Α und Ω
Wieder beginnt eine neue Stunde, Geschichte hat sie jetzt…
Neben ihr sitzt der Lehrer, den Unterricht gibt zur Zeit ein Referendar.
Sie schließt ihre Augen.
Die letzte Woche vor den Sommerferien…
Sechs Wochen keine Schule, sechs lange Wochen…
Sechs Wochen, in denen sie ihn nicht sehen wird…
Sie sieht sein Gesicht vor sich und muss unwillkürlich lächeln.
Immer sieht sie ihn vor sich, mit diesem leichten Schmunzeln.
Sie weiß, dass es nicht ihr gilt.
Der Referendar führt Monologe mit zwei Schülern.
Sie denkt wieder an das Lächeln, das seinen Mund umspielt.
Weiß er überhaupt, dass es sie gibt?
Manchmal scheint er so unnahbar…
Sie weiß, dass er eine Freundin hat.
Vor ein paar Wochen hat sie beschlossen, in die Offensive zu gehen.
Sie zieht die Augenbrauen zusammen.
Was meint sie eigentlich mit Offensive?
Eventuell, dass sie ihn anspricht?
Sie weiß, dass ihr dann nichts einfallen wird.
Es klingelt wieder, der Referendar wünscht schöne Ferien.
Dass die Stunde so schnell vergeht, wenn man träumt…?
Die Unterrichtsstunde hat nur 30 Minuten gedauert.
Sie steht auf und packt ihre Sachen ein.
Der Unterricht für heute ist vorbei.
Sie muss eine Stunde lang auf den Bus warten.
Sie erfährt, dass ihre Freundinnen sie nicht zur Haltestelle begleiten.
Ein geistesabwesendes Nicken und sie geht die Treppe hinab.
Sie weiß, dass sie ihn gleich sehen wird.
Langsam schlendert sie den Gang entlang.
Er hat im Erdgeschoss Musik.
Sie kennt seinen Stundenplan.
Ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus, als sie ihn sieht.
Er trägt ein rotes Hemd und eine weiße Hose.
Seine Haare wie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Sie blickt zu ihm auf und versinkt für einen Moment in seinen Augen.
Sie findet seine Augen wunderschön.
Offensive, Offensive…
Der Lehrer tritt hinter ihm aus dem Raum und redet mit ihm.
Sie senkt immer noch lächelnd den Blick.
Sie liebt es, seine Stimme zu hören.
Das Gespräch wird beendet und er geht in Richtung Ausgang.
Sie dreht auf ihrem Absatz um und folgt ihm.
Sie läuft direkt hinter ihm.
Sie findet seinen Geruch unwiderstehlich.
Er wendet seinen Blick und sieht sie an.
Sie bleibt wie erstarrt stehen und erwidert seinen Blick.
Er lächelt und fragt, ob sie zum Bus geht.
Sie weiß nicht, was sie entgegnen soll.
Nickend versinkt sie wieder in seinen Augen.
Er meint, dass sie ja zusammen zum Bus gehen könnten.
Sie nickt wieder und lächelt von ganzem Herzen.
Sie weiß, dass dies ihre Chance ist.
Zusammen verlassen sie das Schulhaus.
Sie unterhalten sich über die Schule.
Er meint, dass er sich auf die Ferien freut.
Sie weiß, dass er nächstes Schuljahr sein Abitur macht.
Nun reden sie über Lehrer und sie lachen.
Er sagt, er müsse noch in die Buchhandlung.
Sie entgegnet, dass sie ebenfalls ein Buch abholen muss.
Sie genießt seine Gegenwart.
In der Buchhandlung stehen viele Leute.
Sie stehen nah beieinander.
Er bestellt einen Roman und sie holt ein Heft für die Schule ab.
Es dauert eine viertel Stunde.
Sie weiß, dass sie sonst allein hier stehen würde.
Er sagt, sein Bus fährt in zwanzig Minuten.
Ihrer erst in einer halben Stunde.
Sie sagt es nicht.
Sie hofft, dass sie noch oft mit ihm zum Bus geht.
Zusammen gehen sie über die Straße und suchen sich eine Bank.
Weiter hinten tuscheln zwei Mädchen über sie.
Sie unterhalten sich wieder über die Schule.
Sie wünscht sich, dass sein Bus nicht kommt.
Er sieht auf seine Uhr und bemerkt, er habe noch fünf Minuten.
Sie seufzt und sagt, dass sie das schade findet.
Er lächelt sie an.
Sie weiß, dass das Lächeln nun ihr gilt.
Er dreht sich zu seiner Haltestelle.
Sein Bus kommt.
Sie weiß, dass er gleich geht.
Er beugt sich zu ihr vor.
Sie spürt seinen warmen Atem auf ihrer Haut.
Sie meint, dass ist der schönste Moment in ihrem Leben.
Er lächelt wieder.
Auch ihre Lippen umspielt ein Lächeln.
Sie blickt erwartungsvoll in seine klaren Augen.
Sie verspürt den Drang ihn zu küssen.
Er steht auf.
Sie sieht ihn fassungslos an.
Er verzieht den Mund zu einem Lächeln.
Sie meint, ihr Herz würde vor Schmerz zerspringen.
Er verabschiedet sich und geht.
Sie sieht ihm mit geöffnetem Mund nach.
Sie würde am liebsten losheulen.
Er steigt in den Bus ein.
Sie wendet sich ab und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
Hinter ihr kichern zwei Mädchen.
Sie weiß, dass er sie nie lieben wird.
Sie winkt ihm, als der Bus fährt.
Er blickt in die andere Richtung
Ihr Bus kommt fünf Minuten später.
Sie fühlt sich schrecklich.
Am nächsten Morgen verpasst sie fast ihren Bus.
In der Schule begegnen sie sich.
Sie nicken sich kurz zu und gehen dann aneinander vorbei.
Sie ist traurig.
Im Unterricht ist sie unaufmerksam.
Sie kann nicht antworten, als der Lehrer fragt.
Sie redet nicht.
Sie fragt sich, wie das weitergehen soll.
Nach der Schule geht sie allein in Richtung Bus.
Ihre Freundinnen werden wieder abgeholt.
Sie fühlt sich einsam.
Sie sieht ihn auf einer Bank sitzen.
Neben ihm sitzt ein Mädchen.
Sie glaubt, ihr Herz erfriert.
Er küsst das Mädchen und legt seinen Arm um sie.
Das Mädchen erwidert den Kuss.
Sie glaubt, sich übergeben zu müssen.
Zuhause redet sie kein Wort.
Sie nimmt nicht ab, als ihre Freundin anruft.
In der Nacht schläft sie kaum.
Sie träumt schlecht.
Sie gesteht sich ein, dass sie Liebeskummer hat.
Sie will nicht mehr an ihn denken.
Sie will ihn vergessen.
Sie weiß, dass es keinen Sinn hat.
Sie kann ihn nicht vergessen.
Sie hofft immer noch, von ihm umarmt zu werden.
Sie fühlt sich einsam…