Die Kronen des Kriegers von Tikal (Die Vorgeschichte zu den Ereignissen in der Zeit der Echidna) ================================================================================ Kapitel 1: Selina ----------------- Weit im Osten, über dem Meer, ging die Sonne langsam auf. Ihre Strahlen beleuchteten zunächst nur schwach das Meer, bevor sie langsam die Sterne verdrängten und die Nacht zu vertreiben begannen. Der Mond zog sich im Westen zurück, während die Sonne sich auf dem Meer spiegelte und das Land jenseits des Strandes beschien. Es war ein weites Land. Hinter dem sandigen Strand begann eine hügelige Landschaft, die von Gras bewachsen war, das sich im Wind hin und herbewegte. Man konnte unheimlich weit ins Land sehen, und man sah doch nur grasbewachsene Hügel sowie hier und da ein paar Bäume und Büsche. Nichts deutete darauf hin, dass jemals irgendein Wesen hier gewesen war. Als die Sonne höher stieg, schien sie noch weiter ins Land hinein und enthüllte noch mehr von dieser Landschaft. Im Norden waren die ersten Ausläufer eines Gebirges zu erkennen, das dicht mit Bäumen bewachsen sein musste, denn selbst aus dieser Entfernung konnte man erkennen, dass die Hänge zu grün für Wiesen oder gar Fels waren. Das Gebirge ragte zwar nicht sehr hoch in den Himmel, aber dennoch schien es sehr schweres Gelände zu sein. Die Berge waren steil, und zwischen ihnen erstreckten sich schmale Schluchten, die scheinbar ins Unendliche führten, wenn man dort hineinstürzte. In den anderen Richtungen sah man nur weites Grasland, scheinbar unberührt. Als die Sonnenstrahlen weiterzogen, erreichten sie schließlich ein kleines Zeltdorf, in dem sich soeben die ersten Igel sehen ließen, die offensichtlich gerade aufgestanden waren. Sie alle waren leicht bewaffnet, mit Pfeil und Bogen, und einige von ihnen trugen noch ein kurzes Messer. Doch auch von diesem Dorf ließen sich die Sonnenstrahlen nicht aufhalten, genauso wenig von einigen anderen Dörfern, die ihnen unterwegs begegneten, oder von einigen einsamen Gestalten, die scheinbar ziellos über die Ebene zogen. Schließlich erreichten sie eine Gegend, die deutlich hügeliger war als die scheinbar unendliche Prärie, über die sie eben gezogen waren. Die Gegend war felsig und voller Hügeln, die relativ steil waren, einigen kleineren und größeren Bergen sowie weiten Tälern. Es gab auch hier Bäume, ja sogar Wälder auf den Hügeln, und an einigen Hügeln flossen sogar einige kleine Flüsse hinab, von denen sich schließlich einige in einem großen, klaren See, mitten in der unwegsamen Gegend, sammelten. Rund um den See wuchs dichtes Gras und einige Bäume, wenn auch nicht so viele, dass man sie als Wald bezeichnen konnte. Die Landschaft rund um den See sah vielmehr recht idyllisch aus - Vögel zwitscherten in den Bäumen, einige wilde Tiere huschten durch das Gras, und bereits jetzt, am frühen Morgen, war es recht warm. Der Sommer nahte, das war deutlich. Trotz der frühen Stunde war die Wiese nicht leer. Eine einsame Echidna mit hellroten Stacheln stand dort, am Ufer des Sees, und blickte zur aufgehenden Sonne hinüber. Ihre Kleidung war so einfach wie irgend möglich gehalten - sie trug ein eng anliegendes Oberteil sowie einen Rock, der kurz über ihrem Knie endete, und Schuhe aus billigem, abgetragenem Leder. Keins ihrer Kleidungsstücke war gefärbt - sie trug sie im natürlichen Graubraun, das sich von selbst ergab, wenn die Kleidung lange Zeit getragen wurde. Sie war zwar anscheinend noch nicht erwachsen, aber auf dem besten Weg dorthin - wachsen würde sie nicht mehr, dafür war sie schon zu groß, und sie sah schon recht weiblich aus. Sie war kräftig gebaut. Zwar hatte sie keine Muskelpakete, aber man sah ihr doch eine gewisse Stärke, Gewandtheit und Geschicklichkeit an. Im Notfall war sie sicherlich so schnell und präzise wie eine Katze. Hinter ihr waren Schritte zu hören, aber sie wandte nicht einmal den Kopf, um zu überprüfen, wer sich ihr da näherte. Und kurze Zeit später erschien eine weitere Echidna neben ihr. Diese Echidna schien etwas jünger zu sein, und sie strahlte auch bei weitem nicht diese Aura einer Jägerin aus. Vielmehr wirkte sie schüchtern und geradezu schmächtig, obwohl sie nicht viel kleiner war als die andere Echidna. Aber abgesehen davon sah sie ihr so ähnlich, dass sofort klar wurde, dass diese beiden nur Schwestern sein konnten. "Ich hab mir schon gedacht, dass du hier bist", sagte die Jüngere der beiden. "Du solltest lieber in die Stadt zurückkehren, Selina. Die Verabschiedung der Gesandten wird bald stattfinden, und du weißt doch, dass du da sein musst." "Ja, ich weiß", murmelte Selina abwesend, blickte auf den See hinaus, in dem sich das Sonnenlicht spiegelte, und seufzte leise. "Du wirst mir fehlen, Malinche." "Ist das der einzige Grund, warum du noch bei uns bist?", fragte Malinche und schüttelte betrübt den Kopf. "Du weißt doch, dass du eine der begabtesten jungen Kriegerinnen bist, und du weißt auch, dass es hier keinen Gegner mehr gibt, von dem du noch etwas lernen kannst. Ich habe deinen Kampf gegen Huascar vor zwei Tagen gesehen, und dafür, dass er als dein Ausbilder deinen Kampfstil eigentlich kennen müsste, hast du ihn ziemlich alt aussehen lassen. Mit zwei Messern bist du wirklich gut." "Trotzdem habe ich Angst vor diesem Schritt", meinte Selina leise. "Ich fühle mich einfach noch nicht dazu bereit, die Echidna zu verlassen... unsere Familie zu verlassen... und dich zu verlassen." Selina bemerkte nicht, wie sich für einen Moment ein Schatten der Unsicherheit auf Malinches Gesicht legte. "Das verstehe ich", sagte die jüngere Echidna und wandte sich zum Gehen. "Es wird dich auch niemand dazu zwingen, zu gehen... aber im Moment müsstest du in der Stadt sein. Du weißt doch, dass du mit einigen anderen jungen Kriegern einen Schaukampf liefern sollst, bevor die Gesandten wieder aufbrechen, und du willst sie doch nicht warten lassen, oder?" Selina antwortete nicht, sondern wandte sich langsam ab und folgte ihrer Schwester zurück in die Stadt. Echidnapolis war die Hauptstadt des Reichs der Echidna. Die Stadt lag inmitten der höchsten und steilsten Hügel der Gegend in einem Talkessel, der sie von außen fast unsichtbar machte. Sie füllte den ganzen Talkessel aus und kletterte sogar noch ein wenig an den Hügelböschungen entlang, wo die Wohnungen teilweise in den Fels hineingehauen worden waren. Der Palast der Königsfamilie lag am äußersten Ende des Tals, vom Eingang, der nach Süden lag, soweit wie möglich entfernt. Er thronte majestätisch über der Stadt und überragte alle anderen Gebäude um mindestens das Doppelte. Die Wände, das Tor, ja selbst die Fensterrahmen waren mit Edelsteinen aller Arten besetzt, und der Palastgarten war gigantisch. Verglichen mit den anderen Häusern der Stadt, die bei weitem nicht so prächtig waren, sondern meistens nur aus einfachen Sandsteinwänden und Holztüren bestanden, wirkte der Palast einfach unverhältnismäßig groß. Selbst das Viertel, in dem die reicheren Echidnafamilien lebten, konnte nicht einmal ansatzweise mithalten - das Palastgelände war allein schon so groß wie dieses ganze Viertel. Selina und Malinche quetschten sich durch die engen Straßen des Marktviertels, durch die Menge der Echidna, die sich alle auf den Weg zum Palastvorplatz gemacht hatten. Die beiden jungen Echidna kamen gerade noch rechtzeitig an und zwängten sich durch die Menschenmenge, die sich um den Kampfplatz und die Tribüne, auf der die Gesandten, die Kämpfer sowie besondere Gäste - und natürlich die Königsfamilie selbst - Platz nehmen würden, angesammelt hatte. Selina mischte sich unter die Kämpfer, wobei ihr auffiel, dass die meisten anscheinend sehr nervös waren - manche waren bleich, andere atmeten schneller als gewöhnlich, zitterten oder ließen ihre Augen fast panisch umherschweifen. Nur ein anderer Kämpfer war ebenso ruhig wie sie selbst - Aztic, ihr Mitschüler, ein junger Echidna in ihrem Alter mit roten Stacheln und meerblauen Augen. Während sie sich auf den Kampf mit zwei Messern spezialisiert hatte, konnte er mit dem Langschwert sehr gut umgehen und war entsprechend kräftig gebaut - allerdings wohl auch nicht so wendig wie Selina, die sich oftmals auf ihr Geschick und ihre Geschwindigkeit verließ, um gegnerischen Angriffen auszuweichen. Sie gesellte sich zu ihm und lächelte zuversichtlich. "So nervös, wie die anderen hier sind, werden ihnen die Waffen schon von ganz allein aus der Hand fallen", meinte sie. Aztic nickte und wollte etwas sagen, doch in genau diesem Moment erschallten die Trompeten, welche die Königsfamilie ankündigten, und alles auf dem Platz hielt förmlich den Atem an. Dann betraten der König Montezuma und sein einziges Kind, Prinz Hector, die Tribüne durch eine Treppe von hinten. Alle Echidna auf dem Platz gingen auf die Knie, und für einen Moment herrschte absolute Stille, während der König seinen Blick über den Platz schweifen ließ und den Igeln freundlich zunickte, auch wenn sie ihm nicht auf die Weise der Echidna ihre Ehrerbietung bezeugt hatten. Dann sprach er, trotz seines recht hohen Alters von immerhin fünfzig Jahren, mit klarer und kräftiger Stimme. "Steht auf, meine Untertanen. Was starrt ihr den Boden an, wenn es doch etwas viel Interessanteres zu sehen gibt?" Langsam erhoben sich die Echidna wieder, und die Spannung, was er verkünden wurde, war jetzt fast greifbar. "Zunächst", fuhr Montezuma fort, "muss ich euch sagen, dass die Gesandten des Volkes der Igel und ich in den letzten Wochen lange darüber gesprochen haben, ob wir die Gebietsstreitigkeiten, die seit unzählig vielen Jahren bestehen, nicht endlich beenden sollen, und sie haben zugestimmt, Verhandlungen aufzunehmen und diese Frage in naher Zukunft durch einen verbindlichen Vertrag zu klären." Alle auf dem Platz atmeten tief durch. Das konnte das Ende bedeuten für die ewigen Streitigkeiten und Auseinandersetzungen mit den Igeln, die auf beiden Seiten immer wieder einen unsinnigen Blutzoll forderten. Selina blieb aber ruhig - es würde für sie noch genug Möglichkeiten geben, sich über Wasser zu halten, als bloß Kriege. Und falls sie wirklich aufbrechen würde, konnte niemand sagen, wann sie zurückkehren würde, geschweige denn, ob ein Vertrag auch dann noch Gültigkeit haben würde. "Zur Feier dieses Ereignisses", ergänzte Montezuma, "habe ich für heute einen Festtag angesetzt. Heute soll niemand arbeiten müssen, ganz gleich, ob Händler, Weber, Schneider oder Hausdiener. Statt dessen wird auf diesem Platz ein Kampfturnier statt finden, an dem unsere jungen Krieger teilnehmen werden, um sich zum ersten Mal in ihrem Leben Anerkennung und Ruhm zu verdienen." Diese Ankündigung war reine Formsache. Es war seit Tagen im ganzen Reich bekannt gewesen, dass der König ein Kampfturnier veranstalten wollte, und die jungen Krieger, die hier auf der Tribüne saßen, stammten nicht alle aus Echidnapolis, wie Selina leicht daran erkannte, dass sie manche Gesichter noch nie zuvor gesehen hatte. "Bevor dieses Turnier beginnt", rief der König nun, denn diese letzte Meldung, dass junge Krieger gegeneinander antreten würden, hatte auf dem ganzen Platz Gemurmel ausgelöst, weil man hier zum ersten Mal Kämpfer sehen würde, die man noch nicht kannte, "muss ich noch eins bekannt geben. Morgen, bei Sonnenaufgang, werden die Gesandten der Igel wieder zurück nach Hause aufbrechen, und unsere Delegation wird sie begleiten. Sie wird angeführt werden von Malinche, der Verlobten unseres Kronprinzen und meines Sohnes Hector." Dieser Satz traf Selina wie ein Peitschenhieb. Sie wandte den Kopf und versuchte ihre Schwester in der Volksmenge zu finden - vergeblich. Dann blickte sie zum Prinzen hinauf - und sah sie an dessen Seite stehen. Sie hatte nicht gewusst, dass Malinche sich mit ihm verlobt hatte... Und Malinche hatte nichts davon erwähnt, dass sie die Echidna verlassen und sie bei den Igeln vertreten würde. Ihre kleine Schwester, die gerade erst dreizehn war, würde die Echidna im Namen ihres zwei Jahre älteren Verlobten bei den Igeln vertreten... Ihre kleine Schwester... Selina schob den Gedanken daran in den Hinterkopf. Sie konnte sich auch nach dem Turnier noch Gedanken machen. Die jungen Krieger erhoben sich jetzt, unter dem Jubel der Menge, die sich ganz offensichtlich auf die Schaukämpfe freute, und kletterten auf den Platz, der vor der Tribüne freigelassen worden war, wo verschiedene ältere Krieger auf sie warteten. Diese älteren Krieger hatten die jungen Krieger ausgebildet, und Selina und Aztic fanden ihren Meister Huascar schnell und problemlos. Man konnte es kaum glauben, dass Huascar schon sechzig Jahre alt war, wenn man ihn sich so ansah - manche seiner Stacheln waren zwar bereits grau, und in seinem Gesicht zeigten sich schon erste Falten, aber er bewegte sich immer noch so elegant und kraftvoll, als wäre er erst zwanzig und noch ein junger Mann. Und ganz so bewegte er sich auch im Kampf. Selina hatte ihm oft als Gegnerin im Rahmen ihrer Ausbildung gegenübergestanden und seine vollendete Meisterschaft im Kampf mit nahezu allen Waffenarten bewundert, und sie konnte sich den alten Krieger unmöglich mit einer Krücke vorstellen. Huascar hielt in der einen Hand zwei unterarmlange, gerade Übungsmesser aus schwarzem Holz und in der anderen Hand ein langes Übungsschwert aus genau demselben Material. Selina griff routinemäßig nach den Messern und spürte das bekannte Gewicht dieses besonderen Holzes, das den Waffen fast das gleiche Gewicht verlieh wie echten Metallmessern. Das waren die Waffen, mit denen sie seit Jahren tagaus, tagein übte und mit denen sie erst vor zwei Tagen ihren Ausbilder geschlagen hatte. Huascar sah sie beide kurz an. "Ihr wisst alles, was ihr braucht", sagte er ruhig, mit seiner beruhigenden, tiefen Stimme, die Selina nach zehn Jahren Ausbildung zur Genüge kannte. "Jetzt zeigt, was ihr könnt." Selina nickte knapp und steckte sich die Holzmesser in den dünnen Ledergürtel, der ihren Rock in Position hielt. Es war alles gesagt - jetzt kam es auf Taten an. Wenige Augenblicke später gehörte der Platz ganz den jungen Kriegern, die zur Tribüne hinaufblickten. Atahualpa, der oberste Heerführer der Echidna, hatte sich erhoben und blickte zu den Kriegern hinunter. Sein Ruf unter den jungen Echidna war legendär. Ihm wurden alle möglichen und unmöglichen Heldentaten nachgesagt, die er in seiner Jugendzeit vollbracht hatte - angeblich war er es gewesen, der damals in einem Überraschungsangriff den obersten Häuptling der Igel in seinem eigenen Zelt ermordet hatte, ohne dass die Igel jemals den Mörder gefasst hatten, andere berichteten davon, dass er ganz allein einen Spähtrupp der Feinde erledigt hatte, mit einer Mischung aus Geschick im Umgang mit den Waffen und einigen Listen, die er im unwegsamen Berggelände voll hatte ausspielen können. Mittlerweile war er ergraut. Seine Stacheln zeigten nur noch vereinzelt die dunkelrote Farbe, die sie einst gehabt haben mussten, aber seine tiefgrünen Augen waren klar wie eh und je, und auch seine Stimme hatte nichts von ihrer Kraft und Klarheit eingebüßt. Jetzt blickte er einmal über die Gruppe aus jungen Kriegern, wandte sich dann an die übrigen Echidna und begann zu sprechen: "Dort auf dem Platz seht ihr die besten der jungen Krieger, die noch nicht das Erwachsenenalter erreicht haben. Sie alle sind begabte Kämpfer mit ihren Waffen und brauchen sich vor keinem unserer älteren, erfahreneren Krieger zu verstecken. Dieses Turnier soll ihnen die Gelegenheit geben, sich zum ersten Mal vor euch zu beweisen, und es soll euch die Gelegenheit geben, bereits jetzt die zukünftigen Führer des Heers kennen zu lernen." Selina musste lächeln, als sie hörte, wie der Heerführer sie und ihre Kameraden lobte. Er mochte zwar etwas übertreiben, aber trotzdem fühlte sie so etwas wie Stolz, dass der alte Krieger so von ihnen sprach - auch wenn er sie wahrscheinlich nicht einmal kannte, geschweige denn gezielt ansprach. Nun, zumindest dem Problem, dass er sie nicht kannte, konnte sie vielleicht Abhilfe schaffen, dachte sie, als Atahualpa weitersprach. "Die jungen Krieger werden Einzelkämpfe austragen. Ihr seht, dass sie mit Übungswaffen kämpfen werden. Jeder Treffer, der tödlich wäre, bringt einen Punkt. Wer zuerst drei Punkte geholt hat, gewinnt den Kampf und kommt in die nächste Runde." Er hielt eine Schale hoch. "Auf Tonscherben in dieser Schale befinden sich die Namen aller Teilnehmer des Turniers. Der Anführer der Igel und unser König werden jeweils eine Tonscherbe aus der Schale nehmen. Die so ausgelosten Krieger tragen den ersten Kampf aus. Anschließend wird der nächste Kampf ausgelost, und das so lange, bis die Hälfte der Teilnehmer noch im Turnier ist. Die Gewinner werden dann in die nächste Runde gehen, und dieses Schema werden wir wiederholen, bis ein Sieger feststeht." Erneut ließ er seinen Blick über die Krieger schweifen. "Gebt euer Bestes und zeigt, was ihr gelernt habt. Es ist keine Schande, zu verlieren - denn noch könnt ihr aus euren Fehlern lernen. In der Schlacht wird es dafür zu spät sein." Bei seinen letzten Worten wurde die Erleichterung bei einigen Teilnehmern fast greifbar, obwohl sie diese mit keinem Laut ausdrückten. Jetzt, wo sie wussten, dass niemand ihnen später ihre Fehler vorhalten würde, war deutlich sichtbar eine schwere Last von ihnen abgefallen. Atahualpa stellte die Schale auf einen kleinen Tisch aus vergoldetem Holz, der zwischen dem König und dem Anführer der Gesandten stand, und stellte sich hinter den Tisch, sodass er ins Publikum, auf den Kampfplatz und in Richtung der Kämpfer blickte. Der König griff in die Schale, und es wurde totenstill, sodass über dem ganzen Platz das Klirren zu hören war, mit dem die Scherben in der Schale aneinander stießen. Endlich, nach einigen quälend langen Sekunden, in denen Selina und alle anderen Personen auf dem Platz erwartungsvoll zu ihm aufsahen, zog er die Hand wieder aus der Schale und reichte Atahualpa eine Scherbe, der sie entgegennahm und den Namen laut vorlas, der darauf stand. "Der erste Kämpfer ist eine Kämpferin, und ihr Name ist Selina." Die Ausgeloste musste lächeln. Etwas besseres als der erste Kampf konnte ihr nicht passieren, wenn sie zeigen wollte, was sie konnte - schließlich blieb der erste Kampf oftmals lange in Erinnerung. Jetzt griff der Anführer der Gesandten in die Schale, und erneut wurde es totenstill. Er hielt sich allerdings nicht so lange damit auf, in der Schale herumzuwühlen, sondern zog fast sofort die Hand wieder heraus und reichte Atahualpa die Scherbe. "Der zweite Kämpfer", verkündete dieser, "heißt Metan." Die anderen Teilnehmer, die nicht ausgelost worden waren, zogen sich auf die Tribüne, auf die eigens für sie reservierten Sitze, zurück, und außer Selina blieb nur ein Echidna stehen, der gut einen Kopf größer war als sie und Muskeln in Melonengröße hatte. Seine Waffe war - wie bei Aztic - ein langes Schwert. Selina betrachtete ihn innerhalb eines Augenblicks - er schien zwar wirklich stark zu sein, aber mit Größe und Stärke ging oftmals eine gewisse Trägheit einher, und besonders klug sah er auch nicht aus. Der Beweis dafür kam, als er Selina einmal kurz verächtlich musterte und dann zu Atahualpa hinaufrief: "Schickt mir einen richtigen Gegner! Es ist eine Beleidigung für jeden Krieger, sich mit so einem schwächlichen Mädchen messen zu müssen!" "Das wird sich noch zeigen", erwiderte sie kühl und blickte mit verschränkten Armen zu ihm hinüber. "Spätestens dann, wenn ich dich drei zu null geschlagen habe." Es war normalerweise nicht ihr Stil, zu prahlen, vor allem nicht bei einem unbekannten Gegner, aber diese Abwertung ihrer Fähigkeiten, die Metan nicht einmal einschätzen konnte, wollte sie ihm auch nicht einfach durchgehen lassen. Und tatsächlich starrte ihr Gegner sie mit einem einmalig dümmlichen Blick an. Offensichtlich hatte er nicht mit so einer schnellen Entgegnung gerechnet - und anscheinend war er es auch nicht gewohnt, dass seine Gegner sich nicht schon von seiner Erscheinung einschüchtern ließen. In den folgenden Sekunden war die Stille fast hörbar, in der das Publikum auf den Beginn des Kampfes wartete, Selina mit verschränkten Armen zu ihrem Gegner hinüberblickte und dieser, ohne Anstalten, sich zu bewegen, zurückstarrte. "Willst du mich anstarren, bis es dunkel wird?", fragte Selina spöttisch. "Oder willst du endlich anfangen?" Das war dann doch zu viel des Guten. Metan stürmte auf sie los und holte zu einem Horizontalschlag aus, einen siegesgewissen Ausdruck auf seinem Gesicht. Selina ging in die Knie, und der Schlag pfiff über ihren Kopf hinweg. Während sie sich wieder erhob, zog sie ein Messer und schlug damit nach dem Hals des Gegners. Ihr Gegner war gleich doppelt überrascht, weil einerseits sein Schlag ins Leere ging und in der gleichen Sekunde bereits ein Gegenangriff erfolgte, und starrte sie nur mit dem gleichen dümmlichen Gesichtsausdruck an, den er zuvor schon gezeigt hatte, und dachte nicht einmal daran, auszuweichen, geschweige denn den Angriff abzuwehren. Erst als das Messer seinen Hals berührte, erkannte er, was passierte - und da stand es schon eins zu null für Selina. Atahualpa hob die Hand, und Selina löste sich von ihm und ging wieder auf zwei Schritte Abstand, damit die zweite Runde beginnen konnte. "Bis jetzt steht es eins zu null für das schwächliche Mädchen", sagte sie grinsend, um ihren Gegner noch weiter zu reizen - und wer wütend war, war blind für das, was der Gegner tat. Diesmal stürmte er zwar nicht blind vor, aber Selina sah doch, dass er wütend war. Ihre Provokation und ihre Führung schienen doch etwas zu viel für ihren Gegner zu sein. Sicherheitshalber zog sie auch noch ihre zweite Waffe und nahm eine eher defensive Haltung ein. Blinde Frontalangriffe führten niemals zum Erfolg, wie sie wusste. Ihr Gegner deutete das allerdings etwas anders. "Greif mich doch an, wenn du dich traust", meinte er und grinste seinerseits. "Nur weil du einen Glückstreffer gelandet hast, heißt das noch lange nicht, dass du schon gewonnen hast. In meinem Dorf hat mich noch niemand besiegt." "Es gibt immer ein erstes Mal", meinte sie ruhig. Dann sprang sie blitzschnell vor und schlug erneut mit dem rechten Messer nach dem Hals ihres Gegners, aber er hatte dazugelernt und sein Schwert parat. Knallend schlug Holz auf Holz, und aus der Nähe sah Selina, dass Metan sich seines Sieges immer noch sicher zu sein schien. Blitzschnell öffnete sie ihre andere Hand in einer hundertfach geübten Bewegung und drehte das doppelschneidige Messer herum, sodass sie es jetzt wie ein Schwert hielt, und stach damit zu, an seinen Armen und seiner Waffe vorbei, zielgenau auf die Stelle zwischen den Rippen, wo das Herz saß. Jetzt sah sie zum ersten Mal Unsicherheit auf dem Gesicht ihres Gegenübers, als er den zweiten tödlichen Treffer realisierte. "Noch hast du nicht gewonnen", stieß er hervor. "Ich weiß", erwiderte Selina und ging wieder auf Abstand, um die dritte Runde beginnen zu lassen. Diesmal ließ ihr Metan nicht einmal Zeit, um die Waffen zu heben, sondern er griff sie gleich an, aber nicht in blinder Wut, und auch nicht in überheblicher Halbherzigkeit. Diesmal zeigte er, was er wirklich konnte. Unter dem ersten Schlag konnte Selina sich noch wegducken, beim zweiten Hieb, der von oben kam, drehte sie sich seitwärts, und das Schwert verfehlte sie knapp. Aus dieser Bewegung stieß sie wieder mit dem Messer zu, aber diesmal war ihr Gegner wach und lenkte den Stoß ganz knapp an seinem Brustkorb vorbei ins Leere zwischen dem linken Arm und der Brust - und dann quetschte er ihren Arm zwischen den Oberarm und zwei Rippen ein, und zwar mit aller Kraft, während er mit dem Schwert in der anderen Hand nach ihrem Rücken hieb. Selina blieb nichts anderes übrig, als sich herumzudrehen, soweit sie konnte, sodass sie mit dem Rücken zu ihm stand, und mit dem Messer der rechten Hand den Hieb abzublocken. Erneut knallte Holz auf Holz, doch bevor ihr Gegner die Waffe zurückziehen und erneut zuschlagen konnte, trat Selina ihm mit all ihrer Kraft auf den Fuß. Das genügte, um den Druck auf ihren zweiten Arm soweit zu erleichtern, dass sie ihn herausziehen konnte, und blitzschnell rollte sie sich nach vorne, weg von ihrem Gegner. Metan hieb, als sie aufstand, erneut nach ihrem Hals, aber sie duckte sich schnell genug wieder. Auf den vertikalen Hieb antwortete sie mit einer halben Seitwärtsdrehung, und anschließend schlug sie wieder mit ihrem rechten Messer nach seinem Hals - und traf. Das Publikum, das bisher gespannt den Kampf verfolgt hatte, begann zu applaudieren, als es die Kampfkunst der jungen Kriegerin sah. Atahualpa hob erneut die Hand. "Den ersten Kampf gewinnt Selina", sagte er klar vernehmlich und wandte sich dann wieder um, um die nächsten Kämpfer festzustellen. Selina ging zur Tribüne hinüber und ging zu ihrem Sitz neben Aztic, der ihren Kampf ruhig mitverfolgt hatte. "Glückwunsch", meinte er schlicht und lächelte ehrlich erfreut. "Ich habe keinen Augenblick an deinem Sieg gezweifelt." "Danke", erwiderte Selina lächelnd. Den ersten Kampf hatte sie gut überstanden, jetzt hoffte sie darauf, dass möglichst noch drei weitere siegreiche Kämpfe folgen würden. Bei insgesamt sechzehn Teilnehmern konnte sie sogar auf einen besseren Gegner in der nächsten Runde hoffen. Während die Sonne langsam weiterzog, ging auch das Turnier weiter. Während die Sonne langsam weiterzog, kämpften andere junge Krieger, zeigten andere junge Krieger einander und den Zuschauern ihr ganzes Können. Während jedes Kampfes herrschte auf dem Platz atemlose Stille und eine fast greifbare Spannung. Die Kämpfe waren - abgesehen von Selinas deutlichem Auftaktssieg - sehr ausgewogen und spannend. Mehrere Male waren die Kämpfe bis zum allerletzten Moment offen, mehrere Male waren die Gegner einander absolut ebenbürtig, aber immer zeigten die jungen Krieger an nahezu allen denkbaren Klingenarten beeindruckende Fähigkeiten, egal ob mit dem Langschwert, mit den Messern, mit der Hellebarde oder mit Schild und Kurzschwert, sodass sich auf den Gesichtern der Gesandten unverhohlene Bewunderung zeigte und selbst Atahualpa mehrere Male anerkennend nickte. Dann schließlich begann sie zu sinken. Der Himmel veränderte seine Farbe von einem tiefen Blau langsam hin zu Orange, und immer noch war das Turnier nicht zu Ende. Immer noch standen sich zwei Krieger in der letzten Begegnung gegenüber, die nun schon über eine Stunde andauerte und in der sie sich beide gegenseitig zu absoluten Höchstleistungen getrieben hatten. Beide waren gezwungen gewesen, das letzte aus sich herauszuholen, und waren jetzt entsprechend erschöpft, aber keiner von beiden dachte auch nur ans Aufgeben. Es stand zwei zu zwei, und auf dem Platz herrschte seit einer Stunde absolute Stille - und jetzt harrten die Zuschauer der Entscheidung, die kommen musste. Selina verstärkte den Griff um ihre Waffen und kniff die Augen zusammen. Sie schwitzte, sie war erschöpft - aber sie konnte es sich nicht leisten, sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen oder in ihrer Konzentration nachzulassen. Nicht beim Stand von zwei zu zwei mit Aztic als Gegner - sie hätte schneller den dritten Treffer kassiert, als ihr lieb sein konnte. Ihr einziger Trost dabei war, dass es Aztic genauso gehen musste. Er atmete genauso schwer und er schwitzte mindestens genauso wie sie. Sie kannten beide den Kampfstil des Gegners in- und auswendig. In unzähligen Übungskämpfen hatten sie einander in genau dieser Situation gegenübergestanden, und Selina wusste genau, dass der entscheidende Treffer nach stundenlangem Kampf immer der schwerste war. Für einen Moment senkte Aztic das Schwert ein wenig zu weit nach unten. Selina überlegte nicht lange - es konnte zwar eine Finte sein, aber sie konnte diese Gelegenheit nicht einfach so verstreichen lassen. Also stürmte sie unter Einsatz ihrer verbliebenen Kräfte los und schlug mit ihrem linken Dolch nach seinem Hals. Aztic duckte sich, sodass sie ihn knapp verfehlte, und antwortete mit einem Hieb, der sie in die Kniekehle treffen und zu einem leichten Ziel machen sollte. Selina sprang hoch, zog ihre Knie dabei an, und der Hieb ging unter ihr hinweg. Als sich die Klinge genau unter ihr befand, drückte sie die Beine ruckartig durch, landete genau auf der flachen Seite des Schwerts und presste es auf den Boden. Bevor Aztic auf Abstand gehen und so seine Waffe wieder freikriegen konnte, weil sie ihn würde verfolgen müssen, stach sie mit einem Messer nach hinten zu, zielte mit einem schnellen Blick über die Schulter - und traf genau den Punkt, wo das Herz saß. Atahualpa erhob sich und hob die Hand. "Selina gewinnt diesen Kampf", sagte er und konnte nicht ganz verbergen, dass er beeindruckt von den Fähigkeiten der beiden jungen Kämpfer war. "Damit gewinnt sie auch dieses Turnier." Selina steckte sich ihre Messer zurück in den Gürtel, trat von der Holzwaffe herunter und atmete tief durch. Dieser Kampf war viel anstrengender gewesen als die schweren Kämpfe, die sie in den Runden zuvor überstanden hatte, und sie fühlte sich so, als müsste sie jeden Moment vor Erschöpfung zusammenbrechen, aber gleichzeitig freute sie sich auch, und die anerkennenden Blicke und der Applaus von den anderen Echidna - auch von den Turnierteilnehmern - entschädigten sie für alles. Sie beugte sich zu Aztic hinunter, den der letzte Treffer und die Enttäuschung schwer mitgenommen hatte. Seine Augen glänzten feucht und er saß erschöpft auf dem Boden, als er zu ihr hinaufblickte. Sie hielt ihm ihre Hand hin und lächelte. "Den nächsten Kampf gewinnst du", sagte sie, gerade laut genug, dass er sie verstehen konnte. Aztic erwiderte ihr Lächeln und ergriff ihre Hand. "Das will ich auch hoffen", meinte er und ließ sich von ihr auf die Beine helfen. Zusammen genossen sie nun den Applaus der Zuschauer, und selbst die Igel waren beeindruckt, wie man an ihren Mienen deutlich ablesen konnte. Nur einer von ihnen, der jüngste, mit grünen Stacheln und dunklen Augen, sah sich Selina genauer an, und über sein Gesicht zog ein leichter Schatten, als Malinche zu ihr lief und sie freudig umarmte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)