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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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In jener frühen Stunde, als ich die untätige Kutsche nach Scotland Yard befahl, wirkte die Baker Street immer noch verschlafen und träge. Als ich die vorbeiziehende Szenerie beobachtete, schien es mir, als wäre an jenem Morgen die ganze Stadt müßig, niemand hatte es eilig, den Tag zu beginnen. Ich hoffte nur, dass unsere Polizei eine andere Einstellung hatte. Oder besser gesagt, ein bestimmter Mann dort.
 

Das New Yard [1] nahe der Thames war ein einsam aussehendes Gebäude, irgendwie hinter einem hohen Eisenzaun verborgen, der für mich charakterisierte, was seine Bewohner repräsentierten. Aber ich war dort nicht unbekannt und hatte keinerlei Probleme, Zutritt zu erhalten und eine Menge junger, dreister Polizisten auf der Suche nach dem Inspektor zu passieren.
 

Er war in einem Hinterzimmer, einer gewissen Art von Büro, aber einem, dass nur aus einem Schreibtisch und einem Stuhl bestand, ergänzt vielleicht noch mit ein paar in einer Ecke verstreuten Büchern und einem Abfalleimer voller Zigarettenkippen und Papiermüll. Der Mann, der den Stuhl besetzte, hatte sich weit nach vorn gebeugt, während er sehr schnell schrieb, wodurch er seine ohnehin schon befleckten Finger mit Tinte verschmierte. Die andere Hand war fest gegen den Kopf gelehnt, so als versuche sie, ihn aufrecht zu halten. Das Gesicht war zu einem müden Stirnrunzeln verzogen.
 

Den Regulären Streitkräfte ist kaum ein Vergnügen vergönnt, sagte Holmes einmal zu mir.
 

Nun, sie können ihrer Arbeit wohl kaum so grillenhaft nachgehen wie du, hatte ich geantwortet. Denk an das wuchernde Verbrechen.
 

Er grinste breit. Ja, ja! Das wuchernde Verbrechen! Ich betrachte es prozentuell. Ein höherer Verbrechensanteil würde auch eine höhere Chance auf interessante Fälle bedeuten. Vergiss das nicht, Doktor!
 

Ich streckte die Hände nach ihm aus. Ich denke, du bist wahrhaft verdorben, mein Lieber…
 

Ich habe Lestrade einmal mit einem fahlen, rattenhaftem Gesicht mit zwielichtigen, dunklen Augen oder ähnlich beschrieben. Und seine äußere Erscheinung ließ wirklich nicht unbedingt auf Geselligkeit oder Leutseligkeit schließen. Hätte ich den Kerl auf der Straße oder in einem Klub getroffen, hätte ich ihn wohl eher gemieden. Er kam mir einst wie die Verkörperung des schlimmsten Scotland Yarders vor – übermäßig von sich überzeugt, unverfroren und achtlos. Aber über die Jahre bin ich ein wenig weiser geworden (so hoffe ich zumindest) und mittlerweile weiß ich, dass es ungerechte Verurteilungen waren. In vieler Hinsicht war er ein typischer Yarder, aber seine Eifersucht auf die Fähigkeiten meines Freundes blieb nicht ohne Nutzen. Und mehr als alles andere gründete sich jene Eifersucht auf Respekt. Ich vermute, dass auch ich ein gewisses Maß daran für diesen Mann empfunden hatte. Andernfalls wäre ich wohl nicht dort gewesen.
 

„Lestrade?“
 

Er ließ seine Feder fallen und sah auf, während er sich die rotumrandeten Augen rieb. „Was gibt es?“
 

Ich konnte das Lächeln nicht unterdrücken. „Sie sind doch nicht zu beschäftigt? Ich wollte Sie nicht stören.“
 

„Nun…Dr. Watson! Was um Himmelswillen führt Sie hierher?“ Er streckte seine Hand aus, aber ließ die anderen zeitraubenden Begrüßungsformalitäten aus, was mir nur recht war. Wenn unsere Beziehung auch nicht eng war, kannten wir einander doch lang genug, um von diesen überflüssigen Nettigkeiten entbunden zu sein.
 

„Ich brauche Ihre Hilfe, Lestrade“, sagte ich, während ich mich auf den anderen Stuhl setzte. „Im Rahmen eins Falles.“
 

Ich hatte angenommen, er würde darüber herzhaft lachen und hatte mich damit nicht geirrt. Die spitze Nase und das spitze Kinn wurden in die Luft gehoben, als ein keuchendes Gegacker aus ihm hervorbrach; seine winzigen dunklen Augen strahlten mich an. Da erkannte ich, dass ich den Mann noch nie lachen gehört hatte. Es schien unbegreiflich, dass ein Yarder eine solche Emotion zeigen würde. Sie sollten die schleppende, geistlose Armee von Nagetieren sein, als die sie Holmes in meiner Gegenwart nur zu oft bezeichnet hatte. Auch wenn ich nun besser verstand, weshalb er so von ihnen dachte. Seine eigenen Vorurteile gegen sie hatten den niemals aufgeklärten Tod seiner Schwester zum Ursprung.
 

Und dann waren da natürlich meine eigenen Vorurteile. Die auf merkwürdige Art auf Lestrade reagierten. Abgesehen von Mycroft war er der einzige Mann, der Holmes länger kannte als ich. Und das gefiel mir nicht.
 

„Verzeihen Sie mir, Doktor“, sagte Lestrade. „Wirklich, verzeihen Sie mir, aber ich fand das einfach zu herrlich. Sie sind hierher gekommen, zu mir, wegen einem Fall. Warum zum Teufel sollten Sie das tun? Hat Mr. Holmes zu guter Letzt doch noch den Verstand verloren? Ich hatte schon immer den Verdacht, dass das eines Tages geschehen würde. Unter Genies grassiert eine gewisse geistige Zerbrechlichkeit, wissen Sie…“
 

„Das hat er mit Sicherheit nicht, Lestrade. Tatsächlich ist der Grund, weshalb ich zu Ihnen anstelle von Holmes kommen muss…nun, dieser besondere Fall betrifft ihn.“
 

Sein alter Stuhl knarrte, als er sich mit leicht geöffnetem Mund nach vorn beugte. „Ist das Ihr Ernst?“
 

„In der Tat. Oder eher, unglücklicherweise.“
 

Ich setzte mich dem Mann gegenüber und verbrachte die nächste Viertelstunde damit, ihm alles zu erzählen, was ich von Philippas Tod wusste – was zugegebenermaßen nicht gerade viel war. Nur was ich in Holmes’ Tagebuch gelesen hatte. Die Details schienen allerdings weit lebendiger, als ich sie einem anderen laut wiedergab. Die Kälte des späten Dezembermorgens, die Wut meines Freundes, das dichte Gedränge von Menschen, in der Straße wie Ratten zusammengepfercht, die Kugel die Philippas Körper und Sherlocks eigenes Herz durchbohrte. Es waren natürlich keine Namen genannt worden (mit Ausnahme von Davies), sodass ich damals noch keine Ahnung hatte, dass die Lestradefamilie in diesen Fall verwickelt gewesen war. Aber als ich mich dem Ende der Geschichte näherte, änderte sich der Gesichtsausdruck des Inspektors so dramatisch, dass ich fast von selbst darauf gekommen wäre.
 

„Mein Gott“, überlegte er, während er sich langsam erhob. „Was für ein unglaublicher Zufall.“
 

„Was…was?“
 

„Mein eigener Vater“, sagte er zu mir. „Der verstorbene Superintendant George Lestrade, senior. Er dürfte damals erst Inspektor gewesen sein, aber seine Taten sind ziemlich unübertroffen. Einige der älteren Kerle hier erinnern sich tatsächlich noch an ihn. Ich selbst bin ein robuster Anfänger gewesen, als er sich zur Ruhe setzte. Allerdings war es eben der Fall, dass ich schon in sehr jungem Alter zu meinem Vater als Vorbild aufsah, besonders in Sachen Verbrechensbekämpfung. Ich wusste schon ziemlich früh, dass ich so wie er dem Yard beitreten würde…und teilweise deshalb und auch weil ich der einzige Sohn war, besprach er seine Fälle hin und wieder mit mir. Einige blieben mir besonders wegen der Brillanz im Gedächtnis, mit der er sie aufklären konnte. Allerdings kann ich mich nur an einen einzigen erinnern, der ihn immer heimgesucht hat. Der Fall, vielleicht der einzige in seiner ganzen Laufbahn, den er nicht lösen konnte…“
 

Ich hatte Lestrades Erzählung mit einiger Aufmerksamkeit zugehört, aber es war dieser letzte Satz, der mich wirklich aufhorchen ließ. „Wollen Sie damit sagen, dass es Ihr Vater war, der die Untersuchung geleitet hatte? Die Untersuchung von Philippas Tod?“ Das Tagebuch hatte nur sehr wenig vom eigentlichen Mord berichtet, da es Holmes zweifellos schwer gefallen war, darüber zu schreiben. Er schrieb viel eher von einem separatistischen[2] Blickwinkel, als ob die Gedanken einfach frei von seinem Geist in die Feder fließen würden.
 

„In der Tat. Ich kann mich deutlich erinnern. Ich war ungefähr zehn Jahre alt. Vater…Mein Vater war ziemlich verzweifelt. Ein junges Mädchen, frisch verheiratet, schwanger. Eine dichte Menschenmenge und anscheinend hatte niemand viel gesehen. Es war wirklich bizarr…ich erinnere mich, dass er mir sagte, wie seltsam es wäre, dass bei so vielen Menschen niemand einen Mann mit einer Pistole bemerkt hatte. Allerdings handelte es sich um den Abschaum der Gesellschaft und sie sind nicht immer begierig, den Mund aufzumachen. Aber das wissen Sie natürlich bereits, Doktor.“
 

„Ja…“
 

Seine Augen streiften die schmutzige Zimmerdecke, während er sich in Erinnerungen versunken zurücklehnte. „Ich kann mich sonst nicht mehr an Vieles erinnern, fürchte ich. Es ist schon sehr lange her…außer an zwei Brocken von Information. Dort war eine Kneipe, sagte er, nur zehn Yard entfernt von der Stelle, wo die Leiche gestürzt war. Vater hatte immer geglaubt, der Mörder müsste ein betrunkener Wahnsinniger gewesen sein, der daraus getaumelt war. Außerdem konnte der Polizeichirurg feststellen, dass sie einmal getroffen worden war, durch das Herz, aber es war eine seltsame Wunde. So als ob ein sehr großer Mann sich über die Lady gebeugt und auf sie hinunter geschossen hätte…“
 

„Sie erinnern sich an eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass es dreißig Jahre her ist.“
 

„Ja, aber es war das erste Mal, dass Vater einen Mord mit mir besprochen hatte. Bis dahin wollte meine Mutter es nicht erlauben“, erinnerte er sich mit einem leichten Grinsen. „Nach dem Abendessen saß ich immer auf meinem Schemel im Salon, während Vater die Abendausgabe der Times las. ‚George’, würde er in seiner autoritären Stimme sagen. ‚Du muss ein besserer Mann werden als diese hier.’ Damit meinte er natürlich all die Kriminellen und die Verbrechen, über die an jenem Tag berichtet worden war. ‚Du musst ein besserer Mann werden und mir helfen, unsere Stadt zu einem sichereren Ort zu machen.’“
 

„Ich, äh, ich bin mir sicher, dass er stolz auf Sie wäre, Lestrade.“
 

„Ja…für Ihren gilt zweifellos dasselbe, Dr. Watson. Der berühmte Biograph des großen Sherlock Holmes!“ Ich war mich nicht sicher, ob in seinen Worten Zynismus mitschwang, aber ich ließ ihn in dem Genuss des Zweifels kommen.
 

Wir beide saßen daraufhin in einem Moment des Schweigens, während Lestrade sein Zigarettenetui öffnete und mir eine anbot, die ich höflich ablehnte. Ich konnte nur vermuten, dass wir beide an unsere respektierten Väter dachten. Er war sich sicher, dass der seine stolz sein würde. Und weshalb solle er auch nicht? Er hatte es bereits zum Inspektor gebracht, hatte schon eine große Anzahl von Fällen gelöst (was er nicht unwesentlich meinem Freund zu verdanken hatte) und er hatte Frau und Kinder. In gewisser Weise hatte auch ich all das erreicht. Ich hatte meinem Land gedient – sowohl medizinisch als auch militärisch, ich war durch meine Aufzeichnung von Holmes’ Fallen recht bekannt und ich hatte eine Familie.
 

Es war diese Familie, von der ich fürchtete, dass sie mich die Zufriedenheit meines Vaters koste würde.
 

„Ich erinnere mich auch, dass ein Kind daran beteiligt war. Jetzt, da ich darüber nachdenke… ja, das war es! Nun, es war Mr. Holmes!“ Lestrades Ausruf schreckte mich aus meinen Gedanken auf und er schlug aus Begeisterung über sein Erinnerungsvermögen auf den Tisch. „Vater hatte gesagt, dass die junge Lady mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen Bruder einkaufen war. Der Ehemann war in ein Geschäft gegangen, aber der Bruder war in der Nähe, als sie starb. Er war der Polizei gegenüber widerspenstig und ungestüm, wenn ich mich recht erinnere.“ Das brachte uns beide zum lächeln, wenn es auch ein trauriges Lächeln war. Mein armer Holmes…
 

„Ich habe keine Zweifel, dass er es war.“, sagte ich.
 

„Ich habe mich immer gewundert“, sagte Lestrade leise und wich meinem Blick aus. „Warum ein Mann, der sich so sehr für das Aufklären von Verbrechen interessiert, nicht der Polizei beitritt. Warum sollte er nicht? Es würde nur Sinn machen. Seine Methoden – gut, einige davon sind immer noch weit hergeholt. Aber wenn er nur lernen könnte korrekt zu arbeiten. Unter einem Vorgesetzten, mit einem Team…denken Sie nur, wie es unser Verständnis von Verbrechen und Verbrechern bereichern könnte! Wenn er nur…“
 

„Sie verstehen nun, warum er das nicht kann. Warum er es niemals tun wird.“
 

„Ja.“ Lestrade wirkte für einen kurzen Augenblick so verloren, als ob er gerade beinahe ein großartiges Geschenk bekommen hätte; als ob er es bereits in seiner eigenen Hand gehabt hätte, nur um zu erfahren, dass er es zurückgeben musste. „Ich kann es ihm nicht verübeln, Doktor. Wenn so etwas jemandem passieren würde, den ich liebe – meiner Frau, einem meiner Kinder…einem der Menschen, die ich am meisten liebe. Ich würde für immer dieses Misstrauen gegen die Behörden haben – gegen Scotland Yard – vielleicht bis ans Ende meiner Tage.“
 

„Vertrauen ist etwas, das leicht verloren und nur schwer aufrecht erhalten werden kann.“, erklärte ich ihm. Meine eigene Situation hatte mich das sehr deutlich erkennen lassen. „Sie dürfen das nicht persönlich nehmen.“
 

Lestrade schenkte mir dafür tatsächlich ein Lächeln und klopfte mir auf den Arm. „Ich halte es für nicht sehr wahrscheinlich, dass Ihr Partner und ich jemals eine Beziehung haben werden, der der Vertrautheit, die Sie beide teilen, auch nur nahe kommt. Aber ich respektiere ihn und hoffe, dass auch er mir mittlerweile zumindest ein wenig Respekt gegenüber bringt. Ich möchte Ihnen sehr gerne bei diesem Fall helfen, Dr. Watson. Schließlich hat Mr. Holmes sehr viel für uns getan – für diesen Kerl hier im Besonderen…nun, ich würde ihm gerne etwas Genugtuung verschaffen.“
 

Ich war erfreut. Sehr erfreut. Amüsiert und nervös angesichts der Ironie in den Worten des Inspektors, aber vor allem war ich zufrieden. Es gab natürlich keine Garantien. Wir waren beide vernünftig genug um zu erkennen, dass der Tod von Philippa Holmes Davies nach drei Jahrzehnten vermutlich für immer ungelöst bleiben würde. Aber solange die Chance bestand, dass Holmes den Fall, dessen Aufklärung er am dringendsten brauchte, in seinem Geist würde abschließen könnten, würde ich es zumindest versuchen.
 

Ich verließ Lestrade mit dem Versprechen, dass er alles, was er konnte, über die alte Untersuchung herausfinden würde.
 


 


 

Der Tag war feucht geworden, wie es in jenen letzen Herbsttagen nur zu oft geschah. Der Himmel war mit dichten Strömen grauen Wassers bedeckt und ich konnte den Wind und den Nebel kaum mit Blicken durchdringen. Die Kutsche fuhr langsam, suchte sich zollweise ihren Weg in Richtung Baker Street und ich war ziemlich durchnässt, als ich schließlich über die Schwelle der 221B schlenderte.
 

Ich hatte vergessen, wie früh ich aufgebrochen war und war einen Moment lang überrascht Holmes und meinen Sohn immer noch über ein träges Frühstück faulenzen zu sehen – Porridge für den Jungen, Kaffee und Tabak für den Mann. Die Unterhaltung brach ab, als ich eintrat und vier neugierige Augen betrachteten mich. Von den beiden war es ein Blick der Zuneigung, aber nichtsdestoweniger mit dem aufdringlichen Funkeln zweier Wissenschaftler, die ein kleines Insekt sezierten.
 

„Tss…wirklich, Watson, was beabsichtigst du, indem du so früh am Tag verschwindest und dann mit durchnässten Kleidern nach Hause kommst? Wie vollkommen unverantwortlich von dir! Nun, du könntest dich erkältet haben…“
 

„Und dann müsste er zum Arzt gehen, nicht wahr, Onkel?“
 

Seine spaßige Seite war etwas, dem ich immer öfter unterworfen wurde. Von beiden.
 

Die beiden lachten und ich ignorierte die Schwachköpfe, während ich den Rest meiner nassen Kleidungsstücke auszog und mich zu dem heißen Kaffe und Frühstück niedersetzte, die Holmes mir servierte. Als ich dank Mrs. Hudsons erfreulich starker Brühe wieder ausreichend warm war, sagte ich: „Ich hatte ein paar geschäftliche Dinge zu tun, die ich früh erledigen musste.“
 

Was du nicht sagst? Wie unerfreulich, dass es dich…so früh aus dem Bett getrieben hat.“
 

Ich konnte mich nur hastig räuspern, um ihn nicht anzulächeln. Ich schielte in den Dampf meiner Kaffeetasse. Seine Diskretion war kryptisch aber schwindend.
 

„Wo warst du, Papa? Du stehst nie früh auf. Zumindest war das nicht deine Gewohnheit…“
 

„Was glaubst du, wo er war, Junge?“, frage Holmes begierig.
 

Ich seufzte wütend. „Muss das sein? Muss ich wirklich dein Unterrichtsmaterial sein, Holmes?“
 

Eine Augenbraue wölbte sich, scheinbar überrascht. „Es ist alles im Dienste der Bildung, Watson. Du willst doch sicher, dass der Junge gebildet ist?“
 

„Vielleicht muss er in diesem Alter noch nicht ganz so gebildet sein. Zu viel Wissen ist gefährlich.“
 

Wenn Holmes die Bedeutung überhaupt verstand (ich konnte mir nicht vorstellen, dass er es nicht verstehen würde), dann ignorierte er sie völlig. „Pah!“, sagte er mit einem Wedeln seiner Hand. „Blödsinn!“
 

„Es ist mir sowieso egal!“, unterbrach Josh. „Es ist nicht wichtig, wo er gewesen ist. Nur dass er jetzt hier ist. Wir sind alle drei hier. Endlich.“ Er flüsterte dieses letzte Wort beinahe in die Überreste seines Frühstücks. Er schlürfte laut an seinem Tee in seinem kindlichen Versuch, uns vom Antworten abzuhalten.
 

Holmes’ Gesichtsausdruck wurde für eine Minute weicher, verwirrt, aber er erholte sich schnell. „Nun, nicht für lange, fürchte ich“, sagte Holmes. „Es scheint, als wäre ich für den heutigen Tag in die Downing Street gerufen worden…möglicherweise sogar für die ganze Woche, je nach dem, wie viele Mitglieder des Parlaments betroffen sind. Bruder Mycroft hat ärgerlicher aber vorhersehbarer Weise äußerst vage ausgedrückt.“
 

„Hast du einen neuen Fall?“, fragte ich mit einiger Aufregung.
 

„Eher weniger ein Fall, als ein wenig Beinarbeit vermischt mit gesundem Menschenverstand.“
 

„Ja, aber…soll ich dich begleiten?“
 

„Nein, nein…ich fürchte nicht. Auch wenn du von jedermann, besonders von mir selbst, als ein äußerst diskreter Gentleman angesehen wirst, ist dies eine einsame Aufgabe. Ich fürchte Mycroft würde auf diesen Punkt bestehen und es ist die unvermeidlichen Kopfschmerzen kaum wert, mit ihm darüber zu streiten. Nun, falls diese ärgerliche Angelegenheit mich länger als einen Tag in Anspruch nehmen sollte, werde ich in Pall Mall unterkommen. Für eure Sicherheit ist es besser, wenn ich es nicht riskiere, hierher beschattet zu werden.“
 

„Aber Holmes!“, rief ich. „Das klingt ausgesprochen gefährlich! Kannst du nicht…“
 

„Nein, ich fürchte, das kann ich nicht“, sagte er, während er langsam mit einem Lächeln aufstand. „Du darfst dir keine Sorgen um mich machen, Watson. Du hast hier deine eigenen kleinen Geheimnisse, die dich in Anspruch nehmen. Kümmere dich nicht auch noch um meine. Nun, wenn ihr mich entschuldigen würdet, ich habe wenig Zeit…“ Er rauschte daraufhin in sein Zimmer, nachdem er Josh kurz den Kopf getätschelt hatte und schlug die Tür hinter sich zu.
 


 

Josh stand vor dem Wohnzimmerfenster, dessen Vorhänge er beiseite gezogen hatte und starrte auf die kleiner werdende Gestalt von Holmes unten auf der Straße, einen Koffer in der Hand und den Kopf gesenkt. Ich konnte nur raten, zu welchem Abenteuer er auszog.
 

Ohne mich.
 

Mein Sohn sah eindeutig wie ein Bote der Apokalypse aus, wie er dort stand – das engelsgleiche Gesicht zu einem Stirnrunzeln verzogen, die Augen niedergeschlagen und eher grau als hellblau.
 

„Er wird zurückkommen, Sohn“, sagte ich zu ihm. „Du brauchst kein so melancholisches Gesicht zu machen.“
 

„Ja, aber…“ Seine Stimme verklang mit einem Seufzen.
 

„Aber was?“
 

Er blickte mit tief gerunzelter Stirn in meine Richtung. „Er ist gerade erst nach Hause gekommen. Und jetzt ist er schon wieder fort. Ich wollte, dass er…nun, dass ihr beide hier bei mir seid.“
 

„Das tut mir Leid, Josh“, sagte ich, nachdem ich einen Moment lang versucht hatte, ihn nicht so deprimiert zu sehen, wie er war. „Aber es ist nun mal so, dass Holmes und ich getrennte Leben führen müssen. Wir sind Mitbewohner und, und Geschäftspartner, aber das ist alles – wir haben unsere eigenen getrennten Leben zu leben.“ Ich erkannte nach einem Moment, dass ich gerade zweimal ‚getrennte Leben’ in ebenso vielen Sätzen gesagt hatte. Ich bin mir sicher, dass ich beunruhigt errötete.
 

Aber es war unnötig. Josh nickte bloß, ohne etwas dazuzusagen und fuhr mit dem Starren fort. Er hatte gesagt, dass er uns alle drei hier haben wollte. Konnte es sein, dass er das nur mir zuliebe gesagt hatte? Es schien sicherlich so, als ob Holmes der einzige Mensch war, den er hier haben wollte.
 

„Und schließlich, Sohn, hast du immer noch deinen alten Vater hier bei dir…“
 

Er sah mich gleichgültig an. „Ja. Ich weiß.“
 

„Vielleicht würdest du gerne eine neue Geschichte anfangen? Ich fand wirklich, dass deine letzte brillant war.“
 

Nun schien er immerhin aufzuhorchen. „Wirklich?“
 

„In der Tat. Du hast viel Talent. Vielleicht wirst du einmal Schriftsteller. Das ist sicherlich keine Schande.“ Ich lächelte und deutete auf unseren Stapel alter Strands auf dem Regal.
 

Aber irgendetwas in diesem Satz bekümmerte den Jungen. Einmal mehr runzelte er die Stirn und kehrte zu seiner Wache am Fenster zurück. „Nein…ich kann kein Schriftsteller sein…“
 

„Warum um Himmelswillen nicht?“
 

„Ich soll so wie Onkel werden. Ich will so sein.“
 

Ich setzte mich aufrechter hin. „Um Gotteswillen, Josh! Du sollst das werden, was du werden möchtest. Ich weiß, dass du…deinen Onkel sehr gern hast. Dass du ihn respektierst und all das. Und das ist schön. Aber er kann nicht festlegen, was du werden sollst, wenn du für etwas anderes bestimmt bist.“
 

Josh zeigte eine Art Achselzucken und drehte sein Gesicht weiter von meinem weg, sodass ich nicht länger seine Augen sehen konnte. Ich bin mir sicher, dass sie immer noch grau waren. Er schien direkt vor meinen Augen zu altern. „Ich glaube, dass kann er, Sir“, sagte er schließlich. „Und vielleicht will ich es auch zulassen.“
 

Ich erinnere mich, hastig geblinzelt zu haben. Was für eine seltsame Aussage! Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Aber es war klar, dass der Junge nicht mehr reden wollte. Unsicher, was ich sagen sollte, überließ ich ihn seiner Trauer, während ich mit einer angezündeten Pfeife ins Feuer starrte. Schließlich hatte ich keinen Grund, mich schuldig zu fühlen. Mein eigener Vater hatte an meinem Leben weit weniger teilgehabt als ich an Joshs. Und wegen seiner seltsamen Bewunderung für Holmes…nun, es gab sicher schlechtere Vorbilder, die er sich für seine Heldenverehrung aussuchen könnte. Ich kann zwar nicht sagen, dass ich wollte, dass der Junge in jeder Hinsicht wie Holmes werden würde, aber ich wollte auch nicht, dass er in mancher Hinsicht wie ich werden sollte. Ich blickte zu dem Jungen hinüber. Er hatte den Vorhang losgelassen und sich selbst mit einer alten Strand-Ausgabe auf das Sofa fallen lassen. Das ließ mich lächeln und ich versuchte, nicht an alles andere zu denken. Auch abgesehen von Josh hatte ich immer noch genug Probleme.
 


 

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[1] Das ‚New’ Scotland Yard, wie es manchmal immer noch genannt wird, zog 1890 von Whitehall 4 nahe des eigentlichen Scotland Yard in die Nähe der Thames.
 

[2] Heutzutage würde man es Bewusstseinsstrom nennen. James Joyce war der Pionier in diesem Schreibstil.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Rose-de-Noire
2007-10-26T23:56:45+00:00 27.10.2007 01:56
Wow! Was für eine Brillante Story. Habe in den letzten paar Tagen jede freie Minute am Kompi verbracht-und jede davon genossen-in denen ich gelesen habe.
Geht sie noch wieiter? Wird sie zu endegeführt? Bin sehr gespannt! Danke für die geniale Übersetztung(in englisch hätte ich nicht genug Geduld gehabt).
Grüsse Rose


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