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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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Inspektor George Lestrade war ein Gentleman, dem Sherlock Holmes und ich selbst mehr verdankten, als sich irgendjemand vorstellen konnte. Auf den ersten Blick mag dies ironisch klingen, da die meisten wissen, wie viel Holmes für Scotland Yard und Lestrade im Besonderen getan hatte. Meiner Rechnung nach wurden zumindest ein Duzend Verbrecher von meinem Freund in Lestrades Hände übergeben und das war nur während meiner Zeit und den Fällen, von denen ich weiß. Aber ich werde nun zum ersten Mal in Worte fassen, was niemand über diesen Mann weiß: Er wusste von uns. Er muss es mit Sicherheit gewusst haben.
 

Nun war dies natürlich etwas, worüber wir niemals gesprochen hatten. Sicherlich nicht mit dem Inspektor und auch nicht zwischen Holmes und mir, aber wir alle drei hatten jene gewisse Gefahr, die nicht benannt werden durfte, mit Sicherheit im Hinterkopf. Als ich Lestrade zum ersten Mal getroffen habe, hatte ich ihn für einen gewöhnlichen Regulären gehalten, der meiner Beachtung kaum wert schien. Holmes selbst schien dem zuzustimmen und auch wenn er ihn für pflichtbewusst und zäh hielt, hatte er ihn bei mehr als einer Gelegenheit als kompletten Vollidioten bezeichnet. Aber mit der Zeit schien sich seine Duldsamkeit Lestrade gegenüber zu steigern. Holmes bezeichnete ihn nicht länger als den schlimmsten der Regulären. Er mochte ihn immer noch dafür gehalten haben, aber Lestrades Ehrbarkeit schien seine Meinung geändert haben. Er wusste, wie viel er Lestrades Schweigen verdankte. Integrität
 

Während ich in Holmes Schlafzimmer stand und dabei zusah, wie meine Beziehung mit ihm vor meinen Augen zersplitterte wie Glas, war der arme Lestrade gezwungen nur ein paar Fuß entfernt in völliger Verwirrung abzuwarten, während ihm niemand außer Josh Gesellschaft leistete. Erst Jahre später würde ich meinen Sohn fragen, was Lestrade – wenn er überhaupt gesprochen hatte – damals zu ihm gesagt hatte, aber er war stur und zuckte nur mit den Achseln. „Du kannst wohl kaum erwarten, dass ich mich daran noch erinnere“, hatte er verbittert gesagt.
 

Das konnte ich sehr wohl, aber ich drängte ihn nicht. Josh war oft launisch und abwehrend, wenn er meinte, das Recht dazu zu haben. Ich fragte ihn nie wieder.
 

Holmes und ich hatten eine Sackgasse erreicht. Wir standen vor seinem Bett und starrten einander peinlich berührt an. Er konnte mich nicht hinaus befehlen, denn dadurch hätte er mich viel weiter befohlen als nur aus seinem Zimmer. Ich dagegen sah eine gereizte Verwundbarkeit in seinen grauen Augen aufflackern. Er war niemand, der einen Augenkontakt über längere Zeit aufrechterhielt, denn er ließ seine Augen gewöhnlich auf der Suche nach Daten im Raum herumflitzen. Aber für jene kurzen Momente schien er unfähig von mir wegzusehen. Er schien unter Schock. Sehr ängstlich.
 

Vielleicht wären wir stundenlang dort gestanden, wie Statuen, wenn nicht plötzlich ein sanftes Klopfen an der Tür gewesen wäre. Ich kann nicht sagen, warum Lestrade geblieben war. Manche von Ihnen mögen es für einen Gentleman nicht angemessen finden, während eines Streites, an dem er keinen Anteil hat, zu Gast zu bleiben oder Sie mögen denken (vielleicht zu Recht), dass es ebenso wenig angemessen von Holmes und mir gewesen war, uns in der Anwesenheit eines Gastes zu streiten, aber wie dem auch sei, so war es eben geschehen. Er hatte die Worte gehört, die wir geschrieen hatten. Die Leidenschaft, mit der wir sie geschrieen hatten. Ich wollte glauben, dass er unsere Gefühle vielleicht als die zweier Freunde betrachten würde, die seit langem unter den Fehlern des jeweils anderen litten, aber in mir gab es genug Logik, um zu wissen, wie unwahrscheinlich das war. Er war nicht der Vollidiot, als den ihn Holmes in früheren Jahren bezeichnet hatte. Er wusste, dass es mehr sein musste.
 

„Meine Herren“, kam die Stimme des Inspektors stark und klar durch die Tür. „Tut mir wirklich Leid, Sie zu unterbrechen. Ähm…ich hoffe, dass Sie mich nicht für unhöflich halten, aber…nun, würden Sie vielleicht einen Moment heraus kommen?“
 

Mir wurde beinahe schlecht. Während der gesamten Szene hatte ich den Gedanken im Hinterkopf, dass wir gerade Besuch hatten, aber wegen der Plötzlichkeit und Grausamkeit der ganzen Sache hatte ich mich nicht zurückhalten können. Und nun würden wir die Rechnung für unsere Indiskretion präsentiert bekommen.
 

Holmes wusste, wie all das wirken musste, dessen bin ich mir sicher, aber seiner aufrechten Gestalt und dem hocherhobenen Kopf nach zu schließen, hätte man meinen können, die Indiskretion, die er begangen hatte, wäre nur eine leichte gewesen. Er öffnete die Tür vollkommen ruhig und mit unbewegtem Gesicht. Ich beobachtete in Erstaunen, wie sich eine Augenbraue in Überlegenheit hob. Es war ein typischer Charakterzug dieses Mannes, aber ihn jetzt zu sehen, da Lestrade so klar die Überhand hatte, machte mich sprachlos.
 

„Gut und was gibt es?“, sagte Holmes, als er ein paar Schritte macht, um Lestrade Aug in Aug gegenüber zu stehen. Er umkreiste ihn wie ein Wolf, der bereit war seine Beute zu reißen. Er forderte ihn schon fast heraus, etwas zu sagen.
 

„Ich wollte nur – nun, ich denke, dass es vielleicht unhöflich von mir war, hier zu sitzen und zuzuhören, während Sie—äh, wenn Sie ganz offensichtlich allein sein wollten, aber ich konnte nicht gehen, ohne“—
 

„Ja?“ Holmes’ Augen glitzerten gefährlich, als er sie aufriss.
 

„Mich zu entschuldigen, natürlich.“
 

„Und wofür, bitteschön, entschuldigen Sie sich?“
 

„Es ist klar, dass ich Sie unwillentlich verärgert haben. Aber ich kann Ihnen versichern, Mr. Holmes, dass Dr. Watson und ich mit den besten Vorsätzen handelte. Wir – alle beide – wollten Ihnen einen Dienst erweisen. Ich kann nun sehen, dass wir einen Fehler begangen haben.“ Er drehte sich zu mir um, als würde ihn mein Schweigen überraschen. „Ist es nicht so, Doktor?“
 

„Mit absoluter Sicherheit, Lestrade“, sagte ich mit gefühlloser Stimme. Ich ließ mich selbst in einen Armstuhl vor dem Kamin sinken. Meine Schläfen begannen unkontrolliert zu pochen.
 

„Ich hegte keine Zweifel an Ihren Absichten.“ Holmes machte mit der Hand eine gleichgültige Geste in seine Richtung. „Sie müssen sich keine Sorgen machen, Ihnen ist vergeben.“
 

Ich sollte hervorheben, dass er ganz klar nur zu Lestrade sprach. Ich wurde hinsichtlich der Vergebung vollkommen ignoriert.
 

Dies schien dem Yarder gut genug zu sein. Er hatte von dem Moment an, da wir aus Holmes’ Zimmer gekommen waren, mit verschränkten Armen dagestanden und merklich gezuckt, während seine Augen sich unbehaglich hin und her bewegten. Er konnte uns beiden nicht in die Augen sehen. Mit dem kürzesten Nicken zog er sich Richtung Tür zurück. „Also gut. Sie werden mir mit Sicherheit vergeben, wenn ich sage, dass ich jetzt wohl besser gehen sollte. Ich fühle mich…nun wie das sprichwörtliche fünfte Rad.“
 

Ich hatte noch nie einen Mann so völlig fahrig gesehen. Mein Schädel dröhnte beinahe unerträglich. Wäre ich in jenem Moment allein gewesen, hätte ich mit Sicherheit vor Pein geschrieen.
 

Aber Holmes schien sich weder meiner noch Lestrades Angst bewusst zu sein. Tatsächlich war er ein Bild der Gelassenheit. Mit den Händen hinter seinem Rücken gefaltet sagte er: „Ich würde es sehr schätzen, wenn Sie noch nicht gehen würden, Inspektor. Tatsächlich hatte ich gehofft, ihr beide würdet mich bei einem kurzen Rendezvous begleiten.“
 

Ich sah auf. „Bist du verrückt?“
 

Er antwortete mir mit einem verächtlichen Blick und verließ wortlos das Zimmer. Lestrade beobachtete ihn und zitterte nun schon beinahe vor Nervosität. „Was…was hat er vor?“, fragte er mich.
 

„Ich habe keine Ahnung.“
 

„Nun, ich…ich sollte wirklich gehen.“ Er erhob sich auf die Füße. „Ich sollte nicht hier sein.“
 

Genauso wenig wie ich. „Lestrade“, sagte ich auf eher langsame Weise. „Bitte gehen Sie nicht…ich meine, Sie dürfen nicht zu viel nachdenken, über das, was…geschehen ist. Wir hatten niemals die Absicht…es ist nicht so, wie es wirken mag“—
 

„Wir gehen wohl doch noch nicht so bald, nicht wahr, mein lieber Inspektor?“ Holmes war zurückgekehrt, die Arme voller Hüte, Mäntel und verschiedenen anderen winterlichen Kleidungsstücken, die er verteilte. „Sie wollen doch sicher nicht gehen, bevor ich erklärt habe, was mit meiner Schwester geschehen ist?“
 

Daraufhin fiel sowohl meine als auch Lestrades Kinnlade. „Ist das wirklich dein Ernst?“, rief ich. „Du weißt, was mit ihr passiert ist?“
 

„Nun, Watson, du überrascht mich. Denkst du, der du mich so gut kennst, tatsächlich, ich würde einem solchen Fall wie diesem erlauben, so lange ungelöst zu bleiben? Kommt jetzt!“ Er winkte uns hinaus und ging die Treppe hinunter, während er seinen Mantel überwarf. Er war schon aus der Haustür hinaus, bevor wir überhaupt reagieren konnten. Auch wenn ich immer noch unter Schock stand, war ich auch mit Neugier erfüllt. Ich schüttelte den Kopf und folgte ihm.
 

Wegen der Geschwindigkeit nahmen wir eine Kutsche zur Horseshoe Alley, eine Reise die so ereignislos war, dass ich mich kaum noch erinnern kann, ob überhaupt etwas gesagt wurde. Ich bin mir sicher, wir alle wollten sprechen, besonders mit Holmes, aber er hätte uns keine Details verraten, bevor er nicht dazu bereit war und wenn wir ihn auf Knien darum angefleht hätten. Lestrade und ich waren Fremde während jener Fahrt.
 

Es herrschte immer noch eine Eiseskälte, als wir am Schauplatz des Verbrechens anlangten, aber vom Sturm war nichts mehr geblieben als ein paar wenige Wehen schwarzen Pulvers, die von einer Seite der Straße auf die andere geblasen wurden. Augenblicklich wurde ich wieder mit den Bildern von einem Jungen und einer Pistole überflutet. Zur Hölle mit Lestrade, dass er damit angefangen hatte! Und zur Hölle mit mir, dass ich es auch nur in Erwägung zog. Warum konnte ich nicht einfach darauf vertrauen, dass Holmes zu so einem entsetzlichen Verbrechen nicht in der Lage war?
 

„Es war genau hier. Sie fiel neben diesem Bekleidungsgeschäft. Nach all den Jahren ist es immer noch hier.“ Holmes ging langsam zu dem Punkt, den Lestrade und ich studiert hatten, den Punkt auf der Ostseite der Straße direkte bevor die Erhebung begann. „Wie wenig sich verändert hat…“, überlegte er, als er sich hinkniete und mit der Hand leicht über den Boden strich.
 

„Aber das ist doch kaum wahr, Mr. Holmes. Tatsächlich sind dieses Bekleidungsgeschäft und jener Buchladen das Einzige, was sich seit drei Jahrzehnten nicht verändert hat. Nun, und ein paar Wohnungen gegenüber.“ Er deutete vage auf die andere Straßenseite.
 

„Ich bin mir sicher, dass ich das erkenne, Lestrade. Ich meinte nur, dass dieser Punkt - dieser Punkt, an dem meine Schwester starb – immer noch vollkommen gleich geblieben ist. Wenn Sie und Watson das so wie ich erkannt hätten, dann würden Sie auch verstehen, dass ein Teil dieses Rätsels lächerlich einfach ist.“
 

„Kommen Sie, Mr. Holmes, Sie können nicht behaupten, irgendetwas daran sei einfach.“ Lestrade sah richtiggehend verstört aus, wahrscheinlich weil der Ruf seines verstorbenen Vaters auf dieser Angelegenheit ruhte. „Nicht einmal Sie können mich davon überzeugen, dass dies etwas anderes als grotesk und schwer zu verstehen war.“
 

„Ha! Grotesk und schwer zu verstehen also? Und wenn ich Ihnen erzählte, dass ich erst fünfzehn war, als ich es löste? Würden Sie dann immer noch so denken?“
 

„Sie waren fünfzehn!“
 

„In der Tat.“ Er hielt inne, in Erinnerungen versunken und da ich in seinem Tagebuch gelesen hatte, wie verändert er nach dem Mord gewesen war, bin ich sicher, dass es eine Erinnerung war, an die er seit langer Zeit nicht mehr gedacht hatte. „Auch wenn das einzige daran, das Sie überraschend finden sollten, die Tatsache ist, dass ich so lange damit gewartet habe – vier Jahre…ich ging damals zur Schule, war in meinem vorletzten Collegejahr [1] und nachdem ich jenen vier Jahren in melancholischer Einsamkeit gelebt hatte, wurde es schließlich zu viel. Eines Nachts verließ ich die Schule, indem ich aus meinem Fenster im dritten Stock kletterte und mich schnurstracks nach London aufmachte.
 

An meinen ersten Tag dort, allein in London, erinnere ich mich als einen Tag, der mich eine der wichtigsten Lektionen gelehrt hatte, die ich jemals als beratender Detektiv gebraucht habe – Gefühlen niemals zu erlauben, die Objektivität zu trüben. Das könnte mit Sicherheit sogar als die entscheidende Lektion betrachtet werden. Aber ich war jung und wusste es nicht besser. Zuerst war der Schmerz in meinem eigenen Herzen alles, das ich sehen konnte. Objektivität war unmöglich. Aber nachdem ich ungefähr einen Tag in erneuerter Trauer verbracht hatte, zwang ich die Vernunft in meinen Geist. Es war eine Ehe, die bis zum heutigen Tag andauert.“
 

Und so war es auch, aber nicht in dem Ausmaß, wie Lestrade dachte. Ich versuchte während dieser Worte nicht zu sehr zusammenzuzucken. Es war klarersichtlich zu Gunsten des Yarders.
 

Holmes starrte auf den Punkt, an dem er noch einen Augenblick länger kniete, bevor er auf die Füße sprang. „Es schien mir, dass es irgendetwas Offensichtliches übersehen worden sein muss. Ich hatte so viel Zeit damit verbracht, die Ereignisse in im Geiste zu wiederholen, dass ich mich sofort auf zwei Besonderheiten konzentrierte. Erstens – dass von all den Menschen, die an jenem Tag auf der Straße waren, niemand behauptete den Schützen gesehen zu haben und zweitens – der deutlich seltsame Einschusswinkel der Kugel. Es schien gut möglich, dass sich die erste von diesen Fragen von selbst beantworten könnte, sobald ich eine Antwort auf die zweite gefunden hätte, daher konzentrierte ich mich auf diese.“
 

„Zunächst wusste ich, dass der Mörder von der Straße gekommen sein musste. Die Polizei muss das mit Sicherheit auch gewusst haben“—er sah mich scharf an—„Denn es war klar, dass er mir sehr nahe gewesen sein muss, als es geschah. Ich fühlte den Pistolenschuss auf meinem Gesicht.“
 

„Dann hast du…ich meine, hast du es tatsächlich gesehen?“, fragte ich. Wie schrecklich musste es sein, zu erkennen, dass er direkt neben der Person gestanden hatte und unfähig war, ihn aufzuhalten. Ich kannte das Gefühl, gerade zu spät zu kommen, um eine Tragödie zu verhindern.
 

„Als ich später darüber nachdachte, habe ich das. Zu jener Zeit, nein. Ich hatte keine Ahnung, dass bloße Zoll von mir entfernt jener Mann stand, der meinem Lebenswillen – zumindest zeitweise – ein Ende setzen würde.“ Er räusperte sich und sprach hastig weiter. „Aber nun, da ich genau wusste, von wo die Kugel abgefeuert worden war, war es leicht genug, eine Antwort auf meine zweite Frage zu finden.“ Er machte einige heftige Gesten mit seiner Hand – zuerst flog sie hoch und dann steil nach unten. Lestrade und ich blickten einander verwirrt an. Holmes nun vollkommen in Fahrt, sein Verstand raste, während er die Einzelheiten seines Genies herunterratterte. Wie gewöhnlich konnten der Inspektor und ich kaum mit ihm Schritt halten. „Versteht ihr es jetzt?“ Holmes seufzte ungeduldig, während wir dastanden und ihn beobachteten, wie er beinahe die halbe Straße hinunter lief, den Hügel hinauf und dann anhielt. „Hier ist die Stelle, wo der Schütze stand!“, rief er, bevor er zu uns zurück rannte. „Und hier ist es, wo die Leiche fiel. Wir wissen aus der Autopsie, dass die Patrone mit einem Winkel von fast neunzig Grad in den Hals eindrang. Aber wenn der Schütze aus der Entfernung feuerte, die ich gerade gezeigt habe, wissen wir, dass einfache Geometrie ausschließt, dass die Pistole abgefeuert und Philippa direkt getroffen wurde – das heißt, außer es gibt eine Art von Behinderung.“
 

„Be-behinderung?“
 

„In der Tat, Lestrade. Ich frage mich, weshalb die Regulären es nicht gesehen haben. Oder vielleicht auch nicht“, schnaubte er und wischte den Schweiß fort, der sich auf seinem Kinn gesammelt hatte. „Es ist sicherlich nicht das erste Mal, dass Ihre Leute die offensichtlichsten Hinweise zur Erklärung von andernfalls einfachen Problemen übersehen haben.“
 

Nun muss man es Lestrade wirklich zu gute halten, dass er bis zu jenem Moment ruhig und geduldig geblieben war. Wären unsere Positionen vertauscht gewesen, weiß ich, dass ich Holmes bereits vor über einer Stunde in Handschellen zum Yard geführt hätte. Aber wir alle können nur ein bestimmtes Maß vertragen und das seine war nun voll. „Nun, machen Sie mal halblang, Sir! Das reicht! Sie mögen sich uns allen von Scotland Yard als weit überlegen ansehen, aber ich kann Ihnen versichern, dass dieser Fall meinen armen Vater bis ans Ende seiner Tage beschäftigt hat! Sie hätten etwas tun können, um es ihm zu erleichtern, wenn Sie ihm die Wahrheit gesagt hätten…aber Sie nahmen die Angelegenheit selbst in die Hand!“ Er schnaubte, während sich sein Gesicht rötete und er wand sich ab.
 

Holmes’ Augenbrauen hoben sich vor Schock, aber ich war es, bei dem er Unterstützung suchte. Es gab nur wenig, das ich ihm anbieten konnte. Um die Wahrheit zu sagen, stimmte ich Lestrade zu. Nach allem, was geschehen war, wie konnte Holmes derart damit herumprahlen und auch noch erwarten, dass wir uns an seiner Brillanz erfreuen würden? „Ich denke, du schuldest Lestrade eine Entschuldigung, Holmes“, sagte ich.
 

„Eine Entschuldigung? Pah! Ich erkenne, dass Sie wirklich keinerlei Verlangen danach haben, die Wahrheit zu erfahren. Vielleicht…vielleicht ist es ein Fehler, es Ihnen zu erzählen. Wenn einem alles vorgekaut wird, neigt der Verstand dazu schwach und armselig zu werden.“ Er starrte finster in Richtung Inspektor. „Ich haben Ihnen die ersten Glieder in die Hand gegeben. Wenn Sie Interesse daran haben, die Kette zu vervollständigen, dann tun Sie es doch bitte. Wenn nicht, das sage ich ihnen, machte es mir wenig aus. Ich trage die Wahrheit in mir.“
 

Und dann wand er sich abrupt ab und verschwand im Wind. Ich sah, wie er eine Kutsche anhielt und einstieg. Ich war nicht sicher, was ich sagen sollte, außer ihm meine Entschuldigung anzubieten. „Ich habe diese Kettenreaktion ausgelöst. Ich erkenne nun, dass ich es nicht hätte tun sollen.“
 

„Wie können Sie damit leben, Doktor? Er ist wahrhaftig…nun, ich weiß, dass ich es nicht könnte.“
 

Ich fürchtete Lestrade hatte Recht. Ich wusste es nun. Ich konnte es nicht länger. Es war ein kleines Stück kalter Logik, das mich plötzlich und schrecklich überkam. Nach dem heutigen Tag wusste ich, was die Antwort sein musste. Ich nahm die Hand des Inspektors ungefragt in meine eigene und schüttelte sie sanft. „Vielen Dank“, sagte ich ihm. „Dass Sie mir dabei geholfen haben. Ich hoffe, mich eines Tages für Ihr…gutes Urteilsvermögen revanchieren zu können.“ Ich ließ ihn dort stehen und brach in dieselbe Richtung auf wie Holmes.
 

Nachdem ich Lestrade in der Horseshoe Alley verlassen hatte, kehrte ich in die Baker Street zurück und der Abend verging rasch. Bald schon kündigte sich die neunte Stunde laut auf unserer treuen Standuhr in der Diele an und ich fand es angemessen Josh, der den ganzen Abend lang schaurig und ungewöhnlich schweigsam gewesen war, ins Bett zu stecken. Als er seine Gebete gesagt hatte (in so leiser Stimme, dass ich ihn kaum hören konnte) und er sicher in seiner kleinen Dachkammer versiegelt war, erlaubte ich mir selbst einen tiefen Atemzug. Mit aufrechter Haltung stieg ich die Treppe hinab, um zu tun, was getan werden musste.
 

Das Feuer erlosch zu ein paar wenigen rot glühenden Kohlen und einer dünnen Schicht von Rauch. Holmes saß vor diesen Überresten auf seine Ellebogen gestützt, seine Hände unter dem Kinn. Das Licht leuchtete sanft in seinem weichen Haar und unrasiertem Gesicht. Er starrte auf die nördliche Wand, jene Wand, auf der mit vielen Patronenlöchern die Buchstaben ‚V.R.’ geschrieben stand. Es war unmöglich zu sagen, ob er sie tatsächlich sah oder ob er durch sie hindurch sah.
 

Ich ging langsam, so als fürchtete ich zu fallen. Dieser einzelne Raum war der, in dem ich mehr Zeit als in jedem anderen während meines erwachsenen Lebens verbracht hatte und doch wirkte er, als ich in nun betrachtete, wie irgendein fremder Ort, an dem ich nie zuvor gewesen war. Es war sein seltsames Gefühl. Ein verstörendes Gefühl.
 

Ich war ihm gegenüber so wie immer, nahm den Schürhacken auf und stieß ihn in die übrigen Kohlen. Der Kohleeimer war beinahe leer, außer einer Zigarrenschachtel. Ich wusste natürlich, dass er dort welche aufbewahrte, aber diese waren kubanische, sehr teuer und meine Lieblingssorte. Er musste sie heute besorgt und ohne mein Wissen dorthin getan haben. Der Schürhacken rutschte mir mit einem widerlichen Knall aus den Fingern. Irgendwie verschlimmerte das Wissen über eine derartige Geste seinerseits die Schwere in meinem Bauch.
 

„Setz dich doch, Watson“, sagte Holmes, ohne die Augen von der ruinierten Wand abzuwenden. „Es ist recht unerträglich, wenn du so auf und ab gehst.“
 

Nun, ich war nicht im Geringsten herum gegangen. Doch ich gehorchte ohne Widerworte. In meinem Korbstuhl, der für mich normalerweise an jenen Gelegenheiten, da nur wir beide anwesend waren, die völlige Definition der Behaglichkeit war, fühlte ich mich in jener Nacht eingesperrt. Jeder Muskel meines Körpers war so gespannt wie eine Bogensehne.
 

„Das ist besser. Und nun sag mir, weshalb du gekommen bist, was du mir schon sagen wolltest, seit wir aus Cornwall zurückgekehrt sind, wenn nicht schon früher.“
 

„Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“
 

„Ha! Natürlich hast du das, Doktor! Spiel nicht den Narren! Ich zumindest werde dir nie wieder erlauben einer zu sein, nach dem was du heute gesagt hast.“ Er beugte sich zu mir vor, während ein Funke des überbleibenden Feuers in seinen Pupillen pulsierte. „Jetzt sag es mir.“
 

„Aber heute – ich wusste kaum, was ich sagte“—
 

„Unsinn! Nichts von dem jetzt! Sag es mir!“
 

„Dir was sagen?“
 

„Hör mit den lächerlichen Spielchen auf, Watson, und tu es endlich! Raus damit! Raus damit!“
 

„In Ordnung! Du hast sie getötet, nicht wahr!“
 

Mir war kaum bewusst gewesen, was ich sagen würde, bevor es mir in all seinem Schrecken entkam. Ein Sturm von Angst überfiel mich und ich begann augenblicklich Entschuldigungen zu brabbeln. Holmes allerdings wirkte von meiner Frage nicht im Geringsten beunruhigt, stattdessen wirkte er, als ob er eine solche Frage von mir erwartet hatte. Aber dann, als ich die Spur eines überlegenen Lächelns auf dem Gesicht des Mannes erspähte, traf mich eine plötzliche Erkenntnis. „Du—du hast mich geködert!“, schrie ich wütend. „Du wolltest, dass ich es sage!“ Ich beobachtete ärgerlich, wie er sich selbst in seinen Sessel zurücklehnte, auf dem Gesicht ein breites Grinsen, das jede verbale Antwort überflüssig machte. „Warum?“
 

„Warum, was, Doktor?“
 

„Warum solltest du so etwas tun?“
 

„Einfach weil es etwas war, das du tun musstest. Du musstest es sagen. Aber bei all deiner Treue und Kameradschaftlichkeit wusste ich, dass du es nicht tun würdest, bis ich es aus dir herauszwingen würde.“
 

„Jeder normale Mann würde das für einen schmutzigen Trick halten, Holmes.“
 

„Dann siehst du dich selbst also nicht als einen normalen Mann an?“
 

Manchmal nicht. „Ich weiß es kaum noch.“
 

Dies schien ihn zu beunruhigen und sein Gesicht verlor momentan die Maske des Gebieters und wurde das blasse, mit Linien gezeichnete Gesicht, das ich so sehr liebte. „Du solltest so etwas nicht sagen“, sagte er sanft.
 

„Sollte ich nicht? Es ist doch schließlich die Wahrheit.“
 

„Watson, bitte! Du bist so normal wie jeder andere Mann!“ Seine Hand flatterte nervös gegen sein Knie und ich glaubte, dass er versuchte, sie nach der meinen auszustrecken, aber im letzen Moment scheiterte er.
 

Ich seufzte tief, nicht fähig es als irgendetwas anderes zu sehen, als das endgültige Zeichen von dem, was ich in meinem Herzen wusste. Es war nichts Normales daran. „Mein lieber Holmes, du bist kaum ein Mann, der dazu fähig ist, so etwas zu beurteilen. In all deiner Brillanz, deiner Einzigartigkeit…deinem ungewöhnlichen Wesen, bist du der letzte Mann, der beurteilen kann, was normal ist.“
 

„Hmm…es ist ein verwahrloster Garten. [2] Du solltest wissen, dass ‚normal’ ein willkürlicher Begriff ist wie ‚schön’, ‚hässlich’, ‚böse’ und ‚gut’. Es ist ein Wort ohne Bedeutung.“
 

„Aber ich fühle seine Bedeutung hier drinnen“, sagte ich, während ich meine Brust berührte. Seine Antwort war ein düsterer Blick, der klar sagte, dass er diesen Punkt noch weiter diskutieren wollte, aber er musste erkannt haben, dass mich nicht hätte überzeugen können. Indem er in seine Manteltasche langte, zog er sein Zigarettenetui hervor und zündete zwei der schädlichen Objekte an. Während er mir ungefragt eine reichte, sagte er:
 

„Denkst du wirklich, dass ich Philippa getötet habe?“
 

Ich rauchte und es verbrannte meinen Gaumen mit einem schrecklichen Geschmack. Sein Tabak war für mich zu stark. „Muss das wirklich sein?“
 

Seine Augen flackerten. „Es ist unhöflich, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.“
 

Die Frustration in mir wuchs. Ich zweifelte, dass ich sie noch lange würde kontrollieren können. „Warum kannst du mir nicht einfach erzählen, was passiert ist? Du warst vorher dazu bereit. Gib mir einfach dein Wort, dass du sie nicht getötet hast und ich werde es akzeptieren.“
 

„Es akzeptieren, aber es nicht glauben. Nein, nein! Das geht nicht. Wenn ich nicht dein bedingungsloses Vertrauen haben kann“—er hielt inne, erkannte die Ironie dieser Aussage. Vor zwei Jahren, an einem regnerischen Tag in den Schweizer Alpen hatte ich jenen Pfad, der mich hierher gebracht hatte, mit ähnlichen Worten eingeschlagen: Warum kannst du mir nicht vertrauen? Du vertraust mir niemals! Ein leichtes Zittern überkam seine Lippen. „Ich sehe ein, dass ich das nicht haben kann. Und genausowenig kann ich dich ganz und gar dafür verurteilen. Aber ich erkenne, dass das nicht der einzige Stolperstein ist. Komm her! Lass es uns besprechen.”
 

Ich schüttelte den Kopf. „Aber was gibt es zu diskutieren? Du kannst den Stand der Dinge nicht ändern.“
 

„Welche Dinge? Die Gesellschaft?“
 

„Das will ich wohl meinen! Nun, nach Wilde“—
 

„Aber Wilde hat sich die Schlinge praktisch selbst um den Hals gelegt. Seine Henker hätten kaum anders handeln können, ohne die Empörung der Öffentlichkeit zu verursachen. Du erwartest doch sicherlich nicht, wie jener Ire zu enden, oder?“
 

„Die Möglichkeit ist mir sicherlich durch den Kopf gegangen. Dir etwa nicht?“
 

„Natürlich – in einem Moment völligen Wahns. Aber es ist unlogisch. Wilde ist alles, was wir beide nicht sind. Flamboyant, grell, indiskret…meiner Meinung nach entschied er, sich selbst als Märtyrer ans Kreuz nageln zu lassen. Es ist keine Entscheidung, die zu treffen ich bereit bin. Ich bin viel zu selbstsüchtig.“ Er lächelte, aber es war schwer zu sagen, ob er im Ernst sprach oder im Spaß. Auch wenn er beizeiten selbstsüchtig gewesen war, lag es nicht in Holmes’ Natur über Fehler zu diskutieren.
 

„Es mag unlogisch sein“, sagte ich. „Aber Logik spielt in solchen Angelegenheiten keine Rolle. Das ist der Grund, weshalb Emotionen das Gegenteil der Logik sind. Holmes…“
 

„Ja, ich weiß.“ Er zündete noch eine Zigarette an und hob sie nervös, um mehrere lange Züge zu nehmen. „Es ist nicht die große unbekannte Öffentlichkeit, die du fürchtest. Es sind die großen bekannten Privatpersonen. Vor allem, John Sherlock Watson.“
 

Mein Sohn war eine Plage, die mein Unterbewusstsein schon seit dem Beginn der ganzen kornischen Angelegenheit heimgesucht hatte.
 

„Du denkst also immer noch, dass Josh der Untergang von dir und mir sein wird?“
 

„Verdammte Hölle, Mann, nein! Ich denke, du und ich werden sein Untergang sein!“
 

Das war etwas, über das er nicht mit mir streiten konnte. Ich erkannte es an der Art, wie er schwer blinzelte und sich von mir abwandte.
 

„Es tut mir Leid“, flüsterte ich kaum hörbar. „Ich wünschte, ich könnte den Stand der Dinge ändern.“
 

„Aber das kannst du nicht.“ Er schien die brennende Zigarette in seiner Hand zu studieren, aber er rauchte sie nicht. Ich versuchte mit Gewalt die Schuld niederzukämpfen, die in mir wuchs.
 

„Holmes, wir haben einander einst geschworen, dass wir es dem anderen sagen würden, wenn die Belohnung das Risiko unserer Beziehung nicht mehr wert ist.“
 

„Ja, ich erinnere mich. Ich war…dabei.“ Er schenkte mir das berüchtigte blitzschnelle Grinsen, bevor er zur Orgie seines Giftes zurückkehrte. Für eine Sekunde dachte ich, er könnte vollkommen zusammenbrechen. Er drückte die Augen zu und beide Hände ballten sich zu Fäusten, die er in seinen Magen trieb. Instinktiv schoss ich vor, um sein Knie zu packen. Es erschauderte unter meiner Hand. Aber anstelle eines entsetzlichen Zusammenbruchs öffneten sich seine Augen als zwei gefasste graue Lichter und er richtete seinen Körper stocksteif auf. „Ich weiß deine Aufrichtigkeit zu schätzen, Watson. Ich bin mir sicher, das wird das Beste für dich sein. Nun kommen wir also zum Finale des Crescendos. Was wirst du tun? Wohin wirst du gehen? Ich würde meinen, dass du mit Sicherheit in London bleiben wirst. Wirst du dich wieder dem zuwenden, wofür du geboren bist, deiner Arbeit als Arzt? Ich habe gehört, dass der Markt für solche Dinge nicht mehr das ist, was er einmal war.“
 

Aber ich hatte noch nicht einmal begonnen, mir über solche Angelegenheiten Gedanken zu machen, was jenseits dieses Abends geschehen würde. Die Zukunft war jener dichte Nebel, für den unsere Stadt so berüchtigt war. Wenn ich dem Ende jener Nacht mit ruhigen Nerven entgegensehen könnte, wäre das weit mehr, als ich von mir selbst erwarten würde. „Du stellst mir Fragen, die ich nicht beantworten kann. Oder auch nur beantworten will, um die Wahrheit zu sagen. Ich werde damit fortfahren, dich bei deinen Fällen zu unterstützen, wenn du das möchtest, aber was alles andere betrifft, kann ich noch nichts sagen.“
 

„Das sind alles Angelegenheiten, die du bald entscheiden musst.“
 

„Ja, nun, bald ist nicht jetzt. In diesem Moment ist mir nur eines wichtig. Du und ich. Wenn du dir Sorgen über Josh machst, will ich dir versichern, dass du immer noch völligen Zugriff auf ihn haben wirst, bis er alt genug ist, um zur Schule zu gehen.“
 

„Ich mache mir keine Sorgen um den Jungen! Nur um…vergiss es.“
 

„Ich wollte nicht, dass es so endet, Holmes. Nicht mit Gleichgültigkeit und ohne jede Leidenschaft. Das wollte ich wirklich nicht.“
 

Er schnaubte und erhob sich aus seinem Stuhl, um ans Fenster zu gehen, das die Baker Street überblickte. Das einzige verbleibende Licht kam von einem gemächlich qualmenden Gasbrenner, aber ich bin sicher, hätte ich sein Gesicht sehen können, dann hätte es zum ersten Mal, seit wir uns kennen, gealtert gewirkt. Er ließ seine Hand auf jenem Schreibtisch aus Eichenholz ruhen, in dem so vieles lag, was seine Karriere geformt hatte – mein Armeerevolver, eine gewisse Fotografie, alte aufgespießte Korrespondenz und natürlich eine gewisse giftgefüllte Spritze. Er streichelte sanft über das Holz, so als tanze seine Hand einen einsamen Tanz mit der Maserung. Als sie schließlich auf dem Schlüsselloch rastete, wusste ich, woran er dachte.
 

„Nun, trotz dem, was du dir gewünscht haben magst, Doktor, werde ich nicht vor dir auf die Knie fallen und dich anflehen zu bleiben, um der Leidenschaft gerecht zu werden. Es ist nicht in meiner Natur, so etwas zu tun. Schließlich sind wir keine Frauen. Wir werden das hier beenden, so wie…Gentlemen es tun sollten. Mit Würde.“
 

„Holmes“—begann ich, aber ich wurde von seiner Hand zum Schweigen gebracht.
 

„Gute Nacht“, sagte er.
 

Ich seufzte tief. Was konnte ich tun? Ich konnte ihn nicht für den Rest seines Lebens unterdrücken, um ihn davon abzuhalten, ein Narr zu sein. Um ihn davon abzuhalten, Körper und Geist mit jener verfluchten Droge zu zerstören. Alles was ich tun konnte, war darauf zu vertrauen, dass er sich nicht selbst damit umbringen würde. „Wenn es das ist, was du willst.“ Ich stand auf und ging in Richtung Tür, hasste die Tatsache, dass es nach allem, was geschehen war, so enden musste. Steril. Losgelöst.
 

„Watson, warte.“
 

Ich erstarrte auf Befehl. Während ich beobachtete, wie er auf mich zukam, fühlte ich mich, als ob ich außerhalb meines Körpers wäre. Als ob ich die Szene beobachtete, aber nicht daran teilhatte. Ich beobachtete folglich, wie mich der Mann, den ich einst als Maschine beschrieben hatte, mit seinen langen Armen packte und so heftig küsste, dass es beinahe schon schmerzhaft war. Wie kann ich jenen Moment beschreiben? Wie kann ich aufzeichnen, was mir durch den Kopf ging? Ich kann sagen, dass es in Wirklichkeit nur wenige Sekunden andauerte, aber bis zum heutigen Tag wiederhole ich es in meinem Geiste. In gewisser Weise hat es niemals geendet. Es war wie jener Augenblick zwei Jahren zuvor, als er mich unerwartet in meinem Arbeitszimmer umarmt hatte. Das Entsetzen darüber, sein bizarres atypisches Verhalten. Der Unterschied war allerdings, dass ich damals gedacht hatte, es bedeute nur wenig, dieses Mal dachte ich, es bedeute alles.
 

Weit davon entfernt, mich zu wehren, packte ich ihn und erwiderte die Intimität von ganzem Herzen. Ich spürte die zarte Seide seiner Weste unnachgiebig unter meinen Finger und sein Schritt presste sich gegen mich. Ich konnte die Hitze, die wir erzeugten, beinahe riechen.
 

Aber – so plötzlich wie er es begonnen hatte – brach er ab. Riss sich von mir los und schüttelte den Kopf. Er hatte mich beinahe keuchend zurückgelassen und ich mit einem Gefühl von Härte und Schuld. „Was…warum hast du…“
 

„Geh ins Bett, Watson“, befahl er mit herrischer Stimme.
 

„Aber“—begann ich, doch er schüttelte nur wieder den Kopf, während er zu dem verschlossenen Schreibtisch zurückkehrte.
 

Etwas Endgültiges war geschehen, etwas, das er sich selbst hatte beweisen müssen. Ich fühlte zwischen uns einen Abstand, der nicht existierte. Ich schluckte vor Wut, aber wie konnte ich irgendetwas sagen, nach dem, was ich getan hatte. Es gab nichts mehr, was ich sagen oder tun konnte. Ich drehte mich um und verließ ihn, nur um zu hören:
 

„Watson?“
 

Ich blieb stehen, aber diesmal wand ich mich nicht um. „Gute Nacht, mein süßer Prinz.“
 

Ich erkannte die Anspielung natürlich augenblicklich, aber dachte mir wenig dabei, denn es lag in seiner Natur, sich die Worte anderer Männer zu borgen, wenn er es für zu gefühlvoll hielt, seine eigenen zu erschaffen. Meine Natur, mein Dilemma, selbst mein Leben war in jenem Moment ein zweischneidiges Schwert. Ich stand auf der Schwelle zwischen dem Wohnzimmer und dem Treppenhaus – zwischen zwei Plätzen, die mir Belohnung und Risiko anboten – in der Tat boten sie mir Himmel und Hölle. Wie konnte ich, einst ein Mann von konventionellen Ansichten und ungestörter Objektivität, jemals an diesen Punkt gekommen sein? War es irgendein Fehler in meiner Natur, eine Schwäche des Verstands, die so viele Jahre lang geschlummert hatte, nur um von diesem einzigartigen Mann erweckt zu werden, für dem ich die ungewöhnlichste Anhänglichkeit und Faszination empfand? Meine Position war nicht objektiv genug, um es sagen zu können. Aber wie konnte ich verleugnen, was ich so intensiv fühlte? Wie konnte ich es alles zu nichts weiter als einer bloßen Charakterschwäche herunterspielen? Es war alles so vollkommen unlogisch!
 

Holmes hatte den kleinen silbernen Schlüssel aus seiner Westentasche gezogen. Mit all der Melodramatik eines geübten Schauspielers hielt er ihn hoch vor sich, wie bei Romeo und dem Gift, bevor er ihn in das Schlüsselloch steckte. Ich bin sicher, dass sich niemand, der dies hier liest, täuschen lassen wird – er wusste nur zu gut, dass ich ihn immer noch beobachtete. Er führte mich auf jede mögliche Art in Versuchung: physisch, da ich ihn begehrte, emotional, da ich ihn liebte und medizinisch, da ich mich um ihn sorgte.
 

Meine Entscheidung war gefallen. Der Teufel in mir packte meine Seele und versuchte mich zu ihm zurückzuzerren.
 

Aber bevor ich auch nur einen einzigen Muskel rühren konnte, fühlte ich wie mir ein kalter Schauer über den Rücken jagte. Fragen Sie irgendeinen Soldaten mit einer gewissen Kriegserfahrung und er wird Ihnen erzählen, dass es eine andauernde Narbe hinterlässt. In vielen Fällen, so wie bei mir selbst, war es eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegen die Umgebung. Nicht so sehr in den Kleinigkeiten, auf die Sherlock Holms solchen Wert legte, sondern in einem Gefühl der Vorahnung, das mich überkam, wann immer ich beobachtet wurde. Und in jenem Moment wurde ich beobachtet.
 

Ich drehte mich um mit Gefühlen der kalten Angst. Denn all meine Zeit, die ich im Krieg inmitten von Tod und Furcht verbracht hatte, war nichts mehr als das, was ich nun gegen einen anderen Feind fühlte. Dieser Feind, gekleidet in Pantoffeln und ein Nachthemd, saß in der Mitte der Treppe wie ein weißes Gespenst, das mich heimsuchte. Er starrte mich direkt an mit einem Ausdruck halbschlafend, halbwach – einem ziemlich dümmlichen Gesichtsausdruck, den ich nicht von dem Jungen gewohnt war. Sein Mund war einfältig geöffnet und ich wusste, mein Sohn hatte gesehen.
 

Er hatte unsere Umarmung gesehen. Unseren Kuss…Großer Gott, was hatte ich getan?
 

Der Junge bewegte sich ganz leicht, um das Geländer zu erreichen. Er schmiegte sich dagegen, um sich selbst auf die Füße zu ziehen. Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht.
 

Mir selbst dagegen wurde beinahe schlecht. Mein Körper betrog mich in einer Laune der Wut und ich machte einen Schritt auf ihn zu. „Geh!“, schrie ich. „Um Gotteswillen, geh!“
 

Für eine einzige Sekunde erstarrte er, hielt das Geländer immer noch mit Angst in seinen Augen umklammert. „Papa…“
 

„Verschwinde, Jung! Geh mir aus den Augen! Sofort!“
 

Er kam auf die Füße und stolperte direkt vor mir die Treppe hinauf. Meine Wut und mein Kummer hatten völlig die Überhand übernommen. „Sofort! Sofort!“ Ich jagte ihn, bis er wieder am Dachboden war, wo ich die Tür hinter ihm schloss. Da stand ich, er auf der einen Seite, ich auf der anderen, lauschte wie er voller Angst schluchzte, kämpfte selbst mit den Tränen. Was hatte ich getan? Nun war alles vorbei. Ich hatte verloren. Alles verloren. Holmes und ich konnten niemals mehr dieselben sein. Und mein Sohn…wie konnte ich ihm jemals wieder in die Augen sehen?
 

Ich hatte alles verloren.
 


 

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[1] Das College, das ein Junge vor der Universität besucht, dauert normalerweise von 13-18, aber Holmes würde es natürlich schon früher abgeschlossen haben.
 

[2] Ein gepflegter Garten war ein Symbol von Normalität und Harmonie.



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