen Himmel gerichtet, den nicht ein Wölkchen trübte. Ihr war so langweilig wie lange nicht mehr, die Sekunden schienen sich zu Stunden zu dehnen und mit Charles wusste sie nichts zu reden. Der saß einfach nur da, spielte etwas mit ihrem Haar und sah starr geradeaus.

Was die Hitze noch unerträglicher scheinen ließ, war, dass noch nicht einmal ein kleines Lüftchen, eine sanfte Brise, sich in ihr Segel verirrte; sie hingen fest. Verdrossen überlegte Kim, wie lange die Flaute wohl diesmal andauern würde. Dies fragte sie auch Charles, doch der zuckte nur mit den Achseln, erwiderte nichts, schaute sie noch nicht einmal an. In diesem Moment fragte sie sich wirklich, warum sie ihn liebte. Warum nicht Terry oder Laffite oder gar noch Juanito oder Jack, warum ausgerechnet von den ganzen Piraten, die hier an Bord waren, musste es Charles sein? Einerseits verachtete sie ihn dafür, aber andererseits konnte sie ihn nur lieben, egal, was ihr Verstand verläutete.

So ging das noch einige Tage, bis endlich wieder frischer Wind die Segel prall füllte und sie weiter konnten. Während dieser Tage hatte Kim mit Señora Bernadette noch einmal über Juanito gesprochen und er hatte sich auch entschuldigt, doch nur bei seinem Anblick begann sie das Zittern und nahm schier schreiend Reißaus. Kim ärgerte dieses übertrieben ängstliche Gehabe der guten Frau, doch Jon schien ihr augenscheinlich zu imponieren. Kim sonderte sich immer mehr zu Juanito und dessen Freundeskreis, weil sie es einfach nicht ertragen konnte, seine Augen zu sehen, wenn er einen flüchtigen Blick auf die Señora De L’Aubery warf. Sein Stolz und sein Selbstvertrauen schienen gebrochen und Kim sah förmlich, wie es ihn zermürbte, wenn sie wieder begann mit Jon zu schäkern.

Anfangs hatte sie noch versucht Jon dazu zu bringen, sie wie einen gewöhnlichen „Gast“ zu behandeln, dann versuchte sie ihn zu überzeugen, ihr die kalte Schulter zu zeigen, doch nun hatte sie genug. Er würde sie früher oder später verlassen müssen, spätestens wenn sie im nächsten Hafen einliefen.

Gerade stand die Señora wieder einmal bei Jon, ihre Kinder lümmelten irgendwo an Deck herum, da reichte es Kim endgültig. Sie ging verärgert auf die Beiden zu, stieß Jon beiseite und wetterte: „Jetzt ist es genug, verehrte Señora Bernadette de L’Aubery, Ihr seid nun seit nicht mal einer Woche Witwe, habt zwei Kinder und steht hier an Deck eines Piratenschiffes und schäkert mit dessen Kapitän, obwohl noch dessen Männer Euch verschleppt und benutzt haben. Was denkt Ihr Euch eigentlich dabei? Habt Ihr kein Gewissen Eurem Mann gegenüber, oder Euren Freunden, Bekannten, von denen in jener Nacht so viele ums Leben gekommen sind? Na los, antwortet mir!“ Vorsichtig legte Jon Kim die Hand auf die Schulter und sagte leise: „Kim, lass doch…“, da blaffte Kim auch ihn an: „Halt du bloß deine Klappe, in letzter Zeit bist du ohnehin fast nur noch besoffen, außerdem rede ich mit Señora Bernadette und du brauchst nicht für sie einzustehen.“ Jon wollte wieder etwas erwidern, da mischte sich Señora Bernadette ein: „Was soll ich denn machen? Señor Genitson ist der einzig freundliche Mann hier an Bord und meinen Mann liebte ich nie, ich habe ihn geheiratet, weil er eine gute Partie war, nach meinen Eltern. Und diese Gesellschaft in Cartagena, ich weiß nicht, ob Ihr so etwas wisst, war nur aus Schein beisammen. In Wahrheit lästerte jeder über jeden, niemand konnte jemanden ausstehen, man saß beisammen beim Tee und unterhielt sich über oberflächliche Themen; in einer solchen Gesellschaft hat man keine Freunde. Aber um noch einmal auf deinen Kapitän zurück zu kommen, er scheint mir einen rechten Eindruck zu machen, ich werde einen neuen Gatten und Vater für meine Kinder brauchen, selbst wenn er Pi…“ Ungläubig riss Jon die Augen auf und fragte: „Ihr erwägt, mich zu Eurem Mann zu machen? Nie, niemals! Mit Euch ist es nicht mehr als eine anzüglich gestaltete Konversation, über Kinder denke ich noch nicht einmal nach, geschweige denn dass ich den Wunsch verspüren sollte, selbst welche zu haben. Und selbst wenn, Verehrteste, verzeiht mir meine Offenheit, aber Euch würde ich dafür sicher nicht wählen, bildet Euch nichts auf die Liebeleien mit einem Piraten ein, Señora, denn es sind und bleiben eben Liebeleien, einmalige Sachen die man erlebt hat und dann kein Wort mehr darüber verliert, da es sich in Gesellschaft nicht schickt über so etwas zu sprechen. Morgen sind wir an der Küste, dort werden wir Euch und Eure Kinder zurücklassen. Und nun geht mir aus den Augen, guten Tag.“ Erst starrte Señora Bernadette ihn mit offenem Mund an, dann blinzelte sie ungläubig, schüttelte den Kopf und wandte sich schließlich ab. Auch Kim musterte ihn fragend, doch er knurrte: „Frauen sind auch immer gleich, nicht wahr? Müssen alles über deinen Kopf hinweg bestimmen, verplanen dein ganzes Leben, ohne dass du auch nur ein Wörtchen mitzubestimmen hättest. Weiber sind wahrhaftig eine Plage, das einzige was sie können, ist kochen, putzen und Kinder gebären.“ Geringschätzig verschränkte Kim die Arme vor der Brust, warf einige Haare mit einem gekonnten Kopfschütteln aus ihrem Gesicht, hob die Brauen und sagte tadelnd: „Sag nicht, du hättest vergessen, dass ich eine dieser Plagen bin und direkt neben dir stehe, also bedenke deine Worte, oder es wird dich zu stehen kommen.“ Verblüfft drehte er sein Gesicht ihr zu und sagte: „Oh, Kim, verzeih, ich habe dir nicht zugehört, hast du etwas von Belang gesagt?“ Zornig fauchte sie: „Was zur Hölle soll das denn? Muss man sich dir als Frau nackt und willig um den Hals werfen, damit du einem halbwegs zuhörst?“ Grinsend entgegnete er: „Versuch es doch ruhig einmal, vielleicht hast du ja Glück, oder ich bin zu abgelenkt von etwas anderem.“ Völlig außer sich stampfte Kim schnaufend davon und würdigte ihn für den Rest des Tages mit keinem Blick mehr, was er bei Señora Bernadette nicht anders machte.
 

Tatsächlich kam am nächsten Tag die Küste in Sicht und Bernadette de L’Aubery wurde, mitsamt ihren beiden Kindern, mit dem Ruderboot an Land gebracht. Keiner der Piraten sah zu, da sie die Frau als extrem uninteressant abgetan hatten, nur Juanito stand seufzend an der Reling und sah ihr nach. Kim trat an ihn heran, legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter und fragte leise: „Hast du sie gern gehabt?“ Sich von der Küste abwendend meinte er: „Ich kannte sie gar nicht.“

„Na und? Ist doch egal, es tut weh, nicht wahr?“ Stumm nickte er und sie fuhr fort, ihm über den Arm streichelnd: „Mach dir nichts daraus, es wird noch so manche Frau in dein Leben treten und die werden deine Vorzüge zu schätzen wissen.“ Ohne irgendetwas zu erwidern ging er an ihr vorbei und ließ sie allein. Niedergeschlagen sank sie auf die Planken und schloss müde die Augen. Plötzlich spürte sie, wie jemand ihr über die Haare strich und sie im nächsten Augenblick küsste, da riss sie die Augen auf und gewahrte Juanito, der vor ihr kniete und seine Lippen auf die ihren gelegt hatte. Abrupt stieß sie ihn von sich und sprang auf, ihn anfahrend: „Was fällt dir ein? Wage es nie wieder mich zu küssen, oder…“ Weiter kam sie nicht, denn nun war Charles bereits zur Stelle, der Juanito eine verpasste, dass dieser rücklings zu Boden ging. Er brüllte ihn an, packte ihn am Kragen, zog ihn hoch, schlug ihn noch einmal und noch einmal. Juanito war fast schon bewusstlos, da rief Kim: „Charles, lass ihn, bitte, er ist doch schon fast ohnmächtig!“ Mit gespreizten Fingern ließ Charles ihn los, wandte sich zu Kim, legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie weg von dem Bastard. Als sie noch einmal über die Schulter zurückblickte, sah sie, wie Juanito sich an die Reling lehnte, aus der Nase und an der Lippe blutend und mit einem blauen, rasch anschwellenden Auge.

Charles führte sie zu Laffite, Terry und Edward und wischte sich die Fäuste, an denen Juanitos Blut klebte, an seiner Hose ab. Keiner der vier Männer schnitt dieses Thema an und Kim sprach ohnehin nicht. Es war ein recht trübseliger Tag, die Stimmung gedrückt, der Himmel grau.
 

Der nächste Tag, an dem sie in einer kleinen, namenlosen Hafenstadt ankerten, war verregnet und Kim saß allein in einem Café, trank einen heißen Tee und las ein Buch. Charles war mit den anderen Piraten in eine Kneipe gezogen, doch sie genoss es, endlich wieder nur für sich zu sein. Aber dieses Glück war ihr nicht lange vergönnt, denn mit einem Mal saß Jon ihr gegenüber und musterte sie lächelnd.

Als sie ihn bemerkte erschrak sie fürchterlich und fuhr ihn an: „Spinnst du? Du kannst mich doch nicht einfach so erschrecken, ich hätte mich fast am Tee verbrannt.“ Er aber lächelte: „Tja, zum Glück nur fast, denn sonst wäre dein Zorn wahrscheinlich unhaltbar gewesen.“ Das Buch zur Seite legend und über den Rand ihrer Tasse linsend, während sie an dem Tee nippte, fragte sie: „Wieso bist du hier und nicht in der Kneipe?“

Nach der Karte greifend entgegnete er: „Gegenfrage: Wieso bist du hier allein und nicht mit Charles?“ Genervt rollte sie mit den Augen und stellte ihren Tee auf dem Tisch ab. Jon allerdings sagte hastig: „Nein, nein, Spaß beiseite, ich finde, in letzter Zeit habe ich genug Alkohol getrunken, denkst du nicht? Aber nun sag mir mal ehrlich, was in letzter Zeit mit Charles und dir los ist. Bist du dir denn sicher, dass du ihn liebst?“ Entschlossen nickte sie und antwortete: „Zur ersten und letzten Frage kann ich dir mit einem ausdrücklichem Ja antworten, bei der zweiten Frage bin ich mir der Antwort nicht gewiss. Ich weiß es auch nicht, aber ich denke, er ist noch immer so eifersüchtig. Ich kann ihm hundert Mal sagen, dass ich nur ihn liebe und niemals jemanden anderen auch nur anschauen würde, aber er vertraut mir einfach nicht.

Ich hoffe wirklich, dass das mit der Zeit besser wird, denn ewig halte ich diese Streiterei nicht aus. Aber fürs Erste harre ich es aus, weil ich ihn wirklich liebe, mehr als alles andere auf dieser Welt, Jon, glaube mir.“ Er nickte stumm und winkte nach der Bedienung, um sich ebenfalls einen Earl Gray zu bestellen.

Sie fragend anschauend griff er nach ihrem Buch und als sie zustimmend nickte, nahm er es sich und las die Beschreibung auf der Rückseite, besah sich den Buchumschlag und blätterte ein wenig darin. Schließlich legte er es wieder hin und sagte: „Falls du möchtest, ich habe mir über die Jahre auch ein paar Bücher angesammelt, zwar sind nicht alle in unserer Sprache geschrieben, aber ein französisches oder englisches Buch müsstest du doch lesen können, oder?“ Ihre Augen leuchteten auf und entzückt lachte sie: „Oh, Jon, du bist ein Schatz, natürlich möchte ich einen Blick auf deine Bücher werfen, dann muss ich nicht so viel Geld für neue ausgeben.“ Kaum hatte sie das gesagt, da kam der Kellner, stellte die Tasse, mit einem Sieb darüber, vor Jon und goss den Tee aus einem Kännchen in die Tasse, welches er anschließend daneben stellte. Damit ging er wieder, kam aber sogleich wieder und reichte ihnen ein wenig Gebäck. Genüsslich biss Kim in einen Keks und sah sich um. Der Raum in dem sie saßen war nicht sonderlich groß, dafür aber umso gemütlicher. Er hatte etwas Helles, Freundliches an sich, das einen förmlich zum Lächeln einlud. Eine Weile lang sprachen sie nicht, dann meinte Kim: „Ist doch recht nett hier, nicht wahr?“ Abwesend nickte er und entgegnete: „Hat etwas familiäres an sich, ist wahrscheinlich auch ein reiner Familienbetrieb. So was konnte ich noch nie verstehen, ich habe meine Familie immer gehasst.“ Skeptisch fragte Kim: „Wieso das denn?“ Den Blick starr auf seinen Tee gerichtet entgegnete er: „Nun, bisher wussten nur Maury und Brian darum bescheid und eigentlich wollte ich, dass es so bleibt. Und nun haben sie dieses Geheimnis mit ins Grab genommen, denn ich habe die Beiden umgebracht.

Welche Ironie, schon damals bei Alice war es so, sie hatte mich verstanden und dann brachte ich sie um. Schon seltsam, nicht?“ Selbstquälerisch lachte er auf und nahm einen großen Schluck des Earl Grays. Kim starrte ihn mit großen Augen an und erwiderte nichts. Schließlich sagte er wieder: „Du bist die Einzige, die davon weiß. Und ich hätte gerne, dass das auch so bleibt, versprichst du mir das?“

„Ja, natürlich, Jon.“

Sie saßen noch lange da, redeten aber nicht viel. Der Himmel färbte sich schon rot, da bezahlte Jon für sie beide und verließ mit Kim das Lokal, um in die Kneipe zu gehen, in der auch Charles und die anderen saßen. Als sie jedoch gerade eintraten, stockte Kim der Atem, dort, in Charles Arm, lag eine fremde Frau. Wie angewurzelt blieb sie stehen, auch Jon schaute ungläubig zu ihm und der unbekannten Blonden, in dem roten Kleid. Selbst als Charles Kim sah, nahm er seine Finger nicht von der Frau, sondern winkte ihr nur mit dem anderen Arm zu. Abrupt drehte sie sich um und ging hinaus. Bedächtig ging sie der Abendröte entgegen zum Hafen. Dort ließ sie sich auf der Kaimauer nieder und starrte trübselig auf das offene Meer hinaus.

Irgendwann, die Sonne war schon fast ganz im Meer versunken, setzte sich jemand neben sie, sprach aber kein Wort. Sie brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass es Charles war. Schließlich fragte sie: „Wer war sie?“ Leise antwortete er: „Eine Freundin.“

„Ach“, meinte sie und strich sich die Haare hinters Ohr, welche ihr durch den Wind, der wehte, ständig ins Gesicht fielen. Vorsichtig fuhr Charles fort: „Ich weiß, du wirst es mir wahrscheinlich nicht glauben, ich kann es selber kaum glauben, aber sie ist eine Freundin von mir, die ich eigentlich tot glaubte. Ich traf sie vor zwei Jahren, als ich noch nicht unter McQuilligans Flagge segelte, in einer kleinen Stadt, Puerto Bello. Die Mannschaft mit der ich damals segelte war der Marine zum Opfer gefallen und ich habe es gerade geschafft noch mal mit einem blauen Auge davonzukommen. Sie hat mir geholfen, zu McQuilligan zu kommen; hat ihre Beziehungen spielen lassen.“ Ohne ihn anzusehen fragte sie monoton: „Und die Gegenleistung?“ Sie spürte, wie er näher an sie heranrutschte. Vorsichtig legte er seine Hand auf ihre, die sie allerdings prompt wegzog und in ihren Schoß legte. Charles gab aber nicht so schnell auf, nun packte er sie fester an der Hand und sagte mit standhafter Stimme: „Sieh mich an, Kim, sieh mir in die Augen wenn du mit mir sprichst.“ Doch sie wollte ihn nicht anschauen, starrte auf ihre Füße. Da nahm er ihr Kinn in seine andere Hand und führte ihr Gesicht so, dass es dem seinen direkt gegenüber war. Kim aber sah ihm nicht ins Gesicht, suchte seinen Blicken auszuweichen. Da hörte sie ihn flüstern, so leise, dass sie ihn kaum verstand: „Bitte.“

Für einen Moment schloss sie ihre Augen, dann öffnete sie sie wieder und sah direkt in die Charles. Und es geschah genau das was sie hatte vermeiden wollen. In ihren Augen sammelten sich Tränen die heiß und dick über ihre Wangen rannen. Aber sie sagte nichts, veränderte ihre Mimik nicht, wartete auf Charles Antwort. Dieser lächelte sanft, strich eine Träne von ihrer Backe und sagte leise: „Es gab nie eine Gegenleistung und sie hat auch nie eine verlangt, von daher wird es auch nie eine geben, glaube mir, ich würde dich niemals belügen.“ Sie biss sich auf die Lippen, bis sie den eisernen Geschmack ihres Blutes auf ihrer Zunge schmeckte und als sie nicht antwortete fügte er hinzu: „Ich liebe dich, Kim, nur dich.“ Langsam schüttelte sie den Kopf, schluckte schwer und entgegnete mit zitternder Stimme: „Ich weiß, aber ich hatte Angst, ich hatte so Angst.“ Liebevoll legte er seinen Finger auf ihre Lippen und umarmte sie dann.
 

Es war schon vollends dunkel geworden, da kamen sie wieder in die Kneipe in der auch die anderen waren. Die blonde Frau saß zwar bei den Piraten am Tisch, sah aber gelangweilt aus und beteiligte sich in keinster Weise am Gespräch. Als sie Charles jedoch erblickte, winkte sie ihm freudig zu und rutschte ein Stück, sodass Kim und er auch noch Platz fanden.

Da sie neben Kim saß, diese hatte Charles nicht neben die Blondine sitzen lassen wollen, streckte sie ihr ihre Hand entgegen und lächelte freundlich: „Sehr erfreut, ich bin Salome Kormartar, Heiratsvermittlerin, sehr erfreut.“ Etwas verwirrt ergriff Kim die ihr angebotene Hand und entgegnete: „Kimberley von Merrylson, angenehm.“ Salome lachte hell auf und sagte: „Ich weiß, Charles hat mir schon so viel von dir erzählt, dass ich meine, dich eigentlich schon längst zu kennen. Vorhin, als ich ihm anbot, ihm eine schöne Braut zu besorgen, da wäre er nahezu ausgerastet und hat begonnen von dir zu erzählen.“ Kim lief leicht rot an und warf Charles einen vernichtenden Blick zu, doch der schaute nur schuldbewusst zu Boden.
 

Schon zwei Tage später legten sie wieder ab und Kim nahm schweren Herzens Abschied von Salome, mit der sie sich blendend verstanden hatte. Am liebsten würde sie dableiben, doch wenn sie zu Charles sah, wusste sie, dass er um keinen Preis der Welt an Land bleiben wollte und ohne ihn würde auch sie nicht bleiben, außerdem würde sie ihre ganzen Freunde, besonders Jon, vermissen. Nein, so war es am Besten und das wusste sie auch. Dennoch stellte sie sich in den folgenden Wochen immer öfter vor, wie es wohl wäre, mit Charles ein normales Leben an Land zu führen. Mit ihm darüber zu sprechen getraute sie sich nicht, doch sie stellte es sich traumhaft vor. Sie würden ein kleines Haus haben, Charles würde mit ehrlicher Arbeit Geld verdienen und sie würde den Haushalt besorgen. Außerdem würden sie heiraten und vielleicht auch Kinder bekommen, aber so weit traute sie sich dann doch nicht zu denken.

Wieder einmal döste sie an Deck und schwelgte in ihren Gedanken, da merkte sie nicht, wie sich der Himmel zunehmend verdunkelte. Es begann zu nieseln und der Wind wurde immer rauer. Sie hätte es wahrscheinlich auch weiterhin nicht bemerkt, hätte Terry sie nicht gegen ihr Bein getreten und gerufen: „Na los, faules Stück, hilf uns einmal in deinem Leben das Schiff wetterfest zu machen!“ Mit diesen Worten hob er sie auf die Beine und war im nächsten Augenblick auch schon wieder im Getümmel der Piraten verschwunden. Murrend machte auch sie sich nützlich, doch schon bald begann es in Strömen zu regnen und es stürmte wie sie es noch nie erlebt hatte. Auch war es stockfinster geworden, nur hin und wieder erhellte ein Blitz, der über den Himmel zuckte und von einem lauten Donnergrollen begleitet wurde, die Wolken. Hektisch suchte sie nach Charles, der sie beschützend in seine Arme nahm. Sie glaubte, der Himmel würde über ihnen zusammenbrechen und das Schiff unter ihnen sowieso, so sehr schwankte es. Kim war klatschnass, nicht nur wegen des Regens, sondern auch der Wellen wegen, die immer wieder eisig über das Deck schwappten und jedes Mal drohten, sie mit sich zu reißen. Das Meer, sonst so freundlich, schien sich gegen sie verschworen zu haben. Anscheinend hatten auch die Satisfaction und die Fortune zu kämpfen und gerade schaute Kim nach den beiden Schiffen, da war die Fortune plötzlich wie vom Meer verschluckt.

Kim bekam eine Gänsehaut. Sie wusste, dass das Schiff nicht mehr auftauchte. Würde es ihnen vielleicht auch so ergehen? Kaum hatte sie das gedacht, hörte sie neben sich Jon gegen das Heulen des Sturms und das Grollen des Donners anbrüllen: „Ob wir wohl die Nächsten sind?“ Kopfschüttelnd rief sie zurück: „Nein, niemals, wir geben nicht auf!“ Doch als wollte das Meer ihr das Gegenteil beweisen, riss eine riesige Welle einen Teil der Reling an der Backbordseite heraus und rollte tosend über den Rest des Schiffes hinweg. Sie schluckte viel Salzwasser und als die Welle vorüber war und sie sich an der Reling, sie stand steuerbord, festklammerte, hustete sie erbärmlich, um das Salzwasser aus ihren schmerzenden Atemwegen zu bekommen.

Wie hoch die Wellen wohl sein mochten? Bestimmt um die 15 Meter, denn sie reichten fast bis zur Spitze des Hauptmastes. Das Schiff schwankte nun seit gut einer halben Stunde zwischen den Wellen hin und her und es sah nicht aus, als würde es bald aufhören, ganz im Gegenteil, inzwischen war es schon finster wie in einer bewölkten Neumondnacht, dabei war es gerade um die Mittagszeit und das Schiff wurde nur noch heftiger durchgerüttelt; mit ihm die hilflose Mannschaft. Gerade hatte sie Charles wieder gefunden, da wurde sie von einer Welle gefasst und verlor für einen Moment den Boden unter ihren Füßen, doch Charles hielt sie an sich gedrückt fest. Als die Welle vorüber war, brüllte er: „Du zitterst ja wie Espenlaub und deine Lippen sind blau wie das Meer!“ Sie brüllte zurück: „Du zitterst doch auch, als hättest du den Leibhaftigen gesehen und das Meer ist gerade schwarz, nicht blau!“

„Ist mir einerlei, dir ist kalt und deine Lippen sind blau gefroren. Ich frage mich, wann das aufhört.“ Gerade wollte sie ihm antworten, da riss sie ungläubig die Augen auf, ließ ihn los und rannte zum Bug des Schiffes. Charles, der ihr nachgeeilt war, sah mit offenem Mund, was da auf sie zurollte. Es war eine riesige Welle, mindestens doppelt so groß wie die anderen um sie herum. Im Gegensatz zu der waren die 15-Meter-Wellen geradezu mickrig. Neben sich sah Kim, wie Laffite, bleich wie der Tod selbst, das Kreuz schlug und angsterfüllt auf die Welle starrte, an der vorne die weiße Gischt herunter lief, wie bei einem Tollwütigen der Schaum aus dem Munde. Charles schlang von hinten seine Arme um sie und sagte, das Gesicht ganz nah an ihrem Ohr: „Ich liebe dich, bis in den Tod, vergiss das nicht.“ Panisch schaute sie sich um. Keiner der Piraten wuselte mehr an Deck, alle standen sie jetzt am Bug und starrten schweigend, mit weit aufgerissenen Augen und den Blicken todgeweihter, auf diese gewaltige Monsterwelle, die rasend schnell auf sie zukam.

Ein Schuss gellte gegen das Tosen des Meeres und das Grollen des Donners. Sie wirbelte herum.

Es war Juanito, er hatte sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Angesichts des Blutes begann Kim panisch zu schreien und ließ sich nicht mehr beruhigen, auch durch Charles nicht. Erst als ein zweiter ihr eine Hand auf die Schulter legte, schloss sie ihren Mund und sah keuchend zu Jon auf, der gütig lächelnd vor ihr stand.

Im nächsten Moment sank das Schiff in ein Wellental ab und Kim brüllte: „Charles, ich liebe dich auch, über alles!“

Nun war alles um sie herum still. Nicht einmal das Donnern vernahmen sie mehr. Vor ihnen das Weiß der tollwütigen Welle, hinter ihnen das Schwarz des Todes, der grinsend eine Hand nach ihnen ausstreckte.
 

Da brach die Welle über ihnen zusammen.

Kim fühlte sich, als würde sie erdrückt und spürte, wie die Planken unter ihren Füßen nachgaben und barsten.

Verzweifelt klammerte sie sich an Charles Hand und hielt sich ungeschickt Mund und Nase zu. Doch gerade als sie glaubte, es ginge nicht mehr, spürte sie, wie ihr Kopf kalt wurde. Erleichtert schnappte sie nach Luft und sah sich, sich an einer Planke festklammernd nach Charles um. Jedoch sah sie ihn nicht; aber sie hielt doch noch immer seine Hand! Sie riss ihren Arm in die Höhe und ihre Augen weiteten sich entsetzt.
 

Sie hielt zwar seine Hand und auch seinen Arm, aber mehr nicht. Panisch, Charles Hand dennoch nicht loslassend, schwamm sie umher, immer wieder von Wellen unter Wasser gedrückt, und suchte nach ihm. Aber sie fand ihn nicht.

Plötzlich erhellte ein Blitz ihre Umgebung und sie bemerkte erstarrt, dass das Wasser, in dem sie schwamm, blutrot war.

Ihre Augen brannten fürchterlich und sie wusste nicht, ob es vom Salzwasser kam oder von ihren Tränen, die völlig unkontrollierbar ihre Wangen hinunterliefen.
 

Sie öffnete die Augen, musste sie jedoch sogleich wieder schließen, da ihr die Sonne unbarmherzig hinein schien.

Moment!

Sonne?

Ruckartig setzte sie sich auf und fand sich auf einem weißen Sandstrand wieder. Sie wollte aufstehen, doch hielten ihre Beine dem nicht stand und sie fiel wieder, bäuchlings, in den Sand. Diesen ausspuckend stützte sie sich auf ihre Arme und setzte sich erneut auf. Dann würde sie eben noch einen Moment warten, doch im nächsten Augenblick fiel sie wieder in eine tiefe Ohnmacht.
 


 

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So, nach diesem Kapitel beginnt der Teil, den ich noch nie hochgeladen habe.

Oder war das etwa auch dieses Kapitel?

Egal, lG, Terrormopf



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Kidd
2008-05-25T09:47:52+00:00 25.05.2008 11:47
So, hm.
Sag mal kann es sein das du es magst Kim zu quälen?
Erst die Brüder und dann noch Charles Arm ... auf so eine Idee muss man erst mal kommen^^
Ein wirklich spannendes und mitreißendes Kapitel!
Bin echt schon gespannt wie es weiter geht.
Man merkt richtig wie der Schreibstil sich verändert *g*

Bis dann, Gruß
Kidd

PS: Das mit der Flaute ist schon ok ;) Kann jedem mal so ein Fehler unterlaufen ;))


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