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Kinder der Sachmet

Mein Beitrag zum FF-Wettbewerb "Altes Ägypten"
von

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Sie fasziniert ihn. Je länger er sie beobachtet, desto schwieriger wird es, die Augen wieder von ihr abzuwenden, obwohl er längst wieder im Innern des Tempels sein sollte – seine blasse Haut fängt an zu brennen und einmal mehr verflucht er die Tatsache, dass sein Körper kein Gramm Farbstoffe zu enthalten scheint. Langsam zieht er sich in sein dunkles, kühles Refugium zurück, nicht, ohne sie so lange wie möglich im Blick zu behalten.
 

Später ist Nebou dabei, in seinem Mörser Pinienkerne für eines seiner Heilmittel zu zerstoßen, als sich eine warme, trockene Hand auf seine Schulter legt. Er schreckt auf, leicht aus der Bahn zu werfen wie immer. Hinter ihm steht nur sein Lehrmeister Meba, natürlich, aber das verhindert nicht, dass Nebous Herz eine ganze Weile braucht, um wieder in seinen alten Rhythmus zurück zu finden. Es gibt zu viele Menschen, die einem Albino mit Misstrauen begegnen, genug von ihnen würden auch nicht davor zurückschrecken, ihn umzubringen, sobald er ihnen zu suspekt wird. Nebou hat die Angst vor einem solchen Anschlag mit dem Nilschlamm in seine Poren aufgenommen, den er sich früher auf die Haut schmierte, um sie wenigstens teilweise vor Sonnenlicht zu schützen und etwas dunkler, etwas normaler zu wirken. Natürlich konnte diese Verkleidung keinen täuschen.
 

Meba schüttelt bedauernd den Kopf, winkt ihm, ihm zu folgen, und geht davon. Kurz darauf, als sie in Nebous Zelle sitzen und der Alte ihm dabei behilflich ist, seinen Körper ein letztes Mal von dem farblosen Haarflaum zu befreien, damit er morgen, bei seiner Prüfung, vollkommen rein vor die Göttin treten kann, schließt der junge Priester die Augen und versucht, wenigstens einen Moment lang seine Furcht loszuwerden. Sein Leben lang hat er nichts anderes getan, als sich tagein, tagaus zu fürchten. Seine Mutter meinte immer, sie hätte ebenso gut einem Mädchen das Leben schenken können, das hätte wahrscheinlich das zehnfache seines Mutes besessen. Meba versucht ihn zu beruhigen: „Es ist völlig normal, am Vorabend der Prüfung nervös zu sein. Jeder ist das. Es ist nicht einfach, der grausamen Löwin gegenüber zu treten. Aber du bist bereit. Du hast dich lange vorbereitet und deine Ernsthaftigkeit wird sie überzeugen. Mach dir keine Sorgen.“ Er zupft einige Haare von der knöchernen Wölbung über Nebous Augenbrauen und betrachtet sein Werk. Schließlich lässt er das Kinn seines Schützlings los und nickt zufrieden. „Du bist fertig. Geh dich jetzt waschen, dann bete noch ein wenig, iss eine Kleinigkeit und geh zeitig ins Bett. Alles wird gut gehen.“
 

Wenn er seinem Lehrer nur Glauben schenken könnte! Aber während Nebou das warme, saubere Wasser über seine Glieder rinnen lässt (die ohnehin seit seinem zweiten Lebensjahr nicht mehr ernsthaft schmutzig gewesen sein können, schließlich durfte er sich nie außerhalb des Hauses aufhalten, aber was macht das schon? Er mag die rituelle Waschung, wie alles, das ihn genauso normal erscheinen lässt wie alle anderen jungen Priester.) zweifelt er ernsthaft daran, am nächsten Morgen überhaupt aufstehen zu können. Wie er sich kennt, wird ihn vermutlich sein Kreislauf im Stich lassen, er wird den Tag im Bett verbringen müssen und nie die Gelegenheit bekommen, seine Prüfung vor Sachmet, der Schrecklichen, abzulegen. Wenn sie nur nicht so bedrohlich wäre! Aber als die Göttin der Krankheiten ist Sachmet auch diejenige, die ihre Hand über alle Heiler hält, und es gab nie etwas, das sich Nebou sehnlicher gewünscht hätte, als Arzt zu werden. Die stillen, ernsthaften Gestalten, mit ihren Kästen voller geheimnisvoller Wirkstoffe und den kleinen Apparaturen am Handgelenk, mit dem sie die Zeit messen, haben ihn von klein auf fasziniert. Er träumt nicht davon, berühmt zu werden, sein einziger Wunsch ist es, gegen die Krankheiten Ägyptens zu kämpfen, wenn schon nicht mit seiner körperlichen Kraft – denn davon besitzt er nicht viel – dann doch wenigstens mit seiner geistigen.
 

Als er in seine Zelle zurückkehrt, steht auf dem Schemel neben seinem Bett bereits ein schlichtes Tablett bereit, bestückt mit einem halben Granatapfel, einigen Brotfladen und etwas gegrilltem Nilbarsch. Er nimmt die leichte Mahlzeit zu sich, ohne sie wirklich zu schmecken, trinkt ein Glas Wasser und begibt sich ohne Umschweife zu Bett. Gebetet hat er nicht mehr. Aber die kühle Wärme, welche die Lehmwände seiner Behausung ausstrahlen, beruhig ihn und gibt ihm das Gefühl, Teil eines größeren Geschehens zu sein, das er zwar nicht durchschaut, aber allein durch seine Anwesenheit am Leben erhält, wie eine Termite ihren Staat. Schneller als erwartet schläft er ein.
 

Das war gestern.

Es ist noch früh, als Meba ihn weckt, und so wird Nebou erst wirklich wach, als er seine morgendliche Waschung bereits halb beendet hat. Zusammen mit seinen Sinnen kehrt auch die Erinnerung daran zurück, was ihn heute erwartet. Aber die Anspannung und Nervosität des Vorabends ist von ihm gewichen, gelöst beendet er seine morgendliche Toilette, frühstückt und sieht noch einmal seinen kleinen Arzneikasten durch. Alle Standardmittel sind in ausreichender Menge vorhanden, seine Instrumente gesäubert und penibel verstaut, alles Übrige wird er erst am Ort der Prüfung erhalten. Mit den wenigen Dingen, die er bei sich hat, kann er nur einige grundlegende, leichte Arzneien zubereiten, die kostbareren Ingredienzien werden sorgfältig unter Verschluss gehalten.
 

Der Raum, in dem seine Prüfung stattfinden soll, ist nicht groß, trotzdem braucht er eine Weile, bis er das andere Ende ausmachen kann, sogar mit seinen an Dunkelheit gewöhnten Augen. Der erste Teil des Test, der, der in diesem Raum stattfinden soll, macht ihm keine Angst. Zwar könnten einige der Prüfer vielleicht gegen ihn eingenommen sein, weil er so offenkundig nicht „normal“ ist, aber – nun, sie werden nicht umhin können, sein Wissen zu bemerken und zu würdigen. Er vertraut darauf, dass kein missgünstiger und uneinsichtiger Mensch die höchsten Weihen erhalten würde. Sein Blick wandert über die Reihe derer, die am anderen Ende des Raumes an einem langen Tisch auf ihn warten: der Oberpriester des Tempels, ein altes Weiblein aus dem Dorf, von dem er weiß, dass sie enormes Heilwissen besitzt, ohne jemals die Weihen erhalten zu haben, Meba und – sein Herz macht einen kleinen Sprung, nicht aus Freude, eher aus Überraschung – sie. Die Priesterin, die er gestern, wie seit einigen Wochen immer wieder, beobachtet hat, recht jung noch, obwohl älter als er, und – wenn das überhaupt möglich ist – die irdische Verkörperung Sachmets schlechthin: groß, mit einer wallenden blonden Mähne und von einer Ausstrahlung, die von Kälte und einer mühsam gezügelten Leidenschaft zugleich zeugt.

Er reißt seine Gedanken von ihr los, schließlich ist er nicht hergekommen, um über eine Frau nachzudenken!

Langsam, aber ohne zu stocken oder einen Fehler zu begehen, kommt er den Aufforderungen des Komitees nach, mischt zuerst ein wirksames Betäubungsmittel, stellt eine Diagnose aufgrund der Symptome, welche die alte Frau ihm beschreibt, und stellt dann ein einfaches Mittel gegen Verstopfung her, indem er die Pflanze Pach-serit mit Datteln vermischt und in Wasser löst.

Auch die Antworten auf die Fragen, die er gestellt bekommt, kommen leicht, fast unbewusst aus seinem Mund, fast, als habe seine Zunge ein eigenes Bewusstsein entwickelt und die Kontrolle über sein Gehirn übernommen. Nur bei der Frage, wie er ein schreiendes Kleinkind ruhig stellen würde, stockt er kurz – das hat er nun wirklich nicht erwartet, dazu aus dem Mund der blonden Schönheit – besinnt sich dann aber auf eine Mischung aus Mohnsaft und Fliegenexkrementen, die beruhigend und einschläfernd wirken soll. Ohne auch nur ein vorläufiges Urteil abzugeben, entlassen ihn seine Prüfer schließlich. Mit einem Schlag ist Nebous Nervosität zurückgekehrt und er fühlt sein Herz gegen seine Rippen schlagen wie die Flügel einer eingesperrten Fledermaus. Eben war er sich seiner Sache noch sehr sicher, aber hat er für sein Schmerzmittel wirklich die richtige Menge Bilsenkraut verwendet? War der imaginäre Patient, dessen Leiden er herausfinden sollte, wirklich so unheilbar erkrankt, wie er glaubte? Und gehören zu seinem letzten Mittel nicht noch mehr Zutaten, hat er vielleicht etwas vergessen?

Es bleibt keine Zeit, sich lange zu sorgen, denn umgehend muss er sich in die Kapelle begeben, wo der zweite Teil seiner Prüfung stattfinden soll, der, vor dem er sich wirklich gefürchtet hat. Hier wird nicht nur sein Wissen und Können geprüft, sondern sein ganzes Wesen, sein Charakter, auch noch das tiefste seiner Geheimnisse. Was, wenn die Gottheit keinen Gefallen an ihm findet und ihn verstößt, wie es seine Dorfgemeinschaft, wie es so viele Menschen getan haben?

Er wüsste nicht, wohin er sich wenden soll, wenn er den Schutz des Tempels verliert.

Schnell wäscht er sich den kalten Schweiß von den Handflächen, sammelt sich und betritt dann das innerste Heiligtum.
 

Still ist es hier drinnen, still und dunkel. Aber die Dunkelheit ist, anders als in dem Raum zuvor, nicht undurchdringlich, sondern klar, als habe sich nur Wasser im Raum angestaut, das zwar das Licht bis zu einen gewissen Grad aussperrt, aber die Sicht nicht behindert. Ein einziger Sonnenstrahl fällt durch ein kleines Fenster in der Decke, bringt den Staub zum tanzen und ergießt sich über den Kopf der Göttin, die dort, mitten in ihren Refugium, stolz aufgerichtet steht. Schön sieht sie aus, unantastbar, kalt und doch nicht wie aus leblosem Stein gemacht. Mit dem nüchternen Teil seines Bewusstseins weiß Nebou, dass dies nur eine Statue ist, geschaffen von Menschenhand, aber gleichzeitig ist ihm klar, dass der Geist Sachmets von dieser Statue Besitz ergriffen hat und es nun kein Entrinnen mehr für ihn gibt. Entweder er besteht vor den Augen der Göttin, oder er versagt. Im schlimmsten Fall wird er sterben, wenn er versucht, ihr ins Gesicht zu sehen, im besten Fall endlich seinen Lebenstraum erfüllt sehen und wieder ein Schritt näher an seinen Traumberuf herangerückt sein. Ist es das nicht wert, dieses eine Mal seine ständige Furcht zu vergessen?
 

Zwar pocht immer noch ein unbehagliches Gefühl unter seinem Zwerchfell und lässt ihn kurz erwägen, ob er nicht vielleicht heute Morgen besser auf sein Frühstück aus Feigen und Milch verzichtet hätte, dann aber nimmt er einen letzten tiefen Atemzug und tritt in den Kreis aus Licht, der sich zu Füßen der Statue gebildet hat.
 

Sie halten Wache vor der Kapelle, wechseln sich ab, damit immer jemand zur Stelle ist, falls der Junge doch noch herauskommt. In Wahrheit, auch wenn es keiner ausspricht, haben sie ihn alle längst aufgegeben. Noch nie ist jemand so lange in Gegenwart der grausamen Göttin geblieben und hat das überlebt. Er ist nun schon seit fünf Stunden dort drinnen, und immer noch kein Lebenszeichen. Er war zu schwach, das ist es, was jeder von ihnen denkt, er konnte ihr einfach nicht standhalten. Es erfordert Mut und Charakterstärke, der Göttin die Stirn zu bieten, und die hatte er einfach nicht. Sie ist nicht nachsichtig mit denen, die sie in den Kreis ihrer Kinder aufnimmt, prüft die Seelen der Anwärter bis ins Kleinste, bis ins scheinbar unbedeutendste Detail. Und dabei ist es ja nicht so, als wäre es bei der Prüfung damit getan, still dazusitzen und sich betrachten zu lassen, es ist auch körperlich anstrengend, wenngleich sich kein Prüfling jemals von der Stelle rührt, während er ihrem Blick ausgesetzt ist. Es sind schon frischgebackene Ärzte aus dieser Kammer getreten, die verschwitzt und ermüdet waren wie nach der längsten Liebesnacht. Sie ist nicht leicht zu zähmen, die große Katze. Und wenn es Einer schafft, dann stets nur, weil sie es selbst so will.
 

Natürlich bedauert Meba, seinen Schüler verloren zu haben. Lange, zwei, drei, vier Stunden lang, hat er sich eingeredet, Nebou werde sicher bald auftauchen. Aber inzwischen muss auch er zugeben, dass es unmöglich ist, dass der Albino noch am Leben sein sollte. Es tut ihm Leid, der Junge war einer der besten Schüler, die er je hatte, aber wahrscheinlich einfach nicht stark genug. Sie werden das Heiligtum noch bis zum nächsten Morgen verschlossen halten, dann werden sie seinen leblosen Körper wegschaffen und dafür sorgen, dass schnell mit seiner Einbalsamierung begonnen wird. Wenigstens kann Nebou so darauf zählen, ein gutes Begräbnis zu bekommen, vom besten Totenpriester von ganz Memphis ins Jenseits geleitet zu werden. Diese Ehre wird jedem Mitglied des Tempels zu Teil, sei es nun der Oberpriester oder der jüngste aller Novizen.
 

Er hat das Gefühl, von kochendem Wasser erfüllt zu sein, das langsam von seinen Zehen aufsteigt. Nebou würde gern zurückweichen, um dieser Empfindung zu entgehen, aber er spürt, dass er dieses Mal, dieses eine Mal in seinem Leben, nicht davonlaufen darf. Also bleibt er, wartet, bis sich seine Haut so heiß anfühlt, als schlüge sie gleich Blasen. Dann plötzlich, als er schon glaubt, im nächsten Moment ohnmächtig werden zu müssen, hört es schlagartig auf. Jetzt fühlt er sich, als habe ihm jemand im Schwallbad einen Kübel eiskalten Wassers über den Rücken ausgegossen, eiskalte Tröpfchen scheinen von seinen Schultern abwärts zu rinnen und von seiner Nasenspitze zu tropfen, bis er sich gänzlich von einer glasigen, transparenten Schicht eingeschlossen fühlt – Einbildung, selbstverständlich.

Er verliert jegliches Zeitgefühl, schließt irgendwann die Augen, nicht müde, aber doch unfähig, sie weiter offenzuhalten. Was als schrecklicher Schmerz begonnen hat, wandelt sich immer mehr in ein Gefühl tiefster Zufriedenheit und Ruhe, wie er sie das letzte Mal an der Brust seiner inzwischen toten Mutter empfunden hat – bevor sie am Kummer, ein so abnormales Kind zu haben, zerbrochen ist. Eines Tages einfach beschlossen hat, nicht mehr aufzustehen und ihn allein gelassen hat, in einer Familie, einer Dorfgemeinschaft, bei einem Vater, die alle kein Verständnis aufbringen konnten für seine Andersartigkeit.

Sich seinen Erinnerungen überlassend, bleibt er noch eine Weile sitzen, eine unhörbare Stimme um ihn herum scheint zu flüstern: „Du bist reinen Herzens. Bleibe hier, heile zuerst die Wunden deiner eigenen Seele, und dann geh, kümmere dich um die Kranken Ägyptens, so gut du es vermagst.“
 

Noch immer hat sich nichts geregt.

Inzwischen hat Iset die Wache übernommen, die Jüngste aus dem Kreis der Prüfer. Sie hat dieses Zeremoniell schon oft erlebt, seit sei vor zwei Jahren trotz ihrer extremen Jugend in die engeren Kreise der Priesterschaft aufgenommen wurde. Und nicht immer ging es für alle Beteiligten gut aus. Diesmal aber scheint mehr daran zu hängen als das Leben eines weiteren anonymen Novizen.

Es überrascht sie selbst, dass sie so viel Anteil nimmt am Schicksal dieses einen, obwohl er ihr doch bis vor einigen Wochen nicht einmal aufgefallen ist – es hat wahrlich schon junge Priester gegeben, mit denen sie mehr zu tun hatte, viel mehr, denen sie sich vielleicht sogar für eine oder zwei Nächte hingegeben hat, aber kein einziges Mal war sie besonders interessiert daran, ob sie ihre Initiierung überlebten oder nicht. Gab es denn nicht immer genug Nachschub an jungen, kräftigen Männern für Sachmets persönlichen Harem und für Isets Bett?

Bei diesem ist es anders. Er ist ihr vor allem durch seine absolute Stille aufgefallen, niemals scheint er ein Wort zu verschwenden, selbst wenn er gefragt wird, sind all seine Worte wohlweislich abgewogen und sorgfältig gesetzt.

Sie weiß wohl, dass er eher ängstlicher Natur ist.

Aber sie schert sich nicht darum. Sie hat selbst genug Energie und Courage für Fünf, und ist nicht so dumm, Mut als Abwesenheit von Angst zu definieren.

Er zieht sie an, nicht auf eine körperliche Weise, wie es ihre früheren Liebhaber getan haben, es scheint etwas in seiner Seele zu sein, das verhindert, dass er ihr aus dem Kopf geht.
 

Während sie wartet, kehren ihre Gedanken zu ihrer eigenen Prüfung zurück, die sie vor zehn Jahren, mit fünfzehn, abgelegt hat. Damals war sie nicht halb so selbstsicher und in-sich-ruhend wie heute, eigentlich erinnerte sie eher an eine halb verhungerte, struppige Katze. Sie hat schon öfter darüber nachgedacht, ob Sachmet sie vielleicht nur deshalb in den Kreis ihrer Diener aufgenommen hat. Schließlich gilt sie als Schwester der Katzengöttin Sachmet, Katzen sind quasi ihre kleinen Nichten. Möglich, dass das syrische Kind, das sich da wie eine Straßenkatze im Tempel eingenistet und mit unglaublicher Dickköpfigkeit gelernt hat, einfach an ihrem Familiensinn gerührt hat.

Sie erinnert sich kaum an ihre Eltern, weiß nur, dass sie nach einem Aufstand gegen die ägyptische Herrschaft gefangen genommen und ins Nildelta verschleppt wurden. Bald darauf hat ihr Vater sich umgebracht und die Mutter sich mit einem Ägypter davon gemacht. Iset (natürlich ist das nicht ihr wirklicher Name, den hat sie längst vergessen, aber irgendwie muss sie sich schließlich nennen) musste sich also selbst erziehen, keine leichte Aufgabe für ein sechsjähriges Mädchen. Nach Jahren mehr oder minder ziellosen Herumstreifens, ein Wunder, dass sie dieses Leben überhaupt so lange durchgehalten hat, hat es sie schließlich nach Memphis verschlagen. Sie hatte damals nicht viel Ahnung von den ägyptischen Göttern, aber das Leben im Tempel versprach zumindest eine minimale Sicherheit, also ließ sie nicht locker, bis sie bleiben durfte. Einen wirklichen Lehrmeister hatte sie nie, keiner kümmerte sich recht um eine kleine Streunerin wie sie, aber wenn man jahrelang im Tempel und im Haus des Lebens ein und aus geht, bleibt Einiges hängen. Es war Glück, dass sie damals ihre Prüfung bestanden hat, aber sie hat ihre Wissenslücken mehr als wettgemacht.
 

Ein leises Schaben schreckt sie aus ihren Gedanken. Zuerst meint sie, die Schritte ihrer Wachablösung zu hören, aber nein, es ist noch nicht Zeit, und es klingt auch nicht nach einem Menschen, der sich nähert. Eher als riebe Holz an Stein.

Sie fährt herum, späht in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist. Ungläubig richtet sich ihr Blick auf die Tür der Kapelle, die inzwischen einen Spalt offen steht. Jemand schiebt von innen, mit sichtlicher Anstrengung, aber dennoch zielstrebig, kraftvoll.

Vor dem grellen Hintergrund des Allerheiligsten, das zu dieser Tageszeit von senkrecht einfallenden Sonnenstrahlen durch das Dachfenster voll ausgeleuchtet wird, sieht sie seine Silhouette.

Kein Zweifel, dass er es ist, Nebous schwächliche, aber zähe Gestalt ist unverkennbar, selbst in diesem Licht. Er macht einige Schritte vorwärts und sie sieht den Schweiß auf seiner kahlrasierten Stirn aufglänzen, bevor sein Gesichtsausdruck erkennbar wird.

Es sieht aus, als hätte er ihr etwas zu sagen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  MiezMiez
2014-06-02T17:17:30+00:00 02.06.2014 19:17
Richtig fesselnd geschrieben!
Wüsste zu gerne wie es weiter geht;-)
lG MiezMiez


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