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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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So, frohe Weihnachten allerseits!

Ich habe es noch rechtzeitig fertig bekommen (und keine Angst, ich habe mich nicht unter Druck gesetzt), auch wenn ich fürchte, dass Animexx es wohl frühestens am 25. hochladen wird.
 

Nun nach dem Lesen dieses Kapitels wird wohl so einiges klarer sein und ich wünsche euch viel Vergnügen dabei.
 

Nach langen Sekunden quälender Stille öffnete sich langsam die Tür. Sie fühlte sofort, dass etwas nicht stimmte, vielleicht noch bevor sie den großen Detektiv an ihrem Küchentisch sitzen sah. Sie waren Aug in Aug.
 

„Was tun Sie hier?“, sagte meine Schwester, als sie in die Küche trat. „Sie sind in mein Haus eingedrungen. In Privatbesitz. Bei Ihrem ungeheuerlichen Fachwissen über das englische Recht muss Ihnen klar sein, dass das illegal ist.“
 

„Tatsächlich, Miss Watson, sind dieses Haus und der dazugehörende Besitz auf Sie beide, Sie und Ihren Bruder eingetragen. Und ich bin mit seiner Erlaubnis hier. Wenn Sie allerdings trotzdem darauf bestehen wollen, die Polizei von Kent zu rufen“—
 

„Was wollen Sie, Mr. Holmes?“, unterbrach ihn Abigail, während sie die Tür recht fest schloss. In meinem Versteck, konnte fühlen, dass ich die Wand leicht zitterte.
 

„Mit Ihnen sprechen.“
 

„Worüber?“
 

Ich konnte das hämische Grinsen beinahe sehen. „Sie hegen eine ausgeprägte Leidenschaft für Semantik, Madam. Aber wenn Sie diese Spielchen bevorzugen, werde ich mitspielen. Nennen Sie es Höflichkeit. Wir bekamen – heute Morgen, um genau zu sein – einen Brief von dem Gericht in Kent, in dem Ihr Bruder aufgefordert wurde, nächste Woche zu einem Prozess anlässlich ihrer Anfechtung seiner Vormundschaft für seinen Sohn zu erscheinen. Es scheint mir nicht besonders weit hergeholt, dass es sich dabei um Ihr Werk handelt.“
 

„Und wenn es so war? Was wollen Sie dagegen tun?“ Es gab eine lange Pause und ich hielt den Atem an, während ich dem Klappern ihrer Schuhe auf dem Holzboden lauschte. „Ich vermute, Sie haben die Pistole meines Bruders dabei? Ich vermute, dass hier wird nun wie einer seiner übermäßig dramatischen Fälle enden…Ich werde unter wahnsinnigem Gelächter irgendein abstoßendes Verbrechen gestehen, während der verschmähte Liebhaber hereinstürzt und schreit ‚Widerlicher Bastard!’, und mich erschießt? Natürlich handelt es sich bei dem verschmähten Liebhaber dieses Mal um Sie selbst…“
 

Mein Griff um die Wandkante verfestigte sich und ich biss die Zähne heftig zusammen. Aber ich hielt mein Versprechen und zeigte mich nicht.
 

„Sie haben wirklich eine sehr ausgeprägte Vorstellungskraft, Miss Watson. Mir wird langsam klar, dass es in Ihrer Familie liegen muss. Aber ich muss Sie daran erinnern, dass Ihnen alle Ihre Theorien und Vermutungen im richtigen Leben nicht weiterhelfen werden. Sie können über meine Beziehung zu Ihrem Bruder so viele Vermutungen anstellen, wie Sie wollen. Ich muss Sie allerdings daran erinnern, dass Sie keinerlei Beweise haben.“
 

„Ich finde es höchst bemerkenswert, dass Sie nicht einmal versuchen, es zu leugnen. Sie machen mich nur darauf aufmerksam, dass ich keine Beweise habe.“
 

„Ich werde Ihnen nicht die Befriedigung gönnen, irgendetwas zuzugeben oder zu leugnen.“
 

Um Gotteswillen, Holmes! Leugne! Leugne!
 

Abigail starrte ihn an. Darin war ich mir sicher. „Ihr Schweigen sagt mehr als genug. Es ist wirklich abstoßend. Und nicht nur die Tat selbst. Wie Sie Ihren Vorteil aus meinem Bruder ziehen. Sie müssen ihn verführt haben. Ist es das, was Sie getan haben? Und nun sind Sie bereit, seinen Namen und den seiner Familie zu riskieren…Sie würden John sogar ins Gefängnis gehen lassen…und das nur um Ihre eigenen kranken Bedürfnisse zu befriedigen…“
 

„Das reicht!“ Der Zorn in seiner Stimm war so offensichtlich, dass er die Sterne hätte erschüttern können. „Meine Liebe zu John mag in den Augen des Gesetzes ein Verbrechen sein und auch in den Ihren! Aber ich würde Sie eher zur Hölle fahren lassen, als Ihnen zu erlauben sowohl sein als auch Joshs Leben zu zerstören! Selbst wenn ich dazu mein eigenes opfern muss!“
 

Abigail lachte. „Nun, welche Ironie, Mr. Holmes! Denn dazu könnte es sehr gut kommen. Wenn die Londoner Behörden es jemals herausfinden sollten, denke ich nicht, dass selbst einer Berühmtheit wie Ihnen das Gefängnis erspart bleiben würde. Und danach wäre Ihr Leben zerstört. Schließlich will niemand Arschficker als beratenden Detektiv.“
 

Meine Augen weiteten sich in namenlosem Entsetzen angesichts dieses Wortes. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Nein. Nein.
 

Holmes räusperte sich. „Für eine Frau verfügen Sie über einen recht widerwärtigen Wortschatz.“
 

„Ich sage nur die Wahrheit.“
 

„Sie verurteilen mich angesichts dessen, was Sie für die Wahrheit halten. Denn wenn es tatsächlich so ist, dann ‚warum erzeugt die Wahrheit Hass’[1]?“
 

„Vielleicht weil die Wahrheit nicht immer einfach ist. Genauso wenig wie Gottes Gesetze. Wenn sie es wären, dann gäbe es keinen Grund für das Opfer, das der Herr gebracht hat. Doch weil der Mensch leicht vom rechten Pfad abweicht, muss es Weisungen, Opfer und Reue geben.“
 

„Reue? Soll ich für etwas Reue zeigen, über dass ich keine Kontrolle habe? Ich habe nicht darum gebeten und denken Sie wirklich, ich würde hier alles riskieren, was mir in diesem Leben etwas bedeutet, wenn ich es so einfach auslöschen könnte wie eine Kerze? Sie würden einem Sterbenden nicht die Schuld für die Krankheit geben, die ihn tötet, also warum sollten Sie einem Leidenden die Schuld für das geben, was er nicht kontrollieren kann?“
 

„‚Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt’[2]. Nur die Besessenen haben keine Kontrolle, Mr. Holmes. Sie verwenden das nur als Entschuldigung. Sie entscheiden selbst über Ihre Taten, wie es alle tun, die mit der Schrift protzen. Und wie die Städte der Sünde sollen auch Sie zerstört werden, wie es mit Ihren Verwandten geschah. Mit Feuer und Schwefel.“
 

„Wäre der Grund dafür die fehlende Gastfreundschaft, die ich Gottes Boten erwiesen habe?“[3] Er wurde wütend; ich konnte es deutlich an seiner immer tieferen Stimme hören. Und um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, was sein letzter Satz bedeuten sollte.
 

„Sie reden Unsinn…“
 

„‚Denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott.’ Erster Brief des Apostel Johannes, Kapitel 4, Vers 8!“
 

„Das gilt nicht für unnatürliche Liebe…“
 

„‚Liebe dein Feinde, segne die, die dich verfluchen, tu Gutes denen, die dich hassen!“ Mattheus Evangelium, Kapitel 5, Vers 44!“
 

Abigail hielt inne. „Sie sind wesentlich bibelfester als ich erwartet hätte. Man sollte meinen, Sie müssten erkennen, dass das, was Sie und mein Bruder tun, sie direkt in die“—
 

„Dieses Leben, das ich täglich mit ansehe ist die Hölle, Miss Watson! Der Tod und die Krankheit! Die Verfolgung und die Verurteilungen! Mord, Vergewaltigung, Raub…wie könnte die Hölle schlimmer sein als das East End von London an einem harten Tag? Ich habe Dinge gesehen, die Sie, die Sie sich nur mit den Ereignissen aus Jahrtausende alten Büchern zu beschäftigen scheinen, sich nicht im Entferntesten vorstellen können! Aber eines werde ich Ihnen sagen. Wenn ich nach meinem Tod an einen Ort gehen muss, der der modernen Welt sehr ähnlich ist, dann deshalb weil ich sie bereits überlebt habe. Aber Ihr Bruder hat keine Sünde begangen. Sie sollten das wissen. Er ist der beste der Menschen. Besser als Sie es jemals sein könnten und sicherlich besser als ich, dessen Geist von seinen eigenen Gedanken geschändet wird!“
 

„Ich bin mir sicher, schänden ist das richtige Wort für Sie im Zusammenhang mit meinem Bruder!“
 

Ich sah vor meinem geistigen Auge, wie Holmes sich ihr zuwandte und sein Gesicht ein so tiefes Rot annahm, wie ich es noch nie gesehen hatte. Er war kein Mann, der sich von Gefühlen leiten ließ. Aber ich denke, nach dem, was Sie ihm soeben unterstellt hatte, hätte er ihr Genick nur zu gerne in seinen Händen gewusst. Es dauerte einen endlosen Augenblick, ehe die kühle Logik wieder Überhand gewann.
 

Oh, Gott weiß, wie ich jede einzelne Faser in meine Körper zwingen musste, mich nicht zu zeigen. Aber aus welchen Gründen auch immer – unbewusster Kraft, vielleicht unerschütterlicher Treue, die meinen Ärger überwogen – gelang es mir, nicht aus meinem Versteck hervor zu stürzen. Stattdessen umklammerte ich meine Brust und sank langsam auf den Boden. Nun war alles aus. Sie wusste alles. Seine Liebe, seine Sünde…
 

Ich war der Beste der Menschen?
 

Er würde sie eher zur Hölle fahren lassen, als ihr zu erlauben, mein Leben zu zerstören?
 

Sogar wenn er sein eigenes dafür opfern musste?
 

Wie konnte sie nur diese Worte benutzen? Meine eigene Schwester?
 

Arschficker? Schänden? Sodomie?
 

Bis heute bereue ich den einzigen Gedanken, der in meinem Kopf war, während ich den stummen Schrei der Verzweiflung in meiner Kehle fühlte. Meine Pistole. Aber wen konnte ich damit erschießen? Holmes? Abigail? Mich selbst?
 

Es war ein leerer Gedanken, einer, den ich niemals ausführen würde. Doch die bloße Vorstellung, dass ich es auch nur für einen Sekundenbruchteil in Erwägung gezogen hatte, erfüllte mich mit entsetzlicher Angst.
 

Die Küche war von Schweigen erfüllt. Von einem langen, grässlichen Schweigen, dass meine Eingeweide erfrieren ließ und das ich kaum noch ertragen konnte. Aber war es, weil sie es wusste?
 

Oder war es wegen dem, was gesagt worden war?
 

„Ich weiß nun alles, Mr. Holmes“, sagte meine Schwester mit leiser Stimme. „Sie haben alles zugegeben. Sie können es nicht leugnen.“
 

„Ich leugne nichts.“
 

„Dürfte ich Ihnen dann vorschlagen, meinen Bruder davon zu überzeugen, auf die Vormundschaft für den Jungen zu verzichten, wenn Sie sich Ihr letztes bisschen Ansehen bewahren wollen?“
 

„Denn andernfalls werden Sie die klatschbegierigen Ohren jedes Gentlemans und jeder Lady in ganz England mit dem unbegründeten Gerücht füllen, dass Ihr Bruder und ich ein Bett teilen?“
 

Warum musste er es so formulieren?
 

„Sie lassen mir keine andere Wahl.“
 

„In der Tat.“
 

Und dann schien es, als hätte es ihnen beiden die Sprache verschlagen. Für die längste Zeit sprach keiner von ihnen ein Wort. Bis schließlich, als ich schon fürchtete, mein Atmen sei laut genug, um mich zu verraten, Holmes wieder zu sprechen begann:
 

„Ich fürchte, Miss Watson, dass es niemals dazu kommen wird“, sagte er. Seine Stimme klang nun wieder annähernd normal und ich konnte hören, wie er sich rasch zum Tisch bewegte, um sich zu setzten. „Es wird niemals dazu kommen, weil Sie der Sache nicht weiter nachgehen werden. Tatsächlich werden Sie die ganze Angelegenheit fallen lassen, sich hier in Ihr Haus zurückziehen und sich nie wieder in das Leben Ihres Bruders oder Ihres Neffen einmischen.“
 

Ich denke Holmes Worte mussten sogar Abigail schockiert haben, denn sie brauchte mehrere Sekunden, bis sie ihre Sprache weit genug wieder fand, um auf diese außergewöhnliche Bemerkung zu antworten. Aber als sie es schließlich tat, lachte sie. Lachte über seine Zuversicht. „Wirklich, Mr. Holmes. Ich bin beinahe überrascht, aber nachdem ich fünfzehn Jahre lang von Ihnen gelesen habe, bezweifle ich sehr stark, dass irgendetwas, das Sie sagen oder tun könnten, mich noch schockieren könnte. Aber ich finde das hier so außergewöhnlich interessant, dass ich nachsichtig mit Ihnen sein werde, anstatt bei den Behörden eine Klage einzureichen. Ich bitte Sie, erklären Sie mir, warum genau ich meine Anklage gegen John fallen lassen werde?“
 

Es gab eine kleine Pause, während der Holmes in seine Manteltasche griff und die Fotographie hervorzog. Ich konnte nicht länger widerstehen und schob langsam und vorsichtig meinen Kopf um die Ecke, bis ich die beiden sehen konnte. Ich sah, wie meine Schwester näher kam und die Hand nach dem Bild ausstreckte. Und dann tat sie etwas, mit dem wohl weder Holmes noch ich gerechnet hatten. Sie wurde kalkweiß.
 

Und stürzte sich auf ihn.
 

„Wie können Sie es wagen! Wie können Sie es wagen!“, schrie sie. Und wieder wäre ich fast aus meinem Versteck hervorgetreten. Sie war rasend. Zorniger als ich sie jemals zuvor gesehen hatte. Und Holmes, der in der Vergangenheit kaum einmal Schwierigkeiten gehabt hatte, Angriffe abzuwehren (schließlich war er ein Meister im Ringkampf), trug ein oder zwei Kratzer im Gesicht davon, eher er die Handgelenke meiner Schwester zu fassen bekam.
 

„Halt!“, schrie er. „Halten Sie sich gefälligst zurück!“ Und mit diesen Worten, stieß er sie zurück auf ihren Stuhl.
 

„Zurückhalten?! Sie widerwärtiger, abstoßender“—
 

„Sie können mich so viel beleidigen, wie Sie wollen, Miss Watson. Aber das ändert nichts. Es ändert nichts daran, dass ich über Ihren Sohn bescheidweiß.“ Er berührte die blutenden Kratzer in seinem Gesicht und schnalzte mit der Zunge. Holmes griff in seine Manteltasche und zog eine kleine Falsche und sein Taschentuch hervor.
 

Sohn?!
 

Aber hatte ich richtig gehört? Nein, das war nicht möglich. Ich musste mich verhört haben.

Holmes schüttete ein wenig des Flascheninhalts auf das Taschentuch und presste es auf seine Wangen, während er scharf Luft einsog. Er lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück und betrachtete Abigail mit kalten, ruhigen Augen. „Nun, wenn Sie in der Lage sind, Ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, können wir vielleicht wie vernünftige Menschen darüber reden. Wenn nicht, dann werde ich sie nun verlassen und diese Fotografie und das Wissen, das sie repräsentiert, mit mir nehmen…“
 

„Nein! Bitte, ich flehe Sie an!“ Abigail packte seinen Mantel und hielt ihn mit überraschender Kraft zurück.
 

„Sie sollten auch flehen, nach dem, was Sie uns antun wollten!“ Aber dann holte er tief Luft und sein ganzes Wesen entspannte sich, als er seinen Mantel aus ihrem Griff befreite. „Aber ich werde es nicht so weit kommen lassen. Ich stehe über diesen Dingen, auch wenn Sie es nicht tun. Nun, nehmen Sie bitte wieder Platz.“
 

Sie gehorchte. Das Feuer war merklich verblasst.
 

„Woher wussten Sie es?“, fragte sie, die Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Wie haben Sie es herausgefunden? Wie haben Sie von Harry erfahren?“
 

Harry? Aber der einzige Harry, den ich kannte war mein Bruder. Aber dann erinnerte ich mich an die Worte meines Sohnes. Sie hatte ihn Harry genannt…
 

„Mein Verdacht begann schon, als wir uns in der Baker Street zum ersten Mal begegnet waren.“ Er hielt inne und räusperte sich. „Wie Sie sicher wissen, ist es meine Gewohnheit, jeden, der die 221B betritt, genau zu mustern. Sie waren keine Ausnahme. Und was mir von allem am verdächtigsten erschien, war Ihr Kleid.“ Seine Augen ruhten auf ihr, betrachten ihr Kleid. „Es war geändert worden. Und während es für eine Frau, vor allem für eine…sparsame Frau nicht ungewöhnlich ist, sich ihre Kleider ändern zu lassen, ist es ungewöhnlich für eine unverheiratete Frau, ein so gründlich geändertes Kleid zu tragen. Das ließ mich entweder auf extremen Gewichtsverlust oder auf Schwangerschaft schließen. Und ich neigte eher zum letzterem.“
 

Meine Schwester antwortete nicht, saß nur da und streichelte das Bild mit einem Finger. Also fuhr mein Freund fort:
 

„Dazu kam noch Ihr Versprecher. Sie nannten John Sherlock ‚Harry’. Ich wusste, dass Sie damit nicht Ihren Bruder Harry gemeint haben konnten. Also warum sollten Sie so etwas Seltsames sagen? Die Hypothese, die in meinem Geist heranwuchs, schien wahrscheinlich. Aber es waren bloße Vermutungen. Ich wusste, dass ich hierher kommen musste, um sie zu beweisen. Das erste, das mir ins Auge stach, war Ihr Familienfriedhof. Ihr Bruder konnte mir bei jedem Grab erklären, wer darin lag. Außer bei einem. Es war ein sehr seltsames Grab, denn es hatte keinen Grabstein. Und die einzige Erklärung, die ich mir für eine so unheilige Tat vorstellen konnte, war die Angst vor Entdeckung.
 

„Diese Fotografie bewies mir die Richtigkeit meiner These. Sie haben gut daran getan, alle anderen Objekte, die Sie möglicherweise mit diesem Kind in Verbindung bringen könnten, in staubigen Schachteln im Keller zu verstecken. Aber dieses eine Bild…“ Er drehte es sanft, ohne es ihr aus der Hand zu nehmen und las vor: „Henry James Watson, 1894, drei Jahre.“ Der Blick, den er ihr zuwarf, war so sanft, wie ich es niemals von ihm erwartet hätte – vor allem nicht bei dieser Frau. Er sagte: „Der Rest wird viel klarer. Ihr Kind litt an Amentia[4]. Der Arzt hat Ihnen zweifellos gleich nach der Geburt mitgeteilt, dass er nicht lange leben würde. Aber wie jede Mutter begannen Sie Ihren Sprössling zu lieben. Sie versuchten über seine Unvollkommenheit hinwegzusehen und behandelten ihn als den einzigen Erben Ihrer Familie. Aber dann bekamen Sie einen Brief. Von Ihrem Bruder. Er hatte geheiratet und auch er hatte einen Sohn bekommen. Einen vollkommenen Sohn. Geistig und körperlich vollkommen. Und Sie wussten, dass Josh der wahre Erbe war und nicht Ihr Kind.“
 

„Ich habe ihn geliebt! Gott ist mein Zeuge, ich liebte dieses Kind!“, schrie Abigail. „Und er hat doch so schrecklich gelitten!“
 

Holmes erstarrte und sogar von den Schatten aus, in denen ich mich verbarg, konnte sehen, wie sich seine Augen weiteten. Er schien von einer plötzlichen Erkenntnis getroffen. Ich denke nicht, dass sie den letzen Satz tatsächlich hatte sagen wollen, aber vielleicht war das Gefühl, ständig von einer höheren Macht beobachtet zu werden, schlussendlich zu viel geworden und das Geständnis war ihr unwillentlich entkommen. Holmes wand sich in meine Richtung und unsere Blicke trafen sich. Ich konnte nicht mehr bleiben, wo ich war. Der Verlust eines Neffen, den ich niemals gekannt hatte, der Schmerz auf dem Gesicht meiner Schwester, die entsetzliche Erkenntnis, was sie getan hatte. Ich trat hervor, langsam, und ich fühlte mich so wie damals in Afghanistan, als die beiden Kugeln mir fast mein Leben genommen hätten. Es war als hätte sich die Zeit wie unter Wasser verlangsamt. Der Widerhall meiner Schritte schien laut und überzogen. Ich näherte mich meinem Ziel. Sie sah nicht zu mir auf, bevor ich sie packte.
 

„Wie konntest du nur?“, fragte ich sie und packte ihren Arm. „Oh, Abby, wie konntest du? Dein eigenes Kind?“
 

Sie sah zu mir auf, doch keine Überraschung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Ihre Augen waren trübe; sie schien einem Zusammenbruch so nah, wie sie es gerade noch ertragen konnte. „Du verstehst das nicht, John“, sagte sie schließlich. „Wie könntest du? Dein Kind war nicht…nicht wie Harry. Er ist wunderschön anzusehen. Er war nicht krank. Krank in Geist und Körper. Du musstest nicht hilflos mitansehen, wie es ihm von Tag zu Tag schlechter ging!“
 

„Aber warum hast du es mir nicht erzählt? Ich bin nicht nur dein Bruder, sondern auch noch Arzt“—
 

„Du hättest nichts für ihn tun können“, unterbrach sie mich plötzlich.
 

„Aber“—
 

„Es gibt noch einen anderen Grund, Watson, weshalb sie dir nichts erzählt hat.“
 

Ich drehte mich zu ihm um. „Was sollte das sein?“
 

„Der Vater des Kindes.“
 

Abigail schoss aus ihrem Stuhl hoch, ein Ausdruck der Besessenheit auf ihrem Gesicht. Ich war mir sicher, dass sie ihre Vorstellung wiederholen und sich erneut auf Holmes stürzen würde, aber sie tat es nicht. Und nicht etwa, weil ich sie daran hinderte. Die beiden – Abigail und Holmes – starrten sich mit einer solchen Grausamkeit an, dass ich sie nicht beschreiben kann. Ich schien vollkommen ausgeschlossen. Nicht einmal die Redensart ‚Wenn Blicke töten könnten’ lässt ihnen auch nur annähernd Gerechtigkeit widerfahren. Ich konnte das Gift zwischen dem herzlosen Dunkelbraun und dem furchtlosen Stahlgrau beinahe riechen.
 

„Das ist nicht wahr“, sagte meine Schwester. „Es ist unmöglich, dass Sie wissen“—
 

„Aber ich weiß. Ich weiß, dass Ihr Cousin“—
 

„NEIN!“
 

Aber er tat es. „Ihr Cousin Basil Watson ist der Vater des Kindes.“
 

Und Abigail brach schließlich zusammen.
 

Ich konnte fühlen, wie meine Knie unter mir nachgaben. Schnell versuchte ich die Tischkante zu fassen und schaffte es in einen Stuhl, bevor ich auf den Boden zusammensacken konnte. Basil? Meine Schwester hatte ein Kind von unserem Cousin? „Basil? Abby…“
 

Aber sie zitterte. Sie hatte ihren Kopf in den Händen vergraben und ihr ganzer Körper bebte. Sie gab keinen Laut von sich, aber ich bemerkte, dass sich jedes sichtbare Körperteil rot gefärbt hatte.
 

Ich wand mich in vollkommener Fassungslosigkeit an Holmes. So vieles war noch unklar geblieben. Ich starrte ihn hilflos an. Und die starke Verbindung, die ich immer zwischen uns vermutet hatte, wurde offensichtlich. Denn er wusste ganz genau, welche Frage ich nicht stellen konnte.
 

„Die erste Spur fand ich heute Morgen, Watson, als ich zum Meldeamt ging, um den Wohnort von irgendwelchen deiner Verwandten herauszufinden, die vielleicht in der Gegend wohnen könnten. Meine ursprüngliche Absicht lag darin, dass ich hoffte auf diesem Weg irgendwelche brauchbaren Informationen zu erhalten. Der einzige Eintrag war ein gewisser Basil Watson samt Familie, ansässig in Canterbury. Ich fand es ungewöhnlich, da deine Schwester dir geschrieben hatte, als dein Cousin George in eine Anstalt eingewiesen worden war. Sie hatte dich auch darüber in Kenntnis gesetzt, als deine Tante starb. Aber du sagtest, dass sie dir niemals etwas über Basil schrieb. Das erschien mir sehr merkwürdig, wenn man bedenkt, dass du sagtest, sie und Basil hätten sich am nächsten gestanden.“
 

„Bin ich nicht schon genug gestraft worden!“, schrie meine Schwester. „Dass Sie das alles nicht auch noch der einzigen Familie enthüllen müssen, die mir noch geblieben ist.“
 

„Sie haben sich selbst in diese Lage gebracht, Miss Watson“, sagte mein Freund. „Ihnen hätte klar sein müssen, dass ich alles auf mich nehmen würde, um Watson und seinen Sohn zu schützen.“ Und mit diesen Worten zog er einen Ring aus seiner Manteltasche. Es war ein goldenes Band und ich erkannte ihn sofort. Darin war der Kopf eines Ritters eingraviert und auf dem Schild waren drei Halbmonde und drei Schwalben. Das Familienwappen der Watsons. Als ältester Sohn hatte mein Onkel George den Ring von seinem Vater erhalten. Und er hatte ihn natürlich an seinen ältesten Sohn weitergegeben. Basil. Mein Cousin hatte den Ring an seinem 16. Geburtstag erhalten, am Tag bevor er nach Edinburgh ging. Und auch wenn ich schon davor keine Zweifel an Holmes Beschuldigungen hegte, war ich nun vollkommen davon überzeugt, dass es ihm gelungen war, diese dunkle Geschichte aufzudecken, die meine Schwester mir seit Jahren verheimlicht hatte.
 

„Ich halte es für unnötig, das Portrait zu holen, das über Ihrem eigenen Kamin hängt, um zu beweisen, dass es sich hierbei um Basils Ring handelt. Er trägt ihn darauf.“
 

Abigail sah auf, ihre Augen und ihr Gesicht waren gerötet. Sie zitterte immer noch.
 

Und zum ersten Mal, seit ich sie vor zwei Monaten wiedergesehen hatte, erwachten in mir andere Gefühle für sie als Zorn, Nervosität und Verachtung. Ich hatte Mitleid mit meiner einzigen Schwester. „Abby“, sagte ich und nahm ihre Hand. In diesem Moment waren all die zornigen, abstoßenden und unwahren Worte vergessen, die sie Holmes ins Gesicht geschleudert hatte und ich sah in ihr nur noch meine kleine Schwester. „Was ist geschehen? Du kannst es mir erzählen. Ich bin noch immer dein Bruder. Ich schwöre dir, dass du mir vertrauen kannst.“
 

Sie sah weinend auf. Ich hatte sie erst ein einziges Mal weinen gesehen, damals als Basil angekündigt hatte, er würde fort gehen. Sie hatte nicht einmal geweint, als Vater starb. Nur endlose Stunden an seinem Grab gestanden und auf den Grabstein gestarrt. Aber nun weinte sie. „Johnny…“, flüsterte sie. „Sei nicht böse auf mich. Ich wollte es nicht. Versprich mir, dass du Papa nichts erzählen wirst. Du musst es versprechen. Und Ma auch nicht. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie wieder böse auf mich ist. Bitte sag ihnen nichts, Johnny!“
 

Ich sog scharf Luft ein und blickte zu Holmes. Aber er nickte und sein Blick wurde weicher. „Ich…ich werde ihnen nichts sagen, Abby. Erzähl mir einfach, was passiert ist.“
 

Und sie tat es, doch ihre Worte waren an das Bild gerichtet:
 

„Ich musste es tun, Harry. Ich konnte es nicht mehr ertragen, dich leiden zu sehen. Ich nahm dich weiter mit nach London, zu jedem Arzt den ich finden konnte. Außer Johnny natürlich. Und jeder erzählte mir das gleiche. Du würdest sterben. Es gab keine Hoffnung. Ich betete, ich betete jede Nacht, aber dir ging es niemals besser. Du wuchst nicht. Du warst drei Jahre alt und konntest nicht einmal aufrecht sitzen. Und ich hörte zu, wie du um deinen Atem rangst und fragte den Herrn, warum er ein so kleines, unschuldiges Kind leiden ließ, aber er antwortete nicht. Ich bat ihn, dich zu sich zu holen, aber auch das tat er nicht. Er ließ dich nur schwächer werden und noch mehr leiden. Es war meine Schuld! Es war meine Strafe!“
 

„Nein, Abby, das kann nicht“—
 

Aber Holmes’ Hände schlossen sich um meine Schultern, um mich aufzuhalten. „Nein, Watson. Ihr Geist hat sich von der Gegenwart gelöst; sie erkennt wahrscheinlich nicht einmal, dass wir hier sind. Das geschieht, wenn etwas so schmerzhaftes so lange unterdrückt wird. Lass sie ausreden.”
 

„Erinnerst du dich daran, Harry, wie wir nach Kensington gingen? Wir gingen am Haus deines Onkels vorbei. Wir sahen, wie seine Frau und sein Kind bei der Haustür herauskamen. Sie waren beide so vollkommen. Seine Frau war so schön und freundlich und ich konnte sehen, wie sehr sie meinen Neffen liebte. Und der Junge. Er war so…entzückend. Er war ein so vollkommener kleiner Watson. Und da wusste ich…
 

„In jener Nacht, Harry, als ich wieder bei deinem Bettchen wachte, als du wieder stöhntest und der Speichel dir aus dem Mund rann, da wusste ich, dass Gott mir nicht zuhörte. Er war zornig über das, was Basil und ich getan hatten. Über unsere große Sünde. Und wie Salomon wurde mein Kind für meine Sünden bestraft. Das konnte ich nicht erlauben. Also nahm ich das Kissen“—
 

„Ich kann das nicht mit anhören, Holmes. Das ist zu viel!“
 

Aber meine Schwester sprach weiter, während sie das Bildnis des winzigen Kindes streichelte. Mein einziger Neffe. Der niemals die Gelegenheit haben würde seinen Onkel oder seinen Cousin kennen zu lernen. „Es war so schnell vorbei. Und endlich war er still. Und friedlich. Er fühlte keinen Schmerz mehr. Ich hatte das Richtige getan. Es muss das Richtige gewesen sein…“ Sie sah zu mir auf. „Nicht wahr, Bruder? Es war doch das Richtige?“
 

Aber ich konnte auf eine solche Frage nicht antworten. Wer konnte das schon? Sie hatte das Leben eines Unschuldigen ausgelöscht. Ganz egal welche Schmerzen er gehabt hatte, alles woran ich denken konnte, waren meine beiden eigenen kleinen Kinder. Wäre ich in der Lage, dasselbe zutun, wenn Josh unheilbar krank werden würde; wenn er leiden würde? Und meine kleinen Vera, der es nicht erlaubt gewesen war, in dieser Welt auch nur einen Atemzug zu tun; was hätte ich nicht darum gegeben, dass sie diese drei Jahre gehabt hätte, die Abigails Sohn hatte. Ich konnte solche Fragen nicht beantworten. Solche Fragen waren für Dichter und Heilige.
 

Aber Holmes konnte es. Sogar an diesem Tag, nach allem, was gesagt worden war, war er immer noch derselbe. Ein Gentleman. Und solange ich lebe, werde ich niemals vergessen, was er zu ihr sagte:
 

„Kein Gott würde jemals jene, die wahrhaft bereuen, abweisen oder ihnen nicht vergeben, Miss Watson. Denken Sie daran, dass Ihr Kind Sie beobachtet. Würde er wirklich wollen, dass Sie immer noch unter dem Geschenk der Freiheit leiden, das Sie ihm gaben? Ich denke nicht. Aber wie können Sie auf Vergebung hoffen, bevor Sie sich von der Schuld in Ihrem eigenen Herzen befreien?“
 

Er sprach so sanft, so…gar nicht wie er selbst. Es war nicht so, als könne er nicht offen oder mitfühlend sein, sondern so wie er es mir erklärt hatte, nachdem ich ihm vorgeworfen hatte, einem Klienten, der es besonders nötig hatte, kein Mitleid gezeigt hatte: ‚Es ist nicht Mitleid, das er bei mir sucht…’[5]
 

Aber nun…nun war ich es, der sich kalt und distanziert zeigte. Und er sagte, was ich nicht konnte.
 

„Sie denken nicht, dass Gott mich für das bestrafen wird, was ich getan habe?“, fragte meine Schwester flüsternd.
 

„Die einzige Strafe“, sagte Holmes. „Ist die, die Sie sich selbst auferlegen. Ich behaupte nicht, an all diese christlichen Sprüche zu glauben. Es ist nicht logisch und Agnostizismus scheint mir die einzige Möglichkeit für einen Mann der Wissenschaft. Doch Glaube bietet den Menschen etwas, das die Wissenschaft ihnen nicht bieten kann. Und das ist Liebe. Ich kann nicht behaupten, dass ich selbst das immer erkannt hätte. Doch nur etwas so Mächtiges wie dieses Gefühl, könnte Sie, Miss Watson, dazu gebracht haben, Ihr Leben und Ihre Seele zu riskieren, um Ihr Kind zu retten. Für dich gilt dasselbe, Watson.“
 

Abigail sah ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Als sähe sie ihn zum ersten Mal als menschliches Wesen. „Ich glaube, dass Sie vielleicht verstehen, Mr. Holmes.“
 

„Nichts zerstört einen Menschen so sehr wie Schuld. Es verwandelt das Leben zur Hölle.“
 

„Ja“, hauchte meine Schwester. „Die Hölle. Es gab kein Feuer und keinen Schwefel, aber trotzdem war es die Hölle.“
 

„Aber Abby“, sagte ich. „Das muss es nicht sein. Du hast dein Kind verloren. Glaube mir, wenn ich sage, dass auch ich den Schmerz fühle. Aber wie wird es deine Qualen auch nur im Geringsten lindern, wenn du das Leben deines einzigen Bruders zerstörst?“
 

„Wiedergutmachung ist der Weg zurück nach Hause. Und in John Sherlock sahen Sie zweifellos eine Gelegenheit, um es wieder gutzumachen.“
 

„Er ist sehr wichtig“, sagte Abigail.
 

„Ja“, stimmte Holmes zu. „Das ist er. Und deshalb werden Sie auch das Richtige tun. Und das bedeutet natürlich, dass Sie die Klage gegen Ihren Bruder fallen und den Jungen in Ruhe lassen werden. Es könnte die einzige Gelegenheit sein, die Sie noch haben.“
 

Meine Schwester stand auf, während sie immer noch das Bild des Kindes umklammert hielt, das ich immer noch nicht gesehen hatte. Sie antwortet nicht.
 

„Abigail?“, fragte ich.
 

Keine Antwort.
 

„Abigail, bitte, ich flehe dich an!“ Ich sprang auf die Füße und packte sie am Arm. „Es tut mir Leid, was du erlitten hast, das tut es wirklich, aber du bist nicht die einzige, die gelitten hat! Du musst verstehen…“ Ich holte tief Luft. „Dass ich nicht noch mehr ertragen kann.“
 

„Geh.“
 

„Wie…wie bitte?“
 

„Lass mich in Frieden. Komm in einem oder zwei Tagen zurück. Aber jetzt muss ich allein sein.“
 

„Und was ist mit dem Jungen?“, fragte Holmes.
 

Sie drehte sich zu ihm um und die beiden standen sich einmal mehr Aug in Aug gegenüber. „Mr. Holmes, ich habe Sie ziemlich unterschätzt. Ich dachte, nachdem ich alle Ihre veröffentlichten Fälle gelesen hatte, wäre ich in der Lage, mit Ihnen fertig zu werden. Sie sind weit intelligenter, unverwüstlicher und hinterlistiger als ich jemals erwartet hatte. Und auch wenn mir immer noch davor graut, dass mein einziger Neffe von Ihnen aufgezogen wird, so werde ich zufrieden sein, solange ich Sie in meinem ganzen restlichen Leben nicht mehr wieder sehen musst. Und ich schwöre auf die Heilige Schrift, dass Ihr Geheimnis – um Johns und seinetwillen – sicher ist.“
 

Ihre Unverschämtheit verschlug mir die Sprache und ich denke, dass Holmes nicht mehr so erstaunt über die Taten einer Frau gewesen war, seit der Frau. Irene Adler. Und was diese Frau getan hatte, war nichts im Vergleich zu meiner eigenen Schwester. Aber was konnte er tun? Er hatte gewonnen – aber zum Preis jeglichen Respekts und aller Würde. Und so beugte Holmes für den Bruchteil einer Sekunde den Kopf und machte ein, zwei Schritte zurück. „Dann wird das genug sein“, sagte er.
 

Ich hätte etwas sagen können. Ich weiß nun, wie sehr ich es Sherlock Holmes schuldig gewesen war, in jenem Moment etwas zu sagen. Etwas um seine Taten zu verteidigen, seine Ehre wiederherzustellen, seinen Stolz zu retten, den er um meinetwillen in den Wind geschlagen hatte. Aber ich tat es nicht. Stattdessen fühlte ich nur meine eigene Erleichterung. Dass Josh sicher zuhause in seinem Bett lag und ich mir keine Sorgen mehr machen musste, dass sich das ändern könnte.
 

Außerdem gab es noch genug andere Dinge, über die ich mir Sorgen machen konnte.
 


 

Wir erreichten London um etwa zehn Uhr und während ich normalerweise ein Mann bin, der gerne früh ins Bett geht, war ich in jener Nacht hellwach. Zu viele Gedanken rasten durch meinen Kopf. Und keiner dieser Gedanken betraf meine Schwester. Diese Wunden waren zu neu, zu frisch. Später würde noch genug Zeit sein, um zu trauern. Im Moment gab es nur eine Sache, mit der mich mein besessener Geist peinigte. Immer und immer wieder.
 

‚Aber ich würde Sie eher zur Hölle fahren lassen, als Ihnen zu erlauben sowohl sein als auch Joshs Leben zu zerstören! Selbst wenn ich dazu mein eigenes opfern muss!’
 

Hätte er das wirklich getan?
 

Meine Liebe zu John…
 

Liebe.
 

Holmes hatte viel riskiert, so viel mehr, als ich erklären oder auch nur ermessen kann. Ich wusste, dass er ein Mann der Ehre, der Ritterlichkeit war, aber trotzdem…wegen seiner Liebe zu mir seinen Namen, seinen Ruf, vielleicht sogar sein Leben zu riskieren…
 

Wie konnte er das tun?
 

Wie konnte ich es zulassen?
 

Wie konnte ich diesen Wahnsinn mit ansehen?
 

Aber ich glaube, dass ich eventuell – wie Holmes mir so oft vorwarf – das große Ganze außer Acht ließ. Und ich fürchte, die Frage lautete eigentlich:
 

Wie konnte ich hier neben ihm stehen, in dem Wissen, was Abigail mit diesen Informationen tun konnte? Ich hätte England mit Josh verlassen, irgendwo neu anfangen können. Schließlich, was zwang mich schon zu bleiben? Meine Praxis, mein Zuhause, mein Schreiben? All das verblasste im Vergleich zu meinem Namen, meiner Ehre und meiner Freiheit. Nichts hielt mich hier.
 

Außer Sherlock Holmes.
 

Auch ich war bereit, alles für ihn zu riskieren.
 

Dieser Gedanke erschreckte mich. Mehr als in den Krieg zu ziehen, mehr als meinen Sohn zu verlieren, mehr sogar als der Tod selbst. Dieses Wissen machte mich beinahe krank. Und doch wusste ich nicht genau, was es war.
 

Zurück in der Baker Street warf sich Holmes in seinen Lehnstuhl, nachdem er uns beiden jeweils ein Glas Sherry eingeschenkt hatte. Trotz dieses schwarzen Tages schien er in guter Stimmung. [Although I am sure that his success in restoring my son to me and solving this mystery (if you care to call it that; it hardly seemed so to me) had a positive effect on the man, no one could endure the lashing he did without feeling some sting Yet as soon as the fire was crackling and he was comfortable with his overcoat removed, he looked at me with a pensive expression.]
 

„Komm und setz dich, mein Freund“, sagte er. „Und dann reden wir über das, was du auf dem Herzen hast.“
 

Werden wir das? „Es gibt nichts, worüber ich reden will.“
 

Er warf mir seinen ernsthaftesten Blick zu und doch wirkte er beinahe amüsiert. „Ich würde Ihnen vorschlagen, mein lieber Sir, niemals in die Politik zu gehen. Sie sind ein erbärmlicher Lügner.“ Er deutete mit seinem Glas auf meinen eigenen Sessel, direkt vor dem seinen.
 

Aber ich war immer noch viel zu aufgebracht, als dass ich hätte sitzen können. Wenn ich zurück bei Blackheath[6] gewesen wäre, hätte ich allein mit der Energie, die ich in jenem Moment fühlte, hunderte Versuche erzielen können [7]. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb und der Sherry setze meinen Magen in Flammen.
 

Er wollte wissen, was ich auf dem Herzen hatte. Er erwartete von mir, darüber zu sprechen, so als könne man den Schrecken, dem ich gegenüber stand, in Worte fassen.
 

Alles was in den letzten fünfeinhalb Monaten geschehen war, zog plötzlich noch einmal an mir vorüber; eine chemische Reaktion, die nur auf einen Katalysator gewartet hatte. Und der heutige Tag war der Katalysator gewesen. Ich akzeptierte es endlich. Aber ich konnte es immer noch nicht verstehen.
 

„Warum, Holmes?“
 

Ich versuchte, diesen Worten all jenes Gewicht und jene Schwere zu verleihen, die sie verdienten. Aber ich fürchte, ich versagte. Sie klangen nur wie flache Worte und nicht wie die Apokalypse, die sie in Wahrheit bedeuteten. „Warum…“, versuchte ich es noch einmal.
 

„Warum was, Doktor?“
 

Warum hast du meiner Schwester deine Gefühle offenbart?
 

Warum hast du gesagt, du würdest deinen eigenen Untergang um meinetwillen in Kauf nehmen?
 

Warum erscheinst du mir nachts in Furcht erregenden Träumen?
 

Warum habe ich Angst vor dem, was ich in Meiringen im Delirium gesagt haben könnte?
 

Warum fühle ich mich in deiner Gegenwart, so wie ich mich noch nie zuvor gefühlt habe?
 

Warum liebst du mich?
 

„Warum habe ich meine Frau getötet?“, platzte es aus mir heraus.
 

Mir war nicht einmal klar, was ich sagte, bevor mich die Wucht meiner eigenen Worte traf. Und als das geschah, konnte ich fühlen, wie sich meine Augen weiteten; eisige Kälte durchdrang meinen ganzen Körper. Was hatte ich gesagt? Großer Gott, was hatte ich gerade gesagt?
 

Ich drehte mich rechtzeitig um, um zu sehen, wie Holmes beinahe seinen Sherry fallen ließ. Es war offensichtlich, dass er ebenso fassungslos war wie ich, denn er sprang auf die Füße. „Was hast du gesagt?“, flüsterte er. „Bei allem, was gut ist auf dieser Welt, was hast du gerade gesagt?“
 

„Ich habe sie umgebracht. Es ist meine Schuld, dass sie tot ist.“
 

Es war das erste Mal, dass ich laut aussprach, was mich seit dem 15. September quälte. Auf eine perverse Art fühlte ich mich erleichtert, es ausgesprochen zu haben; es einem anderen gebeichtet zu haben, wenn man so will. Aber gleichzeitig fühlte es sich entsetzlich an. Ich hatte gerade einen Mord gestanden, oder zumindest etwas, das einem Mord gleichkam. Ich war nicht besser als meine Schwester.
 

„Ich sollte dir für deine Grausamkeit eine wohlverdiente Ohrfeige verpassen, Watson“, sagte Holmes und riss mich hart an der Schulter herum. „Das heißt, wenn du ein anderer Mann wärst und wenn ich mir nicht solche Sorgen um dich machen würde. Wie kannst du nur so etwas sagen? Es ist unwahr und deiner nicht würdig! Du bist ebenso wenig für den Tod deiner Frau verantwortlich, wie das Kind in ihrem Bauch.“
 

„Aber ich habe das Kind dorthinein gesetzt! Wenn ich es nicht gezeugt hätte, wäre Mary heute noch am Leben. Und Josh hätte immer noch seine Mutter und ich…“, ich brach ab, nicht in der Lage weiter zu sprechen.
 

„Und du hättest niemals von meinen Gefühlen für dich erfahren. Darauf läuft es doch hinaus nicht wahr?“
 

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Vielleicht war es das und es war mir bis zu diesem Moment nur nicht klar gewesen. Glaubte ich in meinem Herzen wirklich, dass ich schuld an Marys Tod war? Ich hatte nichts getan, was nicht jeder andere Mann auch getan hätte – versucht eine Familie zu schaffen. War es wirklich, dass Holmes nach Marys Tod mit seinem Liebesgeständnis zurückgekehrt war? Wenn sie nicht gestorben wäre, hätte er es vielleicht nie getan. Ich konnte es nicht sagen. Ich fühlte die unglaubliche Schuld in mir, aber ich konnte die Quelle nicht benennen.
 

Mit einem tiefen Seufzen schüttete ich mir die letzten Schlucke meines Sherrys in die Kehle und musste würgen. Alkohol auf leerem Magen blockierte nur meine Kehle und meinen ohnehin schon verwirrten Geist. „Holmes, warum…warum liebst du mich?“
 

Da. Ich hatte es ausgesprochen.
 

„Darauf läuft es also hinaus?“
 

„Nein“, sagte ich, während ich die Hand nach der Karaffe ausstreckte. „Nach dem heutigen Tag, nach all diesen Monaten kann ich ganz ehrlich nicht sagen, ob es tatsächlich das ist, worauf es hinausläuft. Aber ich muss es trotzdem wissen. Warum, Holmes? Warum ich? Wenn du bist, was du bist, dann kann ich dich nicht dafür verurteilen, aber warum ich? Ich muss es wissen.“
 

„Du musst es wissen?“
 

„Ja! Sag es mir!“ Warum war das so schwierig. „Ist es, wie du es meiner Schwester heute erklärt hast? Ist es ein Band, das stärker ist als alle Wissenschaft? Ist es, weil du nicht mehr so jung bist, wie du einmal warst und du erkennen musstest, dass Deduktionen nicht die Zeit überdauern können, aber Liebe schon? Hast du auf einmal einen Sinn für Shakespeare entwickelt? Oder ist es etwa eine Art von, ähm…körperlicher Anziehung? Was ist es, Mann!“
 

Holmes starrte mich an, während ich diese impulsive und leidenschaftliche Rede vortrug. Starrte auf diese völlig unmenschliche Art, zu der außer ihm kein anderer in der Lage ist. Und dann – zu meinem unbeschreiblichen Entsetzen – verzog sich sein Mund zu einem Lächeln und er brach in schallendes Gelächter aus. „Oh, Watson! Mein teuerster Watson! Das ist wahre Leidenschaft, nicht wahr? Mir war niemals klar, wie viel das Theater verloren hat, als du dich für die medizinische Laufbahn entschiedst. Großartig!“
 

„Wie kannst du es wagen, dich über mich lustig zu machen!“, zischte ich. „Ich versuche, ernst zu sein!“
 

„Das bin ich auch. Ich versichere es dir. Aber diesmal bist zur Abwechslung einmal du übertrieben dramatisch. Nun, sei nicht zornig auf mich. Ich konnte mich wirklich nicht zurückhalten. Es war nicht herablassend gemeint, auf mein Wort, das war es nicht.“
 

„Also was ist jetzt?“, fragte ich immer noch etwas wütend.
 

„Das lässt sich nicht so einfach erklären, Watson. Du verlangst von mir, zu dieser Tafel zu gehen und das Ganze als einfache mathematische Gleichung aufzuschreiben. Lange genug glaubte ich – auch wenn du mich jetzt vielleicht für arrogant halten wirst – dass es nichts gibt, was ich nicht mit Hilfe von Wissenschaft und Logik hätte lösen können. Aber dann fühlte ich dieses leere Verlangen in den Tiefen meines Körpers, das ich nie zuvor gefühlt hatte. Diese Gefühle waren weder logisch noch vernünftig. Ich konnte sie nicht erklären. Für die längste Zeit konnte ich sie noch nicht einmal verstehen.“
 

„Ver…Verlangen?“
 

Er starrte mich wütend an. „Ich bin keine Maschine, Watson! Dass ist eine Unterstellung, die ich dir zu verdanken habe! Dass ich ein kaltes und berechnendes Ding bin, das zu solchen Dingen nicht fähig ist! Ich bin ebenso aus Fleisch und Blut wie du, also wie kannst du es wagen, anzunehmen, du seiest der einzige von uns beiden, der ein Mann ist!“
 

Bitter Schuld durchbohrte mich wie tausend Nadelstiche. Er hatte Recht. Wie konnte ich solche Dinge gesagt haben? Aber der Grund war gewesen, dass ich selbst daran geglaubt hatte. „Holmes!“, sagte ich und rückte näher zu ihm. „Mein lieber Holmes, ich meinte doch nicht…was ich damit meinte, war, dass ich wirklich dachte, in deinem Geist gäbe es keinen Platz für Gefühle wie Liebe. Du wirst wohl kaum bestreiten, dass du dir viel Mühe gegeben hast, mich davon zu überzeugen. Aber es war niemals meine Absicht, zu behaupten, du verspürtest nicht dieselben Bedürfnisse wie jeder Mann. Wenn du dich erinnerst, war ich es sogar, der stets versucht, dich zu ermutigen etwas Liebe in deinem Leben zu finden. Ich hätte…ich hätte nur niemals gedacht…“ Nun, er wusste genau, was ich niemals gedacht hatte. Dass die Liebe, nach der er sich in seinem Leben sehnte, nicht irgendein hübsches, junges Ding war, sondern ich selbst.
 

Er hatte sich von meiner Verlegenheit zu einem Lächeln verleiten lassen. „Es war auch meine Absicht, dass du es nicht wusstest. Und was deine Beobachtungen bezüglich meines emotionalen Status betreffen, Gott weiß, mein Freund, dass ich versucht habe dieser Mann zu sein. In diesem Moment gibt es nichts, dass ich nicht geben würde, um nicht so zu fühlen. Es ist uns beiden gegenüber ungerecht und besonders dir gegenüber.“
 

„Aber“—
 

„Lass es mich so erklären. Erinnerst du dich an den Fall der Baskervilles?“
 

„Natürlich. Wie könnte ich es vergessen?“
 

„Und an den Fall mit dem gefleckten Band?“
 

„Das war eine hässliche Angelegenheit.“
 

„Und natürlich den berüchtigten Zwischenfall bei Reichenbach…“
 

„Holmes, wo um Himmels Willen soll das hinführen?“
 

„Alles“, erklärte er fest. „In jedem dieser Fälle empfand ich eine Angst, die ich seit…nun, seit sehr langer Zeit nicht mehr gefühlt hatte. Als wir uns trafen, hielt ich dich zuerst für einen unbedeutenden Mann. Wann genau sich meine Meinung änderte, kann ich dir nicht sagen, aber jedes Mal, wenn ich dir erlaubte mich auf einem Fall zu begeleiten, dachte ich daran, wie sehr du mir vertrauen musstest. Ich dachte daran, wie viel du von meinem Schutz halten musstest. Wie sehr du an das Gute glaubtest. Ich dachte daran, wie du über mich schriebst…mich in einen vollkommenen Abgott der Wissenschaft und Deduktion verwandeltest. Ich dachte daran, wie glücklich du mit Miss Morstan warst und dass du mir trotzdem noch assistiertest.“ Seine langen Finger griffen nach der Sherryflasche und er schenkte sich nach. „Und dann kam ich zu einer Erkenntnis. Der vollkommensten und schrecklichsten Erkenntnis meines gesamten Lebens.“
 

Mein Mund wurde trocken. „Was…“, frage ich.
 

„Du bist vertrauensvoll, ich bin misstrauisch. Du bist gläubig, ich bin skeptisch. Du bist treu, ich bin unzuverlässig. Du vertraust deinem Instinkt, ich der Wissenschaft. Du bist gesellig, ich bin introvertiert. Du bist bescheiden, ich bin stolz. Du bist optimistisch, ich bin pessimistisch. Du bist geduldig, ich bin ungeduldig. Du lebst öffentlich, ich lebe zurückgezogen. Du bist Herz, ich bin Verstand. Nun, ich könnte beliebig so weiter machen, nicht wahr?“
 

„Aber…aber sagst du nicht gerade, dass wir grundverschieden sind?“
 

„Nein, Watson, du begreifst das Wesentliche überhaupt nicht! Wir sind nicht grundverschieden, wir sind was die alten Chinesen ‚Yin und Yang’ nannten. Zwei Teile eines Ganzen. Ohne das eine, würde das andere aufhören zu existieren.“
 

Ich betrachtete es logisch. Oder zumindest versuchte ich es. „Du willst damit also sagen – so weit ich es verstanden habe – dass wir sind, was die romantischen Dichter ‚Seelenverwandte’ nennen? Vom Schicksal für einander bestimmt? Oder etwas in diese Richtung?“
 

„Die meisten emotionalen Reaktionen können auf einfache biochemische Prozesse zurückgeführt werden. Ärger, Freude, Trauer… ‚Liebe’, wie es von vielen genannt wird, ist eigentlich nur eine physische Reaktion, um das Fortbestehen der Art zu garantieren. Um offen zu sein, ist es nicht mehr als eine sexuelle Reaktion.“
 

Ich räusperte mich. „Ja, also…“
 

„Allerdings ist Liebe in Wahrheit viel mehr. Es übersteigt das Körperliche bei weitem. Es ist eine Erkenntnis. Eine Selbstverwirklichung. Dass du selbst ohne den anderen kein ganzer Mensch mehr wärst.“ Er hielt inne für einen langen, dramatischen Schluck Sherry. „Und das ist die Antwort, mein lieber Dr. Watson. Die Antwort, auf die ich nach Monaten, vielleicht sogar Jahren der Forschung stieß. Ohne dich bin ich unvollständig. Ein halber Mann. Das ist der Grund, weshalb ich nach Reichenbach trotz all meiner Bemühungen zurückgekehrt bin. Das ist der Grund, warum ein Teil von mir die Wunde in deiner Brust fühlen kann, ich dir unwillentlich zugefügt habe. Das ist der Grund, weshalb ich Leib und Leben für dein und John Sherlocks Wohl riskiert habe. Und das ist der Grund, weshalb ich weiß, dass sowohl deine Schwester als auch deine Frau dir dein schuldiges Herz vergeben werden. Und schließlich ist es auch der Grund, warum ich weiß, dass du sie nicht getötet hast.“
 

„Ge-getötet?“
 

„Du hast deine Frau nicht getötet“, sagte er mit sanfter Stimme. „Es ist genau, wie ich deiner Schwester gesagt habe. Du bist der Beste der Menschen. Meine bessere Hälfte. Der einzige, den ich jemals…“ Aber dann versagte sein Verstand – bei dieser großen Aufgabe so verloren – schließlich doch und er fand kein englisches Wort mehr, um sich auszudrücken. „Nun. Wenn ich irgendeinen Grund hätte, dich irgendeines Verbrechens zu verdächtigen, dann säße ich jetzt sicher nicht hier und würde dir meine geheimsten Deduktionen enthüllen. Die, die dich betreffen. Und mich selbst.“
 

Ich fühlte, wie sich mein Mund schloss. Es geschah plötzlich und ich kann nicht ehrlich sagen, dass ich mich jemals derartig gefühlt habe. Dieses zermalmende Gewicht, das sich selbst wie ein überwucherter Tumor manifestiert hatte, schien in meiner Brust zu implodieren. Es war nun schon seit sechs langen Monaten dort, zermalmte mich, ließ unwürdige Gedanken durch meinen Verstand rasen. Es war genau wie Holmes es zu meiner Schwester gesagt hatte. Ein schuldiges Gewissen ist sowie ein Leben in der Hölle.
 

Aber es war vorbei. Der großartigste Verstand auf diesem ganzen Planeten hatte mir die Absolution erteilt. Ich hatte stets ihn als den Besten der Menschen angesehen. Und der beste Mensch würde nicht solche Gefühle für mich hegen, wenn er glaubte, es gäbe irgendeine Sünde in meinem Herzen.
 

Meine Erleichterung war so groß, dass ich hätte weinen können.
 

Aber stattdessen tat ich etwas völlig anders. Und noch viel Erschreckenderes. Ich packte Holmes am Arm, und zog ihn gewaltsam zu mir. Bevor ich noch wusste, was überhaupt geschah, verbanden sich unsere Münder auf eine höchst vertrauliche Weise. Ich atmete in ihn und er in mich. Ich schmeckte Sherry, vermischt mit seinem starken Tabak und eine Andeutung von etwas, das wohl sein Mundwasser war.
 

Es dauerte nur wenige Sekunden – höchstens drei. Aber das war lang genug, um in mir heftige Gefühle aufzuwirbeln. Zumindest zwei Gefühle waren erkennbar genug. Das erste war ein heißer Schmerz in meinen Lenden, die plötzlich zum Leben erwachten. Nach einer sieben Monate langen Abstinenz schrie meine Männlichkeit schließlich nach Fleisch. Und mein Körper antwortete.
 

Ich war durch den Kuss eines Mannes erregt worden.
 

Dieser Gedanke verursachte das zweite Gefühl. Entsetzen. Ich riss mich augenblicklich los, riss mich so plötzlich los, wie ich ihn zu mir gezogen hatte. Während ich einen gewaltigen Atemzug des reinigenden Rauchs einsog, fühlte ich, wie mein ganzer Körper brannte. Meine jüngste Wunde begann zu pochen, wo die Kugel aus meinem Rücken entfernt worden war. Mit verzerrtem Gesicht umklammerte ich meine Brust.
 

Was hatte ich getan?
 

Mein Blick fiel auf Holmes. Ich besitze nicht die dichterische Gabe von Shakespeare, Dickens oder Jonson und so war es mir weder möglich, die Stille zu beschreiben, die den Raum erfüllte, noch den Schmerz, der durch meinen Körper raste und ganz besonders…
 

Ganz besonders nicht den Gesichtsausdruck von Sherlock Holmes.
 

War es Erschütterung? Ja. Freude? Zweifellos. Angst? In der Tat. Und Erstaunen? Das will ich wohl meinen. Und möglicherweise noch Tausende andere Gefühle, die sich in jeder Linie seiner Stirn, jedem Schatten seiner Augen, jedem schwachen Zittern seines Kiefers abzeichnete. Er starrte mich an mit dem Blick eines Mannes, dessen Seele soeben aus seinem Körper gesprungen war, nur um es sich in der Manteltasche eines anderen bequem zu machen.
 

Damit war es offiziell. Ein Kuss, der wahrscheinlich heiligste Akt der Liebe, war das Versprechen, dass ich niemals wieder rein sein würde. Die Unzucht, wie es das Gesetz bezeichnete, hatte begonnen. Ich brach willentlich sowohl die Gesetze meines Landes als auch meines Gottes.
 

Etwas im Feuer krachte laut, unterbrach das Schweigen. Meine Augen fielen auf die orange-roten Flammen und ich konnte das Ende sehen. Wohin das Ende führen würde.
 

Ich sprang auf die Füße und der sengende Schmerz, der immer noch durch meinen Körper raste, ließ mir den Schweiß von der Stirn rinnen.
 

Holmes spürte, was ich vorhatte und erhob sich ebenfalls. Er kam auf mich zu und hatte einen Arm nach mir ausgestreckt. Eine Hand zitterte leicht. Ich konnte es nicht ertragen.
 

„Watson, warte! Um Gotteswillen…“
 

Gott? Was hatte Gott damit zu tun?
 

Ich konnte nicht mehr antworten, denn ich war bereist die Treppe hinunter gestürmt und hinaus aus der 221B.
 

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[1] Bekenntnisse des heiligen Augustinus 10:23
 

[2] Römerbrief 7:20
 

[3] Holmes würde wohl recht viel Zeit mit Bibelstudien verbracht haben müssen, um zu diesem Argument zu kommen. Dass die Sünde von Sodom ganz und gar nicht Homosexualität sondern eigentlich fehlende Gastfreundschaft war, ist heutzutage ein sehr bekanntes Argument, aber das war es damals wohl kaum. Rechnen wir das seinem Genie zu.
 

[4] Im Englischen eigentlich „martlett“ (und nicht Schwalbe, „swallow“), aber dabei handelt es sich um einen mythischen, in der Heraldik gern verwendeten Vogel, für den es im Deutschen keine Entsprechung gibt und der einer Schwalbe ähnelt.
 

[5] Hilton Cubit, in ‚Die Tanzenden Männchen’
 

[6] Watson spielte Rugby für Blackheath
 

[7] Ein Versuch (engl.: try) ist ein Tor. (5 Punkte wert)



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Teilchenzoo
2007-06-03T15:03:19+00:00 03.06.2007 17:03
Wow, in diesem Kapitel geschah ja so einiges.
Ich lag schon ziemlich richtig, was Abigail betraf. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass es derart dramatisch war. Am Ende hat sie sich zwar unnormal schnell wieder im Griff gehabt, aber die Frau tut mir Leid. Sie hatte sehr schweres durchgemacht, was sie zu ihrer Besessenheit führte.

Es gab ein klärendes Gespräch zwischen Holmes und Watson. Und endlich sieht der Doktor ein, was es mit seinen Gefühlen auf sich hat. Hoffen wir nur, dass er jetzt kein Unheil anrichtet und dass in Zukunft nichts Schlimmes passiert. Ab jetzt wird es gefährlich.

Lg neko
Von:  Sasuke_Uchiha
2006-12-27T22:13:16+00:00 27.12.2006 23:13
Endlich ist es raus. Sie haben darüber gesprochen.
Was wird Watson jetzt wohl tun? Wie geht es mit Josh weiter?


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