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Chuparrosa

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein kleiner, etwas heiterer Einblick in Alvaros Vergangenheit, weil man während der Hauptstory so gut wie nichts über ihn und sein Leben vor seinem Job erfährt. Spielt circa sechs Jahre vor Apnoe.

Für den weiteren Verlauf ist es nicht unbedingt wichtig und spoilert auch nichts. Es sollte zuerst nur ein Kapitel sein und bei Apnoe direkt hochgeladen werden, aber es wollte dann halt doch was größeres und eigenes sein. ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Madreperla: Perlmutt

Palo Santo: 'Heiliges Holz', Baum, dessen harzhaltiges Holz man u.a. zum Räuchern benutzt. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und hier ist der letzte Teil des Bonuskapitels zu Apnoe, das nur ein einziges Kapitel haben sollte...
Kurz: Alvaro kehrt wieder zu den Lebenden zurück und legt ohne es zu wissen gleich noch den Grundstein für seinen zukünftigen Beruf.

Vielen Dank für's Lesen! :D Komplett anzeigen

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Die Große Dame

Stumm saß Alvaro neben seinem Vater im Auto und warf dem Mann neben sich ein paar verhaltene Blicke zu, der mit verbissenem Gesichtsausdruck vor sich hin auf die leere Straße starrte. Kein einziges Wort hatte Arsenio mehr gesagt, seit er eingestiegen und den Motor angelassen hatte. Was schon eine Stunde her war, die seit ihrem Aufbruch vergangen war und in der sie von einem Ende ihrer Stadt zum anderen gefahren waren und nun die Stadtgrenzen hinter sich gelassen hatten. Mit jedem zurückgelegten Kilometer veränderte sich der vorüberziehende Horizont. Die Silhouetten der immer spärlicher dastehenden Häuser wurden schon bald durch Kakteen und struppige Bäume abgelöst, und statt der grellen Werbeleuchten der unzähligen Läden und Restaurants beschien hier die Sonne die menschenleeren Hügel und Felsen.

Auch die Straße hatte sich geändert. Sie war holpriger geworden und die unzähligen Glücksbringer und Duftbäume am Rückspiegel tanzten wild umeinander, prallten gegeneinander und verhedderten sich. Orangefarbener Sand bedeckte die Frontscheibe, über die von Zeit zu Zeit der Scheibenwischer mit einem trockenen Quietschen schabte, wenn die Sicht zu schlecht wurde.

Seit sein Vater ihm seine Pläne, ihn hierher zu bringen, eröffnet hatte, dachte Alvaro mit einem beklommenen Gefühl im Magen darüber nach, was ihn jetzt hier draußen erwarten würde. Laut Arsenio wohnte in dieser Einöde ein Schamane namens Diego, der einen Schrein bewachte und Menschen von Flüchen befreien konnte. Wie er darauf kam, hatte er ihm nicht verraten. Protest hatte er von seinem Sohn nicht zu erwarten, das wusste Arsenio nur zu gut, und dennoch schwieg er sich über seine Kontakte aus, die ihm das hier als letzte Rettung für seinen verfluchten Sohn vermittelt hatten.

Denn dass Alvaro seit dem Skorpionstich vor zehn Jahren verflucht war, war eine unerschütterliche Tatsache für seinen Vater und selbst in Alvaros Ohren klang es mittlerweile plausibel. Mit jedem Jahr, das verging, fühlte er sich schlechter. Die Freude seiner Familie darüber, dass er das Gift überlebt hatte, war bald einer im Hintergrund schwelenden Furcht gewichen, das Gift könnte in seinem Körper mehr Schaden angerichtet haben, als die Mediziner, die ihn behandelten - die laut seiner Tanten und Onkel sowieso reine Stümper waren -, ihnen verraten wollten. Man hatte ihn kaum noch aus den Augen gelassen, auch nicht, als er endlich alt genug war, um nicht mehr wie ein unmündiges Kind behandelt zu werden, aus reiner Angst, dieser im Verborgenen seines Körpers heranwachsende Fluch könnte irgendwann ausbrechen. Und dem wollte man nun zuvorkommen, indem man ihn zu einem Wildfremden brachte, der fernab der Zivilisation in der Wüste außerhalb ihrer Stadt lebte.

Schnell sah Alvaro auf sein Handy hinab, das er seit sie losgefahren waren, nicht aus den Händen gelegt hatte. Immerhin hatte er hier Empfang. Nur für den Fall, dass dieser Fremde ein Psychopath war, der sich einen Spaß daraus machte, gutgläubige Menschen wie seinen Vater in die Wüste zu locken...

Als sein Vater den Wagen abbremste, sah Alvaro das erste Mal seit langem auf.

 

"Vergiss die Tasche nicht!", wies Arsenio seinen Sohn beim Aussteigen an und knallte mit Schwung die Fahrertür hinter sich selbst zu.

Alvaro nahm seinen Rucksack, der während der Fahrt zwischen seinen Füßen gestanden hatte und reckte sich nach der Tasche auf der Rückbank, die sein Vater erwähnt hatte. Sie war schwerer, als sie aussah und in ihrem Inneren klirrte es bedrohlich, als Alvaro sie so vorsichtig wie möglich nach vorne zu sich zog.

Schwer beladen - wovon sein Rucksack, der lediglich mit seiner Kleidung gepackt war, das geringere Gewicht verursachte, im Gegensatz zur prall gefüllten Tasche, die er sorgsam gegen die Brust gedrückt hielt, um das Klirren darin zu minimieren - folgte Alvaro seinem Vater, dessen Schritte schwer über den Boden dröhnten.

Neben seinem massigen Vater sah Alvaro, der die ganzen Jahre nur in die Höhe und weniger in die Breite gewachsen war, aus, wie ein Grashalm neben einer der riesigen Sycamore-Bäumen, deren wuchtige Stämme unbeeindruckt im grellen Sonnenlicht strahlten und die, wenn es ihnen doch mal zu unangenehm wurde, einfach ihre Rinde abwarfen, um danach noch größer und noch umfangreicher weiter zu wachsen.

Stoisch und mit eisernem Gesichtsausdruck ging Arsenio an dem kleinen gemauerten Gebäude mit dem laienhaft gezimmerten Dach aus schmalen, ungleich breiten Holzlatten vorbei, das vor dem eingezäunten Grundstück stand, hin zu dem rostigen Tor, das Besucher auf Abstand zum eigentlichen Wohnhaus halten sollte. Er hatte nicht mal einen einzigen Blick für die bunten Tücher übrig, die vor dem Türlosen Eingang des kleinen Verschlags hingen und die der warme Wüstenwind wie Schiffssegel aufblähte und von denen ihm eins sogar etwas wehmütig nachwinkte.

Alvaro verlangsamte seine eiligen Schritte, mit denen er dem weitausholenden Gang seines Vaters zu folgen versucht hatte, und warf im Vorübergehen einen hastigen neugierigen Blick in das nicht einmal zwei Meter breite Gebäude.

Mit offenem Mund blieb Alvaro stehen und bestaunte das Innere des Bauwerks, über dessen Zweck er sich im ersten Moment keinen Reim machen konnte. Der, bis auf zwei schmale Scharten direkt unter der Decke fensterlose Raum war vollgestellt mit allerlei, auf den ersten Blick ungeordnetem grellbuntem Kram, wie von einem Flohmarkt. Doch je länger man sich das kitschige Sammelsurium betrachtete, umso mehr erkannte man die eigenartige Ordnung, die darin herrschte.

Die Rückwand war bedeckt mit noch mehr von den grob gewebten Stofftüchern, die auch vor dem Eingang hingen und den Sand wenigstens etwas daran hindern sollten, zu schnell Besitz von dem kleinen Verschlag zu ergreifen. Und wie um diese unzähligen Schichten aus bunten Tüchern an der Wand einzurahmen, waren leuchtende Lichterketten um sie herum drapiert, von denen eine so hektisch blinkte, als hätte sie einen Defekt.

Irgendwann würde es hier wohl oder übel zu einem Kurzschluss kommen, dachte Alvaro und folgte mit seinen Augen den Kabeln, die irgendwo unterhalb der Tücher verschwanden.

Das wirkliche Zentrum des kleinen Raums aber bildete das kniehohe Podest, auf dem die Statue eines lebensgroßen, ikonisierten Skeletts stand, dessen traditionelle Kleidung es als die Frau auswies, die sein Vater immer nur ehrfürchtig "Die Große Dame" nannte. In seinen Augen die letzte Rettung für Alvaro.

Seufzend ließ Alvaro seine Blicke über die Große Dame gleiten, die vollkommen unbeeindruckt von dem Theater um sie herum, aus ihren leeren Augenhöhlen hinaus die Erdkugel in ihrer skelettierten Hand betrachtete, während sie in der anderen eine schwarze Sense hielt. Alvaro fand sie aus anderen Gründen, als sein Vater, interessant, aber das war das, was Arsenio nur abfällig als Spinnerei betitelte, obwohl er derjenige war, der ihr eine ganze Tasche voller Gaben gepackt hatte, als wäre es eine lebende Person, die sie hier besuchten.

Ihren Kopf, der unter mehreren Lagen halbdurchsichtiger und mit glänzendem Garn gesäumten Tüchern verdeckt war, zierte eine goldene Krone, die in dem flackernden Licht der Kerzen und Lichterketten wie eine Discokugel blitzte. Sie war über und über mit farbigen Perlenketten behangen, von denen einige bereits so ausgeblichen waren, dass man das matte und spröde gewordene Plastik unter dem Lack erkennen konnte. Es gab wohl viele Leute, wie seinen Vater, für die ihre heißgeliebte Santa Muerte die letzte Hoffnung war.

Alvaros Blicke glitten über die Devotionalien zu Füßen des personifizierten Todes, wo das pure Chaos herrschte. Kerzen, an denen das erkaltete Wachs wie erstarrte Wasserfälle hing, standen neben welchen in Kunststoffhüllen, die noch brannten. Schwarze, gelbe und lilafarbene gab es, aber hauptsächlich tummelten sich dort rote Kerzen neben dutzenden Flaschen mit Alkohol, Zigaretten und frischen und vertrockneten Blumen. Und zwischen all dem Tand starrten einen von Fotos aus hunderte Augenpaare irgendwelcher fremder Menschen und Haustiere an.

Kopfschüttelnd wollte Alvaro zu seinem Vater gehen, als ihn ein schwarzes Augenpaar zurück in seinen Bann zog, das zwischen Schalen mit rauchenden Kräutern, prallen Orangen und bunten Kaktusfeigen hervorlugte. Das breite Lächeln direkt unter der kleinen Stupsnase und die beiden kreisrunden Ohren auf dem Kopf waren unverkennbar: Mickey Maus!

Alvaro lachte leise auf. Warum zur Hölle stand hier neben kleinen und großen Keramikskeletten eine Mickey Maus-Figur? Doch noch ehe Alvaro herausfinden konnte, ob sich außer Mickey noch andere seiner Freunde hier versteckten, wurde er schon von der dröhnenden, keinen Widerspruch duldenden Stimme seines Vaters aus den Gedanken gerissen.

"Komm her, Junge und blamier mich gefälligst nicht!", hallte Arsenios Stimme zu Alvaro hinüber, der sich nur widerwillig von der deplatzierten Comicmaus abwandte und zu dem Giganten hinüber ging, der gerade an einer verwitterten Kette zog, die eine Glocke über ihm am verschlossenen Tor zum Scheppern brachte.

 

Wenige Sekunden, nachdem das blecherne Läuten der Glocke wieder verklungen war, öffnete sich auch schon die Haustür des Wohngebäudes und ein Schemen trat aus dem Dunkel hinaus auf die Veranda. Bedächtig schritt die Person die drei Holzstufen hinab und kam auf das rostige Eisentor zu. Und mit jedem Meter, den der Mann sich ihnen näherte, fiel Alvaro auf, wie jung er eigentlich war. Unter den dichten, dunklen Locken, die ihm fast bis in die amüsiert dreinblickenden Augen fielen, war nichts als glatte Haut zu sehen. Alvaro warf einen schnellen Blick zu seinem Vater hin, der offensichtlich kein bisschen davon überrascht war, dass dieser Schamane hier kein alter tattriger Greis mit grauen Haaren und gebeugtem Gang war, wie Alvaro ihn sich vorgestellt hatte, sondern im gleichen Alter wie sein Sohn zu sein schien.

"Ja bitte?", erklang die ruhige Stimme des ganz und gar nicht alten Mannes, als er am Tor angekommen war. Er sah hinüber zu Alvaro, der ertappt die Augenlider senkte und die Tasche wieder locker ließ, die er so fest gegen die Brust gepresst hatte, dass die klirrenden Glasflaschen darin keinen einzigen Ton mehr von sich geben konnten.

"Reyna", antwortete sein Vater in einem so feierlichen Tonfall, als bäten sie hier um Audienz bei irgendeinem Adeligen.

Alvaro konnte sich das ungelenke Grinsen nicht verkneifen, das sein Vater zu seinem Glück nicht bemerkte, das aber von seinem Gegenüber sehr wohl direkt registriert und erwidert wurde.

"Wir haben für dieses Wochenende einen Termin", fuhr Arsenio fort. "Genaugenommen für meinen Sohn hier." Arsenio schob Alvaro näher zum Tor hin, der unter dem heftigen Schubs seines Vaters kurz ins Stolpern kam. Jetzt schickte er ihn schon vor, als wäre das hier seine Idee gewesen...

"Richtig", bestätigte Diego das Anliegen. Er entriegelte das Tor und zog es auf. Knirschend schabte das Eisentor über den Sandboden darunter und als es sich weit genug geöffnet hatte, dass sie hindurch passten, schob ihn sein Vater kurzerhand vor sich her auf das unbekannte Gelände, als wäre Alvaro ein Möbelstück, das er hier ablieferte.

"Kommt mit", wandte sich Diego an seine beiden Gäste, nachdem er das Tor wieder sorgfältig hinter ihnen geschlossen und verriegelt hatte. Er wartete, bis Alvaro wieder sicher auf den Füßen stand und ging dann vor ihnen her auf das Haus zu.

"Ich gehe davon aus, dass der Ablauf bekannt ist?", fragte Diego über seine Schulter hinweg, ohne seine Schritte zu verlangsamen.

Arsenio sah das erste Mal etwas überrumpelt drein. "Nein - nicht so ganz", gab er schließlich zu. Die Holzdielen der Veranda knarrten trocken unter ihren Füßen, als sie sie Stufe um Stufe hinaufstiegen.

"Das macht nichts." Lächelnd hielt ihnen Diego die Haustür offen. "Das Meiste ist selbsterklärend."

Alvaro vermied jeden Blickkontakt zu Diego, als er an ihm vorbei ins Haus schlüpfte. Er hatte nicht die geringste Lust, ihn durch eine unbedachte Geste zu verärgern. Jemand, der wusste, wie man Flüche heilte, wusste sicher auch, wie man welche aussprach.

 

Staunend folgte Alvaro seinem Vater und dem Fremden durch den Flur in den offenen Wohnbereich des eigentlich ganz gemütlich wirkenden Häuschens. Der dunkle Holzfußboden glänzte in den langen Sonnenstrahlen, die schräg durch die Fenster hineinfielen. Von irgendwoher krochen dünne, angenehm nach Kräutern duftende Rauchwolken über die Möbel. An der Decke hingen zusammengebundene Sträuße irgendwelcher Kräuter und dazwischen immer mal wieder lange Schlingen noch frischer Pflanzen, die wohl noch trocknen mussten. Aus sämtlichen Winkeln des Hauses starrten einen noch mehr Figuren der Santa Muerte in allen möglichen Größen an und zu allen behielt Arsenio einen respektvollen Abstand.

Diego führte sie in den hinteren Bereich zu einer Sitzgruppe und bedeutete ihnen, sich hinzusetzen.

Alvaros Blicke huschten über den dunkleren Teil des Zimmers, aus dem der Rauch zu kommen schien. In den Regalen an der Wand waren buntlackierte Keramikschalen und Töpfe in allen möglichen Größen aufgereiht, und aus einer davon waberte der gut duftende Nebel zum Boden hin, auf den ein seltsames Muster gezeichnet war.

Alvaro neigte den Kopf etwas zur Seite und versuchte, etwas in der Zeichnung zu erkennen, als sich eine Silhouette zwischen ihn und das fremdartige Muster schob.

"Hier, was Kühles." Diego hielt Alvaro ein gefülltes Glas vor die Nase, das Alvaro zögerlich entgegennahm.

Hin und hergerissen sah Alvaro auf das Glas in seiner Hand hinab, in dem Eiswürfel klirrten. Hatte das Ritual schon begonnen? War das hier irgendeine Art magischer Trank? Was passierte, wenn er das trank? Ob er dann in Trance fiel?

"Ganz normaler Eistee", erklärte Diego, der Mühe hatte, sich das Lachen zu verbeißen.

Sein Vater, der sein Glas schon mit einem Zug leergetrunken hatte, sah Alvaro tadelnd an, als hätte er den Verstand verloren und würde ihn hier gerade bis auf die Knochen blamieren. Was schon witzig war, weil Arsenio selbst wirkte, als fühle er sich hier umringt von Skeletten, Kerzen und Glasbehältern mit irgendwelchen nicht näher erkennbaren Flüssigkeiten ganz und gar nicht wohl in seiner Haut.

"Danke", murmelte Alvaro mit tonloser Stimme und nippte vorsichtig an dem Getränk, obwohl er wirklich durstig war. Genau so fingen Filme über Serienkiller an. Mit netten Menschen, die einem Getränke anboten...

"Wir haben ein paar Sachen für den Schrein mitgebracht", begann Arsenio, dem das Verhalten seines Sohns langsam peinlich wurde, und er stieß Alvaro unwirsch seinen Ellenbogen in die Seite, der sich gerade mit angehaltenem Atem die beiden abgetrennten Vogelschwingen ansah, die in einer Schale auf einem Beistelltisch lagen - ohne den Rest des Vogels natürlich. "Gib ihm die Tasche!"

Vorsichtig stellte Alvaro das Glas auf den Tisch und zog die Tasche neben sich vom Sofa. Mit hölzernen Bewegungen überreichte er sie Diego, der unter dem unerwarteten Gewicht kurz aufkeuchte.

"Vielen Dank." Diego mühte sich ab, die Tasche, deren Inhalt erneut laut zu klirren begann, nicht wieder fallen zu lassen. "Das muss ja ein heftiger Fluch sein", scherzte er und ahnte nicht, wie ernst Arsenio das nahm, dessen Augen sich auch prompt erschrocken weiteten.

"Reicht das Wochenende dafür auch wirklich?" Arsenio sah zweifelnd hinüber zu Alvaro, der etwas peinlich berührt an Diego vorbei schaute, doch egal, wohin er sah, standen oder hingen Sachen, die wie Requisiten aus einem Horrorfilm wirkten, die aber zweifellos echt waren. Sonnengebleichte Schädel, trockene Schlangenhäute und etwas, das wie ein Glas eingelegte Gurken aussah, aber vermutlich nicht war. Hätte er doch bloß draußen gewartet...

Diego, der die schwere Tasche endlich zu Boden gestellt hatte, ließ seine fachmännisch wirkenden Blicke über Alvaro gleiten, der tat, als existiere er gar nicht, obwohl er schon ganz gerne gewusst hätte, ob sich der schwingenlose Vogel ebenfalls hier irgendwo befand.

"Ja, müsste reichen", antwortete Diego nach einer Weile und nickte Arsenio zu.

"Dann sehen wir uns also Sonntag wieder." Arsenio erhob sich, froh, diesen seltsamen Ort endlich verlassen zu können, und gab Diego zum Abschied die Hand. Eiligen Schrittes durchquerte der Riese den Wohnraum hin zur Haustür.

"Moment", rief Diego Arsenio hinterher, der schon draußen auf der Veranda stand. "Ich muss das Tor aufsperren." Diego, der einen Kopf kleiner als Alvaro war, mühte sich ächzend mit der Tasche ab, damit er Arsenio, der wie auf der Flucht wirkte, folgen konnte. Großzügig nahm ihm Alvaro die Tasche aus der Hand, was Diego dazu veranlasste, Arsenio hastig nachzugehen.

Bevor Alvaro zu Diego aufgeschlossen hatte, der am Tor auf ihn wartete, war sein Vater schon davongefahren. Alvaro hätte ihm gerne noch gesagt, dass er sich nicht sorgen soll, weil er die bekümmerten Blicke bemerkt hatte, denen man ansehen konnte, wie sehr er hoffte, dass man seinem Sohn hier endlich helfen würde. Doch die Umgebung hier hatte ihn wohl so verunsichert, dass er wie kopflos davon gestürmt war.

Und das erste Mal seit langem fühlte sich Alvaro erleichtert darüber.

Diego, dem die Verwandlung seines Gastes nicht entgangen war, dessen angespannte Haltung sich augenblicklich gelockert hatte, als sein Vater verschwunden war, lächelte leicht. "Dann gehen wir mal die Geister deiner Vorfahren zufrieden stimmen!"

Alvaro, der keinen Schimmer hatte, wie das gemeint war, trottete brav mit der Tasche auf dem Arm hinter Diego her, der zielstrebig auf das kleine Gebäude vor dem Zaun zuging.

 

Hey, Mickey!

 

 

"Und was hat dein Vater dir über mich erzählt?" Ohne sich zu Alvaro herumzudrehen, räumte Diego die Opfergaben aus der Tasche und verteilte sie in aller Ruhe auf dem Altar.

Alvaro starrte auf den schmalen Rücken, der leicht gebeugt über den ganzen Devotionalien balancierte, um bloß nicht mit einer der brennenden Kerzen in Berührung zu kommen, was manchmal verdammt knapp war. So knapp, dass er selbst mehrmals zusammenzuckte. Sein Vater hatte ihm jedenfalls nichts davon erzählt, wie jung Diego war...

"Dass-dass du ein, äh, Schamane bist?" Alvaro fühlte, wie sich sein Gesicht rot färbte und war heilfroh, dass die Lichterketten gerade in der gleichen Farbe vor sich hin blinkten, als Diego ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zuwarf.

Seelenruhig stellte Diego die Bierflaschen zu Füßen der Großen Dame, drapierte die Früchte und die knallbunten Geleebonbons direkt daneben, und lachte leise vor sich hin. "Sehe ich aus wie ein Schamane?"

"Ich-ich-ich weiß nicht", stotterte Alvaro unbehaglich. Diego, der sich nun mit in die Seite gestützten Händen vor ihm aufbaute und breit grinsend auf die Antwort wartete, trug die gleiche Kleidung wie vermutlich ein Großteil aller gerade lebender Menschen: T-Shirt, ausgeblichene Jeans und Flipflops. "Ich habe noch keinen Schamanen gesehen", gestand Alvaro blitzschnell mit dem letzten Rest Luft aus seiner Lunge und schwieg dann wieder.

"Fassen wir mal zusammen!" Diego rollte die dunklen Augen mit den unglaublich langen Wimpern zur Decke hin und tat, als müsste er scharf nachdenken. "Ich bin also ein Schamane. Kein Hexer oder Priester oder Zauberer, sonst hätte ich ja einen Umhang an, richtig?" Seine belustigt blitzenden Augen glitten hinab zu Alvaro. Er hielt kurz inne und sah Alvaro an, bis der endlich zögerlich nickte. "Und das hier ist auch kein Hexenlaboratorium."

Wieder nickte Alvaro stumm zu den abwartenden Blicken und hoffte, dass die Sache damit geklärt wäre. Doch da täuschte er sich.

"Weißt du, was das hier ist?"

Oh Himmel, die Befragung ging weiter. Alvaro räusperte sich schnell. "Ein Schrein?"

"Das hier", rief Diego und breitete seine Arme aus, was in dem vollgestellten Raum kaum noch möglich war. "Das hier ist eigentlich ein Hühnerstall", erklärte er feierlich und lachte über Alvaros tief erschütterten Gesichtsausdruck. "Und ich", Diegos erhobene Arme sanken müde an seiner Seite hinab. "Und ich bin damit dann wohl der Hühner-Schamane."

Er stieß den letzten Satz so kraftlos aus, als hätte er gerade eine Jahrzehnte dauernde Schlacht verloren und Alvaro wusste nicht, ob er nicken oder lachen oder schweigen sollte und entschied sich für Letzteres, weil er das am liebsten tat.

Diego, der die leere Tasche zusammenfaltete und sie dann Alvaro in die verkrampften Hände drückte, bog seine Lippen zu einem relativ neutralen Lächeln, doch Alvaro war genauso vorsichtig wie zu Anfang.

"Dein Vater ist der Kollege von meinem Vater", rückte Diego schließlich mit der unspektakulären Wahrheit raus. "Wie ich meinen kenne, hat er deinem irgendwann in der Pause die gleiche Story aufgetischt, wie allen anderen in der Stadt: wenn er jemanden kenne, der Hilfe benötigt, ob bei einem Fluch oder einer Bitte an die Große Dame, soll er zu Diego kommen. Diego macht das schon! Er hat 'nen guten Draht ins Jenseits, musst du wissen. Highspeed sozusagen, und mit unbegrenztem Datenvolumen..."

Alvaro grinste schüchtern. "Eine E-Mail hätte gereicht?"

"Total", entgegnete Diego laut lachend und klopfte dem größeren schlaksigen jungen Mann, der langsam aufzutauen begann, freundschaftlich gegen den Arm. "Ich glaube, das wird ein lustiges Wochenende." Diego ging neben dem Altar in die Knie und öffnete eine Tür, die unter bunten Tüchern verborgen war, und die ein heiseres Seufzen von sich gab. Kühles Licht beschien Diegos Vorderseite, als er sich leicht vorbeugte und in dem Schränkchen herumkramte, aus dem kalte Luft kroch, ehe er die Tür wieder schwungvoll zuwarf.

"Hier."

Wortlos starrte Alvaro auf die eiskalte Bierdose hinab, die ihm Diego gerade in die Hand gedrückt hatte.

"Was? Noch nie Bier getrunken?", spottete Diego.

"Doch", murmelte Alvaro kaum hörbar, ohne die etwas erschrockenen Blicke von der Dose zu lassen, deren dünne Metallhülle so klirrend kalt war, dass es sich anfühlte, als würde sie an seinen Fingern festfrieren. "Aber noch nie aus einem Schrein..."

"Ach ja, der Fluch der Toten", zog Diego ihn weiter auf und schob Alvaro, der schockstarr wie ein Reh im Scheinwerferlicht die Tür blockierte, schließlich vor sich her und aus dem Schrein heraus. "Dann erlösen wir dich mal von deinem Fluch", verkündete Diego gut gelaunt. Er ging jede Wette ein, dass der auf die Kappe von Alvaros Verwandtschaft ging - der noch lebenden allerdings.

 

 

"Setz dich", wies Diego Alvaro an und deutete auf den in der harschen Umgebung aus ständiger Befeuerung mit Sonnenlicht und Stürmen von wie Schleifpapier wirkendem Sand spröde gewordenen Gartenstuhl hin, den Diego ihm in den Schatten des kleinen Häuschens gestellt hatte.

Alvaro nahm Platz und wartete geduldig darauf, dass jetzt das Ritual begann, mit dem Diego ihn von der Heimsuchung des Skorpions befreien sollte. Gebannt sah er zu Diego, der einen zweiten Gartenstuhl zu ihm schob. "Was soll ich tun?"

"Einfach sitzen bleiben", war die lapidare Antwort. Der zweite Gartenstuhl zog eine kleine Sandwolke hinter sich her und kam knirschend neben Alvaro zum Stehen. Erleichtert seufzend ließ sich Diego auf den Stuhl fallen. Er lehnte sich nach links und gleich darauf erklang die scheppernde Stimme eines Radiomoderators aus dieser Richtung, der unglaublich tolle Preise anpries, die es in der nächsten halben Stunde hier zu gewinnen gab. Bis dahin sollten die Hörer auf keinen Fall umschalten und sich schnell anmelden, um an dem Gewinnspiel teilzunehmen. Eine Telefonnummer wurde hektisch vorgelesen und dann dröhnte auch schon der erste von mindestens hundert Songs aus dem Lautsprecher.

Gekonnt fing Alvaro mit der freien Hand das Zigarettenpäckchen auf, das ihm Diego zuwarf. Er nahm sich eine und gab den Rest zurück. Die Bierdose zischte beim Öffnen und stieß einen feinen Nebel aus, der sich in der Hitze direkt verflüchtigte. Alvaro nahm einen ersten Schluck von dem eiskalten Getränk, und genoss das frische Kribbeln der Kohlensäure in seinem Mund. "Ist der Kühlschrank da drinnen Standard?"

Diego setzte die Bierdose ab. "Wo? In einem Hühnerstall oder in einem Schrein?" Er wartete darauf, dass Alvaro seine Frage etwas näher erklärte, aber der sah ihn nicht weniger irritiert an, so dass sie am Ende beide lachen mussten.

"Warum bist du so sicher, dass das Wochenende reicht?" Alvaro warf einen schnellen Blick zu Diego hin, der ein bisschen in seinem Gartenstuhl nach unten gesunken war und mit ausgestreckten Beinen dasaß, die Bierdose auf seinem Bauch balancierte und in der anderen Hand eine glimmende Zigarette hielt, an deren Hülle sich feiner Rauch in die Höhe kräuselte.

"Ich hab's in deinen Augen gesehen", antwortete Diego kryptisch und zog an der Zigarette. Er wirkte ein wenig, als wäre er in einem völlig anderen Universum, wie er so da saß und auf den Horizont blickte, über den ein paar verirrte Wolken zogen. "Bei dir fehlt dieser glänzende Schimmer beginnenden Wahnsinns, den ich von den ganzen Pilgern hier sonst gewohnt bin." Sein Gesicht wandte sich Alvaro zu, der mit fragend zusammengezogenen Augenbrauen über den Zusammenhang nachdachte.

"Das sieht mein Vater wahrscheinlich anders", murmelte Alvaro bedrückt.

Diegos Mund verzog sich zu einem verständnisvollen Lächeln. "Du hast einfach nur Angst. Vor deinem Vater und davor, dass er recht hat."

Alvaro wandte die ertappten Blicke von Diego ab und nahm einen Schluck Bier.

Die Sonne tauchte die spärlich bewachsenen Felsen in flüssiges Gold, das, je weiter sie sank, in ein immer tiefer werdendes Orange überging. Ein warmer Wind wirbelte den Sand vor ihnen sachte auf über den eilig kleine schwarze Käfer krabbelten, als hätten sie etwas dringendes zu erledigen. Ihre dünnen Beinchen tippelten flink über sämtliche Hindernisse hinweg, Stöcke, Steine, Sandhügel, wobei sie gemessen an ihrer Größe in kürzester Zeit ganze Gebirge überquerten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Blitzschnell tauchten sie in dem vielverzweigten Wurzelwerk der wie halb tot wirkenden Kreosotbüsche ab, die, wenn es regnete, die ganze Umgebung mit ihrem schweren süßen Duft erfüllten, der danach noch tagelang wie Wolken über den Büschen hing.

"Warum steht da drinnen-", begann Alvaro wie aus dem Nichts heraus.

"Eine Mickey Maus?", beendete Diego die angefangene Frage und grinste Alvaro an, der eifrig nickte. "Gratulation, du bist der Erste, dem sie aufgefallen ist. Ich hatte die mal aus Spaß dort reingestellt. Allen anderen war es bisher egal, oder sie haben sie einfach nicht bemerkt." Er ließ die gerauchte Zigarette zwischen seinen Beinen zu Boden fallen und zertrat sie, bis die Glut erstarb. "Vielleicht stelle ich noch eine dazu. Was hältst du von Karlo?"

"Karlo? Ernsthaft?" Alvaro klang ehrlich geschockt. "Du kannst doch keinen Kater zu einer Maus stellen!"

"Dann mach halt einen brauchbaren Vorschlag, du Mäuse-Experte", lachte Diego.

"Pluto natürlich. Der gehört ja sowieso zu Mickey. Oder Goofy. Hunde und Mäuse vertragen sich immerhin."

"Hört, hört!", rief Diego theatralisch. "Ich habe schon gesehen, wie ein Hund eine Maus gefressen hat, also ist das ja offensichtlich nicht so!" Mit interessiert geweiteten Augen wartete er auf Alvaros weitere Argumente, der sich Mühe gab, jede einzelne in Frage kommende Figur aus Entenhausen anzupreisen, bis Diego schließlich lachend aufgab und sie sich endlich auf Pluto einigen konnten.

 

Alvaro merkte, wie die Anspannung immer weiter von ihm abfiel, so dass ihn für eine Weile nicht mal mehr Diegos amüsierte Blicke verunsicherten, die dieser ihm von Zeit zu Zeit zuwarf, wenn er dachte, Alvaro bekomme es nicht mit.

"Ich kenne dich noch aus der Schule", sagte Diego irgendwann und nickte schnell als Alvaro ihn mit offenem Mund anstarrte. "Du warst eine Klasse unter mir."

"Echt jetzt?" Einen Moment vergaß Alvaro sogar seine sonstige Schüchternheit. Er durchsuchte seine Erinnerungen nach seiner Schulzeit, aber wirklich spektakuläres war da nie vorgefallen. Dass sich Diego ausgerechnet an ihn erinnerte?

"Das wurde also aus dem Skorpion-Jungen", fuhr Diego nachdenklich fort und schmunzelte über Alvaros sich rot verfärbende Wangen. "Du warst damals das Stadtgespräch!"

"Das weiß ich selbst", nuschelte Alvaro kaum hörbar und nippte lieber wieder an seinem Bier. Wie könnte er das vergessen?!

"Und was machst du sonst so, wenn du nicht an einem Exorzismus teilnehmen musst?" Diegos unkonventionelle Art der Themenführung ließ Alvaro wieder unwillkürlich grinsen.

"Weiß ich noch nicht", seufzte er wie jemand, der vor der unlösbarsten Aufgabe der gesamten Menschheit stand, und schwieg sich wieder aus. Jeder Versuch, mal etwas selbstständiger zu werden, wurde gleich von seiner Familie im Keim erstickt. Viel war ihm da nicht mehr übrig geblieben.

"Ging mir genauso, bevor ich das Haus von meinen Großeltern geerbt habe und dieser elende Mist mit dem Schrein losging." Das erste Mal fiel Diegos gute Laune wie eine Maske von seinem Gesicht und entblößte die Aussichtslosigkeit seiner Situation darunter, die Leute wie Alvaros Vater nie zu sehen bekamen. "Egal, was du machen willst, das hier", Diegos Hand machte eine ausladende Kreisbewegung, um ihre Umgebung einzuschließen, "kann ich dir jedenfalls nicht empfehlen, wenn du deine Ruhe haben willst..."

"Ich merke es mir." Alvaro sah auf die halbleere Dose in seiner Hand hinab. Es wäre sicher das Letzte, was Diego hören wollte, aber 'das hier' klang in seinen Ohren lebenswerter als das, was ihn ab Sonntag wieder zuhause erwarten würde. "Wie sieht dein Tag hier normal aus?"

"Voller Hokuspokus und Langeweile", antwortete Diego geknickt. "In genau dieser Reihenfolge, aber meistens mit mehr Langeweile als Hokuspokus. Das mit den Hühnern hat sich ja wohl erledigt, so lange der Stall besetzt - oder besser: besessen ist."

Ganz kurz bereute Alvaro das Thema angeschnitten zu haben. Er hatte Diego eigentlich nicht runterziehen wollen.

"Weißt du, die Leute stören mich ja nicht mal so sehr. Die meisten kommen her, stellen was in den Schrein, beten und gehen dann wieder. Und ich passe einfach nur auf, dass alles in Ordnung bleibt. Räume alte Sachen raus, gehe in die Stadt und schenke die übrigen Lebensmittel weiter, weil ich die nie im Leben selbst verwerten könnte. Aber weißt du, was mich richtig nervt?"

Beeindruckt von Diegos bisherigem Monolog schüttelte Alvaro den Kopf.

"Ich habe mir von meinem Leben was anderes vorgestellt, als mit 20 Jahren in der Wüste zu wohnen, in einem Haus, das nach Waldbrand und Pizzeria riecht, und mich um einen Schrein kümmern zu müssen, den es gar nicht geben sollte." Diegos Augen sahen müde aus, als er Alvaro kurz ansah. "Ich wollte in die Stadt, was anständiges arbeiten, gut davon leben und Spaß haben. Das war alles."

"Könnte schlimmer sein." Alvaro wurde erst bewusst, was er da Unsinniges gesagt hatte, als sich Diego ihm zuwandte. Seine Mundwinkel zuckten, als würde er entweder gleich lachen oder weinen, aber er entschied sich für das Lachen.

"Ach ja? Erzähl mal, was es Schlimmeres gibt."

Schüchtern wich Alvaro Diegos jetzt belustigten Blicken aus. "Meinen Vater, der seit zehn Jahren ein Drama aus einem bescheuerten Skorpionstich macht?", murmelte Alvaro halb fragend.

"Okay, damit steht es dann unentschieden!", verkündete Diego und lachte endlich wieder ohne diesen bitteren Zug um die Lippen. "Machen wir das Beste daraus - was anderes bleibt uns ja sowieso nicht übrig. Soll dein Vater halt denken, dass du hier von deinem Fluch geheilt wirst, aber in Wirklichkeit hast du einfach mal deine Ruhe."

"Danke dafür. Ehrlich, ohne Witze", stieß Alvaro feierlich aus.

"Erzähl es bloß nicht weiter, sonst wollen nachher alle bei mir übernachten und ich habe keine Lust, mich noch um ein Gästehaus kümmern zu müssen", alberte Diego weiter.

Und gerade als Alvaro Diego versichern wollte, dass sein Geheimnis bei ihm gut aufgehoben war, fuhr dieser wie ein geölter Blitz von seinem Sitzplatz auf.

"Verdammt!", schrie Diego auf und raste davon. "Ich hab den Scheiß Torso vergessen!"

 

Ein Feriencamp wäre billiger gewesen

"Den was?", rief Alvaro alarmiert und sah dem jungen Mann nach, der hektisch hinter sämtlichen Holzplatten und Blumentöpfen, die rund um das Haus herum verteilt standen, nachsah.

"Den verdammten Torso!", wiederholte Diego, ohne Alvaros Frage damit wirklich zu beantworten. "Wie ein Torso halt aussieht, Mann. Keine Beine, keine Arme und kein Kopf!", erklärte er atemlos und schob Alvaro beiseite, der ihm gefolgt war. "Schaust du keine True-Crime-Dokus? Gott, ich muss mich beeilen, bevor jemand was merkt!"

Alvaros Hals fühlte sich plötzlich so eng an, als wäre eine Dampfwalze darüber hinweg gefahren. Er war hier mitten in der Wüste, ohne Auto oder andere Nachbarn, zu denen er hätte flüchten können, gefangen mit einem Irren, den man in jeder dieser Dokus als den typischen netten jungen Mann von nebenan beschreiben würde, dem man so etwas niemals zugetraut hätte. Echt toll, gerade als er begonnen hatte, sich wohlzufühlen, entpuppte sich Diego scheinbar doch als Serienkiller und sein Telefon lag natürlich wie in jedem guten Horrorfilm außerhalb seiner Reichweite im Haus...

Mit respektvollem Abstand und starr vor Angst sah Alvaro Diego weiter zu, der wie im Wahn vor sich hin fluchend jetzt zu einer Gruppe alter Fässer eilte und hineinsah und seinen Gast wohl total vergessen hatte. Vielleicht lag er selbst als nächstes in einem der Fässer? Ohne Beine. Ohne Arme. Ohne Kopf...

So geräuschlos wie möglich schlich Alvaro in die entgegengesetzte Richtung von Diego davon. Bloß keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Nur noch ein paar Meter, dann war er um die Ecke herum und konnte ins Haus flüchten.

Noch ehe er seinen Fluchtplan allerdings verwirklichen konnte, fielen Alvaros Blicke auf etwas, das dem, was Diego suchte, am nächsten kam und es fühlte sich an, als fiele ihm ein ganzes Gebirge von den Schultern. Diego war wohl doch kein Serienkiller. Jedenfalls kein so offensichtlicher.

 

"Meintest du das hier?"

Diego drehte sich zu Alvaro herum, der hinter ihm stand und eine Schneiderpuppe ohne Ständer um die Taille hielt, als wäre sie ein Ball, den er Diego gleich zuwerfen würde. Ihr mit Blümchenstoff bezogener Körper war an manchen Stellen kohlrabenschwarz versengt und aus den brüchig gewordenen Nähten, die alles nur noch mäßig zusammenhielten, quoll hier und da die Füllung heraus.

"Oh danke ja!", schrie Diego erfreut auf und strahlte über das ganze Gesicht. Er riss Alvaro die Schneiderpuppe aus den Händen und marschierte damit zum Tor. "Du hast ja keine Ahnung, wie knapp das gerade war", rief er lachend und stellte den Torso neben das Tor an die Mauer.

Er hatte wirklich keine Ahnung, dachte Alvaro mit gemischten Gefühlen, während Diego seine Blicke hektisch über die Umgebung fliegen ließ und etwas zu suchen schien. Er hatte keine Ahnung, warum das hier gerade geschah und er hatte keine Ahnung, was als nächstes kommen würde.

"Wenn ich das Teil nicht rechtzeitig rausgestellt hätte, dann hätte es hier bald vor irgendwelchen Leute gewimmelt", erklärte Diego endlich das Geschehene, von dem Alvaro fünf Minuten lang gedacht hatte, dass jetzt seine letzte Stunde geschlagen hätte.

"Zur Abschreckung?", hakte Alvaro vorsichtig nach. Diegos fröhliches Lachen klang alles andere als das eines Mörders. Und sollte er doch einer sein, würde Alvaro bei jeder Befragung ehrlich antworten, dass er ihm das niemals zugetraut hätte. "Wie kam es dazu?"

"Ganz am Anfang kamen die Leute hier bis ans Haus, haben zu jeder Tages- und Nachtzeit durch die Fenster geschaut, geklopft oder nach mir gerufen und mich zu Tode erschreckt. Dann habe ich den Zaun hinter den Schrein versetzt, damit man ihn auch von außen betreten kann, das Tor repariert und ein funktionierendes Schloss eingebaut, weil ich auch mal meine Privatsphäre haben möchte, wenn du verstehst, was ich meine."

Diego grinste und Alvaro verstand direkt, was er meinte und das war ihm peinlicher, als wenn er nichts davon kapiert und wie ein naiver Trottel dagestanden hätte.

"Jedenfalls dachten die Leute, wenn ich das Teil rausstelle, dass ich nicht gestört werden darf, weil gerade irgendein Ritual stattfindet und sie hielten sich vom Haus fern. Und alles nur, weil es zufällig draußen stand, als der Schrein damals brannte."

"Als der Schrein brannte?", wiederholte Alvaro beeindruckt.

"Das waren jetzt zuviele Informationen auf einmal, oder?" Diego lächelte Alvaro mitleidig zu, der langsam Kopfschmerzen von den geballten Eindrücken von heute bekam.

Im Prinzip war die Geschichte vollkommen schlüssig, wie Diego sie erzählte. Er hatte das Haus seiner verstorbenen Großeltern ausgeräumt und alles kurzerhand nach draußen in den alten Hühnerstall verfrachtet, um es bei Gelegenheit zum Schrottplatz zu fahren. Darunter auch die Große Dame neben vielen weiteren Figuren, weil seine Großeltern offenbar genauso abergläubisch waren, wie der Rest der Einwohner hier. Und weil es dunkel wurde und er endlich fertig werden wollte, hatte er sich eine brennende Kerze in den Stall gestellt, um in ihrem Licht weiterarbeiten zu können. Die Kerze hatte wiederum einen knochentrockenen Stoff entzündet, der über der Schneiderpuppe hing, die er ebenfalls entsorgen wollte. Und weil er nichts zum Löschen da hatte, warf er den brennenden Torso nach draußen, trat das Feuer aus und stellte das Teil gegen die Mauer, damit es abkühlen und auslüften und er selbst endlich schlafen gehen konnte.

Als er am nächsten Tag weiterarbeiten wollte, sah er, dass jemand - vermutlich vom Feuerschein angelockt - den Stall aufgeräumt, die Figuren ordentlich platziert und eine neue Kerze im Stall entzündet hatte. Und seitdem kamen immer wieder irgendwelche Spinner vorbei, brachten alles mögliche an Krempel mit und stellten es in den Hühnerstall.

 

"Ich glaube, ich brauche noch ein Bier. Ich fühle mich viel zu nüchtern für solche Geschichten", raunte Alvaro, der bis jetzt schweigend zugehört hatte.

Diego beugte sich zum Kühlschrank hinab. "Der Altar kam erst später dazu. Genau wie die Elektrik. Und ich weiß bis heute nicht, wer das war." Er drückte Alvaro die eiskalte Dose in die Hand. "Einerseits ist es schon irgendwie gut, wegen des Kühlschranks, aber andererseits lockt die bekloppte Beleuchtung immer mehr Leute an. Die sind wie die Motten! Ich habe versucht, sie wegzuschicken, aber dieser Schrein hier hatte sich schneller herumgesprochen, als ich bis Drei zählen konnte. Und du siehst ja, was daraus wurde. Jeden Tag kommen hier Pilger her und wollen im Hühnerstall beten oder von Flüchen geheilt werden." Atemlos beendete Diego seinen Vortrag und nahm die Dose von Alvaro entgegen, die der ihm mitleidig lächelnd hinhielt. Er trank einen großen Schluck daraus und gab sie Alvaro zurück.

"Warum zur Hölle bleibst du dann?"

"Weil die mir verdammt viel Geld dafür geben, dass ich hier irgendeinen Scheiß verbrenne und einen beleuchteten Hühnerstall habe", lachte Diego und Alvaro stimmte in das Lachen ein.

"Das ist Eins zu Eins wie bei meinem Vater!", rief Alvaro, dem die Lachtränen die Wangen runterliefen.

"Weiß ich, der hat mir auch viel dafür bezahlt, damit sein Sohn mal ein Wochenende Ruhe vor seiner Familie hat. Ein richtiges Feriencamp wäre billiger gewesen."

"Hoffentlich lohnt es sich auch", witzelte Alvaro und stellte sich seinen Vater vor, wenn der diese Unterhaltung mitbekommen hätte. Nein, besser nicht...

"Ich denke schon." Diego wartete, bis Alvaro durch das Tor geschlüpft war und sperrte dann hinter ihnen ab. "Du bist ja jetzt schon praktisch ein anderer Mensch. Oder ein Mensch überhaupt, um mal klein anzufangen."

"Du machst richtig beschissene Komplimente." Gemächlich schlenderte Alvaro neben Diego zum Haus hinüber.

"Eins solltest du aber noch wissen: wenn es dunkel wird-", begann Diego in dem Moment, als sich die Haustür hinter ihnen schloss.

Alvaro, der jetzt eine Geschichte über menschenfressende Kreaturen erwartete, sah sein Gegenüber so schockiert an, dass dieser beinahe wieder in Lachen ausgebrochen wäre.

"Wenn es dunkel wird und du von schiefem Gesang und Gemurmel geweckt wirst, ist nur wieder jemand am Schrein. Ignorier es einfach und versuch weiterzuschlafen."

"Danke für die Warnung."

"Hungrig?" Diego wartete gar nicht erst auf Alvaros Antwort und verschwand in der Küche.

Nachdenklich sah Alvaro Diego zu, der den Kühlschrank öffnete und ein paar Behälter daraus auf die Arbeitsfläche stellte. "Die Sachen sind aber nicht aus dem Schrein, oder?"

"Selbstverständlich nicht", lachte Diego trocken auf. Natürlich waren die Sachen aus dem Schrein. Woher sonst?!

 

 

"Das hier ist mein altes Kinderzimmer, als ich mal für eine Zeit lang hier gewohnt hatte. Ich hoffe, es ist okay."

Alvaro warf einen schnellen Blick durch die offene Tür. Keine Spur von irgendwelchen Heiligenfiguren, Schädeln oder seltsamen Behältern mit noch seltsameren Inhalten. Stattdessen hellgrün gestrichene Wände, Filmposter und ein paar alte Stofftiere. Also ja, es war okay.

"Wenn nicht, kannst du auch mit mir tauschen und bekommst das Zimmer meiner Großeltern", fügte Diego hinzu, dem Alvaros erstes Zögern aufgefallen war.

"Nein, nein, das hier ist perfekt", lehnte Alvaro das Angebot schnell ab und ließ seinen Rucksack auf den Schreibtischstuhl fallen, damit Diego auch sah, dass es ihm ernst war. Er wollte auf gar keinen Fall in Omis Bett schlafen. Das war gruseliger, als alles hier zusammen gezählt.

"Das Bad ist direkt neben deinem Zimmer und wenn was ist, mein Zimmer ist am Ende des Flurs." Diego gab Alvaro eine neue Decke. "Weck mich bitte vorsichtig. Ich habe einen festen Schlaf, seit ich den Zirkus hier endlich eingedämmt habe."

"Geht klar."

"Dann sehen wir uns zum Frühstück wieder", verabschiedete sich Diego endgültig und ließ Alvaro alleine zurück.

 

Mitten in der Nacht fuhr Alvaro erschrocken auf. Er brauchte ein paar Augenblicke, um sich wieder daran zu erinnern, dass er nicht Zuhause war, sondern in Diegos Häuschen mitten in der Wüste. Er wusste auch nicht mehr, ob er nur schlecht geträumt hatte oder ob er wirklich Stimmen aus Richtung des Schreins gehört hatte, von denen Diego ihm noch gesagt hatte, er solle sie ignorieren, aber in seiner Erinnerung war da ein beunruhigender Singsang haften geblieben, der ihn während des Schlafs begleitet hatte, bis sich sein Unterbewusstsein endlich aus diesem befremdlich tiefen Schlummer befreien konnte, in dem er wie in einem Sumpf festgesteckt hatte. Und jetzt war sein Körper über und über mit kaltem Schweiß bedeckt und sein Herz klopfte, als hätte er einen Marathon hinter sich.

Alvaro tastete nach seinem Handy. Es war erst kurz vor Vier. In etwa einer Stunde würde sich der Himmel langsam von Tiefschwarz in ein dunkles Tintenblau wandeln, bis dann irgendwann die ersten Sonnenstrahlen über die Felsen stiegen. Es war genug Zeit, um sich nochmal umzudrehen und die Augen zu schließen, aber an Schlafen war nicht mehr zu denken. Sein rasender Puls war auf Flucht vorbereitet.

 

Sein Gast hatte wohl besser geschlafen, als angenommen, dachte Diego, der kurz nach Sonnenaufgang über den totenstillen Flur wankte. Oder er war mitten in der Nacht abgehauen, fiel es ihm gleich danach ein. Schnell warf Diego einen Blick in sein altes Zimmer und lächelte stumm. Das Bett war leer. Die Decke war zwar glatt gezogen, aber immerhin sah sie benutzt aus, was hieß, Alvaro hatte zumindest versucht, es hier auszuhalten.

"Das Geld gibt es trotzdem nicht zurück", erklärte Diego dem leeren Zimmer und verschwand dann im Bad.

Ohne Schmerzen geht es nicht

Diego erschrak fast zu Tode, als er wenig später die Küche betrat und eine unerwartete Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Dieses verdammte Haus und seine Einrichtung waren irgendwann noch mal sein Tod!

"Wie nett von dir, dass du uns das Frühstück machen wolltest", begrüßte er Alvaro, der am Küchentisch saß und den Kopf auf seinen vor sich auf der Tischplatte verschränkten Armen liegen hatte. "Bist du vorher wieder eingeschlafen oder was ist passiert?"

Alvaro gab lediglich ein dumpfes Murmeln von sich, ohne dabei den Kopf zu heben.

"Sag nicht du hast von 1 ½ Dosen Bier schon 'nen Kater!" Diego bekam noch immer keine richtige Antwort und wandte sich schulterzuckend dem Kühlschrank zu. Dann übernahm er eben den Küchendienst, wie an jedem anderen Tag auch. Er stellte den Eierkarton auf dem Küchentisch ab und betrachtete sich besorgt seinen Gast, der es weiterhin vorzog, mit dem Kopf auf der Tischplatte zu liegen. Immerhin atmete er, was schon mal ein gutes Zeichen war.

Diego reckte sich über die Tischplatte hinweg. Er stieß Alvaro gegen den Arm und zuckte im gleichen Moment zurück, als seine Finger sein Gegenüber berührten. Selbst durch das T-Shirt hindurch fühlte er die Hitze, die Alvaro ausstrahlte.

"Was ist los?" Diego musste sich zusammenreißen, um nicht zu erschrocken zu klingen, aber etwas stimmte nicht mit Alvaro. Er umrundete den Küchentisch und strich Alvaro die feucht glänzenden Haarsträhnen aus der völlig verschwitzten Stirn. Er glühte förmlich, aber das Zittern, das seinen Körper durchlief, wirkte eher, als hätte er gleichzeitig kalt. Ein Kater war das hier jedenfalls nicht!

Alvaro, den Diegos angenehm kühle Hand aus seinem Delirium riss, hob kurz den Kopf an. "Das Bier", stieß er heiser aus. "Das Bier aus dem Schrein war doch verflucht!"

Diego wollte widersprechen, weil er sich selbst kerngesund fühlte, aber er ließ es sein - Alvaro würde ihm sowieso nicht zuhören. "Ich denke eher, du bist erkältet", wandte er ruhig ein, was Alvaro mit Kopfschütteln verneinte.

"Tut dir irgendwas weh, oder hast du dich vor Kurzem verletzt?"

Erneut schüttelte Alvaro den Kopf, ließ es aber gleich wieder sein, weil es sich anfühlte, als schwimme sein Hirn wie eine Boje auf sturmgepeitschter See. "Warte, doch", berichtigte er sich müde und setzte sich aufrecht hin. Er hob den Saum seines T-Shirts an und noch ehe Diego verstand, was er wollte, hatte er es ausgezogen.

"Gute Güte", kommentierte Diego den glühend roten Fleck auf Alvaros Brust. "Das hast du aber nicht erst seit gestern, oder?"

"Nein", krächzte Alvaro und schüttelte ganz leicht den Kopf, damit der Seegang darin nicht noch schlimmer wurde. Er wirkte so miserabel, dass Diego augenblicklich Mitleid mit ihm bekam.

"Komm, leg dich wieder hin." Diego stützte seinen Gast beim Aufstehen und lenkte ihn ins Wohnzimmer zum Sofa hin. "Wie lange wolltest du warten, bis du mir das zeigst? Bis ich deinen kalten Körper hier irgendwo finde?" Behutsam half er Alvaro dabei, sich auf dem Sofa niederzulassen und ließ erst los, als der ruhig auf dem Polstermöbel lag. Diego zog den Wohnzimmertisch zum Sofa hin und nahm darauf Platz. Er beugte sich so weit vor, wie er konnte und betrachtete sich die Wunde auf Alvaros Brust. Seine Hand strich vorsichtig darüber. Die Stelle war unglaublich heiß und angeschwollen, aber noch war nichts davon zu sehen, dass die Entzündung weiterwanderte.

"Kann ich dich mal für eine Stunde alleine lassen?" Am liebsten hätte er Alvaro mitgenommen, aber der war schon wieder halb eingeschlafen. "Wo ist dein Telefon? Ich gebe dir meine Nummer und wenn was ist, rufst du an, okay?"

Alvaro nickte matt, ohne die Augen zu öffnen.

"Du bleibst hier liegen, bis ich wieder da bin." Diego drückte Alvaro eine Wasserflasche in die Hand. "Keine Ausflüge, ja! Ich will dich nicht irgendwo draußen suchen müssen, verstanden?"

Alvaro packte Diegos Hand und hielt sie fest, als wäre das hier ihr Abschied für immer. "Was hast du denn vor?"

"Heilkräuter sammeln." Aber nicht die Art, die Alvaro erwartete...

Zufrieden lächelnd sank Alvaros Hand an seiner Seite hinab zu Boden und er dämmerte weg.

Diego hob Alvaros Arm an und legte ihn sorgsam auf dessen Bauch. Er dachte kurz darüber nach, ob es wirklich eine gute Idee war, Alvaro alleine zu lassen, um zur nächsten Apotheke zu rasen, aber je länger er zögerte, um so mehr Zeit verlor er.

 

Ein Luftzug und das Rascheln von Papier ließen Alvaro die Augen wieder öffnen. Neben ihm saß Diego und packte den Inhalt einer Papiertüte aus. Ob er immer noch oder schon wieder da saß, konnte er nicht sicher sagen, weil er sich an nichts davor erinnern konnte, außer dass Diego irgendwas besorgen wollte. Alvaro bemühte sich, den Sumpf, zu dem sein Hirn geworden war, nach brauchbaren Informationen zu durchsuchen. Oh, richtig!

"Hast du die Heilkräuter schon gesammelt?" Alvaros Stimme klang kratzig, weil die ungeöffnete Wasserflasche noch immer in seinem Arm lag, anstatt dass er etwas daraus getrunken hatte, aber er fühlte sich schon minimal weniger gerädert.

"Ja, war ganz einfach." Diego knickte eine Kapsel aus der Blisterfolie, die er in der Hand hielt. "Setz dich auf, sonst verschluckst du dich."

Alvaro starrte auf die Kapsel in seiner Hand hinab, die Diego ihm gegeben hatte und dann zu Diego, der vor ihm auf dem niedrigen Wohnzimmertisch saß und ihm statt der angekündigten Heilkräuter eine Tablette gegeben hatte. "Aber ich dachte-"

"Ich weiß was du dachtest", seufzte Diego. Er öffnete Alvaros Wasserflasche und drückte sie ihm in seine freie Hand. Er sah ihm in die glänzenden Augen, die vom Fieber gehetzt keine Ruhe fanden und rastlos über Diegos Gesicht schwirrten. "Es reicht halt nicht immer, Kerzen anzuzünden und zu beten." Geduldig wartete er, bis Alvaro, der ihn nachdenklich angesehen hatte, endlich die Kapsel schluckte, nur um ihm dann noch eine Tablette in die Hand zu drücken.

Fünf Minuten hatte Diego neben ihm gesessen und hatte mit sich gerungen, ob er ihn wirklich alleine lassen sollte. Er hatte Alvaro zugesehen, wie er im Fieber irgendwas vor sich hingemurmelt hatte, und dann hatte Diego einen Arzt gerufen. Alvaro hatte nichts mitbekommen. Weder, dass er untersucht wurde, noch als Diego danach dann doch zur Apotheke gerast war, um die verschriebenen Medikamente abzuholen, was hieß, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Einzig bei der Spritze, die er bekommen hatte, hatte er kurz gezuckt.

Müde sah Alvaro zu, wie Diego noch eine Flasche und mehrere dicke Kompressen aus der Tüte nahm. Aus der Flasche, die er gerade öffnete, strömte ein so beißender Geruch, dass Alvaro den Kopf wegdrehen musste, als sich die Kompresse, die Diego damit getränkt hatte, seiner Brust näherte. Tapfer versuchte er, nicht zusammenzuzucken, als Diego die entzündete Hautstelle berührte.

"Tut mir leid, ohne Schmerzen geht es nicht", entschuldigte sich Diego, während er so sachte wie möglich die gerötete Stelle reinigte. Die Wunde sah seltsam auf. Sie war nicht tief. Eher wie oberflächliche Kratzer, aber in einer so ungewöhnlichen Anordnung, die er sich nicht erklären konnte. Die Stellen, an denen die Wundflüssigkeit getrocknet war, sahen viel zu geplant aus.

So nah es ging beugte sich Diego über die Wunde und jetzt fielen ihm die dunklen Linien auf, die etwas erhobenen Dämmen glichen. "Ist das-"

"Ja, ein Tattoo", beendete Alvaro erschöpft Diegos erschrockenen Aufschrei.

"Schön, schön", entgegnete Diego nach mehrmaligem Ein- und Ausatmen und unterdrückte die kurze Panik in seiner Stimme. Gut, dass er auf sein Bauchgefühl gehört und einen Arzt gerufen hatte. Mit fahrigen Fingern drückte er die Creme aus der Tube, die er mitsamt den anderen Sachen aus der Apotheke hatte, und verteilte sie auf einem Tuch, das er vorsichtig auf die Wunde legte und an den Seiten festklebte.

"Du riechst gut", bemerkte Alvaro aus heiterem Himmel. Seine Hand griff nach einer glänzenden Haarsträhne, die vor Diegos Augen hing und er ließ sie sachte durch seine Finger gleiten.

"Danke." Diegos Kopf hob sich minimal. "Das nennt sich Seife." Er könnte sich jetzt selbst in den Hintern treten. Nachdem er sein leeres Zimmer gesehen hatte, war er erst mal in aller Seelenruhe duschen gewesen, ohne zu ahnen, dass Alvaro ein paar Meter weiter krank in der Küche saß.

"Nein, nicht", protestierte Alvaro matt, als Diego aufstehen wollte. Er griff nach Diegos Hand und legte sie auf die Stelle seiner Brust, wo unter dem Salbenpflaster die Wunde hektisch pochte. "Kannst du deine Hand noch etwas liegen lassen? Sie ist schön kühl."

Diego ließ ihn gewähren. Er fühlte das Zittern, das wie ein Erdbeben aus der Tiefe von Alvaros Körper an die Oberfläche brach. "Das wird bis Sonntag nicht weg sein", sagte er und wich Alvaros erschrockenen Blicken aus.

"So kann ich nicht nach Hause zurück. Mein Vater-" Sein Vater würde ihn nie wieder einen einzigen Schritt alleine machen lassen, ohne genauestens wissen zu wollen, wohin er ging. Das war's dann endgültig mit der Selbstständigkeit... "Ich kann ihm das nicht zeigen."

"Du bist ja weit gekommen mit deinem kleinen Geheimnis..." Diego konnte sich den tadelnden Tonfall nicht verkneifen. Das hier war nicht nur ein Tattoo, das man schnell mal verstecken konnte, das hier hätte verdammt schief gehen können und dieser Holzkopf vor ihm machte sich Gedanken darum, dass er für seinen selbst eingebrockten Bullshit die Konsequenzen tragen musste.

"Ja, bis zu dir bin ich gekommen." Alvaros Handgriff um Diegos Finger verstärkte sich. "Bitte, schick mich noch nicht weg. Nur ein paar Tage, ja?"

Eigentlich hatte Alvaro recht. Zuhause hätte er wahrscheinlich bis zum Schluss gewartet, ehe er seinem Vater die Wunde gezeigt und gestanden hätte, wie es dazu kam, wenn überhaupt. Und selbst wenn er morgen nach Hause fuhr und nichts sagte, wie gut standen die Chancen, dass er die Wunde zuhause versorgen konnte, ohne dass es jemand aus seiner Familie irgendwann mitbekam?

"Na schön", willigte Diego nach einigem Nachdenken schließlich ein. Er erhob sich von seinem Sitzplatz und sah lächelnd auf Alvaro hinab, der ihn dankbar aus fieberglänzenden Augen anstrahlte. Dieses Riesenbaby... "Ich muss mal eben telefonieren."

Diegos Hand glitt aus Alvaros Griff, aber er war zu geschafft, um noch einmal nachzugreifen. Glücklich schloss er die Augen und dämmerte wieder weg. Doch die Finger, die ihm noch ein letztes Mal sachte über die Stirn strichen, nahm er sehr wohl noch wahr. Die Berührung hatte etwas gütiges an sich, etwas, was Alvaro ohne Worte bewusst machte, was für ein Idiot er war, weil er die Augen geschlossen ließ, anstatt sie zu öffnen und Diego zu fragen, was ihm schon auf der Zunge brannte, seit er über jedes Wort nachdenken musste, das er sagen wollte. Aber die Blöße, dass Diego dachte, er plappere nur im Fieberwahn irgendwas daher, was hinterher keine Bedeutung mehr haben würde, sobald es Alvaro wieder besser ging, wollte er sich auch nicht geben.

 

Irgendwann erwachte Alvaro ohne das kleinste bisschen Zeitgefühl. Er wusste weder wie lange er geschlafen hatte, noch ob es überhaupt der gleiche Tag war. Er hob den Kopf und ließ ihn direkt wieder auf die Armlehne des Sofas sinken, als das Pochen hinter seiner Stirn an Fahrt aufnahm.

"Diego?" Erst als er den Namen ausgesprochen hatte, sah er den Schemen, der nicht weit von ihm in einem Sessel saß und bei seinem Namen den Kopf hob. "Mir ist so heiß."

Diego kam zu ihm hinüber und legte ihm wieder die kühle Hand auf die Stirn. Alvaro konnte noch nicht einmal sagen, ob sie überhaupt kühl war, aber sie beruhigte ihn. Wenn er sie doch bloß da liegen lassen würde, doch Diego verschwand einfach kommentarlos aus seinem Sichtfeld und Alvaro war zu schwach, um zu protestieren.

"Hier."

Schwerfällig öffneten sich Alvaros Augenlider einen wenige Millimeter breiten Spalt. "Ich habe keinen Hunger", krächzte er, als er die Packung tiefgefrorener schwarzer Bohnen sah, die ihm Diego hinhielt.

Diegos Lachen ertönte. "Die sind für deine Stirn, Dummerchen." Er wickelte die Tüte in das Geschirrtuch, das er mitgebracht hatte und platzierte das kühle Päckchen auf Alvaros Stirn. "Wechsel zwischen deinem Kopf und der Wunde ab, damit die Bohnen bis zum Abendessen aufgetaut sind."

"Blödmann", erwiderte Alvaro und grinste verschämt. Die schwarzen Bohnen taten gut. Nicht so gut, wie Diegos Hand, dafür lagen sie viel zu still da und bewirkten nicht dieses aufregende Kribbeln, das direkt aus dessen Fingerspitzen in Alvaros Magen zog. Es waren eben einfach nur tiefgekühlte Bohnen. Angenehm genug für seine überhitzte Stirn, aber nicht für den Rest von ihm. Alvaro öffnete ein Auge und schaute vorsichtig zu Diego. Ob der ahnte, was er gerade dachte?

Diego stellte gerade ein großes Glas Eistee vor ihn auf den Wohnzimmertisch, an dem das kondensierende Wasser herabperlte, und legte eine Schmerztablette direkt daneben. Sein Blick streifte nur kurz Alvaros, der ausnahmsweise mal nicht so schnell wegsah, als hätte man ihn bei irgendwas verbotenem erwischt.

"Mit deinem Vater ist alles geklärt", überbrachte Diego seinem mehr oder weniger freiwilligen Übernachtungsgast die frohe Kunde, die diesen sofort erleichtert aufseufzen ließ. "Er dachte zuerst, dass der Fluch doch schlimmer sei, aber ich habe ihn abgewimmelt. Und dein kleines Kunstwerk habe ich auch nicht erwähnt. Du schuldest mir also was!" Genaugenommen war Arsenio mehr darüber erleichtert gewesen, dass auch keine weiteren Kosten anfielen, aber davon musste Alvaro ja nichts erfahren. Er wusste selbst was es hieß, wenn man so verzweifelt war, dass man lieber auf eine Mahlzeit verzichten würde, als darauf, jemandem zu helfen, der einem viel bedeutete.

"Danke - für alles."

"Ja, ja, abwarten. Tau erst mal die Bohnen auf, dann reden wir weiter." Diego lächelte leicht. Noch war Alvaro nicht von seinem sogenannten Fluch erlöst. Er hatte eine Ahnung, aber bis er sich sicher war, würde er damit warten. Er rückte das kühlende Päckchen auf Alvaros Stirn zurecht, als sich die Augen darunter erneut öffneten und ihn eine Weile verfolgten, ehe sich auch der Mund öffnete.

"Diego?" Dieses Mal hielt er dem Blick aus dem Augenpaar über sich stand. Diesen schönen dunklen Perlen, die in zwei leicht bläulich schimmernden Seen trieben. Kein Blinzeln oder Ausweichen! "Ich bin so froh, dass du kein Serienkiller bist."

Diego lachte auf. Er streckte die Hand aus und tätschelte Alvaros langsam abkühlende Wange. "Nicht nur du, nicht nur du..."

Gift & Gegengift

 

Vorsichtig zog Diego das Pflaster von Alvaros Brust, der vor ihm auf dem Küchenstuhl saß. Die Wunde war gut verheilt. Die bedrohliche Rotfärbung von vor einigen Tagen war dem frischen Rosaton der heilenden Haut unter den noch übrig gebliebenen Tattoolinien gewichen. Die Medikamente wirkten. Und nicht nur die. Wahrscheinlich trug auch die Ruhe, die Alvaro hier vor seiner klettigen Familie hatte, nicht unerheblich dazu bei.

"Wir lassen es ab jetzt ohne Pflaster." Diegos Finger strichen sachte an den unterbrochenen Linien entlang, die mittlerweile abgeflacht waren und auch nicht mehr nässten. Er fühlte, wie Alvaro unter seiner Hand die Luft anhielt. "Tut es noch weh?"

Stumm schüttelte Alvaro seinen Kopf. Es war nicht die Wunde, die schmerzte. Es war Diegos Hand, deren Berührung mit seinem Kopf und Magen auf der gleichen Frequenz zu liegen schien, deren Rauschen Alvaro zwar immer im Hintergrund erahnt, aber nie tatsächlich gespürt hatte. Wie bei einem Radio, bei dem der Sender verstellt war. Man hörte irgendwas, konnte aber nicht genau zuordnen, was es war oder woher es kam. Doch sobald Diegos Fingerspitzen ihn berührten, geriet alles in ihm in Schwingung. Sein Blut toste durch seinen Körper und überflutete seinen Kopf, der einfach kapitulierte. Als wüsste er nicht mehr, wie man spricht oder wie man sich bewegt.

"Ich glaube nicht, dass von dem Tattoo noch viel übrig bleibt, wenn alles verheilt ist."

"Macht nichts", stieß Alvaro tonlos hervor.

"Was soll das überhaupt darstellen?" Diegos interessierte Blicke huschten von der Wunde hoch zu Alvaro, der die Lippen fest zusammenpresste, als fürchtete er sich davor zu explodieren, sobald er sie öffnete.

Diegos Atem strich über seine Brust, als er sich noch näher zu ihm hin beugte, um das Geheimnis eben selbst zu lüften, so lange Alvaro sich weigerte.

"Ist doch egal", platzte es dann doch aus Alvaro heraus. Wie er es hasste, dass seine Stimme gerade versagte!

Doch Diego hatte nicht vor locker zu lassen, bis er die Antwort kannte. "Schau an, schau an, unser braves Söhnchen ist wohl heimlich Mitglied - aber nicht bei den Pfadfindern...", neckte er ihn und sah triumphierend dabei zu, wie seinem Gegenüber sämtliche Gesichtsfarbe entwich. Alvaros Mimik, die innerhalb von Sekunden von ungläubigem Staunen bis zu erbleichendem Entsetzen reichte, ließ Diego schließlich sein Gesagtes mit einem breiten Grinsen beenden.

"Es sollte ein Skorpion sein", stieß Alvaro schließlich zwischen den Zähnen hervor. Unglaublich, wie Diego ihm mit seiner ungezwungenen Art Sachen entlockte, die er lieber ganz weit hinten in seinem Unterbewusstsein vergraben hätte. Aber dieser Kerl kam einfach an, schaute frechweg in jeden Schrank hinein, nahm sich was zum Trinken, fläzte sich damit auf die Couch und fühlte sich wie Zuhause. Und Alvaro gefiel alles daran.

"Schade drum, die ganzen Schmerzen umsonst." Diegos Augen folgten den Linien, die wie ein unterbrochener Morsecode aussahen. Wenn man es wusste, erkannte man den Skorpion wirklich, aber man musste schon die Augen etwas zusammenkneifen und den Kopf schief legen. "Ich habe noch nie so eine heftige Reaktion auf ein Tattoo gesehen. Entweder war das Gerät nicht steril oder du bist wohl gegen die Tinte allergisch."

Das erste Mal, seit Diego die verheilte Wunde berührt hatte, atmete Alvaro richtig aus. Was soll's - jetzt konnte er ihm auch noch den Rest von seiner glorreichen Idee erzählen. "Das lag wohl eher an dem Skorpiongift in der Tinte", gestand Alvaro kleinlaut.

"Dem Was?", rief Diego entsetzt auf.

Alvaro lehnte sich nach hinten, bis die Rückenlehne fest gegen sein Rückgrat drückte, weil Diego, der auf einem Stuhl vor ihm gesessen hatte, nun direkt vor ihm in die Höhe schoss und nun, größer als Alvaro, von oben auf ihn hinab starrte. Einen Moment sah er aus, als wollte er Alvaro packen, vom Stuhl zerren und kräftig durchschütteln, aber dann lachte er nur hilflos auf, ging zum Mülleimer und warf das benutzte Pflaster hinein.

"Du verarschst mich doch." Sprachlos sah Diego zu, wie sein Gegenüber verneinend den Kopf schüttelte. Das war nicht zu fassen! "Ich bin ehrlich beeindruckt von deiner grenzenlosen Dummheit - was das angeht." Mit einer schnellen Handbewegung brachte er Alvaro zum Schweigen, der gerade stotternd seine Erklärung vortragen wollte. "Schon okay, ich weiß, was das sollte. Gift und Gegengift, richtig?"

Alvaro nickte bedrückt.

 

"Aber weißt du, was mich an dieser Sache wirklich richtig kränkt?" Diego nahm wieder vor Alvaro Platz. Er griff nach der halbleeren Tube Heilsalbe und drehte den Deckel in Zeitlupe ab. Sollte Alvaro ruhig noch ein bisschen zappeln. Seelenruhig drückte Diego ein paar Millimeter der Creme aus der Tube auf Alvaros Wunde und begann dann damit, sie unter Alvaros angespannten Blicken vorsichtig zu verreiben. Mit Genugtuung registrierte Diego, wie sich Alvaro unter seiner Berührung zu winden begann, die Brust einzog und wieder vergaß zu atmen, doch da musste er jetzt durch. Wer sich ohne Nachzudenken irgendwelche dubiosen Sachen unter die Haut stechen ließ, der hielt es auch aus, wenn er ein bisschen Salbe darauf verteilt bekam. "Du kommst hierher und hast Schiss vor ein paar Puppen, die in einem Hühnerstall stehen, aber dass du dich dem, was dich schon einmal fast das Leben gekostet hätte, einfach so ein zweites Mal aussetzt, ist für dich praktisch, als würdest du dir nur die Schuhe zubinden."

Wie Recht Diego hatte... Alvaro griff nach der Hand, die noch immer über seine Brust strich, obwohl von der Salbe kaum noch was zu sehen war. Er hätte ihn am Liebsten damit weitermachen lassen. Hätte nur zu gerne zugelassen, dass die unsichtbaren Funken - die mit jedem Kontakt seiner Haut aufsprühten wie bei einem Streichholz, das über die Zündfläche strich -, ihn wie Zunder auflodern ließen, obwohl er schon längst von Kopf bis Fuß lichterloh in Flammen stand. Doch das winzige bisschen Konzentration, das Alvaro noch geblieben war, benötigte er, um Diego noch um etwas zu bitten, was ihm wirklich wichtig war, ehe ihn der Mut wieder verließ.

Geduldig wartete Diego, bis Alvaro seine Hand frei ließ, was länger als sonst dauerte. Er kämpfte mit sich, das konnte Diego bestens sehen, weil er seinen Blicken plötzlich wieder auswich und auf seine Finger hinab starrte, die sich in seinem Schoß haltsuchend ineinander verschlungen hatten. Diego drehte den Deckel zurück auf die Tube und wartete einfach, bis Alvaro von selbst mit der Sprache rausrücken würde.

Alvaros Augen schlossen sich einen kurzen Moment. Er kam sich so dumm vor. Nein, schlimmer - undankbar. Diego hatte ihm ohne zu Zögern die Tür in seine bizarre, aber auf eine verschrobene Art und Weise ganz charmante Welt geöffnet, ihn hereingelassen und willkommen geheißen, und Alvaro hatte die ganze Zeit nur darüber nachgedacht, wie froh er war, endlich mal so weit von seiner Familie weg zu sein.

"Würdest du mit mir-" Klasse, ein noch blöderer Satzanfang war ihm wohl nicht eingefallen. Warum nicht gleich Würdest du bis ans Ende meines Lebens... Alvaro wartete, ob Diego, der ihn äußerlich gefasst ansah, komisch auf sein Gesagtes reagierte, doch der lächelte ihn abwartend an. "Würdest du mit mir eins dieser-dieser, keine Ahnung, wie man das nennt..." Alvaros erst optimistisch begonnene Rede versiegte so plötzlich wie eine der kleinen Pfützen, die sich hier während der kurzen Regenschauer in den sonnengewärmten Felsmulden sammelten. Seine Blicke huschten ins Wohnzimmer, wo wie immer irgendwelche brennenden Kräuter ihren angenehmen Duft verbreiteten.

"Ein Ritual abhalten, um dich von deinem Fluch zu erlösen?" Diego sah zu, wie Alvaro sein T-Shirt anzog. "Natürlich. Dafür bist du ja hergekommen." Das jetzt endlich wieder selbstsichere Lächeln, das Diego gleich darauf traf, war sicherlich die beste Vorlage, die Alvaro ihm heute bot und er wäre völlig verrückt, wenn er sie nicht dankbar annehmen würde. "Mit oder ohne Blutopfer?"

Alvaro sah Diego mit seinem schockgeweiteten Rehblick an, bis der nicht mehr länger an sich halten konnte und in lautes Lachen ausbrach.

"Du bist so ein verdammter Arsch", zischelte Alvaro angefressen, woraufhin sich Diego mit einem zuckersüßen 'Ich weiß' revanchierte. Er hatte die abgetrennten Vogelschwingen nicht vergessen! Und auch nicht das Glas mit eingelegtem Gemüse, von dem Diego ihm abgeraten hatte, irgendwas ohne Etiketten darauf zu öffnen, weil er sich nur zu 30% sicher war, dass sich darin Gemüse befand. Selbst 80% hätten Alvaro nicht gereicht. Nicht mal 100%. Er würde die Dinge, die er hier in diesem Gruselkabinett gesehen hatte, nie, nie, nie wieder aus seinem Gedächtnis bekommen.

 

 

"Mit allem?" Großzügig ließ Diego Alvaro einen kurzen Moment, damit er es sich doch noch anders zu überlegen konnte, bevor er mit der ganzen Arbeit hier beginnen würde. Alvaro wäre nicht der Erste, der es sich kurz vor Beginn noch einmal anders überlegte, weil die Kombination von allem auf den ersten Blick schon ein wenig überforderte, doch Alvaro nickte; zwar so vorsichtig, als balanciere er ein rohes Ei auf dem Kopf, das nicht herunterfallen durfte, aber er stimmte zu.

"Wirklich? Der ganze Zirkus? Obwohl du weißt, dass es Unsinn ist?" Wer zweifelte hier plötzlich?, lachte Diego in Gedanken über sich. Er war es wohl selbst, denn Alvaro nickte erneut, dieses Mal sogar noch überzeugter.

"Aber kein-"

"Kein Blutopfer, du Spielverderber, ich weiß!" Diego seufzte ergeben und öffnete eine kleine Holzkiste, in der unterschiedlich farbige Kreidestücke nebeneinander lagen. Ohne lange überlegen zu müssen griff er nach der lilafarbenen Kreide und stellte die Kiste beiseite.

Jetzt wurde Alvaro doch etwas nervös. "Soll ich gehen, bis alles fertig ist?"

"Nein, warum? Du bist ja ein Teil davon."

Diegos Lächeln wischte Alvaros gerade wieder erwachende Zweifel davon, noch ehe sie wieder Besitz von ihm ergreifen und ihn flüchten lassen konnten. Er beobachtete, wie Diego vor ihm in die Hocke ging und damit begann, Kreidelinien auf die Holzdielen zu zeichnen. Fasziniert sah er, wie sich das Muster langsam Strich um Strich bildete, ohne zu erkennen, was es war.

Die Form, die Diego einen Schritt entfernt vor Alvaro aufmalte, sah aus wie Buzz Aldrins Fußabdruck im grauen Mondsand: ein Oval mit Querstreifen. Das längliche Oval bekam einen Haken an das untere Ende und an dessen Ende wiederum malte Diego etwas, das einem Tropfen ähnelte, der von Alvaros Position aus gesehen etwas schräg auf der Spitze stand. Als nächstes bekam das Oval links und rechts jeweils vier V-förmige Linien. Diego stand auf und betrachtete sich sein bisheriges Werk. Er besserte hier und da ein paar Stellen aus, aber die Grundform schien fertig zu sein.

Alvaro rätselte noch immer, was es darstellen sollte und wollte gerade nachfragen, als Diego neben ihm in die Knie ging und erst am rechten oberen Ende des Ovals und dann am linken Ende einen Bogen hinmalte, so dass es wie Hörner aussahen, die Alvaro nun einrahmten.

"Gleich ist es fertig." Diego lächelte Alvaro von unten herauf an, der stumm nickte und seine Blicke über die lilafarbenen Linien gleiten ließ.

Die Kreide in Diegos Hand schabte leise über die Holzdielen und als er zum zweiten Horn wechselte, traf Alvaro die Erkenntnis wie ein Hammerschlag. Es waren keine Hörner, sondern Greifarme an deren Ende Diego gerade die Scheren hinmalte. Es war ein Skorpion und Alvaro stand genau mittig zwischen den scherenbewehrten Fangarmen.

"Hat ja lange gedauert, bis du es verstanden hast", lachte Diego über Alvaros fassungslose Blicke. Er wischte sich den Kreidestaub von den Händen und betrachtete sich noch einmal sein Werk. Er wurde besser, musste er sagen. Er hatte zwar keine Ahnung, was tatsächlich zu solchen Ritualen gehörte, aber da sich bisher noch niemand beschwert hatte und am Ende alle relativ glücklich gingen - wovon die meisten sogar für ein zweites oder drittes Mal zurückkamen -, schien er mit dem was er tat nicht ganz falsch zu liegen. "Hilfst du mir mit den Kerzen und den Schalen?"

 

Nachdem Diego mit der Position der Kerzen und Metallschalen zufrieden war, in denen sich diverse Hölzer und Kräutersträuße befanden, drückte er Alvaro ein Feuerzeug in die Hand.

"Zünd die Kerzen an. Ich bin gleich wieder da", verabschiedete sich Diego von Alvaro, der seit seiner Frage, ob er Diego hier alleine alles vorbereiten lassen sollte, kein Wort mehr gesprochen hatte. Auch jetzt nickte er nur stumm und sah zu, wie Diego den Flur zu den Schlafzimmern betrat. Vorsichtig und ohne auf die Kreidelinien zu treten, ging Alvaro um das Skorpion-Bild herum und entzündete alle Kerzen. Der düstere Raum erhellte sich mit jeder aufleuchtenden Kerze und als die letzte aufflammte und alles in einem warmen Orange erstrahlte, kam Diego wieder zurück.

La Madreperla, Palo Santo & die magische Zutat

 

 

Diego trug einen etwa knielangen Umhang, den er in der Taille mit einem breiten mit grafischen Mustern verzierten Stoffband verschlossen hatte. Barfuß ging er an Alvaro vorbei, der ihm nachsah, als hätte er gerade einen Geist gesehen, und stellte sich gegenüber von Alvaro auf die rechte Seite des Skorpions, so dass dieser genau zwischen ihnen lag.

"Setz dich hin." Diego nickte zu Boden und wartete geduldig, bis Alvaro im Schneidersitz vor ihm saß. Diego selbst beugte sich zu einer Schale hinab, nahm einen Kräuterstrauß daraus und hielt diesen über die Flamme einer Kerze direkt daneben. Die trockenen Halme und Blüten knisterten und zischten, als sich das Feuer in ihre ausgedörrten Fasern fraß. Bedächtig legte Diego das Sträußchen zurück in die Schale und pustete etwas hinein, bis es nur noch glimmte und zu rauchen begann.

Die getrockneten Kräuter und die Holzstücke waren auch seine Idee gewesen. Er benutzte sie nicht nur bei Ritualen wie diesem hier, sondern hatte nahezu immer irgendwo eine Schale damit stehen. Der würzige Rauch hielt nämlich die ganzen Insekten aus dem Haus, die er aus tiefstem Herzen verabscheute.

Als aus allen Schalen dünne Rauchwolken aufstiegen, setzte sich auch Diego endlich zu Boden. Er lächelte Alvaro zu, der alles, was hier um ihn herum geschah mit großen Augen bestaunte.

Flink rückte Diego den Stoff seines Gewands zurecht, das ihm gerade von der Schulter zu rutschen drohte. Das Gewand war ein Geschenk von irgendwelchen Pilgern gewesen, die wohl dachten, er könnte sich keine angemessene zeremonielle Kleidung leisten. Seitdem trug er den mit bunten Perlen bestickten Umhang zu jedem Ritual, obwohl er keine Ahnung hatte, zu welchen Anlässen man ihn überhaupt tragen sollte und hoffte einfach nur, dass es nicht ausgerechnet zu einer Beerdigung war, aber darauf hätte man ihn vermutlich schon längst hingewiesen.

Es hatte auch etwas gedauert, bis er herausgefunden hatte, wie er den Stoff am besten trug, weil er einfach nur ein Rechteck bildete, ohne Ärmel oder sonstige Hinweise, die auf das richtige Tragen hindeuteten. Nach mehreren Fehlversuchen mit dem widerspenstigen Teil hatte er es dann kurzerhand wie einen Umhang über die Schultern gelegt, im Nacken zu einer Art Kragen umgeschlagen und in der Taille mit dem Stoffgürtel befestigt, der dabei gelegen hatte. Wenn er stand, reichte ihm das Gewand hinten bis in die Mitte der Waden und vorne, wo er es überkreuz trug, ging es bis zu seinen Knien.

Der einzige Nachteil waren die kunterbunten aufgestickten Glasperlen, die zwar winzig, dafür aber in unfassbarer Menge vorhanden waren. Sie machten den Stoff nicht nur wahnsinnig schwer, sondern auch luftundurchlässig, was bei dieser Gluthitze wirklich unangenehm wurde, sobald sich die Wärme darunter zu stauen begann. Deshalb trug er auch nichts drunter, was man aber nicht sah, außer er passte mal wieder nicht auf, wie er sich hinsetzte - was ihm blöderweise schon ein paar Mal vor Kunden passiert war, aber er lernte ja schließlich dazu. Mit jedem grinsenden Kunden lernte er dazu...

Alvaro grinste jedenfalls nicht. Er sah zufrieden aus - als gewöhne er sich langsam an sein persönliches Ritual. Die Unsicherheit war weg. Nicht erst seit diesem Moment. Es war ein wirklich zäher Prozess gewesen, aber er hatte durchgehalten, auch wenn ihm das wahrscheinlich noch gar nicht klar war. Alvaro war wie eine Kaktusfeige, die man erst aus ihrem stacheligen Umfeld pflücken musste, ehe man an das süße Fruchtfleisch unter ihrer Schale herankam.

 

Alvaro hatte keine Ahnung, ob er noch irgendwas zur Zeremonie beisteuern musste, außer seiner Anwesenheit, aber so lange Diego ihm keine Anweisung gab, würde es wohl in Ordnung sein.

Ergriffen lauschte er Diegos leisem Gemurmel, von dem er zwar kein einziges Wort verstand, das ihn aber direkt in seinen Bann zog. Diego hatte die Augen bis auf einen winzigen Spalt geschlossen. Von Zeit zu Zeit streckte er die Arme aus und trieb den Rauch aus den Schalen in Alvaros Richtung. Die langen Fransen, die seinen Umhang rundherum säumten, wogten mit jeder Bewegung die er machte wie Wellen hin und her und die glänzenden Perlmuttplättchen tanzten fröhlich klimpernd gegen die breiten Messingreifen, die Diego an jedem Handgelenk trug.

Alvaro konnte kaum die Blicke davon lassen. Er fragte sich, warum Diego die Zeremonie als Unsinn bezeichnete, obwohl alles so professionell wirkte. Auch wenn er selbst zugeben musste, dass er, hätten sie dieses Ritual schon am letzten Wochenende durchgeführt, spätestens beim Entzünden der Kerzen und Kräuter aufgestanden und nach draußen gegangen wäre. Aber hier saß er nun und war Teil eines Ritus und konnte es kaum glauben! Er hatte sich an den Rauch gewöhnt und mochte ihn. Genau wie Diego. Und der Gedanke an den baldigen Abschied ließ seinen Magen einen doppelten Salto schlagen.

Neugierig öffnete Diego seine Augen. Er musste einfach wissen, wie Alvaro das alles bisher aufnahm, aber wie es aussah, hätte er ihm auch aus einem Märchenbuch vorlesen können. Alvaro hörte ihm gar nicht zu, sondern sah ihn gedankenverloren an, ohne dass ihm auffiel, dass Diegos Stimme schon längst verklungen war. Seine Blicke glitten über Diegos Umhang, was diesen dazu veranlasste, selbst einen schnellen, erschrockenen Blick nach unten zu werfen und sich zu vergewissern, dass der Stoff noch dort war, wo er sein sollte.

Als Diego wieder aufsah - alles war zum Glück noch an seinem Platz! -, schaute er direkt in Alvaros Augen, in denen das Kerzenlicht golden schimmerte, aber er wandte sie nicht ab, wie schon so oft. Er sah durch Diego hindurch - nein, in ihn hinein, als läge dort die Antwort auf die Frage, die er sich nicht zu stellen traute, während die Schatten über sein Gesicht tanzten.

Diego seufzte kaum hörbar. Anscheinend blieb die Aufgabe doch an ihm hängen, Alvaro zum Offensichtlichen hinzuführen.

"Ich weiß, was mit dir los ist", erklang Diegos ruhige Stimme in die Stille hinein, die nur aus knisterndem Kerzenwachs und brennenden Palo Santo-Stücken bestand, deren Fasern unter der schwelenden Glut leise knackend aufbrachen.

Erschrocken kehrten Alvaros umherschweifende Gedanken zu ihm zurück und rüttelten die endlich ruhiger gewordenen Zweifel aus ihrem Schlummer. "Also hatte mein Vater recht und ich bin verflucht?"

Diego schüttelte langsam den Kopf, ohne Alvaro dabei aus den Augen zu lassen. "Nein, keine Angst", versicherte er Alvaro, dessen Augen ihn ungläubig ansahen. Er lächelte ihm beruhigend zu und erhob sich von seinem Sitzplatz.

 

Atemlos verfolgte Alvaro jede Bewegung, die Diego tat. Wie er aufstand und die Skorpion-Zeichnung umrundete, bis er auf Alvaros Seite ankam, und wie die bunten Perlen dabei an seinem Umhang im Kerzenlicht funkelten, das leise Wispern des Perlmutts, das über seine Armreifen streifte. Mit in den Nacken gelegtem Kopf sah Alvaro aus großen Augen zu Diego hinauf, der sich nun zu ihm zu Boden kniete. Die Flammen der Kerzen flackerten hektisch in dem aufkommenden Luftstoß und die, die ihnen am nächsten standen, erlöschten. Es wurde ein wenig dunkler um sie herum, doch nichts, keine Dunkelheit und kein Rauch konnte das sanfte Schimmern in Diegos Augen auslöschen, das ganz alleine Alvaro galt, der ihn ansah und nichts als Ruhe und Geborgenheit darin erkannte.

"Mit dir ist alles in Ordnung", sagte Diego und lächelte Alvaro aufmunternd an, der noch etwas verunsichert wirkte. "Das ist kein Fluch." Er beugte sich zu Alvaro vor, bis der sein eigenes von Kerzenflammen umgebenes Spiegelbild in Diegos Augen erkennen konnte, und küsste ihn.

Alvaros Herz schlug so heftig gegen seinen Brustkorb, dass er sich sicher war, dass es außerhalb seines Körpers zu hören war, nur um dann kurz darauf wie ein tonnenschwerer Mühlstein reglos nach unten in seinen Magen zu fallen.

Was genau sollte hier in Ordnung sein?, dachte er atemlos, während alles in seinem Kopf beschlossen hatte, Karussell zu fahren. Diegos weiche Lippen waren so vorsichtig, als wäre Alvaro eine Seifenblase und genauso fühlte er sich auch gerade. Sein Kopf war so unglaublich leicht, dass es ein Wunder war, dass er ihn noch auf dem Hals trug. Doch bevor er einfach so davonfliegen konnte, spürte Alvaro die behutsame Berührung von Diegos Hand auf seiner Wange, die ihn daran hinderte.

Laut dem bisschen, was in seinem Kopf noch funktionierte, fühlte er sich, als würde er jeden Augenblick unter Diegos Fingerspitzen zerplatzen, die zu seinem Kinn hin glitten und es ein wenig anhoben. Sein Herz erwachte auch wieder zum Leben und raste nun in einem Takt, den Alvaro bisher nicht kannte. Nichts davon konnte er richtig einordnen, alles verschwamm unter dem Lärm seines wuchtigen Herzschlags, der wie ein Presslufthammer in seinem Inneren tobte, und so schloss er einfach die Augen, stoppte die Gedankenflut hinter seiner Stirn und erwiderte den Kuss.

Die Luft war schwer von dem würzigen Rauch, der sie umgab und selbst Diego hatte heute Mühe, einen klaren Gedanken in den zarten Schlieren zu finden, die um sie herum tänzelten. Einen kurzen Moment hatte er damit gerechnet, dass sich Alvaro aus Angst von ihm abwandte und war darauf gefasst, sich notfalls abzufangen, bevor er auf die Nase fiel, falls Alvaro tatsächlich einfach aufstehen würde, aber das hatte sich unerwartet schnell erledigt - was seine Vermutung nur bestätigte.

Auf seinen Lippen fühlte Diego nun, wie Alvaros Entgegnung das vorsichtig tastende verlor und immer neugieriger wurde. Zentimeter für Zentimeter kam er näher, auch wenn er sich wohl noch nicht richtig traute, Diego anzufassen, aber das übernahm er dann eben selbst.

 

Als sich auch Diegos zweite Hand auf seine Wange legte und ihn behutsam zu sich zog, verlor Alvaro endgültig seine anfängliche Scheu. Sein Mund öffnete sich wie von selbst unter Diegos Lippen, deren sanft auffordernder Druck sein letztes starres Zögern schließlich mit ihrer Wärme auflösten.

Auch seine Hände wussten kurzzeitig wieder, wozu sie da waren, nachdem sie sich fast von alleine dazu entschieden hatten, über Diegos Taille zu seinem Rücken hin zu wandern, selbst wenn er durch den dicken Stoff kaum merkte, wo er überhaupt war.

Nach einer Weile löste Diego den Kuss.

Alvaros Blicke, die auf Diegos Mund geheftet waren, warteten gebannt auf irgendeine Regung, irgendeinen Hinweis, ein Wort, einen Satz, ein Zucken in den Mundwinkeln, die sich entweder nach oben biegen oder von ihm abwenden würden. War alles in Ordnung? Hatte er was falsch gemacht? Wollte Diego was sagen? Aber er schwieg, genau wie Alvaro, der ja selbst nicht wusste, was er jetzt sagen sollte. Er wollte auch gar nichts sagen. Er wollte nur noch einen Kuss. Und mehr. Alles! Er wollte den ganzen Rest, den er auch in Diegos Augen sehen konnte, als er es endlich geschafft hatte, seine eingefrorenen Blicke zu heben, an der schmalen Nase vorbei und den hohen Wangenknochen hinauf zu den dunklen Perlen, die ihn ohne unangenehm anzustarren genau beobachteten.

Alvaros Hände zitterten, als er den Gürtel um Diegos Hüfte lösen wollte. Der Knoten war so fest, dass er nicht um den kurzen Gedanken herum kam, ob er überhaupt geöffnet werden sollte. Aber die Antwort nahm ihm Diego ebenfalls ab, dessen Hand über Alvaros fahrig an dem Knoten herum nestelnde Finger streifte, ehe sie sich zwischen ihnen hindurchschob. Sein Daumen glitt in einen schmalen Spalt zwischen den fest zugezogenen Stoffschichten und wenige Sekundenbruchteile später trennten sich die beiden zugebundenen Enden des Gürtels. Noch bevor Alvaro den Stoff zu fassen bekam, sorgte das Gewicht der Perlen dafür, dass das jetzt lose gewordene bunte Gewand von ganze alleine über Diegos Schultern hinab rutschte und leise raschelnd hinter ihm zu Boden fiel.

Überrascht zog Alvaro die Luft ein als er sah, dass Diego absolut gar nichts unter seinem Gewand trug. Seine verblüfften Blicke, die dem herabgleitenden Stoff ohne sich was dabei zu denken nach unten gefolgt waren, fuhren prompt wieder zu Diego hinauf, zu seinem Mund, dessen Mundwinkel nun verräterisch zitterten. Ja zugegeben, er hatte ihn eiskalt erwischt, schön, sollte er eben lachen. Er würde ja das gleiche tun, weil er sich seinen Gesichtsausdruck von gerade selbst bestens vorstellen konnte...

"Ich hätte dich wohl vorwarnen sollen?"

"Und mir die Überraschung verderben?" Er klang gar nicht mal so verlegen, wie befürchtet, lobte sich Alvaro in Gedanken selbst. Verblüfft, erstaunt, überrollt, entgeistert und sprachlos - vielleicht. Aber verlegen? Er doch nicht!

Jetzt lachte Diego. Nicht so schallend, wie damals, als er ihm die Frage nach dem Blutopfer gestellt hatte. Leise und unbeschwert hüpfte das Lachen aus seiner Kehle heraus und steckte Alvaro augenblicklich an, der zugegeben mehr als froh darüber war, weil es die lästige, sich gerade wieder aufbauende Nervosität vertrieb, noch bevor sie sich in ihm festkrallen konnte.

Er schämte sich noch nicht mal mehr für sein unmissverständliches Interesse, mit dem er sich Diegos Körper vor sich betrachtete. Seine Augen versuchten jedes bisschen zu erfassen - die sanften Wölbungen seiner im Kerzenlicht golden glänzenden Brust und die schmalen Schattentäler darunter, der flache Bauch, der sich ohne Eile in einer meditativen Ruhe hob und senkte, die Hände, die still und ohne ihn zu irgendwas zu drängen auf seinen Oberschenkeln ruhten, und ohne deren Hilfe Alvaro wahrscheinlich weder gesund hier sitzen, noch überhaupt wissen würde, welche wohltuende Ordnung eine simple Berührung in sein inneres Chaos bringen konnte.

Das erste Mal seit langem ergriff Diego wieder die Initiative. Er streckte seine Hände aus und ließ sie über Alvaros Handrücken gleiten, seine Unterarme hinauf und wieder hinab und durch seine Handflächen, bis sich ihre Fingerspitzen berührten und wieder dieses elektrisierende Kribbeln darin entstand, das unter Alvaros Haut entlang kroch und mit seinen Funken alles in ihm in Brand setzte. Und in dem Moment verstand Alvaro Diegos beobachtendes Schweigen, das er nicht hatte einordnen können. Es war nicht nötig, dass er irgendwas sagte. Sobald er Alvaros Unsicherheit spürte, lenkte er ihn mit kleinen Gesten, wies ihm stumm einen Weg, an dem er sich orientieren konnte, und gerade folgten seine Hände denen seines Gegenübers - über warm glänzendes Messing hinweg, zu samtweicher Haut.

Alvaro rückte etwas näher zu Diego hin, dessen Kopf sich leicht neigte. Dieses Mal brauchte Alvaro keine Geste, keinen Wink mehr, um zu wissen, was er wollte und der Mund, der sich ihm entgegen reckte, musste nicht lange warten.

 

Diegos Hände glitten unter Alvaros T-Shirt. Das erste Mal überhaupt merkte er kein erschrockenes Zusammenzucken, kein Luftanhalten in dem Körper vor sich, nur wohliges Erschauern, als er die Seiten entlang nach oben strich, bis sich die Arme hoben, damit er ihm das T-Shirt ausziehen konnte; Stück für Stück schob sich der Stoff über die Haut, ohne die gerade erst verheilte Wunde zu berühren.

Alvaro seufzte leise in den Kuss, während Diegos Finger leicht und achtsam über seine nackte Brust tanzten und alles berühren mussten, was auf ihrem Weg lag. Wie Schmetterlinge, die von Blüte zu Blüte flogen, verharrten sie kaum für länger an einer Stelle und schwirrten weiter, sobald sie den warmen Widerstand unter sich spürten.

Diegos Lächeln, mit dem er beobachtete, wie Alvaro den Rest seiner Kleidung auszuziehen begann, verlor für einen winzigen Augenblick seine beherrschte Ruhe. Seine Finger, in denen die fiebrig hektische Ungeduld gerade die Oberhand gewann, suchten eilig den Übergang von Stoff zu Haut und beseitigten hastig auch diese letzte Barriere.

Einen atemlosen Moment sahen sie sich in die Augen. Diegos Puls, den er bis eben noch wie einen Orkan überall in seinem Körper gespürt hatte, machte eine spannungsgeladene Pause, bevor ihn Alvaros Hände, die sich gerade in seinen Nacken legten und ihn zu einem Kuss zu sich zogen, wieder davonrasen ließ.

Der Stoff raschelte unter dem Gewicht ihrer zu Boden sinkenden Körper und das Flüstern tausender aneinander reibender Glasperlen erklang.

Diego spürte die schäumende Brandung von Alvaros Herzschlag gegen seine Brust rauschen und das prompte Echo seines eigenen Herzens, das im gleichen stürmischen Takt antwortete und den warmen weichen Lippen folgte, die über seine Brust strichen und alles darunter aufwirbelten.

Diegos Haut schmeckte nach dem würzig duftenden Holz, von dem er einen unerschöpflichen Vorrat zu besitzen schien, und nach den ätherischen Kräutern, die in den Schalen um sie herum weiter vor sich hin glühten und durchsichtige, betörende Rauchsäulen aufsteigen ließen. Diego war nicht nur der Bewohner dieser seltsamen Hütte inmitten dieser sandig verwaisten Einöde, in der Kakteen ihre menschenähnlichen Silhouetten an den unfassbar weiten Horizont malten und Sonnenuntergänge Tag für Tag die roten Felsenplateaus zum Glühen brachten. Diego war ein Teil von alledem. Die eine magische Zutat aus unzähligen etikettenlosen Gläsern, von denen Alvaro ausgerechnet das richtige erwischt hatte.

Der verschlungene Weg zurück

 

Zwischen fast abgebrannten Kerzen und den letzten glimmenden Resten holzig rauchender Kräuterstiele lag Diego auf dem Boden, lauschte in die Stille des Hauses und schwieg gedankenverloren. Sein buntes Gewand war zu einer unüberblickbaren Anhäufung Stoff und Perlen verrutscht und die harten, aber angenehm frischen Holzdielen unter ihm, auf denen er nun lag, kühlten endlich seinen völlig überhitzten Körper nach und nach runter. Eine kaum spürbare Bewegung ließ ihn das Gesicht zur Seite drehen. Alvaro, der eine Weile ebenso stumm neben ihm gelegen und Diegos Hand in seiner gehalten hatte, drehte sich zu ihm um. Auf einen Ellenbogen gestützt sah er auf Diego hinab, der den unstetigen Bewegungen der über ihn gleitenden Pupillen folgte und wartete, bis sie den Mut fanden, seinen Blicken standzuhalten.

Die Kreidezeichnung, die Diego vor gar nicht mal so langer Zeit noch so sorgsam auf den Holzboden gemalt hatte, war vollkommen verwischt, worüber er allerdings ganz und gar nicht traurig zu sein schien. Diego hatte den Kreidestaub in den Haaren und Alvaro hatte ihn an den Händen, mit denen er ihn über Diegos gesamten Körper überall dorthin verteilt hatte, wo er ihn berührt hatte. Feine lila Farbschleier zogen sich über jeden Zentimeter Haut, das Gesicht hinunter über seinen Oberkörper, die Beine, alles war damit bedeckt. Diego sah aus wie eine seiner Keramikfiguren aus dem Schrein, die mit diesem wässrigen durchsichtigen Lack lasiert waren, unter dem man noch den erdfarbenen gebrannten Ton erkennen konnte - bis auf die Tatsache, dass Diego, anders als die Figuren, eben nackt war.

Diegos Hand, die sich nun aus seiner löste, strich sachte über Alvaros gerötete Wangen, deren Hitze dieses Mal nicht vom Fieber stammte, und die unter der sich liebevoll vortastenden Berührung sofort wieder Feuer fingen. Diegos Augen folgten seinen Fingern, die über Alvaros Lippen strichen, jede Rundung nachziehend, und sich dann um sein Kinn schlossen. Sanft zog er ihn zu sich hinab, bis sich ihre Münder berührten. Seine Zunge glitt zwischen die halbgeöffneten Lippen, zwischen denen der noch etwas aufgeregte Atem warm hervorstieß.

"Hat es sich wie ein Fluch angefühlt?", fragte Diego ihn und Alvaro, noch völlig überwältigt von dem gerade Geschehenen und nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort bilden zu können, schüttelte stattdessen einfach nur den Kopf.

 

Der Kreidestaub flimmerte tausendfach im gedämpften Kerzenlicht, als Diego das bunte Gewand vom Boden aufhob und es mit einem kräftigen Ruck ausschüttelte. Eine Wolke aus Kreide, die bis vor einer Stunde noch Alvaros Ängste physisch auf den Boden gebannt und dort versiegelt hatte, löste sich aus dem Stoff, erhob sich in die Luft und taumelte dann in Zeitlupe zur Erde. Ihr Werk war getan. Die Magie, an der er selbst gezweifelt hatte, hatte auf ihre ganz eigene Art das Untier bezwungen und in tausend Teile zerschmettert.

Diego hielt einen Moment inne, um sich das aufgestickte Muster des Stoffs in seinen Händen anzusehen. Das erste Mal überhaupt, seit er das Gewand besaß, betrachtete er sich die grünschillernden Kolibris mit den roten Kehlen, die im Flug ihre langen filigranen Schnäbel in tiefrote Blüten senkten. Vielleicht war es ja gar kein Gewand, sondern ein Wandteppich? Und der 'Gürtel', mit dem das Stoffpäckchen damals verschnürt war, war die dazugehörige Aufhängung?

Was auch immer... Diego lachte etwas hilflos. Selbst wenn es wirklich ein Wandteppich war und kein rituelles Kleidungsstück, konnte er ihn jetzt ja wohl kaum aufhängen, als wäre es eine Trophäe. Jedes Mal, wenn er ihn zukünftig anschaute, würde ihm der Stoff sowieso entgegen schreien: Seht ihn euch an, den Stoff, aus dem zwar nicht die Träume gemacht sind, aber auf dem ein Kunde nicht nur seinen Fluch, sondern auch gleich noch seine Jungfräulichkeit dazu verloren hat! Das konnte er sich unmöglich über sein Sofa hängen...

Ohne wirklich zu wissen, was er zukünftig mit dem Stoff tun würde, faltete Diego ihn trotzdem wie sonst auch sorgfältig zu einem Rechteck zusammen und verschloss das Bündel mit dem breiten Stoffband. Was für eine Geschichte, die besser als jede Werbung für ihn und seine Arbeit hier sprach, dachte er, während er den Knoten festzog, mit dem Alvaro vor gar nicht mal so langer Zeit zu kämpfen gehabt hatte. Schade, dass er das nie irgendjemandem erzählen konnte.

 

Er fand Diego draußen auf der Veranda, wo er auf der mittleren der drei Holzstufen saß. Die Ellenbogen auf der obersten Treppenstufe abgestützt, saß er mit auf den Horizont gerichteten Blicken da und genoss den eigenartig melancholischen Frieden der hereinbrechenden Nacht, der sich anfühlte, als wäre es an jedem Abend ein neuer Abschied für immer. Sogar vom Schrein her blieb heute Abend ausnahmsweise mal alles ruhig.

Alles daran war schön, dachte Alvaro, wenn man sich die Zeit nahm, es sich anzusehen und anzuhören. Das letzte glühende Band des vergangenen Tageslichts, das von einer schwarzblauen Sternendecke hinter den Horizont gedrängt wurde, das helle ununterbrochene Zirpen der Insekten, das im Wechsel mit den dunkleren Rufen ihrer Fressfeinde erklang. Und dazwischen, als wäre es der Soundtrack zu diesem Schauspiel, die heitere Melodie eines Windspiels, welches sich im lauen Abendwind wiegte.

Unbewusst atmete Alvaro etwas tiefer ein. Die Luftfeuchtigkeit war heute Abend so hoch, dass selbst die Kreosotbüsche ihren sanften blumigen Duft bis zum Haus hinüber wehten, aber nach Regen sah es nicht aus. Am unbewölkten Himmel funkelten abertausende Sterne, von denen was wusste er wie viele schon längst nicht mehr existierten.

Alvaro steuerte auf den Platz neben Diego zu, als ihm der Gedanke kam, dass sie ja keine Fremden waren, die sich zufällig im Bus begegneten. Er machte einen schnellen Schlenker, von dem Diego nichts mitzubekommen schien und setzte sich direkt hinter ihn auf die oberste Stufe. Ohne irgendein Wort zu sagen, lehnte sich Diego mit dem Rücken gegen Alvaro und griff nach den Händen, deren vorsichtige Berührung wie ein Wasserfall über sein Schlüsselbein hinab zu seiner Brust flossen.

"Das war übrigens exklusiv - bevor du wieder fragst, ob das Standard ist", erklang Diegos ruhige Stimme, in der ein belustigtes Schmunzeln mitschwang. Er fühlte Alvaros nahezu lautloses Lachen in seinem Rücken und legte den Kopf in den Nacken, bis er ihm ins Gesicht sehen konnte. "Fährst du jetzt mit einem besseren Gefühl nach Hause? So ganz ohne Fluch im Gepäck."

Selbst im Dunkeln sah Diego, wie sich auf der Stelle ein Schleier über die gerade noch heiter glänzenden Augen legte, als Alvaro scheinbar wieder bewusst wurde, dass das alles hier auch mal zu Ende ging, genau wie diese Nacht, die unweigerlich dem neuen Anfang weichen würde. Er seufzte und dieser kurze, nicht mal besonders laute Ton beinhaltete alles, was Diego wissen musste.

"Hast du schon einen Tag mit meinem Vater ausgemacht?"

"Nein, warum? Willst du noch bleiben?" Mann, wie verzweifelt konnte man klingen? Als ob er die erschrockene Reaktion von Alvaros Vater vergessen hätte, als er ihm am Telefon gesagt hatte, dass die Genesung seines Sohns noch etwas dauern würde. Und jetzt stellte er sich Arsenios Reaktion vor, wenn er ihn ein zweites Mal um eine Verlängerung bitten würde. Der arme Mann. Und alles nur, weil sich Diego den Abschied gerade nicht vorstellen wollte...

"Wenn es dir nichts ausmacht", beantwortete Alvaro zögerlich die Frage.

Als ob, dachte Diego lächelnd. Er hob eine Hand und strich sachte über Alvaros Wange. Wenigstens war er nicht der Einzige hier, dem der Gedanke an den Abschied ein flaues Gefühl im Magen bescherte.

"Denk mal an die Hühner!", fuhr Alvaro ungewohnt eifrig fort, der Diegos Schweigen wohl als Nein interpretiert hatte. "Wir bauen einen neuen Hühnerstall!"

"Warum?", lachte Diego verblüfft von dieser unerwarteten Wendung auf, doch Alvaro kam wohl gerade erst so richtig in Fahrt.

"Du hast gesagt, ich schulde dir noch was, weil du meinem Vater nichts von dem Tattoo und der Infektion erzählt hast." Gespannt wartete Alvaro auf Diegos Antwort, dessen ungläubige Blicke ihn zuerst ratlos abmaßen, ehe er schließlich in lautes Lachen ausbrach. "Also, der Stall - am besten hinters Haus? Und ohne Elektrik. Oder lieber mit?"

"Na schön, bauen wir eben einen Hühnerstall." Diegos Rippen schmerzten vor Lachen. "Aber dieses Mal erklärst du es deinem Vater selbst. Und ohne Elektrik, sonst habe ich hier bald noch einen zweiten Schrein..."

"Was du nicht willst?", alberte Alvaro.

Was schlimmeres könnte ihm gar nicht passieren, war das, was Diego gerne geantwortet hätte. "Eigentlich ist es auch egal. Machen wir uns nichts vor, ich komme hier sowieso nie wieder weg", sagte er stattdessen und versuchte den bitteren Tonfall wegzulächeln, bevor Alvaro wieder Verdacht schöpfen und nachhaken konnte.

Mehr als widerwillig löste sich Diego aus der Umarmung mitsamt den warmen Lippen, die zuerst seinen Nacken und dann seine Halsseite entlang strichen. Und noch widerwilliger musste er sich von dem Effekt losreißen, den die weiter nach unten wandernden Finger gerade hatten, aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, wie schnell das alles wieder vorüber sein würde. Dass, selbst wenn sie hier noch eine halbe Stadt bauen würden, irgendwann wieder der Alltag zurückkehrte und die Berührungen der Hände fehlen würden, die in ihrer nicht mehr ganz so schüchternen Neugierde seinen Körper erkundeten.

Für Alvaro hatte er mit der Zeremonie und allem was danach gekommen war ein Tor geöffnet, aus dem er endlich in die Freiheit kam und für sich selbst hatte er eins geschlossen... Diego erhob sich von seinem Sitzplatz und mit müden Schritten, die sich plötzlich tonnenschwer anfühlten, stieg er die drei Stufen zur Veranda hoch. Oben wandte er sich zu Alvaro um, der ihm abwartend und ein bisschen verwirrt wegen des abrupten Manövers nachsah.

Vielleicht hatte er sich eben ja so dämlich angestellt, dass Diego das nicht wiederholen wollte, dachte Alvaro und spürte kurz die verlegene Hitze, die sich in seinen Wangen zu stauen begann. Und was sagte man überhaupt in so einer Situation?

Alvaros betretener Blick ließ Diego beschämt innehalten. Was tat er hier eigentlich? Abgesehen davon, eine Rolle zu spielen, in die er sich ja selbst hat lenken lassen? Er vergeudete Zeit, darüber nachzudenken, was irgendwann mal kam, anstatt die zu nutzen, die sie gerade hatten.

Erleichtert ergriff Alvaro Diegos Hand, die sich ihm nun versöhnlich entgegenstreckte und ließ sich auf die Füße ziehen.

"Erinnerst du dich noch an das Gewand mit den Perlen, das ich eben bei der Zeremonie trug?"

"Und ob..." Alvaro lachte leise. Natürlich erinnerte er sich daran. Vor allem an die Überraschung darunter.

"Lustige Geschichte", begann Diego und zog Alvaro mit sich ins Haus.

 

 

"Du weißt, dass du hier jederzeit willkommen bist, hier beim Hühner-Schamanen." Wie um Diegos Worte zu unterstreichen, rannten die sechs Hühner, die jetzt hier lebten, hinter ihm kreischend über den Hof und begannen aufgeregt damit, sämtliche Steine umzudrehen und ein paar trockene Grashalme aus dem Sand zu ziehen.

"Ab jetzt sogar mit Hühnern", witzelte Alvaro und zog Diego an sich.

"Wer weiß, was dich beim nächsten Mal hier erwartet." Diego erwiderte den Kuss und schob dann Alvaro vor sich aus dem rostigen Tor hinaus, das er hektisch hinter ihnen schloss, bevor ihnen die Hühner folgen konnten. "Ich überlege, mein Angebot zu erweitern. Was hältst du von Akupunktur?"

"Oh, Nadeln - klingt ja toll...", entgegnete Alvaro wenig begeistert und brachte Diego damit zum Grinsen.

"Was wurde damals eigentlich aus dem Skorpion, von dem du gestochen wurdest? Hat er überlebt?"

Die Erinnerung an das Ende des armen Tiers ließ Alvaro kurz erschauern. Mehr als deutlich sah er wieder den zertretenen Skorpion vor sich und seinen vom Rest des Körpers gerissenen Fangarm, der neben der Rubinroten Pfütze seines Bluts im Sand gelegen hatte. Stumm schüttelte Alvaro den Kopf und beobachtete Diegos Reaktion darauf, dessen Augen sich minimal erschrocken weiteten.

"Dann kann ich deinen Vater verstehen, warum er dachte, dass du verflucht bist."

Vergeblich versuchte Alvaro den Zusammenhang zu verstehen. "Und warum?", hakte er nach, als es ihm nicht gelang.

Diego, der sich mit dem Rücken gegen die warme Mauer lehnte, sah an Alvaro vorbei. "Man sagt, wenn man von einem Skorpion gestochen wird und stirbt, dass man ein reines Herz besessen hat. Aber wenn man überlebt und stattdessen der Skorpion stirbt, heißt das, dass das Herz des Gestochenen vergifteter war, als der Skorpion selbst."

"Aber er hätte ja überlebt, wenn mein Vater ihn nicht zertreten hätte", wandte Alvaro ein, doch Diegos schockierte Blicke ließen ihn direkt schweigen.

"Noch schlimmer", murmelte Diego so leise, dass Alvaro kaum was hören konnte.

"Weil er ein schlechtes Gewissen wegen eines toten Skorpions hatte?"

"Doch nicht wegen des Skorpions. Wegen dir!" Diego sah Alvaro ruhig an. Das Erschrockene war aus seinem Blick verschwunden. "Er dachte, dass er ab jetzt dafür verantwortlich ist, wenn dir irgendwas Schlimmes passiert, verstehst du?"

Alvaro schüttelte stumm den Kopf.

"Er dachte, dass er dein Schicksal durch seine Tat vorherbestimmt hat", erklärte Diego weiter. "Und jedes Mal, wenn danach etwas vorfiel, egal wie unwichtig, gab er sich die Schuld daran."

Ein eiskalter Schauer überlief Alvaros Arme, als er das erste Mal überhaupt verstand, was seinen Vater die letzten zehn Jahre geplagt hatte. Abgesehen von dem Schock darüber, beinahe sein einziges Kind zu verlieren, musste er durch die Hölle gegangen sein und seine einzige Lösung hatte logischerweise darin bestanden, jeden Schritt, den sein Sohn tat, mit Argusaugen zu überwachen.

"Ich schätze, ihr habt ein bisschen was zu klären, wenn ihr nach Hause fahrt." Diego hielt Alvaro einen Briefumschlag vor die Nase. "Das ist für deinen Vater. Wag dich nicht, reinzuschauen. Briefgeheimnis und so. Verstanden?"

"Verstanden..." Alvaro verdrehte die Augen und nahm den Umschlag entgegen. "Und was ist drin?"

Diego lachte auf. "Deine Urkunde darüber, dass du geheilt bist natürlich! Die kannst du dir zuhause an die Wand hängen."

"Am besten direkt über mein Bett", zog ihn Alvaro lachend auf und griff nach Diegos Händen. Sachte zog er ihn in die wahrscheinlich letzte Umarmung für einige Zeit.

Diegos Hände strichen unruhig über seinen Rücken, als ob sie alles noch mal schnell abspeichern mussten. Er hatte das beschissene Gefühl, dass sie sich nicht mehr wieder sehen würden, warum auch immer. Wehmütig löste er sich aus der Umarmung, klemmte sich die Schneiderpuppe unter den Arm, die seit Alvaros Ankunft draußen an der Mauer gestanden hatte, und trat zurück hinter das Eisentor.

Das schief in den Angeln hängende Tor schabte geräuschvoll über den Sandboden. Das Schloss schnappte zu und damit war der Abschied endgültig besiegelt. Sie atmeten die gleiche Luft und spürten den gleichen Wind auf ihrer Haut, aber die Barriere, die jetzt wieder zwischen ihnen stand, wirkte unüberwindbar.

Alvaro trat so nah es ging an das Tor. Er griff zwischen den Metallstäben hindurch und zog Diego zu sich. Stirn an Stirn standen sie da. Diego hatte die traurigen Blicke gesenkt und Alvaro fiel kein einziger wirklicher Trost ein. Doch!

"Jetzt wo ich ja vom 'Fluch' erlöst bin, bekomme ich meinen Vater sicher dazu, dass er mir mal sein Auto ausleiht und dann sehen wir uns, versprochen."

"Machen wir", murmelte Diego mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen. Und bevor es noch unerträglicher wurde, drehte er sich um und ging, ohne Alvaro noch einen Blick zuzuwerfen, zum Haus zurück. Er wollte nicht sehen, wie er wegfuhr, sondern wie er wieder zurückkam.

 

Alvaro ließ seinen Rucksack von der Schulter zu Boden gleiten. Mit einem Seufzen setzte er sich drauf und wartete, bis er hoffentlich bald die Sandwolken am Horizont sehen konnte, die der sich nähernde Wagen seines Vaters aufwirbelte.

Diegos Worte über die Schuld, die sich sein Vater gab, ließen ihn nicht mehr los. Er hatte nie darüber nachgedacht, wie sein Vater all das verarbeitet hatte. Wahrscheinlich so, wie er ihn kannte: nachts in seinem Taxi auf der Straße, wenn er wusste, dass sein Sohn sicher Zuhause war und wo er selbst mit seinen Schuldgefühlen alleine war.

Sein Vater redete nie viel darüber, was er so alles in seinem Beruf erlebte; weder über das Positive, noch über das Negative. Das Einzige, was er jedem, der es hören wollte, voller Stolz erzählt hatte, war, dass er der einzige Taxifahrer ihrer Stadt war, der in 30 Jahren noch nie überfallen wurde. Was jedem, der zu ihm in den Wagen stieg, auch automatisch verging, wenn sie seine Körpergröße und Fülle sahen, die beinahe den gesamten Fahrerbereich ausfüllte. Dabei war er der sanftmütigste Mann, den Alvaro kannte, der am liebsten nachts in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang arbeitete, weil da - laut Arsenios eigenen Worten - die Menschen am verletzlichsten waren und es gerade dann wichtig war, dass sie sicher nach Hause kamen. Jeder hatte es in seinen Augen verdient, gesund nach Hause zu kommen.

Alvaros nachdenkliche Blicke gingen zum Schrein, vor dessen Eingang wie immer die bunten Tücher im Wind flatterten.

Vielleicht, wenn er es richtig anging und natürlich erst nachdem sein Vater sich sicher war, dass Alvaro auch wirklich von seinem Fluch befreit war, schaffte er es, ihn danach zu fragen, ob er was dagegen hätte, wenn Alvaro mal mit ihm fuhr und er ihm zeigte, was man als Taxifahrer wissen musste. Nicht nachts! Da kannte er die Antwort schon. Aber tagsüber sollte das doch machbar sein...

Alvaro stand auf, klopfte sich den Sand von der Hose und ging dann seelenruhig auf den Schrein zu. Drinnen war alles wie immer, außer dass sich die Anzahl der Statuen und Geschenke wieder vermehrt hatte. Der Kühlschrank summte leise unter dem Altar und die Lichterketten blinkten wie immer fröhlich grell hinter der Großen Dame. Er hatte sich geirrt, was den Kurzschluss anging, dachte er amüsiert.

Alvaro öffnete die Holzkiste mit den frischen Kerzen und schob die bunten Wachsstangen hin und her, bis er die richtige gefunden hatte. Er entzündete seine weiße Kerze an einer bereits brennenden und stellte sie zu Füßen der Großen Dame. Ein letztes Mal glitt seine Hand über die kühlen skelettierten Finger, in denen die Erdkugel im Licht schimmerte und das Danke, von dem nur er und die Große Dame wussten, musste nicht mal seine Lippen verlassen, sondern pochte unaufhörlich tief in ihm drinnen in seiner Brust, bis zu seinem allerletzten Schlag.

Zum vorerst letzten Mal glitten Alvaros Blicke über das bunte Sammelsurium der Opfergaben vor sich. Durch die ganzen neuen Dinge hatte sich zwar alles ein bisschen verschoben und zusammengedrängt, doch er wusste sehr gut, wonach er Ausschau halten musste: zwei kreisrunde, schwarze Ohren und ein breites Grinsen. Ohne großartig darüber nachzudenken griff seine Hand beim Rausgehen in eine ganz bestimmte Richtung und noch ehe er den Gedanken vollendet hatte, hielt er auch schon die kleine Mickey Maus-Figur in seiner Hand und steckte sie einfach ein.



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