Die Kronen des Kriegers von Tikal (Die Vorgeschichte zu den Ereignissen in der Zeit der Echidna) ================================================================================ Kapitel 5: Drei Jahre --------------------- Die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages strahlten über den Horizont. Weit entfernt im Osten über den weiten Ebenen ging die Sonne langsam auf. Ein kleines Stück der Sonnenscheibe war bereits über dem Horizont zu sehen, und ihre Strahlen beschienen das kleine Dorf, das an den Hängen eines Gebirgsausläufers im Norden der großen Ebenen lag. Das Dorf war eine Ansammlung von kleinen Blockhütten. Es waren höchstens fünfzig, die gerade groß genug für eine kleine Familie waren. Sie standen auf einem kleinen Plateau, etwas erhöht gegenüber der Ebene, die über einen kurzen Serpentinenweg entlang des steilen Berghanges erreicht werden konnte. Am anderen Ende des Plateaus stieg die Felswand erneut steil an, bis sie sich auf einer Höhe, die wohl zwanzig Echidna aufeinander gestellt entsprach, zurückzog. Die Hütten bildeten zwei große Ringe um das einzige größere Gebäude inmitten des Dorfes - eine größere Blockhütte, die etwa so viel Platz belegte wie vier von den kleinen Hütten. Wie ihre kleinen Entsprechungen war sie komplett aus einfachem Holz gebaut und sah zwar nicht besonders schön aus, aber die Wände waren zwei Baumstämme dick und hielten die Kühle der Nacht und gegebenenfalls auch die Kälte des Winters recht gut ab. Die Tür einer Hütte direkt in der Nähe der Halle öffnete sich, und verschlafen blickte ein Echidna heraus. Er trug ein rotes Wams, wie die Wächter in der Stadt, allerdings war dieses Wams an den Nähten mit kleinen blauen und grünen Zierfäden bestickt und war aus deutlich feinerem Stoff als die Uniformen der Wächter. Seine Waffe war ein Schwert, das etwa zwei Ellen lang war und das er sich auf die Schulter geschnallt hatte. Er wirkte noch recht jung, und er war zwar kein Muskelprotz, aber trotzdem war nicht zu übersehen, dass er stark war - und vermutlich auch schnell, wenn es darauf ankam. Er gähnte herzhaft und grummelte leise vor sich hin. "Jetzt muss ich sie wieder suchen... Warum kann sie nicht einfach zu einer normalen Zeit aufstehen?" "Das würde nicht zu ihr passen", hörte er jemanden links von sich sagen. Er drehte den Kopf und nickte. "Trotzdem wüsste ich gerne, wo sie gerade ist", sagte er zu der gelben Igelin, die ihn angesprochen hatte. Er hatte es längst aufgegeben, sich über ihr Aussehen zu wundern. Zitronengelbe Stacheln, zusammen mit dunkelblauen Augen, einer Jacke und einer Hose, beide aus dunklem Leder, wie sie alle höherrangigen Igel trugen, sahen nun mal seltsam aus - aber man gewöhnte sich schnell daran. Lediglich eine Halskette aus Holzplättchen, die mit seltsamen roten Symbolen verziert waren, wirkte unpassend, aber er hatte sie noch nie ohne diese Kette gesehen. "Ich glaube, ich weiß es", meinte sie und wandte den Blick zur Felswand hinter dem Plateau. "Ich kann dich zu ihr bringen, Aztic... aber ich glaube, sie möchte im Moment nicht gestört werden." Überrascht legte der Angesprochene die Stirn in Falten. "Ich weiß, dass ihr beide gut befreundet seid, Curse", sagte er langsam, "aber wenn sie es dir berichtet hat, warum dann nicht auch mir? Und ich bin für sie verantwortlich. Das bin ich einer Freundin schuldig." "Warum sie es dir nicht verraten hat, kann ich mir zwar denken, aber sie hat ihre Gründe" meinte Curse. "Und wenn sie nicht will, dass du es erfährst, dann werde ich ihr nicht in den Rücken fallen. Sie ist die Einzige, die das Recht hat, dir davon zu erzählen. Und glaub mir, sie kann ganz gut auf sich selbst aufpassen." "Aber wo ist sie?", fragte Aztic nach. Am östlichsten Ende des Plateaus führte ein schmaler Weg, gerade breit genug, dass ein einzelner Igel sicher dort entlang gehen konnte, an den Berghängen entlang auf einen kleinen Ausläufer des Plateaus. Diese kleinere Plattform war nahezu kreisförmig und hatte etwa einen Durchmesser von drei Schritten. Einige kleinere Felsen lagen auf ihr, die sich vermutlich irgendwann einmal von weiter oben gelöst hatten und auf dem Plateau liegengeblieben waren. Auf einem dieser Steine saß eine junge Echidna und blickte nach Osten, dorthin, wo sich die Sonne langsam über die Bergausläufer in der Ferne schob und nach und nach die unendlich scheinende, grasbewachsene Prärie beschien. Ihre Kleidung war aus dem gleichen Stoff wie die Kleidung des Echidnas im Dorf, und sie war auf die gleiche Weise verziert. Sie war unbewaffnet, und auch wenn sie in den letzten Jahren stark gewachsen und sicherlich erfahrener geworden war, war ihr doch immer noch anzumerken, dass sie keine Kriegerin war. Dafür waren ihre violetten Augen einfach zu scheu, und sie war viel zu sehr in ihre Gedanken versunken, um zu bemerken, was um sie herum vorging. Im Morgenwind wogte das Gras hin und her, und auch wenn das Gras nicht höher wuchs als etwa auf Kniehöhe, war doch eine wiegende Bewegung klar erkennbar, wie die Ringe, die auf einem See entstanden, wenn man einen kleinen Stein hineinwarf. Die Echidna schwieg und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Ihre Schwester war oftmals noch früher aufgestanden als sie heute, einfach nur, um sich den Sonnenaufgang anzusehen, an ihrem Lieblingsplatz, am Kristallsee. Sie hatte am Ufer gestanden und nach Osten geblickt, ohne sich zu rühren, und einfach nur den Eindruck der Sonne, die sich langsam über den Horizont erhob, langsam die Gegend zu erhellen begann und sich im klaren Wasser des Sees spiegelte, auf sich wirken lassen. Ihre Schwester war immer sehr ruhig gewesen, selbst für ein Mädchen. Sie hatte nie viele Worte gemacht, sondern meistens Taten sprechen lassen - eine Verhaltensweise, die sie als angehende Kriegerin vermutlich schon am Anfang ihrer Ausbildung gelernt hatte. Und Talent hatte sie zweifellos gehabt. Sie hatte gesehen, wie ihre Schwester noch drei Tage vor ihrer Abreise ihren Meister im Zweikampf besiegt hatte, nach fast zehn Jahren Ausbildung, und noch am Tag vor ihrer Abreise ein Kampfturnier gewonnen hatte, bei dem von ihren Kämpfen nur der gegen Aztic spannend und ergebnisoffen gewesen war. Am Tag vor der Nacht, die alles verändert hatte. "Wo bist du jetzt, Selina?", fragte sie leise und seufzte. "Was hast du getan, seit du fliehen musstest? Was tust du im Moment?" "Denk nicht zu viel über deine Schwester nach", hörte sie hinter sich jemanden sagen, und als sie sich umdrehte, erkannte sie Curse, die dicht hinter ihr stehen geblieben war und ebenfalls zur aufgehenden Sonne hinüberblickte. "Auf diese Fragen wirst du keine Antwort erhalten... nicht, bis du sie getroffen und persönlich gefragt hast." "Das ist ja das Problem", meinte Malinche und blickte wieder zur aufgehenden Sonne hinüber. "Ich fürchte, ich werde sie nie wieder sehen... nie wieder mit ihr reden können... schließlich bin ich die Verlobte des Prinzen, und da kann ich mich nicht einfach so aus der Stadt schleichen, um mit einer gesuchten Mörderin zu sprechen. Und in die Stadt kann sie auch nicht kommen - das wäre blanker Selbstmord. Und mich besuchen...?" Malinche schüttelte traurig den Kopf. "Eure Ältesten haben doch verfügt, dass keine Echidna außer unserer Gruppe in euer Gebiet kommen dürfen, solange die Verhandlungen noch laufen, und jeden Echidna zu töten, der sich nicht daran hält. Entweder weiß sie davon und wird nicht kommen - oder sie wusste es nicht... und in diesem Fall ist sie vermutlich schon tot. Sie müsste auf jeden Fall auf Igel gestoßen sein, weil sie sich auf dieser Ebene nicht auskennt - und die hätten den Befehl eurer Ältesten befolgt und sie getötet." "Warum denkst du überhaupt so viel an deine Schwester?", fragte Curse und kam näher, um sich neben sie zu setzen. "Du weißt doch, dass das nichts an dem, was geschehen ist, ändern wird. Und es wird dir auch nicht dabei helfen, sie wiederzusehen." "Ich kann nun einmal nicht beeinflussen, an was ich denke", gab die Echidna zurück und lächelte traurig. "Selina hat mir eine ganze Menge bedeutet... und ich mache mir einfach Sorgen um sie. Es ist gut möglich, dass sie zufällig von ein paar Echidna gefangen genommen wird, oder dass sie den Winter nicht übersteht... und in diesem Fall würde ich nicht einmal erfahren, was aus ihr geworden ist. Und das nur, weil sie mich gegen diese Gestalten verteidigt hat..." Eine einzelne Träne rollte aus ihrem Auge über ihr Gesicht, die sie schnell wegwischte. "Ich vermisse sie einfach", sagte sie leise. Curse legte ihr tröstend einen Arm um die Schulter, sagte aber nichts, während sie zusammen mit ihrer Freundin nach Osten blickte, wo die Sonne sich langsam über den Horizont erhob und ihr Licht nach und nach wärmer wurde. Malinche wusste nicht, wie lange sie mit Curse da gesessen hatte, als sie plötzlich Schritte hinter sich hörte und sich umdrehte, weg von der Sonne, die mittlerweile fast vollständig aufgegangen war. "Wie lange wollt ihr beide denn noch da sitzen?", fragte der Neuankömmling, ein grüner Igel mit tiefblauen Augen und einer ruhigen, aber nicht unfreundlichen Stimme, der eine Hose und eine Jacke aus dunklem Leder trug, die als Zeichen seines Ranges kunstvoll mit Zierfäden und Lederstreifen an den Nähten verziert waren. "Die Verhandlungen sollen gleich weitergehen." Malinche seufzte. "Ihr habt Recht... wir haben viel nachzuholen. Die Gespräche ziehen sich jetzt schon viel zu lange hin." "Wenn mein Vater krank wird, kurz bevor ihr hier eintrefft, und diese Krankheit ihn jetzt schon seit drei Jahren plagt", meinte Curse und stand auf, "dann braucht uns das nicht zu wundern, denke ich. Auf jeden Fall", und an dieser Stelle warf sie dem Neuankömmling einen scharfen Blick zu, "hat sie genug Zeit, um in Ruhe der Sonne beim Aufgehen zuzusehen, Joshua." " Dein Vater William sieht das aber anders", meinte Joshua nur und warf Curse einen geradezu unheimlich kalten Blick zu, sodass selbst die Echidna einen Moment lang fröstelte, bevor der Igel lächelnd zu ihr hinüberblickte. "Ich wollte Euch nicht ungebührlich hetzen, aber Ihr seid nun einmal die Führerin der Verhandlungen im Namen der Echidna, und ich hielt es für nötig, Euch Bescheid zu sagen. William sagt, es gehe ihm gut genug, um die Gespräche heute wenigstens ein wenig weiterzuführen. Ihr solltet ihn nicht warten lassen. Er ist krank, und als oberster Häuptling der Igel bittet er Euch, so schnell wie möglich zu ihm zu kommen, damit die Verhandlungen weitergehen können." Malinche nickte. "Ja, Ihr habt Recht", murmelte sie leise, aber bevor sie sich vollends von der Sonne abwandte, warf sie noch einen Blick zum Horizont, genau ins Sonnenlicht. Selina hatte sich immer gern den Sonnenaufgang angesehen... sie hatte immer gesagt, dass sie sich in diesem Augenblick immer ganz ruhig gefühlt habe... Vielleicht hatte sie diese Gewohnheit ja beibehalten... Malinche seufzte leise, während sie sich wieder umdrehte und Joshua und Curse auf dem Weg ins Dorf begleitete. Wie sehr wünschte sie sich, jetzt, in diesem Moment, einfach kehrt machen zu können, einfach zurück an diesen Platz gehen und die Ruhe des Sonnenaufgangs genießen zu können... Ganz so, wie es Selina immer getan hatte, wenn sie Lust darauf gehabt hatte... Die kleine Gruppe betrat die große Halle im Zentrum des Dorfes. In der Halle befanden sich bereits alle anderen Echidna und die meisten Igel, die mit der Verhandlung etwas zu tun hatten, und saßen auf ihren Plätzen am Tisch, an dessen Kopfende der Häuptling der Igel Platz nehmen sollte. Malinche nahm ihren Platz ein, den Platz zur Rechten des freien Stuhls, in der Reihe der Echidna. Es waren insgesamt zehn Echidna im Raum, fünf persönliche Wachen und fünf Unterhändler, und abgesehen vom Häuptling sah es bei den Igeln genauso aus. "Wenigstens geht es endlich weiter", murmelte Aztic, ihr persönlicher Wächter, der hinter ihr stand, ihr leise zu und grinste. "Meint Ihr das wirklich?", fragte der Echidna, der zu ihrer Rechten saß. "Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir diesen Frieden in absehbarer Zeit schließen werden." "Was macht Euch da so sicher?", fragte Malinche zurück. "In den bisherigen Gesprächen hatte ich den Eindruck, dass sie wirklich am Frieden interessiert sind." "Ihr habt sie nicht abseits der Besprechungen erlebt", gab der Echidna zurück und schüttelte verächtlich den Kopf. "Sie behandeln uns wie Luft - aber das dürfte Euch ja nicht auffallen, so sehr, wie Ihr Euch in die Einsamkeit zurückzieht. Ihr habt in den drei Jahren, die wir hier sind, kaum ein Wort mit einem von uns gewechselt. Kennt Ihr überhaupt meinen Namen, geschweige denn die Namen von ihnen?" "Euren Namen?", fragte Malinche zurück und musste sich eingestehen, dass sie ihn nicht kannte. "Nein, aber ich kenne die Namen von einigen Igeln, und diese kenne ich auch persönlich recht gut. Und sie scheinen wirklich ernsthaft am Frieden interessiert zu sein." Sie lächelte verschmitzt. "Vielleicht behandeln sie Euch wie Luft, weil Ihr sie auch nicht beachtet und Euch nur bei den anderen von uns aufhaltet, meint Ihr nicht?" Verwirrt blickte ihr Gegenüber sie an, aber bevor er etwas erwidern konnte, schwang die Eingangstür auf, und William, der Häuptling der Igel, betrat die Halle. Obwohl er erst wenig über vierzig Jahre alt war, so musste sich der Igel doch bereits auf einen Stock stützen, und er zitterte pausenlos, während er langsam um den Tisch herum zu seinem angestammten Platz ging. Seine einstmals grünen Stacheln waren bereits fast durchgehend grau und hatten ihren gesamten Glanz verloren. Ganz anders seine braunen Augen, die glänzten wie bei einem Fieberkranken, aber hinter dem Glanz wirkten auch sie geradezu unheimlich alt und müde. Die lange Krankheit hatte ihn ausgezehrt, und normalerweise hätte niemand in diesem Gerippe eines Igels ihren obersten Häuptling vermutet - allerdings beseitigte der lange Mantel aus reich verziertem Leder jeden möglichen Zweifel an seinem Rang. Als er sich setzen wollte, zitterte seine Hand um seine Gehhilfe so stark, dass sie vermutlich um- und er hingefallen wäre, wenn nicht Curse schnell von ihrem Platz zu seiner Rechten aufgestanden wäre und ihn gestützt hätte. "Vielleicht solltest du dich besser wieder hinlegen, Vater", mahnte Joshua, der direkt neben dem Häuptling saß, mit leiser Stimme in der Sprache der Igel, sodass es von den Gesandten, die anders als ihre Wächter diese Sprache recht gut beherrschten, nur Malinche hören konnte. "Es wird den Gesprächen nicht helfen, wenn du hier zusammenbrichst." "Vielleicht nicht", erwiderte der Igel mit schwacher, aber dennoch entschlossener Stimme. "Aber wie lange soll ich mich denn noch von dieser Krankheit ans Bett fesseln lassen? Davon gehen die Verhandlungen auch nicht weiter." "Und wenn du zu früh aufstehst, riskierst du nur einen Rückfall", erwiderte Joshua, klang allerdings auffallend gleichgültig, als er das sagte. "Das wird auch nicht weiterhelfen." "Es wird schon gehen", versicherte William, und obwohl seine Stimme immer noch recht schwach war, war doch klar, dass er die Konferenz nicht abbrechen würde. "Hol mir nur bitte noch etwas zu trinken", sagte er noch zu dem Igel, der direkt hinter ihm stand und wie alle Wachen der Igel gekleidet und bewaffnet war - ein langes Schwert und ein kurzes Messer, die an einem Ledergürtel hingen, der eine einfache Stoffhose hielt. Der Igel drehte sich auch postwendend um und verschwand durch eine kleine Tür in der Wand hinter dem Häuptling. Über Joshuas Gesicht zog ein leichter Schatten, wie Malinche auffiel. Da stimmte doch etwas nicht... wenn er sich wirklich Sorgen machte, warum hatte er dann eben, als er seinen Vater auf die Rückfallgefahr angesprochen hatte, so gleichgültig geklungen, und ihn gegenüber Curse betont als "ihren" Vater bezeichnet? Aber wenn er sich keine Sorgen machte... warum war dann dieser flüchtige Schatten über sein Gesicht gezogen? Sie musste sich irren - es war niemandem gleichgültig, wenn sein Vater krank war. "Seid Ihr euch sicher, dass Ihr das durchstehen könnt?", fragte Malinche William, aber der nickte nur und drehte sich um, als die Tür hinter ihm zufiel. Der Wächter war zurück und trug in den Händen einen tönernen Becher, der bis an den Rand mit Wasser gefüllt sein musste. Der kranke Igel nahm den Becher mit zitternden Fingern entgegen und nickte dem jungen Wächter dankbar zu, bevor er zum Trinken ansetzte. Urplötzlich sprang Joshua auf die Füße und schlug seinem Vater den Becher mit einer raschen, kraftvollen Handbewegung aus der Hand. Er flog aus den schwachen Händen des Häuptlings einige Meter weit durch den Raum und zerbrach klirrend auf dem festgestampften Erdboden. Joshua ignorierte die verwirrten Blicke der Anwesenden, ging zu der Stelle hinüber, wo der Becher zerbrochen war, bückte sich und hob ein kleines, hellblaues Blatt auf, das er eingehend betrachtete, bevor er den jungen Wächter mit einer knappen Geste seiner zitternden Hand zu sich winkte. Und der junge Igel gehorchte mit einem Blick voller Gleichgültigkeit. "Dieses Blatt", zischte Joshua, und seine Stimme, die kälter und drohender klang, als Malinche sie jemals zuvor gehört hatte, ließ zusammen mit seinen Augen, in denen kalter Zorn zu sehen war, jeden im Raum zittern, "du weißt, woher es kommt. Diese Blätter sind giftig, und wenn man sie in Wasser legt, sind sie der perfekte Weg, um es zu vergiften." Einen kurzen Moment schien ein irres Feuer in seinen Augen zu flackern, bevor sie wieder normal zornig und erregt aussahen. "Wer hat es dir gegeben?", fauchte er. "Wer wollte, dass mein Vater stirbt?" Der junge Wächter antwortete nicht. Regungslos erwiderte er den wütenden Blick Joshuas, und in seinen Augen war nicht das geringste Gefühl zu erkennen. Der Häuptlingssohn sah zu seinem Vater hinüber, der in seinem Stuhl zusammengesunken war. Diese Aufregung war offensichtlich zu viel gewesen für den kranken Häuptling, und er hatte das Bewusstsein verloren, aber Curse, die neben ihm stand und den Puls gefühlt hatte, nickte Joshua beruhigend zu. William lebte noch. Der grüne Igel wies auf zwei Igelwächter im Raum. "Ihr zwei bringt meinen Vater zurück in sein Haus", befahl er. "Ihr beiden" - dabei sah er zu den anderen zwei Igelwachen hinüber - "bewacht unseren Giftmörder hier. Sobald ich sicher weiß, dass meinem Vater nichts passiert ist, will ich mit ihm reden." Gedankenschnell flog die Hand des gefangenen Wächters zu seinem Schwert, gedankenschnell hatte er es gezogen, und fast ebenso schnell stürmte er auf den bewusstlosen Häuptling los. Die beiden Wachen, die ihn in sein Zelt schaffen sollten, waren noch nicht nahe genug beim Häuptling, um eingreifen zu können. Sie waren erst halb um den Tisch herumgegangen und konnten nur zuschauen. Ohne einen Laut von sich zu geben, hob der Verräter das Schwert und schlug zu. Höchstens zwei Fingerbreit über Williams Kopf traf es auf ein anderes Schwert. Über dem metallischen Klirren wandte der Verräter überrascht den Kopf und blickte denjenigen an, der seinen Angriff vereitelt hatte. Das genügte für Aztic, um das Schwert des Igels mit einer kurzen Anstrengung nach oben zu drücken und so die Gefahr für William ein wenig zu mindern. Dann plötzlich sprang der Verräter einen Schritt zurück, bevor er mit einem einhändigen Hieb seines Schwertes horizontal nach Aztics Hals schlug. Aztic parierte auch diesen Schlag problemlos und drückte dabei die Waffe seines Gegners nach außen, sodass für einen kurzen Moment seine Deckung offen war. Mit einem raschen, kräftigen Fausthieb mitten ins Gesicht dicht unter das linke Auge brachte er seinen Gegner dazu, zurückzutaumeln, und für einen Moment konnte er sich nicht verteidigen. Ein weiterer blitzschneller und dennoch präziser Hieb Aztics folgte. Das Schwert schnitt durch die Muskeln, die Knochen und das Fleisch des Handgelenks der Hand, in der der Igel sein Schwert hielt, und mit einem ekelerregenden Geräusch fiel die Hand mitsamt der Waffe zu Boden. Der Igel erstarrte mitten in der Bewegung, als seine Hand vom Arm getrennt wurde, und blickte Aztic an. Seine Augen waren leer, wie von einem Toten. Keinerlei Regung war zu erkennen, obwohl er doch schmerzlich spüren musste, dass sein rechter Arm nur noch in einem Stumpf endete. Und keinerlei Regung war zu erkennen, als er in einer schnellen, fließenden Bewegung mit der linken Hand das kurze Messer aus seinem Gürtel zog und sich in den Hals stieß. Erst als er jetzt in den Knien einknickte, war wieder eine Gefühlsregung in seinen Augen zu erkennen. Und es war nicht Schmerz oder Häme, weil sein Tod Spuren verwischen würde - es war Überraschung. Aus seinen Augen sprach reine Überraschung, so als wisse er gar nicht, wie er in die Halle gekommen war und wie er diese tödlichen Wunden erhalten hatte. Das war das letzte, was Malinche von ihm sah, bevor er mit dem Gesicht voran auf dem Boden aufschlug und sich nicht mehr bewegte. Sie hörte, dass Joshua irgendetwas zu Aztic sagte, aber sie verstand nichts genaues von dem, was gesprochen wurde. Unter dem toten Wächter bildete sich eine Blutlache, sowohl aus der klaffenden Wunde am Hals als auch aus dem Armstumpf. Der Geruch des Blutes war ganz nahe... er war ganz in ihrer Nähe... und er kam immer näher... Und dann, plötzlich, wurde ihr schwindelig. Sie merkte, dass sie zu Boden stürzte, und es wurde schwarz um sie herum. Ganz plötzlich sah sie nichts mehr um sich herum, hörte nur noch entferntes Waffengeklirr, kleine Platschgeräusche, als wenn jemand in eine Pfütze getreten sei - und es stank fürchterlich nach Blut um sie herum. Sie merkte, dass sich ihre Hände um den Griff eines Schwertes klammerten und dass sie in der Ecke eines dunklen Zimmers kauerte, während hinter der Wand neben ihr Waffengeklirr und dumpfe Geräusche, als wenn eine Waffe durch Haut, Fleisch und Knochen schnitt, erklangen. Sie zitterte... sie bekam keine Luft, weil ihr der Gestank des Blutes den Atem nahm... ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals... dann plötzlich herrschte Stille... Und dann stand sie auf einmal im vom Fackellicht erhellten Thronsaal der Echidna dicht neben ihrem Verlobten und hörte seinen Vater, den König, sprechen... "Die Strafe für Mord ist der Tod." Sie wusste, was folgen würde, und wollte sich die Ohren zuhalten, aber die Worte schienen direkt aus ihrem Kopf zu kommen... "Und weil du besonders rücksichtslos gemordet hast, wirst du nicht einfach so sterben." Sie schrie auf, um die Worte zu übertönen, die folgen würden - und dann kehrte die Dunkelheit zurück. Sie hörte, wie eine Tür aufgerissen wurde, und irgendjemand hielt eine Fackel in den dunklen Raum, sodass sie sich umsehen konnte. Sie lag auf einem Strohsack mit einer Hülle aus Leder unter einer Felldecke und merkte, dass sie schwitzte. Der Schweiß lief in Strömen über ihr Gesicht, ihr war fürchterlich heiß, und nach dem Brennen ihrer Augen zu urteilen, musste sie geweint haben. Erst als die Person mit der Fackel den Raum betrat, konnte Malinche sie erkennen. Curse zog leise die Tür zu, kam zu ihr hinüber und legte ihr eine Hand auf die Stirn. "Wie fühlst du dich?", fragte sie besorgt. "Es ging mir schon besser", meinte Malinche und brachte ein schwaches Lächeln zustande. "Was ist passiert?" Langsam ließ Curse sich neben ihr nieder und legte die Fackel vorsichtig in sicherer Entfernung vom Strohsack auf den festgetretenen Erdboden. "Du bist zusammengebrochen", sagte sie leise, "ganz plötzlich. Du warst den ganzen Tag bewusstlos und hast die ganze Zeit gezittert, geschwitzt und geweint... wie jemand, der furchtbare Angst hat." Curse blickte auf einen Strohhalm, der aus einer Naht des Sackes hervorschaute, und schwieg einige Augenblicke lang. "Was hast du geträumt?", fragte sie leise, und sie klang ernsthaft besorgt. "Was hast du geträumt, das dir so viel Angst gemacht hat?" Malinche fühlte einen dicken Kloß im Hals, als sie antwortete, und musste die Worte förmlich hervorpressen. "Ich... ich saß in dem dunklen Raum... den ich und Selina uns früher geteilt haben... es war dunkel... ich hatte eine Waffe in der Hand... und... und es stank fürchterlich nach Blut... und von nebenan waren Waffengeräusche zu hören... Und... und im nächsten Moment... stand ich im Thronsaal... und hörte... und hörte das Urteil... vom König... hörte, wie er Selina zum Tode verurteilte..." Sie hob den Kopf und blickte Curse mit einer Mischung aus Hilflosigkeit, Trauer und Verzweiflung an. "Es waren die beiden schlimmsten Momente meines Lebens... die Ungewissheit, ob Selina den Kampf gegen die anderen Schemen überleben würde... und der Moment, in dem sie zum Tode verurteilt wurde... auf die grausamste Art, die wir kennen... für etwas, das sie nicht getan hat..." Eine Träne lief ihr übers Gesicht, und sie senkte den Blick wieder. "Von Zeit zu Zeit träume ich davon... und diese Nächte sind es, in denen ich stundenlang hier am Fenster stehe und den Mond betrachte, weil ich Angst davor habe, zu schlafen... So wie jetzt... jetzt, wo mich diese Bilder wieder heimgesucht haben..." Sie wandte den Kopf hinüber zu ihrer Freundin, die immer noch auf den Strohhalm hinabblickte und wirklich besorgt und traurig aussah. "Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte die Igelin mit leiser Stimme. Malinche rückte so dicht an Curse heran, wie sie konnte, und schloss die Augen. "Lass mich nicht allein", flüsterte sie tonlos. "Die Einsamkeit hier wäre sonst zuviel für mich, nach dem, was heute passiert ist... und außer dir habe ich niemanden..." Langsam legte Curse der Echidna einen Arm um die Schulter und nickte. "Wie du willst... aber es stimmt nicht, dass du außer mir niemanden hast." Aber mehr sagte sie nicht, und Malinche fragte auch nicht weiter nach, als sie neben ihrer Freundin sitzen blieb, mit geschlossenen Augen, und langsam das Gefühl der Einsamkeit verschwand... langsam verschwand die Angst vor der Nacht, vor dem Schlaf, vor den Alpträumen. Es dauerte nicht lange, und beide waren eingeschlafen, so, wie sie aneinander gelehnt gesessen hatten, und Malinche lächelte leicht, während sie schlief. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)