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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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Als ich in mein Zimmer im Holmesanwesen zurückkehrte, war ich völlig verwirrt. Meine Unterhaltung mit Mycroft war schon verblüffend genug gewesen, aber nun, da dem Ganzen auch noch Lestrade hinzugefügt worden war, wusste ich wirklich nicht mehr, was ich denken sollte. Lestrade wusste etwas, etwas über Sherlock, etwas, das seinem Bruder zufolge irgendetwas mit einem Fall zu tun hatte, den er niemals aufnehmen würde. Auch wenn es stimmte, dass Lestrade Holmes tatsächlich schon länger kannte als ich selbst, konnte ich mir nicht vorstellen, was das sein sollte.
 

Ich war mittlerweile an dem Punkt, Holmes mit meiner Verwirrung zu konfrontieren, als ich erkannte, dass ich keine Ahnung hatte, wo er war. Er war nicht in meinem Zimmer und auch nicht mehr in dem Zimmer, in dem wir die Nacht verbracht hatten. Ich verbrachte eine ausnehmend ungemütliche Stunde damit, das ausgedehnte Haus zu durchsuchen, aber es nütze nichts. Schließlich befragte ich die Diener – dieselbe mürrisch dreinblickende Köchin vom letzten Abend und einen unbeständig wirkenden Angestellten, ob sie ihn gesehen hatten. Sie hatten.
 

„Er sagte nur, dass er das Pferd ausleihen wollte, Sir“, sagte der Kerl. „Is’ kein wirklich gutes Tier, aber ich hab’ ihm gesagt, dass es ihn nach Wadebridge und zurück bringen würde.“
 

„Er wollte nach Wadebridge?“
 

„Ich nehme es an, Sir.“
 

Ich konnte mir nicht vorstellen, was um Himmelswillen er dort wollte, besonders an einem Tag wie diesem. Wenn ich überhaupt etwas sicher wusste, dann dass er sich danach sehnte, dass all das endlich vorüber sein würde. Als er als Kind gegangen war, hatte er nicht die Absicht gehabt, jemals zurückzukommen. So viel war völlig klar gewesen. Es war das Einzige, was klar gewesen war.
 

Er war immer noch nicht zurückgekehrt, als der Leichenwagen schließlich am Haus ankam. Ich sah nicht zu, wie der Sarg in dem Glashaus platziert wurde, aber es war klar, dass Mycroft nur bescheidene Ausgaben aufgewandt hatte (zweifellos auf den Wunsch der Verstorbenen). Nur ein Pferd mit den traditionellen schwarzen Straußenfedern zog den Wagen und es gab nur zwei weitere für die Trauergäste. Mir wurde ein schwarzes Band für meinen Zylinder gegeben und ich versuchte, nicht fehl am Platz zu wirken, als wir still zur nächsten Kapelle fuhren. Einmal sah Mycroft mich an, als wollte er etwas sagen, aber er tat es nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er erkannt hatte, dass ich nicht wusste, wo sein Bruder war.
 

Der Gottesdienst war kurz und es sprach niemand außer jenem einen verhutzelten alten Vikar, den man kaum verstehen konnte. Die Kapelle war tödlich kalt und ich wünschte mir nur, dass es endlich vorbei sein würde, damit ich diesen gottverdammten Ort verlassen konnte.
 

Das Begräbnis war für hinter der Kapelle vorgesehen. Das überraschte mich nicht. Mycroft als der Hauptleidtragenden folgte dem Sarg feierlich mit gefalteten Händen, aber zeigte kaum Emotionen. Es waren nicht viele andere da und niemand, denn ich mit Sicherheit einordnen konnte. Ein paar ältere Damen, die irgendwelche Verwandten zu sein schienen, ein paar neugierige Einheimische vielleicht, der uralte Vikar und ein paar andere Gemeindemitglieder – vielleicht. Sie alle waren von fortgeschrittenem Alter, was mir seltsam vorkam, auch wenn ich nicht genau sagen kann warum. Vielleicht war es, weil ich mir selbst ohne Holmes so fehl am Platz vorkam. Ich hatte die Verstorbene noch nicht einmal gekannt, sah man von Holmes’ Geschichte ab und von dem, was ich darin gehört hatte, würde es von mir keine Trauer geben. Ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich über ihren Tod nicht betrübt war. Ich denke, es ist gerecht, zu sagen, dass sie für das abscheuliche Verhalten ihrem Sohn gegenüber ihr Leben schon lange genug genossen hatte.
 

Der Vikar führte uns zu einem Friedhof hinter der Kapelle, einem alten Friedhof mit Gräbern so antik, dass die Grabsteine oft unlesbar und schief waren, bedeckt mit den braunen und grünen Unkraut vieler Jahre. Die letzten Gebete begannen, während ich mit gesenktem Kopf neben Mycroft stand und versuchte, ebenso sachlich wie er auszusehen, aber mein Verstand konnte nicht aufhören, zu überlegen, wo sein Bruder war. Ich konnte nicht anders, als mich aus den Augenwinkeln umzublicken, in dem Gedanken, dass er jeden Moment auftauchen könnte. Er tat es nicht. Die Gebete endeten und sobald die Damen gegangen waren, nahmen zwei kräftige Kerle ihre Spaten auf, um den Eichensarg mit Erde zu bedecken.[1] Mycroft seufzte tief, aber ich konnte nicht sagen, war es nun Trauer oder Erleichterung darüber, dass es nun vorbei war. Ich hätte ihm beinahe meine Hand auf die Schulter gelegt, aber besann mich letzten Endes doch anders. Er war nicht sein Bruder. Ich hatte bereits alle Schwächen gesehen, die ich an diesem Holmes sehen würde.
 

Das Begräbnis war somit beendet und die Freund und Verwandten zerstreuten sich langsam. Ein paar sprachen mit leiser Stimme zu Mycroft, aber er tat wenig mehr, als zu nicken und sich mit grimmigem Gesicht umzusehen. Ich wage zu sagen, dass ich wusste, woran er dachte. Er würde ziemlich wütend auf seinen Bruder sein, sollte dieser jemals die Absicht haben, zu erscheinen.
 

Unsicher, was von mir erwartet wurde, wanderte ich auf dem Friedhof umher, dessen Namen und Daten mich irgendwie faszinierten. 200 Jahre Geschichte oder mehr lagen hier, vergessen, zu Trümmern herabgesetzt. Es war schwer, sich vorzustellen, dass sie alle vor langer Zeit menschliche Wesen mit Familien, Leben, Hoffnungen und Träumen gewesen waren. Da war die Lammstatue eines kleinen Mädchens – nur vier Jahre alt, ein Opfer von Typhus oder Cholera, würde ich sagen, denn beide gingen in dieser Gegend um. Neben ihr lag eine ganze Familie – Vater, Mutter und drei Kinder, keines von ihnen älter als zehn – alle in den 20ern verstorben und unter demselben Grabstein beigesetzt. Dies betrübte mich umso mehr, da mir der Gedanken an meine eigene Familie, die zwischen Kent und London verstreut lag, sofort in den Sinn kam. Holmes war alles, was ich noch hatte. Holmes und Josh. Vielleicht war das der Grund, warum ich so wütend auf ihn war und ihm gleichzeitig doch nicht wütend sein konnte.
 

Schließlich sah ich ihn, von allen Orten ausgerechnet am Grab seiner Mutter. Zuerst war ich nichts als wütend, weil ich Mycroft versprochen hatte, seinen Bruder herzubringen und er einfach spurlos verschwunden war. Aber bevor ich mit rotem Kopf und beißender Zunge hinübertrotten konnte, sah ich den älteren Holmes neben ihn schlenderte. Ich hielt es nun unhöflich, sie zu unterbrechen und blieb deshalb wo ich war – größtenteils hinter einer großen Engelsstatue verborgen, die reich an Details aus weißem Marmor gemeißelt worden war.
 

„Nun, Bruder“, sagte Mycroft ruhiger, als ich es erwartete hätte. „Du bist also doch noch aufgetaucht. Zu spät, um den Eindruck von Respekt und Höflichkeit zu erwecken, aber nicht zu spät für deine eigenen Absichten.“
 

„Du sprichst, als ob diese weibischen Großtanten, senilen alten Kumpanen und ignoranten kornischen Bauern irgendeinen Einfluss auf deine Karriere hätten. Ich würde meinen, dass jeder Mann im Parlament, ebenso wie jede Frau in Windsor Castle, sich an Mycroft Holmes als den größten Verstand des späten 19. Jahrhunderts erinnern wird.“
 

Der ältere Holmes ließ ein lautes Schnauben verlauten, auch wenn es schwierig zu sagen war, ob es Eitelkeit angesichts dieser übertriebenen Aussage oder einfach nur Ärger war. Beides war gleichermaßen wahrscheinlich.
 

„Du scheinst zu denken, dass meine Befürchtungen unangebracht und übertrieben sind, Sherlock, und nur daher rühren, weil ich mich um meinen eigenen Ruf sorge“—
 

„Ganz im Gegenteil, Bruderherz, ich denke, du sorgst dich außerdem um deine Stelle, deinen Klub und deine Verbindungen zu den erlesensten Londoner Restaurants.“ Er lachte leise und kümmerte sich nicht darum, dass sein Bruder ganz offensichtlich nicht zum Scherzen aufgelegt war.
 

„Behandle mich nicht so herablassend! Ich muss dich wohl daran erinnern, dass ich es gewesen bin, der es akzeptiert, ja sogar ermutigt hat, dass“—
 

Sherlock machte auf einmal eine ruckartige Bewegung nach vorne, wobei seine Hand seinen Bruder an der Schulter packte. Da er mir den Rücken zuwandte, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber sie begannen, sich in leisem Flüstern zu unterhalten. Was auch immer Mycroft hatte sagen wollen, blieb unausgesprochen. Gleichgültig über meine Scham lehnte ich mich weiter nach vorn und versuchte etwas zu verstehen, konnte aber nur ihr mehrmaliges Kopfschütteln ausmachen.
 

„Du bist dir klar, dass du mit Schwertern jonglierst?“, fragte Mycroft schließlich wieder in normaler Lautstärke. „Und das Newtons Theorie unweigerlich ins Spiel kommen muss? Ich meine damit natürlich, dass diese Schwerter sich schließlich der Gravitation unterwerfen müssen, auf die selbst du keinen Einfluss hast.“
 

„Dein Verstand sieh nicht alles, Bruder.“ Sherlock Tonfall war absolut endgültig. Eine Schlange hätte diese Worte ausgesprochen haben können.
 

Vielleicht war es die Schuld, die ich über das empfand, was ich tat – lauschen – die mich davon abhielt, zu versuchen, die Bruchstücke ihrer kryptischen Unterhaltung zu ordnen.
 

Obwohl er den Eindruck von Anstand und Normalität vermittelte, vergab Mycroft, so schien es, seinem jüngeren Bruder stets dessen Diskretion. Ich fand es höchst ironisch, dass die Öffentlichkeit dem älteren Holmes offensichtlich den größten Respekt entgegenbrachte, denn ich wusste, dass er – beizeiten – die britische Regierung war. Und doch war er weit vom Durchschnitt entfernt. Er war das Gründungsmitglied eines Klubs, der seinen Mitgliedern verbot, miteinander zu sprechen; er war völlig un-sozial, un-sportlich und sogar un-konventionell. Wurde immer noch vom Geist der einzigen Frau heimgesucht, die er sich jemals zu lieben erlaubt hatte. Er würde niemals heiraten, niemals eine Familie gründen, sich niemals auch nur wirkliche Freunde erlauben…
 

Ich hielt inne, entsetzt über meine eigene Analyse. Vielleicht ähnelten sich die beiden Männer mehr, als ich erkannt hatte. Tatsächlich war der einzige wirklich Unterschied, den ich benennen konnte, die Tatsache, dass Sherlock alles riskiert hatte, indem er gestanden und mir vertraut hatte; Mycroft würde dieses Risiko nicht eingehen, nun da Jane verloren war.
 

In jenem Moment taten sie mir Leid. Einen so starken Verstand – und auch Körper – zu besitzen, aber ein so zerbrechliches Herz, dass dessen eisiger Stoff jeder Zeit in eine Million Stücke zerbrechen konnte.
 

Irgendwann während meiner Überlegungen war Mycroft verschwunden. Ich hatte plötzlich Angst, entdeckt zu werden, deshalb versuchte ich ihn bei den kleinen schwarzen Gruppen rund um die Kapelle auszumachen, aber das Familienmerkmal der Heimlichkeit schien ins Spiel gekommen, denn er war wie vom Erdboden verschluckt.
 

Sherlock starrte wütend auf das jüngste Grab in Bodmin Moor. Oder vielleicht ist ‚wütend’ nicht das richtige Wort. Es wäre möglich, dass ich meinen eigenen Willen auf ihn projizierte, dass ich wollte, dass er wütend war. In Wahrheit war sein Gesicht vermutlich wie aus Stein, gefühllos, völlig gefasst. Seine Worte, als sie ausgesprochen wurden, schienen in Wut gesprochen. So kam es mir vor. Aber glauben Sie mir, dass ich wusste, sie wurden in völliger Gleichgültigkeit ausgesprochen.
 

„Nun, Mutter, schließlich sind Sie fort. Es gab eine Zeit, da ich wider besseren Wissens glaubte, Sie seien eine Kreatur jenseits von Leben und Tod. Ein Wesen, das schon immer existiert hatte und es auch für immer tun würde. Ihrem Gott ist es gelungen, Sie eine ganze Zeit lang am Leben zu lassen, nicht wahr? Aber am Ende haben Sie Ihren eigenen Willen bekommen. Genau wie im Leben. Ich will, dass Sie zwei wichtige Dinge wissen, meine liebe Mutter. Erstens bin ich heute nicht um Ihretwillen sondern wegen Ihres anderen Sohn gekommen. Er hat sein Bestes getan, um mich zu beschützen und ich schulde ihm dafür eine gewisse Loyalität, auch wenn ich mir nicht die Mühe mache, das zuzugeben. Zweitens will ich, dass Sie wissen, dass ich Erfolg habe. Sicher nicht wegen Ihnen, aber auch nicht Ihnen zum Trotz. Ich habe Erfolg, weil ich es so entschieden habe. Jahrelang hatte ich gedacht, Sie hätten gesiegt. Tatsächlich hätte ich Ihnen den Sieg beinahe überlassen. Aber zum ersten Mal seit Philippas Tod habe ich etwas, das mich glücklich macht. Nicht nur etwas, um mich abzulenken, bis mein Leben vorüber ist, so wie bei Mycroft, sondern etwas, das mein Leben lebenswert macht. Sie würden sagen, ich sei auf dem Weg zu Satan. Sie würden das ohnehin behaupten, aber wenn Sie von meinem momentanen Leben wüssten, würden Sie sicherlich denken, auf mich warte ein Jenseits voller Feuer und Schwefel. Es liegt mir nicht, über so etwas nachzudenken. Theologie hat mich noch nie interessiert. Vielleicht weil sie mir als Kind mit Gewalt in den Rachen geschoben wurde oder vielleicht weil sie unsicher, sinnlos und unwissenschaftlich ist und für mich keinerlei Nutzen hat. Aber das hat nur wenige Auswirkungen. Ich werde das Risiko eingehen. Und wenn Sie es an einen Ort geschafft haben sollten, von dem aus Sie mich jetzt hören können, dann will ich, dass Sie das wissen. Sie haben niemals irgendetwas über mich gewusst, also sollen Sie zumindest das wissen.“
 

Er hielt inne und senkte leicht den Kopf. Für eine Minute schien seine Hand bereit, sich nach dem Grabstein auszustrecken und ihn zu berühren, aber schließlich tat er es doch nicht. Holmes bekreuzigte sich rasch und wand sich dann ab, schien fast zu rennen. Das war das Äußerste, was er jemals mit seiner Mutter an Frieden schließen würde. Meines Wissens würde er niemals wieder von ihr sprechen.
 

Bevor ich auch nur die Zeit hatte, mich umzudrehen, um zu sehen, wo er war, erschien er mit einem breiten Grinsen direkt vor mir. „Hallo, Doktor. Suchst du etwa nach mir?“
 

Ich war so überrascht, dass es, als mein Herz endlich seinen normalen Rhythmus wieder gefunden hatte, für eine scharfe Erwiderung schon zu spät war – sei sie nun intelligent oder auch nicht. „Wo zum Teufel bist du gewesen?“
 

„Oh, komm schon, Watson. Ich bin von meinem Bruder schon genug ausgeschimpft worden, ich brauche dasselbe jetzt wirklich nicht auch noch von dir zu hören.“ Er legte seinen Arm um meinen und führte mich mit einem enthusiastischen Ruck in Richtung der Kapelle.
 

„Wie war der Gottesdienst?“
 

„Du wüsstest es vielleicht, wenn du dir die Mühe gemacht hättest, dran teilzunehmen.“
 

Schon wieder dieses Lächeln. Aber er weigerte sich, beleidigt zu sein, selbst an jenen seltenen Gelegenheiten, wenn ich es darauf anlegte. „Ich bin überzeugt, dass mein Bruder eine einmalige Darbietung des trauernden Sohnes zum Besten gab. Ich kam seinetwillen nach Hause, aber ich habe nie versprochen, mich selbst solchen Qualen wie der eigentlichen Zeremonie auszusetzen. Ich werde kurz die Hand jedes meiner uralten Verwandten schütteln, der es schafft, bis zu unserer Abreise am Leben zu bleiben und ihnen für ihr unangebrachtes Mitgefühl danken, aber das ist alles. Es gibt für mich keinen Grund, jemals wieder an diesen Ort zu denken.“
 

Bevor wir den schaurigen Grund des Friedhofs verließen, hielt er einen Moment inne, um auf etwas in der Ferne zu starren, in der Nähe des Grabes seiner Mutter. „Wo siehst du hin?“, fragte ich ihn, während ich es zu erkennen versuchte.
 

„Nirgendwo.“ Er drehte sich schnell weg, um meinen Arm wieder aufzunehmen und sagte für mehrere Augenblicke gar nichts. Erst später würde ich erkennen, dass es genau das Grab mit dem weißen Marmorengel gewesen war, hinter dem ich mich versteckt hatte, um die beiden Brüder zu belauschen, unter dem Philippa Davies Holmes zur letzen Ruhe gebettet lag. Ich würde es erst viele Jahre später wiedersehen, aber danach würde ich es sehr oft besuchen und Blumen dorthin und auf das Grab daneben bringen. Ich wusste sogar damals, dass dies der Ort war, an dem er die Ewigkeit verbringen wollte.
 

Mycroft schien den Rest der Zeit, die wir in Cornwall verbrachten, was nur noch ein paar Stunden waren, aufrichtig zu trauern. Wohin auch immer Holmes in jenen fehlenden Stunden gegangen war, ob er wirklich in Wadebridge oder an einem anderen Ort gewesen war, er hatte zumindest Rückfahrkarten besorgt und wir würden mit dem 1:14-Zug nach Victoria aufbrechen und rechtzeitig für ein spätes Abendessen zuhause eintreffen. Tatsächlich hatte er drei Karten besorgt und Sherlock versuchte (wenn er auch nicht mit besonders viel Herz bei der Sache war) seinen Bruder davon zu überzeugen, mit uns nach London zurückzukehren. Er weigerte sich mit einem Schütteln seines gewaltigen Kopfes. „Es gibt hier noch zu viel zu tun“, sagte er mit dünner Stimme. „Das Anwesen muss noch katalogisiert, die Diener entlassen, das Testament verlesen und die Schulden getilgt werden. Das alles bleibt selbstverständlich mir überlassen.“
 

Ich denke, dass Sherlock für eine Sekunde beinahe bereit war, noch ein oder zwei Tage hier zu bleiben, nur seinem Bruder zuliebe. Für eine Sekunde wurden seine Gesichtszüge weicher, aber dann denke ich, dass die Geister des Hauses wieder nach ihm riefen und er erschauderte leicht. „Ich habe keinerlei Zweifel, dass du dazu in der Lage bist, Bruder. Schreib mir, falls es etwas gibt, das ich tun könnte…oh, und wegen dem Testament…“
 

„Hast du tatsächlich die Unverfrorenheit“—
 

Sherlock hob die Hand. „Ich habe tatsächlich die Unverfrorenheit, dir zu sagen, dass – auch wenn ich stark bezweifle, dass Mutter tatsächlich so nachlässig wäre, mich in dem Testament zu bedenken – falls es geschieht, dass das Anwesen gesetzlich zwischen beiden Brüdern aufgeteilt wird, du gerne jedes einzelne Pfund davon für Portwein und Curryhühnchen ausgeben darfst. Ich will nichts.“
 

Mycrofts Lippen kräuselten sich und es schien offensichtlich, dass wie an so vielen Tagen ein weiterer Krieg zwischen den beiden Brüdern stattfinden sollte. Aber stattdessen geschah nichts. Der ältere Bruder nickte nur, winkte uns zu gehen und sagte nichts mehr. Ich erinnerte mich daran, wie er an eben jenem Morgen geredet hatte. Ich fragte mich, ob es Sherlock jemals bewusst war, dass es eine Seite an seinem Bruder gab, die nicht aus Stein war.
 

Während der ganzen Kutschenfahrt von Bodmin Moor nach Wadebridge, schien mein Freund tief in Gedanken versunken. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, beobachtete ich ihn, tief in seine Gedanken versunken. Sein Gesichtsausdruck war klar, aber sein Blick schien losgelöst, bewegte sich schneller vor und zurück, als sich die Räder unseres Wagens drehen konnten. Ich konnte beinahe in seine Gedanken blicken. Er dachte darüber nach, was in den letzten beiden Tagen geschehen war, besonders in der letzten Nacht. Vielleicht erinnerte er sich auch an all jene Dinge aus seiner Kindheit, die er mir nicht erzählt hatte, all jene Dinge, die zu schmerzhaft waren, als dass er darüber sprechen könnte. So wie Philippas eigentlichen Tod und was auch immer ihm seine Mutter außerdem noch angetan haben mochte. Dann war da die Schule; ich wusste nichts über die Zeit zwischen circa seinem zehnten Lebensjahr und dem Zeitpunkt, da wir uns begegnet waren. Es gab so viel mehr zu wissen. Es war mein eigenes privates Rätsel. Mein eigenes Rätsel, das ich versuchen musste, zu lösen. Angefangen mit Lestrade. Ich entschied mich, dass ich augenblicklich, sobald wir zurückgekehrt sein würden, Scotland Yard einen Besuch abstatten würde. Ich war wirklich kein Mensch, der alles wissen musste. Aber es gab ein paar Puzzleteile, die einfach an ihren rechtmäßigen Platz mussten, bevor ich es in meinem Geist als abgeschlossen betrachten konnte. Er hatte mich auf diesen Pfad geführt und wie bei unserer Beziehung konnte ich nun nicht mehr zurück. Es war zu spät.
 

Ich begann meine Untersuchung im Zug, in einem weiteren Privatabteil, wie Holmes’ sie so gut wie immer mietete. Er war kein besonders kooperativer Klient. Er schien seine stille Meditation fortsetzen zu wollen, die ihn die ganzen zwei Stunden der Kutschenfahrt in Anspruch genommen hatte. Ich glaubte nicht, dass ich das würde ertragen können.
 

„Ich bin mir nicht sicher, ob dein Bruder dir jemals dein heutiges Verhalten vergeben wird. Er wünschte sich deine Anwesenheit besonders während des Begräbnisses.“ Was ich ihm nicht erzählte, war, woher ich das wusste.
 

„Ich nehme keine Befehle von Mycroft entgegen“, sagte Holmes mit bitterer Stimme. „Und auch von dir nicht, könnte ich hinzufügen.“
 

„Ich erwarte nicht, dass du Befehle entgegennimmst. Nur das du hin und wieder das Richtige tust“—
 

„Das Richtige hatte mit dem heutigen Morgen überhaupt nichts zu schaffen! Mycroft macht sich nur Sorgen, welchen Eindruck andere Leute von seinem übergeschnappten Bruder haben! Er ist natürlich genauso seltsam wie ich, wenn nicht noch mehr, aber zu seinem Unglück erfordert seine Position, dass er einen Eindruck von Normalität und Langeweile aufrechterhält. Die Leichen in seinem eigenen Keller erlauben das nur schwerlich. Und dann noch einen Bruder wie mich…nun, du verstehst, worauf ich hinaus will, nicht wahr?“
 

„Du irrst dich!“, sagte ich, während ich mich nach vorn beugte. „Dein Bruder sorgt sich nicht nur um seinen eigenen Ruf. Ich versichere dir, dass er sich auch um dich Sorgen macht!“
 

„Ha! Woher willst du das wissen? Was hast du heute Morgen mit ihm gemacht?“
 

Ich zögerte nicht einmal. Es war ein solcher Impuls, dass ich später wusste, dass ich mich nicht einmal dann hätte zurückhalten können, wenn ich es gewollt hätte. Aber das wollte ich auch nicht. Ich sprang auf die Füße und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht, weit ungestümer, als er es gewohnt war – da bin ich sicher. Es war keine gerade Linke – nicht im Geringsten. Es war ein wütender Schwung, der ihn hart auf die Wange traf. Er taumelte mit einem Grunzen in seinen Sitz zurück, aber er schrie nicht und schlug auch nicht zurück.
 

Ich selbst setzte mich langsam auf meinen Sitz und fühlte das Pochen in meiner Hand. Der erste Gedanke, der mir kam, war, dass ich seit etwa zwei Jahrzehnten nicht mehr in einen Faustkampf verwickelt gewesen war und nun trotzdem darauf zurückgegriffen hatte. Der zweite war, das ich mich ziemlich ruhig fühlte. Es war, als ob alle Wut, alle Frustration, die ich über sein Verhalten entwickelt hatte, meinen Körper durch meine Faust verlassen hatten, als ich ihn schlug.
 

Ich war erstaunt, unfähig zu glauben, was ich gerade getan hatte. Aber ich war ebenso unfähig, mich zu entschuldigen. Ich wusste, dass ich es so gemeint hatte und dass er es verdient hatte. Also lehnte ich mich in meinen Sitz zurück, mit so viel Würde, wie ich nach meiner kindischen Tat aufbringen konnte und wartete auf seine Reaktion.
 

Er lachte. Er sah mir direkt in die Augen und begann tatsächlich überaus herzhaft zu lachen. Er zuckte zwar zusammen, als er bemerkte, dass seine frisch gequetschte Wange das nicht zulassen würde, aber ich war mir sicher, dass er wohl den Verstand verloren haben musste. Es war eine weit verbreitete Ansicht, dass Genies dazu neigten, Probleme mit ihrer geistigen Gesundheit zu haben. Und ich dachte in jenem Moment, dass Sherlock Holmes schließlich diese Grenze überschritten haben musste.
 

„Mein Gott, du bist verrückt…“
 

Sein Gelächter wurde zu einem leisen Glucksen. „Das denkst du ganz gewiss nicht.“
 

„Das tue ich sehr wohl! Und würdest du bitte aufhören, zu lachen? Wer außer einem Verrückten würde nach einem Schlag ins Gesicht anfangen zu lachen, anstatt zurückzuschlagen?“
 

„Aber, aber“, sagte er und hob verteidigend die Hände. „Lass keinen solchen Unsinn in deine Gedanken. Es gab einen absolut logischen Grund für meine Handlungen. Ich versichere dir, Watson, ich bin ebenso wenig verrück wie du.“
 

Das war nicht unbedingt beruhigend, denn ich hatte schon lange vermutet, dass auch meine eigenen Handlungen nicht bei völliger Klarheit ausgeführt werden mochten. „Dann kläre mich doch bitte auf. Warum solltest du, ein Meister im Ring, der mich leicht besiegen könnte, wenn es zu einem Kampf kommen sollte, nicht zurückschlagen?“
 

„Tss. Wirklich, Watson. Denkst du wirklich, ich würde meinen liebsten Freund so behandeln? Nun, vielleicht denkst du das. Ich könnte es dir nicht verübeln. Schließlich kam der erste Schlag von mir…“ Er räusperte sich und wand den Blick ab. Seine Taten aus der vergangenen Nacht waren in seiner Erinnerung ebenso frisch wie in meiner eigenen. Vielleicht sogar frischer. „Ich wollte, dass du mich schlägst. Manchmal ist es die einzige Antwort, das zu schlagen, was unserem Herzen Leid zufügt. Aber ich wusste, dass du als Gentleman niemals so etwas tun würdest, wenn ich dich nicht zuerst provozierte.“ Er lächelte. „Es hat doch funktioniert, nicht wahr?“
 

„Holmes, sind wir wirklich solche Barbaren, dass wir auf Schläge zurückgreifen müssen, um unsere Probleme zu lösen?“ Das zumindest war es, was ich sagte, auch wenn ich nicht bestreiten konnte, wie gut sich dieser Schlag angefühlt hatte. Und wie sehr er ihn wahrhaftig verdient hatte.
 

„Es ist nichts Barbarisches an Instinkten, Doktor. Tatsächlich sind sie tief innerhalb des Gehirns verankert und sind in manchen Fällen auf frühere Entwicklungsstufen des Menschen zurückzuführen. Ebenso wie die Tiere wären wir ohne unsere Instinkte nicht in der Lage zu überleben, da wir nur zu leicht von Gefühl wie Angst überwältigt werden würden[2]”—
 

„Könntest du dir dieses Gespräch vielleicht für ein anderes Mal aufsparen? Auch wenn es zweifellos faszinierend ist…“
 

„Watson“, unterbrach er mich und packte meine Hand plötzlich fest in seiner. „Ich will mich aufrichtig für mein Handeln in der letzten Nacht entschuldigen. Du musst verstehen…ich war nicht ich selbst. Es war jenes Haus…wieder dort zu sein…die Erinnerungen…“ Er schauderte und instinktiv drückte ich seine Hand fester. „All der Tod und Mord und die Zerstörung der Gesellschaft, die wir zusammen erlebt haben, konnte mich nicht auf meine Rückkehr hierher vorbereiten. Ich habe drei Viertel meines Lebens damit verbracht, das zu vergessen was in den ersten zwölf Jahren geschehen war. Wie Dantes Reisender konnte ich dem Fegefeuer nicht entrinnen und war mir sicher, dass ich nach Cocytus[3] zurückkehren würde. In der letzten Nacht war ich vollkommen gefroren und ich verdiene zu den drei Verrätern gezählt zu werden. Aber Gott, falls es tatsächlich ein solches Wesen gibt, ist mein Zeuge, dass ich dich niemals verletzten wollte. Was ich getan habe…ich werde dich nie wieder derartig…missbrauchen. Ich schwöre es.“
 

In seiner Stimme lag mehr Ernst, als er mir jemals zuvor entgegengebracht hatte. Einerseits war ich gerührt. Gerührt, dass er sowohl den Nerv als auch das Gefühl für diese Rede aufgebracht hatte. Aber andererseits wusste ich, dass selbst wenn ich ihm vergeben würde und ich wusste in meinem Herzen, ich würde es, würde nichts, das er jemals sagen konnte, mich vergessen lassen, was er getan hatte. Und das sagte ich ihm auch.
 

„Ich weiß“, antworte er mit einem Flüstern. Mehr würde er nicht sagen.
 

Er hätte protestieren können. Ich hatte tatsächlich erwartete, dass er es tun würde. Seine Meinung zu vertreten, war eindeutig eine seiner Stärken und es war nur sehr selten, dass er derartig vor mir auf die Knie fallen würde. Aber es würde keinen Streit darüber geben. Seine Strafe würde das Wissen sein, dass er es nicht würde ungeschehen machen können, ganz egal, was er sagte oder tat. Und wie wir alle wissen, ist Schuld die schlimmste Strafe von allen.
 

„Ich habe etwas für dich“, sagte Holmes nach einem langen und wissenden Schweigen. „Ich habe es heute Morgen gefunden. Ich muss dir gleich sagen, dass ich über nichts reden will, was darin geschrieben steht. Und ganz egal was du sagst, ich werde meine Meinung darüber nicht ändern. Aber es steht dir frei, zu tun, was immer du willst.“
 

Was er mir reichte, war ein dickes, brauenes Korrespondenzbuch. Es war alt und an ihm haftete ein modriger Geruch; die Seiten fühlten sich in meinen Händen fest und zerknittert an, als ob es oft gelesen worden wäre. Es war mit Tinte gefüllt, die einst schwarz gewesen sein mochte, aber seitdem zu violett verblasst war. Ich hatte nur Gelegenheit einen Blick auf die erste Seite zu werfen, bevor ich erkannte, dass ich etwas zu ihm sagen musste, denn die erste Seite sagte alles.
 

‚Das Geheime Tagebuch der Beobachtungen von Sherlock Holmes, Alter 8 Jahre.’
 

„Ich war acht, als ich begann, mein Leben aufzuzeichnen. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich es tat, auch wenn es eine gute Übung für mein späteres Leben war, als ich gezwungen war, meine Fälle zu dokumentieren. Ich zeichnete von acht bis elfeinhalb beinahe jeden Tag in meinem Leben auf und dann zumindest ein- oder zweimal pro Woche, bis ich zwanzig wurde.“
 

„Warum hast du aufgehört?“, fragte ich, denn ich selbst hatte ein Tagebuch oder zumindest einige Aufzeichnungen über mein Leben geführt, solange ich mich erinnern kann.
 

Er zuckte kurz mit den Achseln. „Das Leben wurde banal. Ich verlor das Interesse. Ich war zu sehr damit beschäftigt meinem erwählten Beruf nachzugehen. Such dir eine Entschuldigung aus, die dir gefällt.“
 

„Aber warum gibst du es mir?“
 

„Nun, du beschwerst dich oft, dass es Dinge gibt, die du nicht über mich weißt…so wie du über mich schreibst, bin ich nicht wirklich“—
 

„Ich würde allerdings vermuten, dass du es nicht vorziehen würdest, wenn die Öffentlichkeit dich anders kennen würde.“
 

„Wahr genug. Aber das heißt nicht, dass ich mich dir verleugnen würde. Wenn der Tod meiner Mutter auch nur irgendetwas Gutes in mir geweckt hat, so will ich, dass es sich dabei um Verstehen zwischen dir und mir handelt. Ich will dir mein vollkommenes Vertrauen schenken, denn ich weiß, dass ich es bis jetzt nicht getan habe”, er deutete auf das Buch. „Ich habe darin Dinge geschrieben, auf die ich nicht stolz bin. Dinge, die von der Öffentlichkeit sogar als Skandale angesehen werden könnten, sollte sie davon erfahren. Bis zum heutigen Tag habe ich dafür gesorgt, dass für nichts, was ich getan habe und das zu Erpressung, Gefängnis, Entehrung et cetera führen könnte, irgendwelche Beweise existieren. Im Gegensatz zu Wilde, dessen Seele in Reading Gaol verwest, weiß ich, dass Diskretion der einzige Schutz für mein Leben mit dir ist. Aber selbst ein Scotland Yarder könnte die Punkte dessen verbinden, was ich in diesem Buch gestehe.“ Dann blickte er mich an, mit einem Blick der fest, aber gleichzeitig auch furchtsam war. Ich konnte nicht sagen, ob ich mir das nur einbildete oder nicht. „Zum ersten Mal in meinem Leben, lege ich mein Leben in die Hände eines anderen.“
 

Während ich dort mit ihm zusammen saß, seine Hand in meiner, erinnerte ich mich an eine Begebenheit, die nur zwei Jahre zurücklag. Kurz nach einem Weihnachten in der Schweiz auf einer sehr langen Zugfahrt von Dover und dann nach Hause nach London. Josh, in meinen Armen eingeschlafen und Holmes und ich, friedlich und gereift. Es gab keine Sorge über die Gegenwart, keine Angst vor der Zukunft, zumindest für wenige Augenblicke. Es gab nur noch uns drei, einen prachtvollen Sonnenuntergang und niemand musste sprechen. Ich hatte es damals nicht erkannt, aber es war der vollkommenste Augenblick meines Lebens. Ich bezweifelte stark, dass es jemals wieder so wie damals sein konnte. Nichts hatte sich wirklich verändert. Es gab immer noch ihn, mich und den Jungen. Und doch war etwas anders. Ich erinnerte mich nur zu gut an das Versprechen, das wir einander in jener Nacht gegeben hatten – nur Monate darauf. Wenn jemals eine Zeit kommen sollte, da wir nicht weitermachen konnten; da wir einander nicht mehr von ganzem Herzen liebten, dann sollten wir damit aufhören. Das Risiko war viel zu groß, als dass wir weitermachen sollten, wenn wir uns nicht mehr voll und ganz ergeben waren.
 

Ich war mir nicht sicher, ob eine solche Zeit gekommen war. Aber zumindest für den Moment würde ich sagen, dass das nicht der Fall war.
 

Der Junge, Sherlock, elf Jahre alt, saß mit seiner Schwester und seinem Schwager in einem Zweiter-Klasse-Abteil. Der Zug an jenem kühlen Morgen im Dezember fuhr von Wadebridge nach Victoria Station. Die Weihnachtsfeiertage waren nur noch etwa zehn Tage entfernt, die ersten für das frisch verheiratete Paar Mr. und Mrs. James Davies.
 

Es war absolut offensichtlich, dachte Sherlock, dass sie frisch verheiratet waren. Sie hielten einander an den Händen, grinsten sich von Zeit zu Zeit auf höchst alberne Art und Weise an, zusätzlich zu zahllosen anderen Feinheiten, die es offensichtlich machten. Eine davon war der Bauch seiner Schwester, nach sechs Monaten stand er bereits rund und fest unter ihrem Kleid hervor. Sherlock konnte nicht anders, als zornig dorthin zu starren. Das Leben darin bedeutete das Ende seines eigenen. Ein einziger Blick auf das Kind und er würde überflüssig sein. Er würde von einem stinkenden, sabbernden Bündel Dreck verdrängt werden, von dem alle ganz hingerissen sein würden. Philippa hatte zahllose Male versucht ihn davon zu überzeugen, dass das nicht geschehen würde. Sherlock glaubte ihr nicht.
 

Zum ersten Mal in Sherlocks Erinnerung war jeder mit seinem Leben zufrieden. Jeder außer ihm.
 

„Ich denke, dass Honora ein wundervoller Name ist“, sagte Philippa gerade. „Oder vielleicht Maeve?“
 

„Du musst verrückt sein, wenn du denkst, dass ich eines meiner Kinder Maeve nennen würde!“, sagte James lachend. „Außerdem wird es ein Junge, der selbstverständlich James junior heißen wird.“
 

„‚Ich bin verrückt!’ Ich will dich daran erinnern, James Davies, dass dieses Kind in meinem Bauch heranwächst. Ich denke, dass ich eher beurteilen kann, was es wird.“ Die beiden setzten diesen albernen Streit noch mehrere Minuten fort, während Sherlock versuchte sie mit dem verächtlichsten Blick, den er nur aufbringen konnte, zum Schweigen zu bringen. Schließlich seufzte Philippa und lächelte ihren Bruder an, so als könnte sie seinen Zorn nicht sehen. „Ich erinnere mich noch daran, als du geboren wurdest, Liebling. Ich hatte so sehr auf eine Schwester gehofft.“
 

Sherlocks Augen weiteten sich erheblich.
 

„Aber ich war mehr als erfreut einen zweiten Bruder zu bekommen.“
 

Davies lachte auf jene typische, alles in allem zu heitere und laute Art, die klang, als würde jemand ein Maultier in den Hintern pieksen. „Ich denke nicht, dass er besonders gerne hört, dass du dir gewünscht hast, er wäre ein Mädchen, Phil.” Er schlug seinem Schwager gutgelaunt auf den Arm.
 

In Wahrheit konnte sich der Junge nichts Schlimmeres vorstellen, als weiblich geboren worden zu sein. Aber das würde er seiner Schwester nicht erzählen. „Ich würde sagen, Davies, dass du tatsächlich eine große Neigung zum Offensichtlichen hast.“
 

James’ Mund schloss sich. Er sprach Sherlock nicht mehr direkt an, bis der Zug den Bahnhof in London erreicht hatte.
 

„Also wirklich, Sherlock“, sagte Philippa. Aber schlimmer würde sie ihn nicht rügen.
 

London war mit weihnachtlichem Jubel durchtränkt. Es gab etwa 3 Millionen Menschen in den äußeren Bezirken der Stadt und es schien Sherlock, als wäre jeder einzelne von ihnen an jenem Tag unterwegs und rauschte an jedem nur möglichen Körperteil über und über mit Päckchen und Paketen bedeckt vorbei. Er liebte die Stadt. Er hatte immer gewusst, dass er eines Tages hier enden würde, in der Menschenmenge und dem Ruß und der Luft, die zu atmen hin und wieder schmerzte. Aber es war was los. Wirklich was los. Sein Verstand würde an einem solchen Ort niemals aufhören, zu pulsieren.
 

„Sollen wir losgehen und dir ein Geschenk aussuchen?“, fragte Philippa, als Davies in einem Bekleidungsgeschäft verschwand und die Geschwister allein loszogen.
 

„Ja…wie wäre es mit einer Scheidung für dich und James?“
 

Ihr Lächeln erstarb, sodass der Junge wegsehen musste. „Das schmerzt mich, mein Lieber. Du weißt das, nicht wahr? Warum kannst du nicht…” Sie seufzte, während sie vor ihn trat. „Ich liebe euch beide. Aber du erwartest von mir, dass ich mich zwischen euch entscheide. Das kann ich nicht! Du bist mein Bruder, in meinem Herzen mein eigenes Kind, aber James ist mein Ehemann. Es ist vollkommen ungerecht von dir, von mir zu verlangen, mich zwischen euch zu entscheiden.“
 

Er wusste, dass sie Recht hatte. Er verlangte von ihr, sich zu entscheiden. Aber sie war fort, fort von ihm, fort in jenem Moment, als der goldene Ring auf ihren Finger gesteckt worden war. Er hatte niemanden mehr. Niemanden, der ihm seinen Verstand bewahrte, niemanden, der ihn hielt, niemanden, der seiner Brillanz zuhörte…niemanden, den er lieben konnte. Zum ersten Mal fühlte er sich völlig allein.
 

„Sherlock! Sherlock, komm zurück!“
 

Er kannte sich in London noch nicht aus. Aber nun war die perfekte Gelegenheit, das zu ändern. Er schlug die Richtung nach Whitechapel ein, der unreinen Gegend der Stadt. Es schien der perfekte Ausgangspunkt. Er passierte Restaurants, Tabakverkäufer, Hotels, Geschäfte, Kneipen, eine Kirche und eine Bank, ohne stehen zu bleiben. Er dachte, dass er sie immer noch hinter sich hören konnte, aber die Straßen wurden immer überfüllter und es war schwer zu hören. Er wurde kurz langsamer, aber dann hörte er wieder seinen Namen. Er stand zwischen einer Kneipe und einem Buchladen, eine Kutsche zur Linken und eine schreiende Menschenmenge direkt hinter ihm, als es geschah.
 

Er dachte, dass er irgendjemanden ‚Stopp!’ hatte schreien hören, aber bei all den Menschen war es schwer zu sagen. Er hörte den Schuss, aber er wusste nicht, was es war, das er hörte. Es hörte sich nur wie ein Knall an, eine Tür, die zugeschlagen worden war, ein Blitz, der ein wenig zu nah herangekommen war. Aber sein Instinkt ließ ihn in der Sekunde anhalten, als es geschah. Sein ganzer Körper erstarrte völlig. Schießpulver. Nichts roch so und es war nah genug, um es in der Luft wahrzunehmen. Da waren Schreie und Panik, Männer schrieen und zumindest ein kleines Kind weinte. Ein Hund begann zu bellen und er hörte schwere Schritte. „Wo war es?“, rief die Stimme eines Mannes. „Dort drüben!“ Das war ein anderer Mann. „Verschwindet! Geht zur Seite! Geht jetzt zur Seite!“
 

Und all das geschah, bevor er auch nur den Mut aufbringen konnte, sich umzudrehen. Als er es schließlich tat, sah er nichts als die bunten Schemen der Menschen. Sie rempelten und fingen an herumzurennen und Sherlock wusste, dass es schlimm war. Und auch er begann, zu rempeln und zu rennen. „Aus dem Weg!“, schrie er. Er wusste es. Er wusste es einfach. „Geht aus dem Weg!“ Er stieß so fest er konnte mit einem dicken Mann vor ihm zusammen. „Das ist meine Schwester!“ Sein Herz klopfte so heftig, dass es schmerzte. Aber er konnte nicht anhalten, um seine Brust zu umklammern oder sich hinzuknien, wie er es sich wünschte. Er war zu sehr mit dem Drängeln beschäftigt. Irgendein großer Kerl stieß ihn zurück. Er hielt nicht einmal an, um zu sehen, ob es Absicht gewesen war. Indem er zwischen seinen Beinen durch rutschte, hatte er das Epizentrum des Tumultes erreicht.
 

„Gott…oh, Gott…“
 

Sie lag auf dem Zement, auf dem sich um ihren Körper eine rote Lache gebildet hatte. Die Leute wichen zurück, versuchten nicht hineinzutreten, aber die Meisten blieben nahe genug, um alles beobachten zu können. Sherlock sank auf die Knie und spürte, wie kalt es bereits war. Er versuchte ihre Hand zu ergreifen, aber sie bewegte sich nicht. „Philly…“, sagte seine Stimme. „Philly…“
 

Ein Auge öffnete sich leicht, weit genug, dass man die tiefgraue Farbe sehen konnte. Ihr Mund zuckte leicht, so als versuchte sie zu lächeln. Was nun folgte, könnte eine schreckliche Szene der letzten Liebesbeteuerung gewesen sein, die Hände fest umklammert und schwere Tränen von Trauer und Entsetzen. Aber die Wirklichkeit war völlig anders. Sherlock konnte keinen Teil von sich bewegen, außer seinen Augen. Er kniete in einer gewaltigen Blutlache und er konnte an nichts anderes denken, als daran, wie ekelhaft es sich anfühlte. Mehrere Male in jenen letzten Sekunden versuchte er, die Hand auszustrecken, um sie zu berühren, sie zu heilen, aber er konnte sich einfach nicht bewegen.
 

Sie starb mit einem kurzen kleinen Keuchen, ihr Mund blieb geöffnet und von ihren Augen war nur noch das Weiße zu sehen. Keiner sagte irgendwelche letzten Worte. Keiner konnte wirklich glauben, dass der andere da war. Es bedeutete wirklich sehr wenig.
 

Irgendwann in seinem Entsetzen erkannte der Junge, dass Davies aufgetaucht war. Er sah ihn an, fühle sich neugierig. Er schien verzweifelt. Einige Männer standen neben ihm und einer hielt ihn fest am Arm. Er sprach zu ihm, aber Sherlock konnte nicht mehr hören. Die Welt hatte sich verändert; war merkwürdig langsam geworden. Sicher war er hier, um seiner Schwester zu helfen. Das musste der Grund sein, weshalb er hier war. Warum wollten sie ihn nicht zu ihr lassen?
 

Jemand packte seinen Arm. „Komm da weg, Junge“, sagte er.
 

Es kam Sherlock nicht einmal in den Sinn, sich zu bewegen. Der Mann, der eine Polizeiuniform und einen buschigen walrossähnlichen Schnauzbart trug, zerrt heftiger. „Ich sagte jetzt, Junge“, sagte er.
 

Als er sich immer noch nicht rührte, hob ihn der Polizist tatsächlich hoch und schleifte ihn auf den Gehweg. Sie hoben Philippa auf eine lange Trage. Sie war mit einem Stück weißem Kolophonium bedeckt, das sich bereits rot färbte.
 

Schließlich fand er seine Stimme wieder. „Wo bringen sie sie hin?“, fragte er jeden, der die Antwort kennen mochte. „Wo bringen sie Philly hin?“
 

Er drehte sich zu Davies um, aber er war irgendwie verschwunden. Ein Detektiv von durchschnittlicher Größe, dunklem Haar und Knopfaugen erschien an seiner Stelle. Er trug einen schlichten dunklen Anzug, aber Sherlock wusste, dass es ein Inspektor sein musste. Sie stachen so deutlich hervor wie entzündete Daumen.
 

Der Beamte, der den Jungen angesprochen hatte, drängelte sich zu ihm durch. Sherlock hätte sich wehren können. Er hätte laufen können, vermutlich hinter seiner Schwester her, aber er gestattete, dass er geführt wurde. „Inspektor Lestrade[4], Sir“, sagte der massige Mann, während er seinen Hut berührte. „Dieser Junge hier ist der Bruder der jungen Dame. Ihr Ehemann hat das ausgesagt, Sir. Er sagte, dass er vielleicht gesehen haben könnte, was geschehen ist. Sie waren anscheinend zusammen, Sir.“
 

Der Inspektor nickte und wand seine rattenähnlichen Augen auf den Jungen. „Wie heißt du, Junge?“
 

Sherlock antwortete nicht. Sein Verstand raste, versuchte es alles zusammenzusetzen. Das Schießpulver war so nah gewesen, dass er es in seinen Nasenflügeln hatte spüren können. Wer auch immer geschossen hatte, musste direkt neben ihm gewesen sein.
 

Nah genug, dass er ihn hätte berühren können. Wenn er sich nur umgedreht hätte.
 

Der Inspektor packte ihn heftig am Arm, sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. „Ich weiß, dass das nicht leicht ist, Junge, aber wenn wir diesen Verrückten fangen sollen, dann muss es jetzt geschehen. Sieh mich an, Junge! Und jetzt sag mir, wie du heißt!“
 

Schließlich sagte Sherlock es ihm. Eine Kutsche mit Eisenstäben erschien und er ging mit dem Inspektor zu seinem örtlichen Revier. Auch wenn er sich normalerweise an alles, was geschah, mit fotografischem Gedächtnis erinnern konnte, konnte sich der Junge an dem Tag nicht einmal mehr die Fragen in Erinnerung rufen, die sie ihm gestellt hatten. Es war ein einziger Klecks von Verwirrung und konstanten Erläuterungen, der sie um nichts nähr zur Wahrheit zu bringen schien. Schließlich sah Sherlock von seinem ungemütlichen Holzstuhl auf und sah Davies in der Nähe stehen. Während der Inspektor hinter ihm protestierend aufschrie, rannte Sherlock zu ihm.
 

„Wo ist sie, Davies? Wo ist sie?“
 

Er hatte geweint. Sein Gesicht war immer noch gestreift und blassrot; sein Haar durcheinander und sein Taschentuch fehlte. Auf seinem Kragen war ein Schmutzstreifen und seine Krawatte war schief. Er sah den Jungen an und keuchte. „Jesus, Sherlock, Jesus Christus.“
 

Der Junge erkannte dann, als er an seinem Anzug hinabblickte, dass er über und über mit Blut bedeckt war. Er sah schnell zurück zu Davies und kämpfte gegen das Verlangen an, alle seine Kleider auszuziehen.
 

„Achte nicht darauf“, sagte er wütend. „Was ist mit Philippa?“
 

Aber James brachte nichts hervor als noch mehr ‚Jesus…Jesus Christus’.
 

„Sag mir was passiert ist, du Bastard!“
 

Davies weinte wieder. Dicke Tränen trübten seine Wangen und er versuchte nicht einmal, sie zu verstecken. Tatsächlich zog er ihn zum großen Entsetzen des Jungen in eine enge Umarmung und klagte laut genug, dass mehre Polizisten sich umdrehten, um zu sehen, was passierte. „Oh, Gott…warum? Warum ist das geschehen? Mein Liebling…sie ist tot! Sie sind beide tot!“ Davies versuchte ihn noch enger zu umklammern, aber Sherlock war bei dem Wort ‚tot’ völlig schlaff geworden. Er erinnerte sich an nichts mehr vom Rest dieses Tages oder auch nur an die beiden, die darauf folgten.
 


 

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[1] Es war Brauch, dass Damen die eigentlich Beisetzung nicht mitansahen.
 

[2] Die Psychologie von Instinkten und deren Unterdrückung war bis etwa 1920 noch nicht völlig erforscht. Holmes ist seiner Zeit wieder einmal voraus.
 

[3] Die neunte Ebene der Hölle ist Cocytus, wo Satan selbst residiert, für alle Ewigkeit mit seinen Schwingen schlägt und dicke Eisschichten erzeugt. Verräter an Gott, der Familie und dem Vaterland sollen dort landen. Die drei Verräter von denen Holmes spricht sind Cassius, Brutus und Judas.
 

[4] Ihr werdet es euch vermutlich schon gedacht haben, aber nur für den Fall, dass es jemanden verwirrt, der Inspektor sollte Lestrades Vater sein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2007-04-12T08:40:47+00:00 12.04.2007 10:40
Wieder ein wunderbares Kapitel. Hm, das Holmes noch tatsächlich zu der Beerdigung kommen würde bzw. sich von seiner Mutter verabschieden würde, hätte ich nicht gedacht. Der arme Holmes, das mit seiner SChwester ist wirklich schlimm... die einzige Person die er je liebte und sie wird in seiner Anwesenheit umgebracht.

lg


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