Zum Inhalt der Seite

Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

So, meine Lieben, ich bin noch rechtzeitig für einen Weihnachtsupload fertig geworden, auch wenn ich natürlich nicht versprechen kann, dass es auf Animexx am 24. freigeschaltet wird—gut möglich, dass ich nicht der Einzige bin, der seinen Lesern das Weihnachtfest versüßen will.

(Um ein klein wenig Eigenwerbung komme ich trotzdem nicht herum. Jeder, dem diese Geschichte hier gefällt, weiß, dass er zumindest in manchen Dingen denselben Geschmack hat wie ich und darum dürfte sich ein kleiner Blick auf meine Kurzgeschichte „Der Killer“ schon lohnen.)
 

Die Träume verfolgten mich dich ganze Nacht lang. Wie viele Male ich erwachte, nur um danach wieder in einen neuen Alptraum zu versinken, kann ich nicht sagen, aber ich fühlte mich nicht besonders ausgeruht, als schließlich die ersten roten Strahlen der Dämmerung durch die Vorhänge drangen. Ich erwachte schlaftrunken und mit trüben Sinnen, erinnert an jene wenigen Tage in der Vergangenheit, als ich meinen Schmerz in Scotch-Whiskey ertrank. Aber wenn auch sonst nichts, so erwachte ich zumindest mit einer neuen Entschlossenheit. Holmes’ Wohlbefinden war nicht mehr das Einzige, was das Lösen dieses Falles mit sich bringen würde. Auch einen Beweis. Der Beweis, dass es meine Bestimmung war, hier bei ihm zu sein. Vielleicht sogar ein Beweis von Gott, dass wir nicht völlig in Sünde lebten.
 

Aber wie vernachlässigt vom erholsamen Schlaf ich mich auch gefühlt haben mochte, bei meinem Sohn war das mit Sicherheit nicht der Fall. Als wir uns zusammen zum Frühstück niederließen, begann er sich sofort fröhlich über Porridge und Tee herzumachen und vergnügt mit dem Füßen zu schaukeln, die immer noch viel zu weit vom Boden entfernt hingen. Ich war viel zu abgelenkt, als dass ich auch nur an seine Tischmanieren gedacht hätte, daher machte ich mir nicht viel Mühe ihn zu korrigieren. Der Kaffee war an diesem Morgen besonders stark, so als hätte Mrs. Hudson vorausgesehen, dass ich heute eine solche Substanz brauchen würde und ich trank ihn fast in einem Zug, während ich versuchte, meinem Körper dazu zu zwingen, die letzte Nacht zu vergessen.
 

Josh griff gierig nach einem Stück geröstetem Brot und während er daran kaute, starrte er mich mit seinen blendenden blauen Augen voller kindlicher Neugier an. Er platzte beinahe, so sehr wartete er darauf, dass ich mit ihm reden würde und schließlich hielt ich es nicht länger aus.
 

„Na gut, alter Junge, warum bist du heute so aufgedreht?“
 

„Nun…wir ziehen doch heute mit Inspektor Lestrade los, um den Fall zu lösen, richtig, Papa?“
 

„Oh, tun wir das?“
 

„Ja, das tun wir. Du hast dem Inspektor gesagt“—
 

„Ich habe sicher nichts davon gesagt, dass uns ein kleines Kind hinterher spazieren wird. Immerhin, Josh, das ist ein Mordfall“—
 

„Aber ich kann helfen, Papa!“
 

„Ja, ja…wir alle wissen, was für ein brillantes Kerlchen du bist. Holmes prahlt sicherlich genug damit herum. Aber du kannst uns dabei nicht helfen. Inspektor Lestrade und ich haben so schon genug zu tun, ohne dass wir auf dich aufpassen müssen.“
 

„Aber“—
 

„Ich habe nein gesagt, Josh!“ Ich schlug mit der Hand fest genug auf den Tisch, um es wirklich fühlen zu können.
 

Ich fühlte mich grausam genug, als ich das sagte, denn mein Ton war eher schroff. Außerdem verdammte ich ihn dazu, Mrs. Hudson einen weiteren Nachmittag beim Backen zu helfen, anstelle mich auf dieser Such zu begleiten, die er so verzweifelt aufnehmen wollte. Aber wie konnte ich ihm mit gutem Gewissen erlauben mitzukommen? Ein Kind seines Alters, ganz egal wie außergewöhnlich seine Fähigkeiten auch sein mögen, hat einfach nichts dabei zu suchen, wenn zwei Männer etwas so Zwielichtiges wie einen Mord besprachen.
 

Aber ich kannte ihn nicht länger und das vergaß ich. Das kleine Wesen, das beim Verlust seiner Mutter in meine Weste geschluchzt hatte und dann in die von Holmes, als er dachte, er hätte auch mich verloren, flackerte kaum noch in ihm auf. Er war nur zwei Jahre älter geworden, aber es hätte genauso gut eine Ewigkeit sein können. Er war immer noch ein Kind geblieben, aber es war ein Kind, das die Welt eher so sah, wie es ein junger Holmes getan hätte, der eher die Dunkelheit und die Schatten sah als die Unschuld. Ich konnte Holmes nicht die Schuld dafür geben, zumindest nicht gänzlich, denn ich war so nachlässig gewesen, dass ich es nicht erkannt hatte, bis zu dem Tag, als wir aus Cornwall zurückgekommen waren und in mir ein gefährlicher Verdacht zu keimen begann. Und nun weinte er nicht. Er war zornig.
 

„Du vertraust mir nie!“, tobte er, das Gesicht in tiefstem Karmesinrot. „Ich bin kein kleines Baby! Ich kann so brillant wie Onkel sein, aber du lässt mich ja nicht!“ Er sprang vom Tisch auf und mit einer Stärke, von der ich nicht gewusst hatte, dass er sie besaß, stieß er seinen Stuhl auf den Boden, was diesen laut gegen den Teppich knallen ließ. „Ich hasse dich!“ Er schrie laut genug, um selbst die Toten zu erwecken.
 

Ich war so entsetzt über seinen Wutanfall, dass ich zuerst einfach nur dasaß und ihn beobachtete. In der Vergangenheit hatte er niemals auf die Mittel zurückgegriffen, die andere kleinen Kinder benutzen, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wenn wir ihm überhaupt etwas beigebracht hatten, dann dass er seine Bedürfnisse in Worten ausdrücken sollte, anstatt herumzuwüten, mit Sachen um sich zu schmeißen oder sich anderweitig wie ein Rüpel zu benehmen. Er schien immer ein viel zu friedliches Wesen für solche Dinge gehabt zu haben und das ist vielleicht der Grund, warum ich so überrascht war.
 

„Was in Gottes Namen glaubst du eigentlich, was du da machst?“, frage ich, als die Überraschung verflogen war.
 

Er schien sofort zu erkennen, dass er etwas Falsches getan hatte, denn er hielt inne und wirkte so vollkommen schuldbewusst, dass ich mich beinahe ohne zu zögern ergeben hätte. Aber sicherlich konnte ich solches Verhalten nicht ungestraft davon kommen lassen. Was auch immer man mir sonst vorwerfen konnte, so wollte ich doch zumindest nicht, dass mein einziges Kind verzogen wurde. Ich packte ihn nicht allzu sanft am Arm und zog ihn zu mir. „So respektlos benimmst du dich vor deinem eigenen Vater? Bekommst einen Wutanfall und schmeißt mit den Möbeln um dich wie ein gemeiner Rüpel! Was für ein kleiner Prinz du geworden bist! Ich glaube, Holmes ist zu nachlässig mit dir umgegangen. Du bist mittlerweile ganz schön eingebildet, mein Junge!“
 

Er schien zumindest ein bisschen ängstlich, denn er versuchte von mir loszukommen. „Willst du mich schlagen?“, fragte er, aber mehr aus Ungläubigkeit denn aus Angst.
 

„Ich sollte es mit Sicherheit tun!“
 

„Warum?“
 

Ich zog fester an seinem Arm und er schrie auf. [1] „Du willst also mit diesen Frechheiten weitermachen, eh?“
 

„Ich hab doch nur nach dem Grund gefragt! Ich wollte doch nur wissen, warum du mich nie mitkommen lässt! Du und Onkel, ihr lasst mich immer zurück! Warum? Willst du nicht…“ Er hielt inne und ich konnte sehen, dass der Zorn nun verflogen war und einer wachsenden Traurigkeit Platz gemacht hatte, als seine Lippen zu zittern begannen, auch wenn er versuchte, es zu verbergen.
 

Ich ließ ihn los. „Was wolltest du sagen, Josh?“
 

Er sah weg und rieb seinen Arm. „Gar nichts.“
 

„Nein, sag es mir.“
 

Er holte zitternd Atem. „Du…du liebst mich nicht, nicht wahr? Du liebst nur Onkel. Ich habe darüber nachgedacht, mit so vielen Edduk—ich meine Deduktionen, wie ich nur konnte und es macht Sinn. Du willst, dass es nur ihr beide seid. Ohne mich.“
 

Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so fassungslos gewesen zu sein. Das gewaltige Entsetzen löschte jede Spur des Ärgers aus, den ich über sein Verhalten empfand und es tat mir Leid. So unglaublich Leid. Mir kam nicht einmal der Gedanke, dass er nur mit einem Trick versuchen könnte, die Schuld in mir zu wecken, denn niemand, nicht einmal ein Kind, könnte jemals ein solcher Schauspieler sein. Es war sein ganzer, voller Ernst.
 

„Du kannst das doch nicht wirklich denken.“
 

Er zuckte mit den Achseln. „Wieso sollte ich nicht?“
 

„Du bist mein Sohn! Mein einziges Kind! Wie könnte ich jemals…“ Ich schüttelte den Kopf, meine eigene Stimme war an jenem Zeitpunkt mehr als nur ein bisschen emotional. „Alle Väter lieben ihre Kinder. Ich habe dir mehr als einmal erzählt, wie überglücklich ich war, als ich herausfand, dass ich einen Sohn bekommen hatte, nicht wahr?“
 

„Ja, aber das war bevor…“
 

„Bevor was?“
 

„Als es nur dich und Mama und mich gab. Vor Onkel. Die Dinge stehen nun anders.“
 

Nein, das tun sie ganz sicher nicht! schrie meine Seele. Wenn es etwas gab, das ich mir mehr als alles andere wünschte, dann war es ein Gefühl von Normalität. Aber immer dieses Wort; ich fühlte es von Holmes, hatte es von Josh gehört und fürchtete es vor mir selbst. Anders. Ich war anders. Mein Leben war anders. Aber in Wahrheit war es nicht das anders das ich fürchtete, sondern das ungewöhnlich. Anders bedeutete, dass die Dinge ungewöhnlich waren, und auch nicht das, was sie sein sollten. Es gab keine Ordnung, es war nicht gesellschaftsfähig. Konnten solche Worte in dieser Situation, in der ich mich nun befand, überhaupt existieren? Ich wusste es nicht.
 

Mein Ärger hatte sich gelegt, aber ich weigerte mich immer noch, mich der Schuld zu ergeben. Ich hob den Jungen hoch und setzte ihn auf mein Knie, um ihm zu zeigen, dass alles vergeben war und sagte: „Ja, die Dinge sind anders. Nichts kann immer gleich bleiben, ganz egal wie sehr wir es uns auch wünschen mögen. Du bist anders, als du es beim Tod deiner Mutter warst, ebenso wie ich und in weiteren zwei Jahren werden wir wiederum anders sein. Aber manche Dinge werden sich niemals ändern, trotz der Umstände. Und auch wenn ich vielleicht…die kleinen Dinge nicht genügen würdige, die kleinen Veränderungen, die du durchmachst, heißt das nicht, dass ich dich nicht verstehe, oder dass ich es nicht zumindest versuchen würde. Oder besonders, dass ich dich nicht lieben würde.“
 

Ich war mir nicht ganz sicher, ob er mich verstanden hatte, aber nicht weil er nicht dazu in der Lage wäre, sondern vielmehr weil er, nun da er sich eine Meinung gebildet hatte, nun da er die gesuchte deduktive Antwort gefunden hatte, sie nun nicht mehr ändern wollte.
 

„Werden sich die Dinge wieder ändern?“, fragte er nach einem Augenblick höchster Konzentration. „Bald, meine ich?“
 

„Was genau meinst du mit ‚Dinge’?“
 

„U-um-umstände.“ Er strahlte, dass er es aussprechen konnte.
 

„Das kann ich nicht sagen, Josh. Wie Holmes uns ganz ohne Zweifel erklären würde, ist für die Fähigkeiten absolut hinderlich, wenn man ohne Daten theoretisiert.“
 

„Aber ich will nicht, dass sich irgendetwas ändert!“, erklärte er daraufhin recht anmaßend. „Jetzt wo ich weiß, wie die Dinge sind, will ich, dass alles einfach so bleibt, wie es ist.“
 

„Aber die kannst die Veränderungen nicht aufhalten. Es ist unvermeidlich. Du wirst erwachsen werden, zur Schule und an die Universität gehen, heiraten und eigene Kinder bekommen. Das werden große Veränderungen sein. Dein Onkel und ich werden älter werden und wir werden sterben und eines Tages wirst du dich selbst an meiner Stelle wieder finden, mit deinem eigenen Kind.“ Ich streckte die Hand aus um seine Wange zu streicheln, was er mir gestattete.
 

Er schien mir nicht zu glauben, denn ein misstrauischer Blick überkam ihn. „Aber Onkel kann nicht sterben! Er lebt ewig!“
 

„Oh, hat er dir das etwa erzählt?“ Ich fand den Gedanken mehr als nur ein wenig amüsant.
 

Er zuckte die Achseln. „Nein, ich denk’s mir nur.“
 

„Nun, ich hasse es zwar, dir deine Illusionen zu rauben, Junge, aber Sherlock Holmes ist so sterblich wie jeder andere. Egal was du – oder er – auch glauben magst.“
 

Mittlerweile war ich sicher, dass Josh mir nicht glaubte, denn der Ausdruck auf seinem Gesicht war eine vertraute Skepsis, so als ob alles, was ich sagte, zuerst seziert werden musste, um die Wahrheit dahinter zu entdecken. Keiner von uns würde weiter auf das Thema eingehen. „Tut mir Leid, dass ich frech war“, sagte er schließlich mit der Stimme des Jungens, den ich kannte. „Ich weiß, dass du mich liebst. Du musst es.“
 

„Ich tue es, ganz egal ob ich muss oder nicht“, erklärte ich ihm, während mich die Erleichterung durchflutete. „Und was auch immer dich in letzter Zeit so aus der Fassung gebracht hat, ich hoffe, du weißt, dass egal welche Veränderungen die kommenden Jahre für uns bereithalten werden, sich meine Liebe für dich nicht ändern wird. Genauso wenig wie die deines Onkels, würde ich meinen.“
 

Er nickte, aber sah aus, als ob er noch weit mehr zu diesem Thema zu sagen hätte. „Bedrückt dich sonst noch etwas?“, fragte ich.
 

„Nein, Papa. Nichts, das heute geklärt werden müsste.“
 

Ich spürte, wie der vertraute Schmerz der Unsicherheit in meinem Blut aufwallte, aber es war bereit zu viel geschehen, um es nun zur Sprache zu bringen. Was auch immer er noch wusste, was auch immer ihn noch bedrückte, konnte warten und ich konnte noch ein paar Augenblicke länger in Verleugnung leben.
 

Etwas war mit meinem Sohn geschehen, das erkannte ich mit Sicherheit. Denn was passiert war, war weit offensichtlicher gewesen, als jeder frühere Augenblick der Klarheit, der mir vergönnt gewesen war. Was ich allerdings nicht erkannte, war die Wichtigkeit jenes Frühstücks und der Worte, die es bestimmt hatten. Es war die erste von mehreren Auseinandersetzungen, die uns bevorstanden. Wenn ich es nur gewusst hätte.
 

Am Ende gab ich nach, wie ich gewusst hatte, dass ich es tun würde. Er hatte sich entschuldigt und auch wenn ich ernste Zweifel daran hatte, dass irgendetwas zwischen uns wirklich geklärt worden war, konnte ich nicht anders, als mich schuldig genug zu fühlen, um ihn mitkommen zu lassen. Aber es gab auch noch einen weiteren Grund dafür. Es widerstrebte mir, ihn so viel allein zu lassen wie in der Vergangenheit. Ihn zu beschäftigen, besonders an den seltenen Gelegenheiten, da ich von Holmes getrennt war, bedeutete, seinen Verstand auf andere Aufgaben zu lenken, als mein Leben und das von Holmes zu deduzieren. Denn ich wusste, dass er das tat. Und ich konnte nur hoffen, dass seine Schlüsse immer noch zu sehr von seiner Unschuld getrübt wurden, als dass er die Wahrheit erkannte.
 

Der Tag entsprach für meinen Geschmack viel zu sehr meiner Stimmung. Der Platzregen und das Brausen des gestrigen Tages schien nicht gehen zu wollen und auch wenn sich die schweren grauen Wolken noch würden öffnen müssen, war es unvermeidlich, dass sie es an einem gewissen Punkt tun würden. Der Wind pfiff in unseren Ohren und der verfaulte Geruch der Thames war besonders deutlich wahrzunehmen. Es war kein Tag, den ich freiwillig draußen verbracht hätte, in einer Straße von Whitechapel herumgewandert wäre, während ich mir darüber Sorgen machte, dass ich mein Kind den Abgründen des Lebens aussetzte und dabei immer noch versuchen musste die Teile eines dreißig Jahre alten Puzzles zusammenzusetzen. Aber genau das war nun mal die Situation, in der ich mich selbst wieder fand.
 

Die Horseshoe Alley lag in Whitechapel in der Nähe der Whitechapel Alley und Buck’s Row, dankenswerterweise näher an der Alley als an den schrecklichen Elendsvierteln von Dutfield’s und ähnlichem. Auch wenn es technisch gesehen eine Gegend der Mittelklasse war, mit anständigen Geschäften und anständigen Wohnhäusern, drängte sich trotzdem die Frage in meinen Kopf, Warum um Himmelswillen sollten die Davies’ hier ihre Weihnachtseinkäufe erledigen? Sie konnten sich mit Sicherheit die besseren und sicheren Teile der Stadt leisten.
 

„Papa?“, fragte Josh, während wir rasch von der Haltestelle der Untergrundbahn Richtung Lestrade und Horseshoe Alley gingen. „Wie wurde Onkels Schwester ermordet?“
 

„Sie wurde erschossen, fürchte ich…“
 

„Mit einer Pistole?“
 

„Es gibt sonst nicht viel“, sagte ich mit einem Lächeln.
 

„Doch, gibt es. Einen Pfeil. Oder ein Gewehr. Das ist nicht dasselbe wie eine Pistole.“ Er war nun an der Reihe über seine Brillanz zu lächeln, als er überlegen zu mir aufsah.
 

„Ich bin sicher, dass du das weißt, Josh. Komm mit.“
 

Wir fanden Lestrade ohne Schwierigkeiten. Er hielt ein Stück Papier in einer Hand und sein Blick wanderte langsam von einer Seite der Straße zur anderen, wobei er hin und wieder auf das Papier blickte. Die Straßen waren beinahe verlassen, was vermutlich teilweise an der Uhrzeit lag (während der Nacht wurden solche Ort immer wesentlich lebendiger) und teilweise an dem Wetter. Ich hatte sowohl mich als auch meinen Sohn in die wärmste Kleidung eingehüllt, die ich gefunden hatte, aber viele Bewohner der Gegend waren nicht so glücklich, als dass sie die Mittel dazu aufbringen könnten. Allerdings war der Inspektor trotz des Wetters so in seine Angelegenheiten vertieft, dass wir beinahe schon vor ihm standen, bevor er uns bemerkte.
 

„Sie hatten wohl einen produktiven Morgen, Lestrade?“, rief ich ihm freundlich zu.
 

Er nickte ohne viel Enthusiasmus. „Ich fürchte, das war er nicht wirklich, Doktor. Ich habe mir die Freiheit genommen, eine Karte anzufertigen, wie die Gebäude vor dreißig Jahren ausgesehen haben. Wie Sie sehen können, gab es viele Veränderungen, besonders bei den Geschäften auf der Ostseite der Straße.“ Er blickte mit einem müden Gesichtsausdruck auf, der vermuten ließ, dass seine Nacht nicht viel wohltuender gewesen war als meine eigene. Es überraschte mich einigermaßen, denn als ich ihn wegen des Falles angesprochen hatte, hatte ich von ihm keinen solchen Grad an Einsatz erwartet. War es der Wunsch, diesen einen Nachtmahr aus den Akten seines Vaters abschließen zu können? Oder eher etwas, wie schlussendlich doch noch in der Lage zu sein, Sherlock Holmes zu besiegen? Jenen einen Fall lösen zu können, der diesen Mann immer noch so sehr verfolgte, dass Lestrade schließlich das Gefühl haben konnte, sich für die Jahre von Holmes’ Hilfe revanchieren zu können.
 

Lestrade hätte auch eine Laufbahn als Kartograph einschlage können, wie ich herausfand, als ich ihm über die Schulter blickte. Er war präzise im Detail und kein schlechter Künstler, was ich ihm auch sagte, trotz der vielen Kleckse der achtlos geführten Feder.
 

Er lächelte mit Eleganz. „Ich bezweifle, dass meine künstlerischen Fähigkeiten uns heute von Nutzen sein werden. Bis vor ein paar Momenten hätte ich niemals gedacht, wie sehr sich diese Gegend verändert haben würde. Zum Beispiel dieser Laden hier…“ Er deutete in Richtung eines Bekleidungsgeschäfts nahe der Stelle, wo das Opfer zu Boden ging. „Und das Büchergeschäft drei Türen weiter unten, ebenso wie diese Wohnungen auf dieser Seite der Straße sind die einzigen Gebäude die gleich geblieben sind. Alle anderen haben sich verändert. Viele sogar mehrmals. Die Kneipe zum Beispiel, aus der unser theoretischer Schütze gekommen sein könnte, ist seitdem ein Restaurant, eine Pferdevermietungsstelle und eine Gaststätte gewesen und ist nun wieder eine Kneipe!“
 

„Es ist entmutigend“, stimmte ich ihm zu. „Es ist gut möglich, dass wir nichts erreichen können. Aber ich werde es zumindest versuchen.“
 

„Um alles am rechten Platz zu wissen, die Leiche sank hier zu Boden“, sagte Lestrade, während er hinüber zu jenem Teil der Straße ging und sich hinkniete. „Der Schuss kam irgendwo von Norden, wahrscheinlich nicht mehr als zehn Yards entfernt, wodurch es nahe der Kneipe sein müsste, wie ich sagte. Wie Sie sehen können, beginnt die Straße dort, wo die Leiche niederfiel, merklich anzusteigen und die einzige Mutmaßung, die in den Notizen erwähnt wurde – oder zumindest an die ich mich erinnere – war das die Neigung des Hügels für den seltsamen Einschusswinkel der Kugel verantwortlich ist.“
 

Der Boden sah völlig normal aus, so wie er sein sollte, auch wenn ich nicht anders konnte, als zu erwarten, dass das Kopfsteinpflaster noch immer mit frischem Blut bedeckt, dass dieser Ort für immer mit dem Leben dieses so einflussreichen Menschen beschmutzt wäre. Ich ließ meine Hand darüber streichen, aber spürte nur die kalte, schmutzige Struktur des Steins. Die Jahre hatten jedes Zeichen des Verbrechens, das hier begangen worden war, fortgewaschen. Nichts blieb als die verstreuten Aufzeichnungen eines pflichtbewussten Detektivs und die Narben des einen, der am meisten gelitten hatte.
 

„Kann er aus einem Fenster gekommen sein?“
 

Lestrade und ich drehten uns beide zu Josh um. Wir waren beide so in die Untersuchung der Stelle vertieft gewesen, dass keiner von uns an ihn gedacht hatte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich beinahe vergessen, dass er überhaupt da war.
 

„Was, Junge?“, sagte der Inspektor verwirrt.
 

Er deutete auf das Gebäude, das das Bekleidungsgeschäft beherbergte, eines von nur zwei, das im selben Zustand geblieben war wie vor dreißig Jahren. Sowohl Lestrade als auch ich hatten dem kleinen Finger hinauf zu dem Fenster im ersten Stock gefolgt, bemerkenswerterweise leicht geöffnet und mit einem Topf sterbender Blumen verziert. Ich stellte mir eine schattenhafte Gestalt vor, mit einem Revolver niedergekauert, die auf Philippa Holmes zielte und abdrückte. Wenn sie direkt unter dem Fenster gestanden hätten, wäre ein bizarrer Einschusswinkel entstanden.
 

„Nun, es macht Sinn, Lestrade“, sagte ich ihm.
 

Er schüttelte den Kopf. „Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass Sie ihn mitgebracht hatten.“ Er lachte und tätschelte seinen Kopf. „Gut gemacht, Master Watson! Aber ich fürchte, deine Theorie hat eine Schwachstelle. Wir haben mehrere Zeugenaussagen, denen zufolge der Schütze auf der Straße gewesen ist. Sie hörten den Schuss von der Straße.“
 

Josh zuckte angesichts dieses kleinen Details nur die Achseln. „Die Menschen lügen, Mr. Lestrade. Jeder lügt.“
 

Lestrade lachte leise. „Er ist so vollkommen zynisch, nicht wahr, Doktor?“
 

„Sie haben nicht die leiseste Vorstellung.“
 

„Ich kann mir sicherlich vorstellen, dass ein Leben mit Mr. Holmes bei jedermann so etwas auslösen kann, selbst bei einem Kind.“ Er wand sich an Josh. „Und auch wenn es sein mag, dass jeder lügt, wirst du an den Zeugenaussagen vielleicht weniger zweifeln, wenn du hörst, dass Mr. Holmes einer von denen war, die den Schützen auf der Straße gehört haben wollen. Tatsächlich glauben wir, dass er dem Mörder vielleicht am nächsten war. Er bestritt es zwar – zweifellos weil er sich schuldig fühlte – aber er war dem Schützen tatsächlich nahe genug, um Schmauchspuren auf seiner Wange davonzutragen.“
 

Ich war erstaunt. „Ich habe nichts Derartiges in den Aufzeichnungen ihres Vaters entdeckt.“
 

„Aber es muss irgendwo sein, Doktor. Ich kann mich lebhaft daran erinnern, dass mir mein Vater von diesem Jungen erzählte. Eine Zeit lang…“ Er räusperte sich und beugte sich weiter zu mir, als fürchte er, der Wind könnte mithören. „Eine Zeit lang wurde der junge Mr. Holmes verdächtigt.“
 

„Was!“
 

„Ich weiß, dass es der Logik widerspricht, wenn man es rückblickend betrachtet. Aber Sie müssen es aus dem Blickwinkel meines Vaters und Scotland Yard“—
 

„Er war ein Kind!“, rief ich ärgerlich. „Und er liebte diese junge Frau! Mehr als…mehr als jeden anderen.“
 

Lestrade stopfte seine Hände in die Taschen seines Mantels und ein wütender Ausdruck wuchs auf seinem Gesicht. „Kommen Sie, Dr. Watson, lassen Sie uns bei dieser Sache nicht so naiv sein. Ich sage ja nicht, dass ich Mr. Holmes für den Mörder halte oder auch nur dass mein Vater jemals mehr als den leisesten Verdacht hatte. Aber wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und können von diesem Mann nicht als Heiligem sprechen. Sie wissen ebenso gut wie ich, dass er sich jenseits des Gesetzes wähnt. Sie können nicht mit gutem Gewissen sagen, er hätte niemals das Gesetz missachtet, wenn es seinen Zwecken diente.“
 

„Aber er würde niemals“—begann ich.
 

„Er war ein aggressives Kind!“, rief Lestrade. „Aggressiv und seinen Jahren doch weit voraus. Sie wissen das! Er war dem Schützen nahe genug, dass er mit Schießpulver beschmutzt wurde. Er war der erste, der bei der Leiche ankam und er war mit ihrem Blut bedeckt. Und…und das ist das der vernichtenste Hinweis: er gab zu, dass er über die Hochzeit seiner Schwester wütend war.“
 

„Also hat er sie in seiner Wut getötet?“, schnaubte ich, während ich versuchte, meine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten, was keine leichte Aufgabe war. „Ich würde eher dazu neigen, dass Davies das Opfer gewesen wäre, wenn er tatsächlich jemanden getötet hätte und nicht Philippa.“
 

„Nicht unbedingt. Es ist meine Erfahrung, dass Menschen hin und wieder den Gegenstand ihrer Liebe töten, selbst wenn ein offensichtlicheres Ziel verfügbar ist. Es hat wohl etwas mit der Einstellung zu tun ‚wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich niemand haben.’“
 

„Das ist hier nicht der Fall gewesen, Lestrade, und Sie wissen das verdammt gut!“ Wie konnte er so etwas auch nur andeuten? Vielleicht würde er anders denken, wenn er wüsste, was ich wusste. Wenn er Mycroft Holmes’ Zeugnis über Sherlocks Zustand gehabt hätte…Und doch…plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, der mich beinahe anekelte. Was wenn sein emotionaler Ausbruch, den er gezeigt hatte, von etwas anderem hervorgerufen worden war als Trauer? Was wenn es Schuld gewesen war? Vielleicht war das der Grund, weshalb er niemals über ihren Tod hinweggekommen war. Schließlich wusste ich nur zu gut, dass die Reaktion, die er zeigte, ihm überhaupt nicht ähnlich sah. Ich sah mit leicht geöffnetem Mund zu Lestrade auf. Die Kälte schien sich verschlimmert zu haben und durchdrang meine Kleider. Mein Kopf begann sich zu drehen. „Nein, das kann nicht die Antwort sein. Das kann einfach nicht sein…“
 

„Vielleicht nicht“, erwiderte der Inspektor mit sanfter Stimme. „Aber Sie geben zu, dass die Möglichkeit besteht? Wir müssen tun, wozu uns Mr. Holmes so oft aufgefordert hat, Doktor. Und das bedeutet, unsere Gefühle beiseite zu legen, sodass wir klar sehen können. Wir dürfen uns keine Voreingenommenheit erlauben.“
 

Ich nickte, aber ich war mir nicht sicher, ob ich es auch so meinte. Es war die einzige Möglichkeit, die mir nun durch den Kopf ging. Ich drehte mich um und sah wie sich alles vor mir abspielte:
 

Ein kleiner, dunkelhaariger Junge mit den dumpfen, leeren Augen jener Fotografie stand vor mir. Das einzige Gefühl, das in ihm geblieben war, war Wut. Ich sah Philippa Holmes neben ihm und sie sprachen miteinander, auch wenn ich ihre Worte nicht hören konnte. Ein junger, hellhaariger Kerl sagte etwas zu Philippa und eilte dann in Wimboley’s Dry Goods. Der Junge und seine Schwester gingen ein paar Schritte weiter, aber nun stritten sie sich. Sie versuchte, ihn zu packen, aber er stieß sie weg. Die Straßen waren nun überfüllt. Ich verlor ihn aus den Augen. Sie rief ihm nach, aber er war fort. Ich rannte ihm nach, den Hügel hinauf. Ich musste ihn aufhalten. Er durfte es nicht tun.
 

Er hielt vor der Kneipe an. Eine Gedränge von Betrunken strömte aus der Tür heraus und einmal mehr verlor ich ihn. Ich riss meinen Kopf herum, um Philippa zu sehen, aber sie stand bloß vor dem Bekleidungsgeschäft und versuchte ihn zurückzurufen. Geht ihm nach! Flehte ich die Schatten an. Haltet ihn auf! Er weiß nicht, was er tut!
 

PENG!
 

Nein!, schrie ich. Gerade war sie noch voller Grazie da gestanden, nun sah ich die Kugel ihre Brust durchstoßen und das Blut spritze wie ein Geysir, als sie in sie eindrang. Sie fiel, jeder Ausdruck verließ ihr Gesicht in weniger als einer Sekunde. Ich drehte mich zurück zum Hügel um. Die Betrunkenen waren in Panik ausgebrochen und schrieen, nachdem sie den Schuss gehört hatten. Der Tumult ließ die Menschen in Deckung rennen. Es war unmöglich irgendetwas zu erkennen, als die Feiglinge, die die junge Lady in dem See aus Blut liegen ließen, um ihre eigene Haut zu retten.
 

Und dann sah ich ihn wieder. Er lief mit voller Geschwindigkeit auf sie zu. Aber da war etwas in seiner Hand. Etwas, das er hinten in eine Kutsche fallen ließ, als er daran vorbei rannte. Das nervöse Pferd warf seinen Kopf in die Luft, während es empfindlich versuchte, die Masse von fliehenden Menschen zu meiden. Nein…das konnte nicht sein.
 

Aber ich erkannte den silbernen Blitz als eine kleine Pistole mit kurzem Lauf. Er hatte sie gerade fallen lassen. Er erreichte die Leiche. Sie öffnete kurz die Augen und erkannte ihn. Ihre Hand bewegte sich in Richtung seines Gesichtes. „Du…warst es, Sherlock…“
 

Und dann war sie tot.
 


 

___________________________________________________________________________
 

[1] Okay, ich weiß, das hier widerspricht jedermanns Ideal von Watson als friedlich, sanft und einem großartigem Vater. Also falls ihr bis jetzt noch nicht bemerkt habt, dass er kein guter Vater ist, hier hab ihr es. Und ich weiß auch, wie grausam das alles klingt, aber ihr dürft nicht vergessen, dass das eine ganz andere Zeit war, in Eltern ihre Kinder hin und wieder schlugen. Immerhin ist das hier noch weit sanfter, als es die meisten Eltern waren.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück