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Kind des Schicksals

von

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Teil 1

"Du weißt doch gar nicht, wie gut du es hier hast!"

"Und warum wohl? Weil du mir nicht das Gefühl gibst, dass es mir hier gut gehen sollte!"

Ich hatte genug von dem Streit mit meiner Mutter, schwieg und wandte ihr den Rücken zu. Ich rührte in der Soße herum, damit sich keine Klumpen ansetzten. Schon bald tat mir der Arm weh und ich schmiss den Kochlöffel auf die Seite. Dann holte ich den neuen Dosenöffner aus der Schublade und versuchte vergeblich eine Dose Champignons zu öffnen. "Dieses verdammte Ding funktioniert einfach nicht!", schrie ich und warf den Öffner schwungvoll zurück auf seinen Platz. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und stellte mich mit dem Gesicht vor die Mikrowelle, während meine Mutter problemlos die Dose öffnete.

"Mach doch bitte schon mal den Salat fertig, Schatz", sagte sie zu mir und ich zauberte nach dem Rezept meiner Großmutter aus Öl, Essig, Sahne und Salatkräutern eine leckere Salatsoße. Ich ließ den nassen Salat über dem Waschbecken kurz abtropfen, ehe ich ihn in die Salatschleuder stopfte und drehte. Danach steckte den Salat zusammen mit zwei Löffeln in eine große Salatschüssel, und stellte sie auf den Tisch. Es war wie immer. Ein Streit mit meiner Mutter war sehr schnell vergessen. Wir regten uns kurz auf und dann war alles wieder gut. Wir setzten uns an den Tisch und Mum schaltete das Radio an. Es überraschte mich nicht, dass schon wieder ein Mädchen missbraucht worden war. Jeden Tag hörten wir solche Nachrichten und wir hatten uns schon fast daran gewöhnt, obwohl so was natürlich immer schrecklich war. Ansonsten gab es viele Staus, da in einigen Bundesländern die Ferien begonnen hatten. Wir gehörten dazu. Seit vier Tagen wachte ich morgens mit dem Gedanken auf, dass ich sechs Wochen von Arbeiten und Lehrern befreit war. Ich schloss also wieder die Augen und schlief weiter. Ich wusste nicht, was ich mit der vielen freien Zeit anfangen sollte. Mum arbeitete noch eine Woche, erst dann machte sie Urlaub. "Besuchen wir Granny?", fragte ich und zog die Salatschüssel zu mir. Mum sah von der Zeitung auf und schüttelte den Kopf. "Du weißt doch, dass wir kein Geld haben, Kim. Und du fährst nächsten Monat sowieso nach Amerika."

"Aber da kann ich Granny nicht besuchen." Sie legte die Zeitung auf die Seite und schenkte sich etwas Saft nach.

"Ich kann dir nichts versprechen, aber vielleicht verbringen wir Silvester drüben. Frank will das diesjährige Weihnachtsfest mit seinen Kindern und seiner Ex-Frau feiern. Und er hat uns eingeladen, mitzukommen. Eventuell fahren wir noch ein paar Tage nach New York und verbringen Silvester mit Granny. Wie klingt das?"

Ich grummelte ein bisschen vor mich hin, was sowohl Zustimmung als auch tiefes Missgefallen ausdrücken sollte. Ich war hin und her gerissen. Einerseits würden wir bei Granny vorbei kommen, aber andererseits standen mir lange Tage mit Frank, dem Freund einer Mutter, bevor. Schließlich entschloss ich, dass ich letztendlich besser dran war, wenn wir mit ihm fahren würden. Wir müssten so nichts bezahlen und Weihnachten musste ich sowieso mit ihm verbringen und da war ich lieber in den Staaten.

Ich stimmte also zu und aß fertig. Nach dem Essen stellte ich das Geschirr in die Spülmaschine und verzog mich in mein Zimmer ganz hinten im Gang. Die Wohnung befand sich im zweiten Stocken des Hauses und war sehr klein. Alle Zimmer führten auf diesen einen Flur. Wir hatten eine kleine Küche, das gleichzeitig das Esszimmer war, ein winziges Bad mit Dusche und Klo, ein Wohnzimmer, das Mum auch als Arbeitszimmer benutzte und zwei Schlafzimmer am Ende des Korridors. Unten im Erdgeschoss befand sich unser Laden.

Bevor ich den Griff meiner Zimmertür erreicht hatte, rief Mum nach mir. Ich ahnte, was mir drohte. Sie stand, mit Nadeln im Mund und einem Maßband um den Hals, mitten in einem Haufen aus Stoffstücken und sah verwirrt hin und her. "Welchen Stoff soll ich für das Kleid hier nehmen?" Sie nahm die Nadeln aus dem Mund und reichte mir ein Blatt Papier, auf das sie den Entwurf eines Kleides gezeichnet hatte. "Für wen ist das?", fragte ich, denn Mum bearbeitete nur Aufträge, sie entwarf keine ganzen Kollektionen. Das hatte sie am Anfang gemacht, aber dann wollte niemand mit den gleichen Sachen rumlaufen und immer mehr haben gefragt, ob sie nicht hier und da etwas ändern könne. Daraufhin hatte sie beschlossen, nur noch Maßgeschneidertes anzufertigen. "Das ist für Theresas Mutter, Frau Bohnet." Ich schaute mir den Entwurf näher an. Er war für eine normalschlanke Frau gemacht und Monika Bohnet war etwas fülliger um die Hüften. "Bist du dir sicher, dass du beim Nehmen der Maße nicht geschummelt hast?", meinte ich mit einem Zwinkern, aber Mum verneinte. "Sie hat sich ja eine ganze Weile nicht mehr in der Öffentlichkeit blicken lassen und es sieht so aus, als hätte sie während dieser Zeit ganz schön abgenommen. Das Kleid ist für das Schulfest Anfang November."

"Und da kommt sie jetzt schon, um sich ein Kleid schneidern zu lassen?"

Du hast keine Ahnung! Frau Götz hat im Mai schon ein Kleid in Auftrag gegeben. Sie denken, wenn sie zu spät kommen, müssen sie eines von der Stange nehmen. Aber ich hab' nur drei oder vier vorrätig. Wenn ich mit dem Schneidern nicht hinterher komme, muss ich sie wohl oder übel zur Konkurrenz schicken."

Ich musste bei dem Gedanken, dass Sabine Götz sich ein halbes Jahr vor dem Schulfest ein Kleid bestellte, lachen. Sie war die Mutter meiner besten Freundin Franziska und auch gleichzeitig eine enge Freundin meiner Mum. Franzi war es oft peinlich, wenn sie mit ihrer Mutter irgendwo auftauchte, denn diese hatte einen Hang zur Übertreibung und ausgefallenen Klamotten. Ich fand sie toll und witzig, ihr Sinn für Humor war unübertroffen. Mum hatte für sie ein buntes Kleid gemacht, dass zwar farbenfroh, aber trotzdem sehr dezent war. Sie verstand es, den Charakter und Geschmack der Leute in der Kleidung zu vereinen. Als Sabine das Kleid abgeholt hatte, hatte sie vor Freude Luftsprünge gemacht und Franzi hatte sich mit den Worten "Danke, dass Sie sie gut aussehen lassen werden" bedankt.

Ich hätte zu gerne einen besonders hässlichen Stoff für das Kleid von Frau Bohnet ausgesucht, aber wenn es ihr nicht gefallen würde, müsste Mum es ändern oder neu machen und hatte nur noch mehr Arbeit und konnte weniger Aufträge annehmen. Sie verlangte je nachdem zwischen 20 und 50 Euro pro Kleid, es kam immer darauf an, welchen Stoff sie benutzte und wie lange sie daran gearbeitet hatte. Manchmal berechnete sie extra weniger, wenn sie wusste, dass die Familie knapp bei Kasse war, obwohl wir auch nicht gerade viel hatten. Aber bei Frau Bohnet würde sie viel verlangen können, denn Herr Bohnet war erfolgreicher Kaufmann, der viel auf Reisen war und das Geld verdiente, das seine Frau und seine Tochter sofort wieder ausgaben. Theresa hielt mir immer vor, dass meine Mutter und ich bescheiden lebten und ich nur in selbst gemachten Klamotten herumlief. Deshalb hatte es mich gewundert, dass Frau Bohnet ausgerechnet bei uns ein Kleid für das wichtige Schulfest bestellt hatte. Ich wusste, dass sie gut aussehen wollte und meine Mum die besten Sachen der ganzen Umgebung machte. Sie hatte immer darauf bestanden, alles alleine zu machen. Nur gelegentlich wies sie mich an, etwas zu nähen, Stoff zu kaufen oder im Laden aufzupassen, wenn Vanessa, unsere einzige Angestellte, nicht da war. Vany arbeitete schon seit zwei Jahren umsonst bei uns. Sie stammte aus New York und war nach Deutschland gezogen, um die Sprache zu lernen. Unsere Familien waren gute bekannt und unsere Grannys lebten in New York im selben Haus. Ihr Vater war Arzt und verdiente gut, weshalb er kein Gehalt für seine Tochter für uns verlangte. Stattdessen schickte uns Geschenke zu Weihnachten, Ostern und hatte uns schon persönlich an unseren Geburtstagen gratuliert. Wir hatten vor einer Woche Vanys 20. Geburtstag gefeiert und sie würde am sechsten August für zwei Wochen nach New York zu ihrer Familie fliegen. Ich mochte sie sehr, denn sie war hübsch, stets freundlich und hilfsbereit. Sie hatte einen guten Willen und es machte ihr überhaupt nichts aus, dass sie für ihre Arbeit nicht bezahlt wurde. Außerdem lernte sie unglaublich schnell. In den zwei Jahren hatte sie es geschafft, die Sprache zu erlernen, ihr Vokabular zu vergrößern und fast akzentfrei zu sprechen. Zudem war sie eine hervorragende Näherin und Mum ließ sie öfters an die Nähmaschine als mich.

Ich wählte den schwarzen Kord für Frau Bohnets Kleid. Das würde ihre neue Figur betonen und außerdem passte es zum Schnitt des Kleides. "Danke, das war's", entließ mich Mum.

Teil 2

Mein Zimmer hatte ich mir so gemütlich wie möglich eingerichtet. An der Wand hingen Poster aus verschiedenen Teeniezeitschriften. Die Mädchen aus meiner Klasse schenkten mir oft welche, denn außer Franzi und mir konnte niemand was mit Rockmusik anfangen. Ich setzte mich auf mein Bett, das eigentlich eine ausklappbare Couch war, und starrte an die Wand auf ein Bluss Kamj-Poster. Die Jungs um John Martin waren meine absoluten Lieblinge. Ich besaß jede ihrer CDs und einige T-Shirts konnte ich ebenfalls mein Eigen nennen. Mum hatte mein Zimmer nicht mehr betreten, seit ich diese Poster aufgehängt hatte. Sie mochte deren Musik überhaupt nicht und hatte mich oft angeschrieen, ich solle die Musik leiser machen. Als ich Bluss Kamj noch nicht kannte und andere Bands hörte, hatte sie das nie gesagt. Sie war oft gekommen und hatte mitgesungen. Aber gegen meine Lieblingsband schien sie einen tiefen Hass zu hegen. Bestimmt würden andere aus Trotz die Musik lauter machen, aber ich tat, was meine Mutter mir befahl. Wir kamen eigentlich gut miteinander aus, abgesehen von kleineren Streitigkeiten, die es in jeder Familie gab. Viele konnten sich nicht vorstellen, dass meine Mutter und ich alleine lebten. Aber ich hatte es nie anders gekannt und war diese Situation gewöhnt.

Ich war am 04. September 1988 in New York geboren worden. Kaum auf der Welt, zog meine Mum Izabell - jeder schrieb den Namen anders und vor allem falsch - mit mir nach Deutschland, weit weg von allen Verwandten und Freunden. Sie war kurz vor meiner Geburt von meinem Vater, ihrer großen Liebe, verlassen worden, weil ihm seine berufliche Karriere wichtiger gewesen war. Sie sprach nur sehr ungern über ihn. Ich wusste weder seinen Namen, noch seinen Beruf. Ich wusste nicht, wo er lebte und ob er verheiratet war und Kinder hatte. Aber wahrscheinlich wusste Mum es selbst nicht. Sie war damals erst 16 gewesen, fast so alt wie ich heute. Ihren Geburtstag hatte sie noch in Amerika gefeiert, sie war eine Woche nach mir geboren, allerdings ein paar Jahre früher natürlich.

Ich legte das aktuelle Bluss Kamj-Album ein und hörte mir mein Lieblingslied Private Mind an. Der Song war gerade eine Minute gelaufen, als das Telefon läutete. Ich drückte auf "Pause" und rannte zum Telefonapparat. Es war Franzi. Ohne auch nur daran zu denken, mir "Hallo" zu sagen, legte sie los: "Noisedeath sind auf Tour!"

Mein Herz machte einen großen Hüpfer. Noisedeath waren nach Bluss Kamj meine Lieblingsband und hatten eine wirklich hervorragende Sängerin. Ich wusste, dass Franzi nicht angerufen hätte, wenn nicht ein Konzert in einer nahe gelegenen Stadt stattfand. Ich ahnte, dass sie vor ihrem Computer saß und das fertig ausgefüllte Formular für die Ticketbestellung darauf wartete abgeschickt zu werden. "Bleib dran, ich frag' meine Mum schnell!" Ich legte den Hörer auf die Seite und rannte zu Mum ins Zimmer. Sie nähte gerade und hörte mich nicht. Ich ging um den Tisch herum und wartete, bis sie aufsah, damit sie nicht erschrak, wenn ich sie antippte. Sie bemerkte mich fast sofort und hob den Kopf. "Was gibt's?", fragte sie und stellte die Nähmaschine ab. Sie hob den eben genähten Stoff zwischen uns, um ihre Arbeit zu betrachten. "Kann ich mit Franzi auf ein Noisedeath-Konzert?" Sie grummelte etwas und legte den Stoff weg. "Das ist die Band, die Heavently Battle gesungen hat. Linda Young, du kennst die Band doch!"

"Jaja. Wo spielen die?"

Ich zögerte und flitzte zurück zum Telefon. "Franzi, welche Stadt?", schrie ich ins Telefon, als hinge von dieser Frage mein Leben ab. "In Werningburg, am 14., also in fast zwei Wochen."

"Geht ihre Mutter auch mit?", fragte Mum, die jetzt neben mir stand. Franzi hatte es gehört und bejahte.

"Dann will ich auch mit, ich mag die Band." Sie lachte, strich mir über die Haare und ging in die Küche. Ich hörte nach einer Weile den Wasserkocher und rief: "Mach mir auch was, egal was es ist." Ich redete mit Franzi noch ein bisschen über unsere Ferienpläne und ich erzählte ihr, dass wir in den Winterferien nach Amerika fuhren. Wie immer wurde sie richtig neidisch: "Verdammt hast du aber auch ein Glück! Warum können meine Eltern nicht Amerikaner sein? So wie deine. Ich möchte auch mal nach Amerika!" Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, um erste Vorbereitungen für das Konzert zu treffen. Dann legte ich auf und ging zu Mum in die Küche. Zwei Tassen mit Latte Macchiato standen auf dem Tisch und ich wollte mich gerade setzten, als es klingelte. "Ich geh schon!" Es war der Postbote, der unten vor der Tür stand und fröhlich mit seiner tiefen Stimme in die Sprechanlage brummte: "Ist Izabell Simmons da?" - "Ja, einen Moment. MUM FÜR DICH!"

Ich ging zurück in mein Zimmer und ließ Private Mind weiterlaufen.

Make no mistake, there's no compromise

Just try and see it through my eyes

I'm trying, trying to forget

My world will never be the same

Den Rest des erst angefangenen Tages verbrachte ich damit mein neuestes Buch zu lesen. Ein englisches Buch, indem ein 17jähriges Mädchen schildert, wie sie nach Amerika kam und dort auf die schiefe Bahn geriet. Franzi hatte es mir ausgeliehen, nachdem sie die 364 Seiten in knapp einer Woche verschlungen hatte. Sie interessierte sich brennend für das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und würde Ende September drei Wochen lang dort verbringen, da die Lehrer der Austauschorganisation unserer Schule sowohl sie als auch mich ausgewählt hatten. Sie war mehr als stolz mit einer Amerikanerin, genauer gesagt, einer New Yorkerin, befreundet zu sein. Dauernd sollte ich ihren Wortschatz mit neuen Vokabeln erweitern, dabei war mein Englisch auch nicht besser als das ihre. Schließlich lebte ich seit fast 16 Jahren hier in Deutschland und war mit der deutschen Sprache aufgewachsen. Mum, die zweisprachig aufgewachsen war, war immer der Meinung gewesen, dass mir das Schulenglisch später reichen würde. Ich hatte deswegen schon oft Streit mit ihr gehabt, weil Englisch ja eigentlich meine Muttersprache hätte sein müssen. Viele Leute fragten mich, wie gut ich mein Englisch war und waren erstaunt, wenn ich ihnen sagte, dass ich erst seit drei Jahren diese Sprache lernte. Aber dafür war ich die Beste der Klasse und hatte von meinen Amerika-Reisen jede Menge neuer Wörter und auch Erlebnisse mitgebracht.

Ich musste über dem Buch eingeschlafen sein und das für ziemlich lange. Als ich aufwachte hatte Mum die Musik abgemacht, die Vorhänge geschlossen und mich zugedeckt. Ich kramte die winzige Taschenlampe aus der obersten Schublade meines Nachttisches und beleuchtete damit die Ziffern meiner Armbanduhr. Es war 01.33 Uhr. Die Ohrstöpsel lagen ebenfalls in der ersten Schublade und ich nahm sie heraus, damit ich Musik hören konnte. Ich steckte sie in die Ohrhörerbuchse meines CD-Players und ließ das zweite Bluss Kamj-Album Bloody Pain laufen. Von draußen schien das sanfte Licht der Straßenlaterne auf den Zimmerboden. Aber ich konnte partout nicht mehr einschlafen, also ging ich in die Küche, um mir eine Flasche mit Leitungswasser zu füllen. Ich sah ein kleines Paket und einen Brief auf dem Tisch liegen und ging hinüber. Beide waren an Mum adressiert und ich fragte mich, was sich in dem Päckchen befand. Sie hatte es nicht geöffnet, wohl aber den Brief. Und warum sie ihre Post hier liegen ließ, war mir ebenfalls ein Rätsel. Normalerweise nahm sie die Sachen sofort an sich und verstaute sie irgendwo in ihrem Büro oder schmiss sie weg, wenn es nicht wichtig war. Ich hob den Brief gegen das schwache Licht unserer Küchenlampe. Er war handgeschrieben und ich konnte die Schrift nicht lesen. Vielleicht war der Schreiber des Briefes auch der Absender des Paketes. Aber warum schickte er die Sachen dann einzeln? Das war sowohl überraschend als auch unlogisch. Und vielleicht schrieb er in dem Brief, was sich in dem Päckchen befand und Mum war deshalb nicht sonderlich erpicht darauf, es zu öffnen. Ich wusste es nicht und irgendetwas sagte mir, dass ich es auch besser nicht wissen sollte. Ich brachte den Brief wieder in seine ursprüngliche Position und kroch zurück in mein Bett. Es lief gerade Surrender und bei dem langsamen Gesang von John Martin schlief ich schließlich ein.

Watch the wounds bleeding

This pain is defeating me

Will I ever get over it?

Baby, don't open up old sores

Teil 3

"Mum? Wo steckst du?" Sie war nicht da. Ich war seit einer Stunde wach und vor fünf Minuten aufgestanden. Normalerweise müsste sie...ich sah nochmal auf die Uhr. Es war kurz vor neun Uhr und es war Montag. Ich wusste, wo sie war. Um diese Zeit hatte der Laden bereits geöffnet und sie nähte unten, damit sie sah, wann Kundschaft kam. Ich zog schnell einen Pullover über und ging die Treppen zu unserer kleinen Schneiderei hinunter.

"Mum, haben wir noch Milch?"

"Nein Schatz. Hast du den Zettel auf der Anrichte nicht gelesen? Du musst noch welche kaufen. Geld liegt oben."

"Na gut."

Ich hatte alles andere als Lust, einkaufen zu gehen. Aber ich hatte Hunger und außerdem mochte ich die kalte, klare Luft am Morgen. Ich ging also zurück in die Wohnung, zog mich an, nahm Geld und Zettel vom Büfett im Flur und ging los zu Ottos Supermarkt. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass ich auf Anita Giesen stoßen würde. Ihr gehörte der Supermarkt, der nach ihrem verstorbenen Ehemann getauft worden war. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie in dem engen Geschäft lebte, denn immer, wenn ich dort einkaufte, tauchte sie dort ebenfalls auf. So auch heute. "Kimmy, Schätzelchen!", rief sie mit ihrer hohen, quietschenden Stimme und ich fiel vor Schreck fast in das Kühlregal, vor dem ich stand. Ich drehte mich um und lächelte die füllige Frau an. Ihr Make-up hatte sie besonders stark aufgetragen und um ihre enorme Körpermasse wehte wie gewöhnlich ein weites Kleid, von dem ich wusste, dass es meine Mutter gemacht hatte. "Wie geht es dir denn, mein Engelchen?", fragte sie und drückte mich an sich. Ich kämpfte mich frei und erklärte ihr, dass es sowohl meiner Mum als auch mir bestens ging. "Ist sie immer noch mit diesem Idioten zusammen?" Sie meinte natürlich Frank und nur in diesem Punkt war sie mir sympathisch. Ich erzählte, dass wir vermutlich zu Weihnachten nach Amerika flogen und die Feiertage dort verbringen würden. Anita nahm mich wieder in den Arm und führte mich zu der Süßigkeitenabteilung. Sie gab mir einen Lutscher mit den Worten: "Du tust mir so Leid, Kimmy! Du brauchst einen richtigen Vater und nicht so jemanden wie diesen Frank. Ich verstehe sowieso nicht, was deine Mutter mit so einem Kerl will, was kann er ihr denn schon bieten? Meiner Meinung nach sollte sie mal mit seiner Ex-Frau sprechen und sie fragen, warum die beiden geschieden sind. Das habe ich ihr schon oft gesagt, aber sie hört ja nicht auf mich. Vielleicht kannst du ihr das ja mal beibringen." Ich versprach es und verabschiedete mich höflich, da ich noch Brot, Wein und Gebäck holen musste. Wir hatten immer Gebäck im Laden stehen, falls die Kunden warten mussten, wenn Mum noch beschäftigt war.

"Ich soll dir von Anita sagen, dass du mit Franks Ex-Frau reden sollst, weil ihr nicht zusammenpasst", rief ich, als ich unser Geschäft betrat und Mum nicht fand. Hinter dem Vorhang, der den Verkaufsraum von ihrer Arbeitsecke trennte, ertönte ihre Stimme: "Ist gut." Ich lachte, denn sie würde bestimmt nicht mit Petra Passow reden.

Nach einem ausgiebigen Frühstück, das aus Cornflakes und Kakao bestand, packte ich sämtliche Bluss Kamj und Noisedeath-CDs ein und machte mich auf den Weg zu Franzi. Vorher begrüßte ich Vanessa und vergewisserte mich, dass bei ihr und Mum alles okay war.

Franzi wartete bereits an ihrer Haustür auf mich. Ich sagte Sabine Hallo und richtete Grüße von meiner Mum aus, bevor wir in Franzis Zimmer gingen. Sie nahm mir die CDs ab und wir begannen damit, ihren Kleiderschrank genau unter die Lupe zu nehmen. Jedes Kleidungsstück wurde ausgiebig begutachtet und sortiert. Nach einer guten Stunde hatten wir drei Stapel: brauchbar bis perfekt, unbrauchbar und eventuell brauchbar. Den Haufen unbrauchbarer Klamotten hängte ich sofort zurück in den Schrank und wir stellten uns unsere Outfits aus dem Rest zusammen. Am Ende hatte ich für mich ein schwarzrot gestreiftes Shirt und eine Jeans ausgesucht. Franzi wollte ihre Liebe zu Noisedeath beweisen und wählte ein ärmelloses Shirt mit aufgedrucktem Bandlogo zur braunen Cordhose. Zu diesen Sachen kamen überlebenswichtige Accessoires wie Nietenbänder an Hals und Arm sowie schwarze Armbänder und Fahrradschlossketten. Wir zogen unsere absolut konzerttauglichen Outfits an und präsentierten uns Sabine. "Wollt ihr das ganze Nietenzeugs wirklich anziehen?", fragte sie mit halb hochgezogenen Augenbrauen. "Natürlich! Warum denn auch nicht?", entgegnete Franzi. "Soweit ich weiß sind spitze Gegenstände auf Konzerten nicht erlaubt. Ihr könntet ja jemanden verletzen. Die werden euch euren Schmuck abnehmen." Das hatten wir nicht bedacht und schweren Herzens strichen wir sämtliche Nieten. Unsere Stimmung war nun ein wenig getrübt, denn Nieten gehörten einfach dazu. Wir zogen unsere normalen Klamotten wieder an und setzten uns auf Franzis bequemes Bett, während My Sensation von Noisedeath aus den Lautsprechern hallte. Ich erzählte ihr, was Frau Giesen über Frank gesagt hatte und wir amüsierten uns darüber. Als beste Freundin hatte ich natürlich ihre volle Unterstützung in meinem Hass dem Lover meiner Erzeugerin gegenüber. Er war ein potenzieller Vater, aber das sollte ich zu verhindern wissen. Ich wollte ein schönes Leben haben, allerdings ging das nicht, wenn Mum dieses...diesen Mann heiratete. "Bei allem Mitgefühl, ich mag Frank ja auch nicht, aber ist es nicht unfair die Heirat verhindern zu wollen? Deine Mutter liebt ihn doch!" Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte Franzi auf einmal Zweifel an der Idee? "Es ist schon gemein, aber sie sagt doch immer, dass sie nur mit Männern zusammen sein will, die uns beiden gefallen. Und Frank gefällt mir nicht!"

"Vielleicht solltest du einfach mal zurückstecken. Ihr könnt doch nicht immer den gleichen Geschmack haben und wenn sie den Kerl doch liebt. Bestimmt ist er ganz nett, wenn du ihn näher kennst."

"Du klingst genau wie meine Mutter! Jetzt lerne ich doch erstmal kennen, er ist wirklich sehr nett", äffte ich meine Mum nach. "Ich kenne ihn jetzt lange genug, um zu wissen, dass ich ihn nicht als Vater haben will! Ich verlange doch gar nicht viel! Es klickt einfach nicht. Ich muss ihn sympathisch finden, um ihn zu mögen, aber das tue ich nicht." Wir sahen uns an und dann verließ ich ohne ein weiteres Wort ihr Zimmer und das Haus. Erst als ich schon fast zuhause war, fiel mir ein, dass ich meine CDs bei Franzi vergessen hatte. Ich ärgerte mich, aber ich wusste, dass sie sie mir bald zurück bringen würde. "Kim! Kannst du mal bitte kommen!", schrie Mum, als ich den Laden betrat. Ich vermutete, dass sie mich an meiner einzigartigen Weise eine Tür zu öffnen, erkannt hatte. Ich ging zu ihr hinter den Vorhang, wo sie mit einem Maßband einen Stoff abmaß, Zahlen aufschrieb und hin und wieder zur Nähmaschine griff. "Hast du in etwa die gleiche Figur wie Theresa Bohnet?", erkundigte sie sich und schubste mich auf den Stuhl, auf dem sonst die Leute standen, von denen sie die Maße nahm. "Fast. Sie setzt leichter Fett an der Hüfte an", erklärte ich, nicht ohne ein bisschen Genugtuung.

"Deine beste Freundin Theresa war gerade mit ihrer Mutter da, um deren Kleid abzuholen. Der hat es so gut gefallen, dass sie gleich eines für ihre Tochter wollte. Ich muss das jetzt an dir ausprobieren." Ich ließ die Tortur einmal mehr über mich ergehen.



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