Mach die Augen zu... von Taoya (Es geht weiter!) ================================================================================ Kapitel 7: Lilibee ------------------ Er flog. Er spürte es schon, bevor er die Augen aufmachte. Und ihm war warm, angenehm warm. Er fühlte sich geborgen. Der Wind strich ihm sanft durchs Haar und er fühlte sich leicht. Die Sonne schien. Jedenfalls war es hell um ihn herum, was er durch seine geschlossenen Augenlider sah. Es roch nach... Das war seltsam! Er roch überhaupt nichts! Überrascht öffnete er die Augen. Er flog über Felder, Wiesen, Wälder, Städte... Ab und an durchkreuzte er eine Woke und hatte Nebelschleier unter sich. Er lächelte. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Plötzlich spürte er eine Präsenz neben sich, warm und weich. Er schaute nach rechts und sah _sie_. Lilibee. Sie hielt seine rechte Hand und flog mit ihm, den Blick nach unten gewandt. Auch sie schien fasziniert von der Schönheit der Landschaft unter ihnen. Sie sah nicht auf, aber ihre Finger in seiner Hand drückten leicht seine Hand. Durch ihre Verbindung spürte er ganz deutlich, dass sie glücklich war. Alles an ihr strahlte das aus. Ihm ging fast das Herz über vor Freude und er grinste von einem Ohr zum anderen. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er konnte sich trotzdem vorstellen, wie sie lächelte. Er blickte wieder nach unten, betrachtete versonnen die vereinzelten Häuser des Dörfchens, welches sie gerade überflogen. Er hatte ihr so oft von seinem Wunsch nach dem Gefühl des Fliegens erzählt, hatte ihr davon vorgeschwärmt, seine ganze Leidenschaft dafür zu Tage gebracht. Und jetzt konnte sie es endlich selbst erleben. Er wollte ihr gerade sagen, wie glücklich er war und sie auch gleich fragen, ob sie auch nichts riechen konnte, als er eine weitere Präsenz auf seiner linken Seite spüren konnte. Er wandte sich um und ihm stockte der Atem. Da war sein Vater! Sein Vater war an seiner Seite und flog mit ihm, er, der immer über seine Träumereien gelacht hatte und ihn schimpfte, wenn er damit seiner Mutter Sorgen bereitete. Aber er war wirklich hier und er lächelte liebevoll... Wie lange war es her, dass er seinen Vater hatte lächeln sehen. Überwältigt von diesem Anblick streckte er seine freie Hand aus und Thomaka ergriff sie und hielt sie fest. Er blinzelte sich ein paar Tränen aus den Augen und er fühlte sich plötzlich furchtbar albern dafür, dass er so sentimental war. Mit einem Mal wurde die Luft um ihn herum eisig kalt und die Landschaft unter ihm wirkte auf einmal nicht mehr so einladend, sondern einfach nur ganz weit weg und kalt und grau. Sein Vater versuchte die Hand aus der seinen zu befreien. Erstaunt blickte er zu ihm hinüber und erschrak. Die Augen Thomakas hatten sich verändert. Sonst ein strahlendes Blau, waren sie jetzt glasig und wässrig und sahen aus, als starrten sie ins Leere. Sie flogen wild umher und blickten panisch erst auf ihn, dann auf die verbundenen Hände. Thomaka zog und zerrte, doch er selbst war zu überrascht um los zu lassen. Sein Herz tat plötzlich so weh und die Freudentränen wandelten sich in Verzweiflungstränen um und sie liefen ihm die Wangen hinab. Als sein Vater ihn ansah und die Tränen bemerkte, hielt er einen Moment inne und seine Augen klärten sich ein wenig. Seine Hoffnung keimte auf, doch sie wurde sogleich nieder geschmettert, als die Augen sich wieder ängstlich weiteten und sein Vater weiter wild versuchte, seine Hand zu befreien. Dieses angenehme Gefühl der Wärme und Geborgenheit, das er anfangs verspürt hatte, war verschwunden. Er fühlte sich allein, schrecklich allein. Aber er wusste, es hatte keinen Sinn. Sein Vater trug denselben Blick, mit dem er ihm im Heim begegnet war. Resignation erfüllte ihn und verdrängte die Freude, die er beim ersten Anblick seines Vaters empfunden hatte. Er spürte, wie er an Leichtigkeit verlor und ließ schließlich Thomakas Hand los. Der zog sie sofort an sich und legte schützend seine andere Hand darüber. Aus großen, verwirrten Augen sah er ihn an und wich ein wenig zurück. Sie flogen immer noch, aber sie verloren an Höhe. „Wer sind Sie?“ fragte Thomaka und er schüttelte den Kopf. „Nein...“ flüsterte er und streckte seine Hand aus um die Wange seines Vaters zu berühren. „Nein!“ flehte er. Thomaka wich noch weiter zurück und schaute erschrocken auf die Hand, die sich ihm genähert hatte. Dann wurde er plötzlich wie von einem starken Windstoß weggerissen und verschwand in den Wolken. „NEIN!!!“ schrie er aus rauer Kehle und versuchte hinterher zu kommen, aber vergeblich. Er wurde von unsichtbaren Kräften zurückgehalten und musste zusehen, wie sein Vater im Nichts verschwand. Die Tränen rannen ihm jetzt in Bächen die Wangen hinunter und er schüttelte immer noch den Kopf. Ein Druck an seiner rechten Hand ließ ihn innehalten und er wandte den Kopf. Lilibee sah ihn an und lächelte und drückte seine Hand noch einmal. Er schluckte schwer und versuchte zu lächeln. Lilibee war noch da, sie hielt ihn in der Luft, sie ließ ihn nicht fallen. Doch seine Tränen hörten nicht auf zu fließen... Lilibees Gesichtsausdruck veränderte sich. Ihr Lächeln schwand und sie kniff ungeduldig die Lippen zusammen. Sie flogen immer noch, doch er merkte, wie er schwerer wurde, sodass sie zu ihm hinunter sehen musste. Ihre Augen schmälerten sich und sie zog kurz an seiner Hand, als wollte sie ihn wieder nach oben ziehen. Er wollte wieder zu ihr nach oben, wollte wieder dieses Gefühl der absoluten Leichtigkeit zurück haben, aber er wurde noch schwerer und die Tränen hörten nicht auf. Verzweifelt versuchte er sie zu stoppen, doch es war vergebens. Seine innere Zerissenheit, sein Schmerz über den Verlust des Vater konnte er nicht verbergen. Und jetzt wandte sich auch noch Lilibee von ihm ab... Fast hatte er Lust, sich einfach fallen zu lassen und unten aufzuschlagen. Dann wäre wenigstens endlich alles vorbei... Lilibee zog noch einmal ungeduldig an seiner Hand und hob in fast verärgerter Erwartung die Augenbrauen. Er mühte sich ab, strampelte, versuchte sich nach oben zu schieben, aber die Luft um ihn herum gab ihm keinen Halt. „Nun streng dich doch mal an! Ich kann dich nicht alleine halten. Du hast doch immer gesagt, dich kriege keiner klein.“ Ihre Stimme klang so kalt! 'Nicht hier, Lilibee. Nicht hier!' wollte er sagen, aber er sah an ihren Augen, dass es schon zu spät war. Sie war schon nicht mehr bei ihm. Und wirklich, plötzlich wurde ihr Blick abwesend und die Augen kalt und sie sah sich um, weg von ihm. Er weinte noch mehr und wurde wieder schwerer. Wie konnte er das nur aufhalten? Alle wandten sich von ihm ab und ließen ihn alleine. Er fühlte sich so hilflos. Verzweifelt sah er zu Lilibee hinauf und drückte ihre Hand. Sie blinzelte, blickte auf ihn herab, die Augen völlig desinteressiert, so als ob sieben Jahre gar nichts zählten. „Du bist zu schwer. Ich schaffe das nicht.“ Es war das Letzte, was er von ihr hörte, dann ließ sie seine Hand los. „NEEIIIIIIIIN!!!“ Er fiel. Endlos. Er spürte wie er immer schneller wurde, spürte das Rauschen des Windes in seinen Haaren und Ohren, spürte den Luftwiderstand gegen seinen Körper, der wie viel zu schwache Hände versuchten seinen Flug zu bremsen. Er versuchte die Augen zu öffnen, um den Abstand zum Boden abzuschätzen zu können, doch der Wind trieb ihm das Wasser in die Augen. Er hatte sich gedreht und fiel nun mit dem Rücken voran. 'Das überlebe ich nicht!' dachte er panisch, riss die Augen auf und schrie... Der Boden rückte immer näher... Schweißgebadet schoss Kanaeel aus dem Kissen und rang nach Luft. Die Augen weit aufgerissen spürte er, wie die Todesangst des Traumes ihm immer noch die Luft abschnürte. Er kannte diesen Traum. Es war stockfinster und kalter Regen peitschte gegen die Fenster. Er brach heulend zusammen und merkte noch, wie sanfte Arme ihn umfingen, ihn festhielten und ihn zärtlich hin und her wiegten. Die Schluchzer zerissen ihn fast und später konnte er sich nicht mehr erinnern, wie lange sie so dort saßen. Das Einzige, was ihm in Erinnerung blieb, bevor er das Bewusstsein verlor, war das Gefühl von langen, weichen, duftenden Haaren, die ihn- zusammen mit den Armen- einhüllten, wie in einen schützenden Mantel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)