Unleashed von Crimson_Butterfly (Das Bekannte Unbekannte) ================================================================================ Prolog: -------- Das Sonnenlicht strömte durch die großzügig angelegten Panoramafenster, als sich Emily in die Stille der Bibliothek zurückzog. Lächelnd sank sie auf einen Lederstuhl nieder, der vor dem Schreibtisch stand. Ihre Augen glitten zu den deckenhohen Schränken mit den angepassten Leitern. Die darin befindlichen Sammlungen vergangener Zeiten überstiegen ihr Vorstellungsvermögen. Auf dem massiven Sekretär lag eine silbergerahmte Lesebrille in einem samtbezogenen Etui. Zusammen mit diversen Unterlagen und den abgelaufenen Exemplaren einer Tageszeitung. Auf einem eingerissenen Block klebten Post-it, die an unerledigte Aufgaben erinnern sollten. Notizen häuften sich neben Einkaufslisten. Der Computer lief im Ruhe-Modus, die Tastatur hing am Kabel über der Seite des Schreibtisches. Der Bildschirm schwankte beunruhigend. Die Maus lag neben einem umgeworfenen Glas auf dem blauen Perserteppich. Eine Karaffe hatte ihre bernsteinfarbene Flüssigkeit über Druckerpapier verschüttet. Bleistifte teilten sich mit Füllfederhaltern und Kugelschreibern den vorhandenen Platz auf einem geöffneten Aktenordner. CDs, Zip-Laufwerke, Floppy-Disketten, Ausdrucke, Berichte, Umschläge und Mappen beschlagnahmten den Rest der freien Oberfläche. Der Mülleimer hatte den Dienst eingestellt. Sein überquellender Inhalt lag auf dem Fußboden verstreut. Emily liebte die Bibliothek. Hier gab es unendlich viele Bücher. Zu jedem Thema. Überlieferungen, Legenden, Romane. Selbst Wissenschaft. Alles, was irgendwann einmal geschrieben wurde. In der Luft lag der Geruch von Staub, Papier und Whiskey. Sie wurde von einer Wärme erfüllt, die sich bis in ihre Zehenspitzen ausbreitete. Wahrscheinlich, weil das Zimmer so viel über den Mann verriet, der ihr niemals ein Vater sein durfte. Mit geschlossenen Augen kuschelte sich Emily in den Schreibtischstuhl. Sie streckte sich dabei dem lauen Sommerwind entgegen, der durch ihre langen, roten Haare strich. Sie liebte diese Burg und alle ihre Geheimnisse. Ihr Vater hatte diese Festung vor Jahrhunderten errichten lassen. Er wollte für sie einen Ort erschaffen, an dem sie sicher fühlte, geborgen und beschützt. Emily mochte die Welt nicht. Hier zu leben, an diesem Ort, machte sie glücklich. Sie brauchte niemanden. Nur die vielen Bücher und ihre Fantasie. Sie konnte sich ohnehin nicht daran erinnern, warum er sie allein gelassen hatte. Aber das störte sie nicht. Irgendwann kam er ganz sicher zurück. Emily, bitte wach‘ auf. Blinzelnd hob sie den Kopf, ihre Augen flogen durch den leeren Raum. Was war das für eine Stimme gewesen? Sie setzte ihre nackten Füße auf den Boden, durchquerte das Zimmer und trat in die Eingangshalle. Hier war niemand. Nur das Ticken der Wanduhr durchbrach die Stille. Sie drehte sich um. Hatte sie sich das nur eingebildet? Da war ein Knacken, ein Rascheln. Emily wandte sich den offen stehenden Eingangstüren zu. Woher kam das Geräusch? Die Stirn in Falten gelegt, biss sie sich auf die Lippe. Konnte es sein, dass ihr die Isolation langsam zusetzte? Nein, sie war glücklich. Oder vielleicht doch nicht? Sie ging weiter, atmete noch einmal tief durch und trat auf den Hof hinaus. Woher kam diese Stimme? Kurz flackerte die Überlegung in ihrem Geist auf, dass sie sich vor den Strahlen der Sonne schützen sollte. Dann ließ sie ihre Augen zu den Rosensträuchern wandern, wo sie einen Schatten entdeckte. „Ist das deine Vorstellung von innerem Frieden?“, hörte sie die Silhouette amüsiert fragen. „Ganz allein in dieser riesigen Burg?“ Emily verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Wer sind Sie?“, wollte sie wissen. „Und was wollen Sie von mir?“ „Ich möchte dich nach Hause holen“, kam die Antwort ohne jedes Zögern. Sie atmete tief durch. „Erweisen Sie mir endlich den gebührenden Respekt und nennen Ihren Namen.“ Der Schatten ließ die Rosensträucher hinter sich und trat ins Licht der Sonne. „Du hast mich aus deinen Gedanken verbannt, Em?“ Er klang gekränkt. „Nicht Em.“ Sie straffte würdevoll die Schultern. „Emily oder in Ihrem Fall: Miss Lyall.“ Sie neigte den Kopf zur Seite. Vor ihr stand ein schlaksiger, junger Mann mit strohblonden Haaren und braunen Augen, die einen blutroten Schimmer besaßen. Als er ihr ein Lächeln schenkte, enthüllte er zwei Reihen ebenmäßiger, weißer Zähne. Sie runzelte die Stirn. Kannte sie ihn? Er kam ihr zumindest vertraut vor. Vertieft durchforstete sie die hintersten Winkel ihres Gedächtnisses. Seine Stimme, seine Statur - selbst sein Geruch war ihr nicht fremd. Sie ging auf ihn zu und als sie vor ihm stand, legte er die Hand erst an ihre Wange, dann an ihren Hinterkopf. „Wer sind Sie?“, fragte sie noch einmal. In seinen feuchten Augen leuchtete Wärme. „Ich habe dich vermisst.“ Sie wusste, dass sie ein derartiges Benehmen nicht tolerieren durfte. Seine Kinderstube ließ jede Höflichkeit missen. Eine Stimme schrie ihr zu, dass sie ihn zurechtweisen sollte. Aber da war etwas, das sie davon abhielt. Es fühlte sich gleichzeitig fremd und richtig an. Als er sie in seine Arme zog, schien ihr das Herz in der Brust zu zerspringen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hörte etwas bersten, ein Knoten löste sich in ihrer Brust. Natürlich! Sie kannte diese Person. Emily wusste, wer er war. Schluchzend grub sie die Finger in sein Jackett. Ihre Erinnerungen kehrten zurück. Es waren Erinnerungen, die sie zum Selbstschutz verschlossen hatte. „Nick“, schluchzte sie und die ersten Tränen rollten über ihr Gesicht. „Oh mein Gott, Nick. Du hast mir so gefehlt.“ Sie glaubte, sein Lächeln zu spüren. „Gestatten?“, fragte er in einem amüsierten Ton und bevor Emily verstand, hob er sie auf die Arme. „Es wird Zeit. Wir müssen gehen.“ „Was?“ Unter seinen Füßen brach der Boden auf. Helles Licht sammelte sich zu einem Kreis, schoss wie eine Wasserfontäne in die Luft und hüllte sie in einen Schleier aus glitzerndem Staub. Kreischend klammerte sich Emily an Nick. Sie verlor den Halt. Eine unsichtbare Kraft riss sie in die Tiefe, einer bodenlosen Nacht entgegen. Zitternd schloss sie die Augen. Emily hatte das Gefühl zu fallen und während sie schwerelos durch die Dunkelheit glitt, begann ihre Welt zu zersplittern. Kurze Eindrücke in andere Welten taten sich auf. Waren es Dinge, die sie erlebt und vergessen hatte? Sie hörte Geschrei. Der Klang von Metall, das auf Metall traf. Geschärfte Klingen, die sich aneinander festbissen. Der Geruch von Fäulnis raubte ihr den Atem. Stimmen streiften ihre Ohren. Jemand rief ihren Namen. Regen, Sonne, Wind. Schießpulver, Feuer, Rauch. Dinge, die zu ihr gehörten. Zu den Personen, die sie geformt hatten. Ihr ganzes Leben ergoss sich in einem Sekundenbruchteil in ihre Gedanken. In der nächsten Sekunde war es schon wieder vorbei, abgelöst von anderen Momenten. Gesichter, so schnell, dass sie sie nicht zuordnen konnte. Junge und alte. Aber auch viele, die vor ihrem inneren Auge aufblitzten und sich nie zu verändern schienen. Sie fiel. Tiefer, immer tiefer.   ***   Erschrocken öffnete Emily die Augen. Was war das gewesen? Ruckartig setzte sie sich auf, ihr Herz, ihre Atmung raste. Was zum Teufel hatte sie gesehen? Mit beiden Händen fuhr sie sich durchs Gesicht, ein Schluchzen durchbrach die Stille und sie bemerkte überrascht, dass sie weinte. Aber warum weinte sie eigentlich? Emily fühlte eine Traurigkeit, die sie nicht verstand. Zitternd betrachtete sie ihre nassen Finger, die Tränen wurden zu einem Strom. Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. In ihrem Kopf und ihrem Körper herrschte Anarchie. Langsam zog sie ihre Beine über die Bettkante. Weißer, fast durchsichtiger Stoff streifte ihre Augen und sie hob die Arme an. Wer hatte ihr dieses merkwürdige Kleid angezogen? „Bist du wach?“ Emily wandte ihr Gesicht in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Mit den Armen vor der Brust verschränkt, lehnte ein junger Mann im Rahmen einer steinernen Tür. Seine schlaksige Gestalt steckte in Turnschuhen, einer zerrissenen Hose und einem Hoodie. Sie kannte ihn. Dieses schmutzig blonde Haar, die braunen Augen, die im Licht der Lampen blutrot schimmerten. Es hatte sich ihr wie eine Fotographie ins Gedächtnis gebrannt. Blinzelnd strich sie sich erneut durchs Gesicht, doch die Tränen und das Schluchzen wollten nicht enden. Der Mann trat an ihre Seite und setzte sich neben ihr auf das Bett. „Ich hasse es, dass du jedesmal das Gleiche durchmachst“, hörte sie ihn sagen. Er klang seltsam bekümmert. „Es kommt alles wieder in Ordnung. Bald wirst du dich an alles Erinnern.“ Sie wollte etwas dazu sagen und öffnete den Mund, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Was war nur mit ihr los? Emily wusste, dass sie zum Sprechen ihre Stimmbänder brauchte und das sie es vor langer Zeit gekonnte hatte. Fast entsetzt fasste sie sich an den Hals, während er mit einem nassen Tuch über ihre Wangen und Augen tupfte. So behutsam, als würde sie ihm unendlich viel bedeuten. Dann zog er etwas aus der Tasche seines Hoodies und setzte es ihr auf die Ohren. Emily hörte Klavierklänge, die wie sanfte Wellen in ihr hallten. Dieses Lied, sie hatte es schon einmal gehört. Vor einer langen, langen Zeit. Mit geschlossenen Augen sank sie gegen die Schulter des Mannes. Ihr aufgebrachtes Herz begann sich zu beruhigen. Sie sah eine mittelalterliche Burg inmitten üppigen Grüns, umgeben von Bäumen, Büschen und einem Meer von Blumen. Der Mann legte den Arm um ihre Gestalt und zog sie noch näher. „Willkommen zurück, Em.“ Kapitel 1: ----------- Budapest, Ungarn 12. April 2012   Kostja hatte die Nachtschicht erst hinter sich gebracht, als er in Erwartung einer heißen Dusche den Wohnkomplex betrat. Sein schäbiges Apartment lag unter dem Dach und der Fahrstuhl war seit Monaten außer Betrieb. Kaum hatte er den Fuß ins Treppenhaus gesetzt, griff er in seine Jackentasche, holte sein Smartphone hervor und während er weitere Stufen des alten Plattenbaus nach oben schlurfte, tippte er mit dem Daumen auf den Button des Touchdisplays. Die Musik, die er stets auf dem Heimweg hörte, verstummte. Müde nahm er die Kopfhörer ab. Er sehnte sich nach einer Dusche und einem Bett - aber vor allem wollte er endlich seine Ruhe haben. Keine Patienten, die sich durch die grell erleuchteten Flure des Krankenhauses quetschten. Keine Akten, die durchgesehen und geprüft werden mussten. Keine Unterschriften. Keine Tests. Nur friedvolle Stille. Gähnend kramte Kostja den Hausschlüssel aus seinem Rucksack. Dabei bemerkte er die Anwesenheit eines Mädchens, das auf den obersten Stufen der Treppe saß. Als er sich an der Fremden vorbeischlängeln wollte, wandte sie ihm das Gesicht zu. Um ihre Lippen lag ein freundliches Lächeln. Entgegen dem Wunsch, sich in die Stille seiner Wohnung zurückzuziehen, blieb er neben ihr stehen. Ihre Kleidung war durchnässt - es regnete bereits seit Stunden - die feuerroten Haare klebten ihr am Kopf und den Schultern. Ihre Augen, die sie auf ihn gerichtet hatte, leuchteten in einem satten Grünton. Das Mädchen stand auf und ließ ein Smartphone in die Tasche ihres Mantels gleiten. Auch wenn Kostja bisher nicht das notwendige Interesse aufgebracht hatte, um sich über seine in Isolation lebenden Nachbarn zu informieren, wusste er mit Sicherheit, dass sie hier nicht wohnte. Er hatte sie schon so lange nicht mehr gesehen, dass die Details ihrer letzten Begegnung in seiner Erinnerung verblassten. „Das ist schon eine Ewigkeit her“, sagte er mit einem Schmunzeln. „Wie geht es dir?“ „Das müssen jetzt zehn Jahre sein“, antwortete sie ihm gut gelaunt. „Mir geht‘s gut und dir? Ich habe gehört, du arbeitest jetzt im Krankenhaus deines Onkels.“ Er zuckte die Schultern. „Ich wollte mir eigentlich im städtischen Krankenhaus eine Anstellung suchen“, gab Kostja resigniert zu. „Das wollte mein Onkel nicht. Unsere Familie besteht aus Ärzten, die alle im gleichen Gebäude arbeiten.“ Stirnrunzelnd betrachtete er ihre schlammverdreckten Stiefel. Aus dem Stoff ihres Trenchcoats tropfte eine zähflüssige Masse träge zu Boden. Kostja trat auf der Treppe ein paar Stufen nach unten und atmete durch den Mund. Was auch immer das war, es roch nicht angenehm. Seine Reaktion schien sie zu erheitern. „Es tut mir wirklich leid.“ Sie fasste zu beiden Seiten des Mantels und schüttelte den Stoff aus, als könnte sie damit den Geruch vertreiben. „Das sind Andenken an die Abwasserkanäle.“ Kostja hielt sich die Hand vor die Nase. Er konnte sich nur schwer vorstellen, was sie dazu getrieben haben sollte, der Kanalisation einen Besuch abzustatten. Und jetzt stand sie vor ihm, ohne Vorwarnung, mit dem Aroma einer Kläranlage und einem schiefen Grinsen im Gesicht. Das Mädchen wiederzusehen war seltsam. Er hatte vergessen, dass eine Person wie sie, einmal in seinem Leben existiert hatte. „Komm rein“, lächelte er kopfschüttelnd. Das Mädchen starrte ihn an, ihre ohnehin schon großen Augen wurden noch größer. Kein Wort durchbrach die Stille. Hatte sie ihn nicht verstanden? Dann zuckte sie die Schultern, nahm ihm den Hausschlüssel ab und ging zielstrebig zu der einzigen Tür in diesem Stockwerk, die ein Namensschild besaß. Kostja verdrehte amüsiert die Augen, dann folgte er dem Mädchen. Sie brauchte wohl keine Erklärung oder Erlaubnis. Als er die Haustür ins Schloss schob, verschwand sie im Bad. Über seine Lippen perlte ein Gähnen, seine Augenlider schienen Tonnen zu wiegen. Er war so müde, dass er im Stehen einzuschlafen drohte. Mit den Händen in den Hosentaschen lehnte er sich gegen die Wand. Es gab nichts auf der Welt, das ihn auf ein Wiedersehen mit ihr vorbereitet hätte - einem Mädchen, von dem er seit zehn Jahren weder etwas gehört noch gesehen hatte. Was war vor zehn Jahren eigentlich gewesen? Kostja wurde aus seiner Versunkenheit gerissen, als sie ihm durch einen Spalt ihre Stiefel entgegenhielt. Mit spitzen Fingern fasste er nach einer sauberen Stelle am Saum und brachte sie auf den winzigen Balkon, der zu seiner Wohnung gehörte. Im Anschluss verfrachtete er ihre Kleidung, die sie ihm vor die Tür geworfen hatte in die Waschküche im Keller. Aus seinem Kleiderschrank suchte er ein Oberteil. Kostja öffnete die Tür zum Badezimmer. „Ich lege dir ein Handtuch und ein T-Shirt aufs Waschbecken, in Ordnung?“, fragte er und wartete keine Antwort ab. „Sollte etwas sein: Ich bin im Wohnzimmer.“ Sekunden später sank er leise seufzend auf die frei im Raum stehende Couch nieder. Seine Mundwinkel zuckten. Wie hatte dieses eigenartige Mädchen aus seinen Gedanken verschwinden können? Sie gehörte nicht unbedingt zu den Menschen, für die er kein Interesse aufbrachte. Glaubte er jedenfalls. Aber woher kannte er sie? Aus der Schule? Von einem Teilzeitjob? Oder war sie ein Patient im Krankenhaus seines Onkels gewesen? Zehn Jahre, die er sie nicht gesehen hatte und er wusste nicht, wo er sie einordnen sollte. Eine Zeitspanne, in der ihm bestimmt das eine oder andere Gesicht entfallen war. Doch ihres kam ihm auf Anhieb bekannt vor, kaum dass er sie auf den Stufen entdeckt hatte, und er wusste sofort, dass ihn etwas Wichtiges mit ihr verband. Etwas Wichtiges, dessen er sich trotz allen Grübelns nicht entsinnen konnte. Kostja sah auf, nachdem sein unerwarteter Besucher das Badezimmer verlassen hatte, bekleidet mit dem T-Shirt, das er ihr rausgelegt hatte und Schonern an ihren Handgelenken. Der Stoff hing wie ein übergroßes Kleid an ihrer schmalen Gestalt. Sie steuerte zielstrebig das Sideboard hinter dem Sofa an, auf dem die Bilder einer jungen Frau standen. Dabei verteilte sich der Geruch seines Shampoos ungehindert in der Wohnung. Pfefferminz und Zedernholz. Kostja lehnte sich auf dem Sofa zurück. Sie fasste nach einem der Bilderrahmen. „Hübsch“, hörte er das Mädchen sagen und er wandte sich ihr zu. „Deine Freundin?“ Kostja fühlte sich hin- und hergerissen. Sie war ihm vertraut und gleichzeitig fremd. „Nein, wir sind verlobt“, korrigierte er seinen Besuch, stand auf und pflückte ihr das Foto aus den Fingern. „Ihr Name ist Adrienn. Sie arbeitet als Anwältin im Krankenhaus.“ Das Mädchen drehte sich um, den Kopf zur Seite geneigt. Sie lächelte erneut, doch diesmal wirkte es einseitig und leer. „Herzlichen Glückwunsch“, gab sie zurück. „Adrienn wird bestimmt eine gute Ehefrau sein.“ Sie spielte ihm etwas vor, das war offensichtlich. Nur warum? „Eine gute Ehefrau?“, wiederholte er belustigt. „Wer sagt denn so was heute noch?“ Sie grinste schelmisch, obwohl sie bis zu den Ohren feuerrot anlief. „Na ich“, gab sie ihm zu bedenken. Er stellte das Foto zurück, betrachtete für einen Moment das Gesicht seiner zukünftigen Frau und legte das Bild mit der Vorderseite auf das Sideboard. „Unsere Verlobung wurde arrangiert und hat nichts romantisches“, erklärte er versunken. „Das muss ein paar Monate nach deinem plötzlichen Verschwinden gewesen sein.“ Warum erzählte er ihr das? Kostja stutzte. Wie kam er darauf und wie hieß sie eigentlich? Er erinnerte sich beim besten Willen nicht daran, ihren Namen jemals erfahren zu haben. Lächelnd sank sie auf die Couch, die Beine übereinandergeschlagen. Eine Überlegung schoss ihm durch den Kopf. Wenn Adrienn unangekündigt bei ihm vorbeischaute, würde sie ihm glauben, dass zwischen ihm und diesem namenlosen Mädchen nichts lief? Kostja trat hinter das Sofa. Seine rasenden Gedanken stoppten, als ihm sein unerwarteter Besucher einen Blick zuwarf. Ihre Augen leuchteten wie grünes Feuer. „Wir hatten uns versprochen, dass wir für immer Freunde bleiben“, meinte sie, die Finger im Stoff der Couch verkrampft. Ihre Schultern schienen ein Gewicht zu stemmen, das sie unmöglich tragen konnte. Seine Stirn legte sich in Falten. „Ich ...“, begann er, unsicher was er dazu sagen sollte. Das Mädchen sank gegen die Rückenlehne der Couch und tippte erneut auf das Display ihres Smartphones. Dabei strahlte sie wie ein kleines Kind, dem er eine kostbare Süßigkeit geschenkt hatte. „Kann ich deine Nummer haben?“, fragte sie euphorisch. Ihre Launen waren wie Quecksilber und genauso undurchschaubar. Was sollte er darauf antworten? In seinem Schädel hämmerte der Gedanke, dass er rein gar nichts über dieses Mädchen wusste. Woran er sich erinnerte, war nicht viel. Nichts das ihn beruhigte und ihm die Sicherheit gab, dass sie nicht völlig irre oder gefährlich war. Wenn er das in Erwägung zog, wieso hatte er sie dann in seine Wohnung gelassen? Noch nie zuvor hatte sich Kostja innerlich so zerrissen gefühlt. „Warum tauchst du ausgerechnet jetzt wieder auf?“, fragte er, drehte sich um und lehnte sich mit der Hüfte gegen die Rückenlehne der Couch. „Wo warst du?“ „Du bist verunsichert. Das kann ich verstehen. Obwohl du mich in deine Wohnung lässt und mich wie einen Freund behandelst, weißt du nicht warum. Du kannst dich nicht mehr an mich erinnern. Zehn Jahre waren einfach zu lange.“ „Was meinst du damit?“ „Mein Name ist Emily Elizabeth Lyall. Ich kenne dich schon sehr lange. Ich habe dich damals von Japan nach Ungarn zu Familie Gorodezki gebracht. Keine Sorge, ich bin kein Serienkiller.“ Kostja schmunzelte. „So viel zum Thema, meine Mutter hätte mich beim Bettenmachen gefunden“, scherzte er und betrachtete ihr apartes Gesicht. „Sie hat mir erzählt, dass ich aus einem japanischen Waisenhaus komme und auch, dass mich ein junges Mädchen zu ihr nach Budapest gebracht hat.“ Sie schien den Witz nicht zu verstehen. Ihre Stirn legte sich in Falten. „Und was bedeutet beim Bettenmachen gefunden?“, erkundigte sie sich interessiert und Kostja sah sie an, als hätte sie ihm eine Handtasche voller Backsteine um die Ohren gehauen. „Tut mir leid, ich bin noch nicht in dieser Zeit angekommen.“ Er wusste nicht warum, aber ihr Name hatte etwas in ihm ausgelöst. Zu schwach, um danach zu greifen, doch real genug, damit er ihr vertraute. „Schon in Ordnung. Vergiss‘ es“, erwiderte Kostja mit einem Lächeln. „Aber du solltest dir jetzt etwas anziehen. Wenn dich jemand sieht, könnte er die falschen Schlüsse ziehen.“ „Oho. Und was für Schlüsse wären das?“ Emily erhob sich auf die Füße und folgte ihm zu einem Kleiderschrank neben der Badezimmertür. Kostja bückte sich und wühlte in den unteren Schubladen. „Du weißt schon ... Mein Mietvertrag sagt, hier sind keine entlaufenden Oberschülerinnen erlaubt ...“ Sie lächelte. „Das nehme ich als Kompliment“, erwiderte sie gut gelaunt, fasste nach seiner Schulter und zeigte ihm ihren Chatverlauf. „Mach‘ dir keine Umstände. Mein großer Bruder kommt mich abholen.“ Er drehte sich erstaunt zu ihr um. „Du hast einen Bruder?“ „Mehr oder weniger“, erklärte sie ihm, wobei sie mit den Spitzen ihrer Haare spielte. Sie wickelte sich die Strähnen um den Zeigefinger. „Er ist ein Drache. Also eine andere Spezies. Er ist eben kein Vampir.“ Eine seiner Augenbrauen schnellte in die Höhe. Kein Wort durchbrach die eingesetzte Stille. Ein Drache? Was sollte das wieder bedeuten? Zeigte sich jetzt der versteckte Wahnsinn, den er zuvor zwar in Erwägung aber nicht ernsthaft in Betracht gezogen hatte? Oder sollte das eine ihm unbekannte Metapher sein? Brach gleich der aufbrausende Bruder durch die Eingangstür? Aber was meinte sie dann mit Vampir? Er war zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Kostja griff nach einer Jogginghose, die ihm zu klein geworden war und reichte ihr das Kleidungsstück, bevor er in Richtung des Badezimmers deutete. Das Mädchen ignorierte ihn. Den Stoff zog sie sich an Ort und Stelle über die Hüften. Ob sie schon immer so gewesen war? Ihr Verhalten war verwirrend, ihren Sätzen fehlte der Übergang und sie schien an einer leichten Form von Realitätsverlust zu leiden. Glaubte er jedenfalls. Warum hatte er dann den Eindruck, dass es völlig normal war, wenn sie von Wesen sprach, die es nur in Märchen gab - als wenn sie das musste. Er stutzte. Warum musste? Nachdem sich Emily angezogen hatte, trat Kostja auf das Mädchen zu, schob ihre langen Haare zur Seite und betrachtete ihren schlanken Hals. Nahe der Hauptschlagader zeigte sich ihm eine halbmondförmige Narbe, die Zahnabdrücken ähnelte. Es war nur eine - ja, was genau? Auch wenn die Wunde schon längst verheilt war, schien es kein Tier gewesen zu sein, das sie gebissen hatte. Das stammte von einem Menschen. „Hm. Du bist also tatsächlich ein Vampir“, traf er eine Feststellung, ließ sie los und das Mädchen schenkte ihm ein breites Lächeln. Er musste langsam, aber sicher damit anfangen, an seinem Verstand zu zweifeln. Emily dagegen wollte ihn für seine Worte loben, das las er an ihrem Gesichtsausdruck ab. Deswegen stellte sich ihm die berechtigte Frage, wer von ihnen den größeren Schaden hatte.  Kostja konnte das Lachen kaum unterdrücken. Kein Wunder, dass sie sich angefreundet hatten. „Stimmt“, gab sie ihm begeistert Recht, klatschte in die Hände und sah ihm ins Gesicht. „Ich bin ein Vampir. Mein Bruder ist ein Drache. Erinnerst du dich wieder?“ Nein, das tat er nicht. Kostja verstand nicht einmal, warum er an ihrem Hals nach Bissspuren gesucht und diese mit einem Vampir in Verbindung gebracht hatte. Zumindest beruhigte ihn der Gedanke, dass er Antworten von ihr bekam und dass sie kein Problem damit hatte, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit? Er hatte doch gerade noch an ihrem und seinem Verstand gezweifelt. Vielleicht sollte er in der Psychiatrie anrufen und nachfragen, ob sie eine Patientin vermissten. Oder zwei? Träumte er diesen Wahnsinn? „Ich habe dich angesprochen ... ich habe das Gefühl, dich seit einer sehr langen Zeit nicht gesehen zu haben ... wie kann das sein? Ich erinnere mich an nichts.“ Emily neigte den Kopf zur Seite, in den Tiefen ihrer Augen glomm abermals dieses Feuer auf. „Hm. Ich glaube, dass nicht alle deine Erinnerungen verschwunden sind. Bruchstücke sind noch vorhanden und als du mich gesehen hast, sind sie an die Oberfläche gestoßen. Du hast seit zehn Jahren nichts von mir gehört, trotzdem hast du mich auf Anhieb erkannt. Das ist bestimmt kein Zufall.“ „Klingt nach Verschwörung ...“ Er wurde von einem schrillen Klingeln unterbrochen, dann wurde an die Haustür geklopft. Kostja warf Emily einen Blick zu. Sie stand im Wohnzimmer, die Arme hinter dem Rücken, auf den Lippen ein spitzbübisches Lächeln. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel und in der Hoffnung, dass es sich nicht um Adrienn handelte, öffnete er die Haustür einen Spalt. Er hätte nicht verwirrter sein können. Im Hausflur stand Jurij Virtanen, ein Student, den Kostja noch von seinem Abschlussjahr an der medizinischen Fakultät kannte. Seine Augenbrauen schnellten in die Höhe. „Du ...“, brach es aus Jurij heraus. Kostja öffnete die Tür ganz. „Ja, ich“, erwiderte er einsilbig. „Ich wohne hier.“ Emily kam näher und steckte ihren Kopf in den Hausflur. „Oh, Hallo, Jurij“, begrüßte sie ihn fröhlich und fasste nach einer Plastiktüte, die er sich unter den Arm geklemmt hatte. „Danke, dass du mir saubere Kleidung bringst.“ Jurij hob eine Braue. „Das hast du doch gewusst.“ Sie grinste. „Möglich.“ „Augenblick“, hielt Kostja das Mädchen auf, bevor sie im Badezimmer verschwand. „Sag‘ mir nicht, der da ist dein Bruder.“ Sie lachte amüsiert. „Nein, Nein. Jurij ist nicht mein Bruder. Er ist mein Liebhaber.“ Kostja verengte die Augen, sein ungläubiger Blick glitt zu Jurij, dem alles Leben aus dem Körper wich. „Ihr habt Sex?“, fragte er nach, nur um sicherzugehen. Jurij wurde blass. „Äh ...“ Hektisch fuchtelte der Student mit den Händen durch die Luft, während er sich selbst um Kopf und Kragen redete. Rot bis über beide Ohren, fiel es Jurij offenbar schwer, die Situation zu erklären. Unter dem ganzen Gestammel konnte Kostja den Satz Sie ist nicht so jung, wie sie aussieht, herausfiltern. Richtig. Emily hatte sich rein vom Äußerlichen nicht verändert. Ihr Gesicht und ihre Statur hatten sich Kostja wie eine Fotographie ins Gedächtnis gebrannt. Warum? Dieses Gefühl von Vertrautheit begann ihn zunehmend zu beunruhigen. Die Tür zum Badezimmer quietschte. Beide Männer wandten sich dem Mädchen gleichzeitig zu und Kostja traute seinen Augen nicht. In diesem schwarzen Kostüm, den Schuhen mit Pfennigabsätzen und den zusammengebundenen Haaren, wirkte sie auf ihn so erwachsen. Es war ein Bild, das nicht so recht passen wollte. Die bunten Farben und die Spitze, die sie am Morgen getragen hatte, standen ihr bei weitem besser. Sie ging zu Jurij. „Würdest du mir die Krawatte binden?“, fragte sie ihn und schlug den Hemdkragen nach oben. „Ich muss jetzt arbeiten. Ich werde meine Kleidung ein anderes Mal holen. Pass‘ bitte so lange für mich darauf auf.“ Kostja nickte nur, unfähig ein Wort zu sagen. Seine Augen wanderten zu ihrem Oberschenkel. Durch den hoch geschnittenen Schlitz in ihrem Rock konnte er ein Holster sehen, in dem eine großkalibrige Waffe steckte. Emily schenkte ihm ein flüchtiges Nicken, drehte sich auf dem Absatz um und stieg mit Jurij über die Treppen nach unten. Das Mädchen bewegte sich jetzt auch ganz anders. Ihre Schritte waren sicher, ihre Haltung kerzengerade. Was mochte das für eine Arbeit sein, der sie nachging? Sie trug eine Pistole bei sich, also hoffte er, dass es sich dabei um Personenschutz handelte. Kostja schüttelte seine Überlegungen ab, kehrte in seine Wohnung zurück und setzte sich auf die Couch. Mittlerweile war er zu übermüdet, um auch nur ein Auge zuzubekommen. Darum beschäftigte er sich mit Lesen - zumindest bis es am frühen Nachmittag ein weiteres Mal bei ihm klingelte. War sie schon zurück? Gähnend erhob er sich auf die Füße, schlurfte in den Hausflur und lehnte sich gegen die Wand. Den Hörer der Gegensprechanlage klemmte er zwischen Kopf und Schulter ein, während er die Seite in seinem Buch umblätterte. Im Grunde war er zu erschöpft, um die Worte zu vergegenwärtigen. Kostja wusste, er konnte nicht schlafen. Obwohl er sich mit dem trockenen Text über Fortschritte in der Neurochirurgie abzulenken versuchte, spukte Emily in seinem Kopf herum. „Wer ist da?“ „Hier ist Jason“, rief die vor der Haustür stehende Person mit beschwingter Stimme. „Ich habe ein Sixpack Bier. Lass uns ein bisschen abhängen.“ Betretenes Schweigen folgte, bis sich Kostja zu einer Antwort durchrang. „Moment.“ Er hob den Arm, um auf den Summer zu drücken. Die Tür im Hausflur öffnete sich mit einem Klacken, Schritte bestätigten, dass Jason, sein bester Freund seit Kindertagen, das Hochhaus betreten hatte. Kostja begab sich unterdessen wieder ins Wohnzimmer. Langsam aber schleichend kehrte die Müdigkeit zu ihm zurück. Er war sich nicht sicher, wie lange er sich noch wachhalten konnte. Der zweite, unangemeldete Besucher an diesem Tag stürmte in die Wohnung. Jason wirkte gehetzt, als hätte er sich auf den Treppen unnötig beeilt. Er strich sich das wirre, blonde Haar aus der schweißnassen Stirn. „Was ist denn los?“, wollte Kostja überrascht wissen und sah seinem Freund ins Gesicht. „Bist du endlich zum Stich gekommen?“ Jason schüttelte den Kopf, seine braunen Augen leuchteten voller Euphorie. „Nein!“, rief er begeistert. „Du wirst nie erraten, was mir heute passiert ist.“ „Und was soll das gewesen sein?“ „Eine Frau!“ „Eine Frau“, wiederholte Kostja skeptisch, unsicher, ob er nicht eingeschlafen war und sich diesen Unsinn nur erträumte. „Dir ist bewusst, dass es davon Millionen auf der Erde gibt?“ Jason nickte. „Aber es war nicht irgendeine!“, rief er begeistert. Er konnte sich wohl nur schwer zusammenreißen, um Kostja diese scheinbar wertvolle Neuigkeit nicht einfach ins Gesicht zu werfen. „Und was war an ihr so besonders?“ „Sie muss von einer Security Agentur gewesen sein. Sie trug ein enges Kostüm, eine Sonnenbrille und ... ist ja auch egal. Auf jeden Fall hatte sie eine Waffe bei sich. Das war eine Desert Eagle ... eine Desert Eagle! Shit. Stell‘ dir das nur mal vor. Das ist der absolute Wahnsinn.“ Kostja grinste schief. Sein bester Freund war von Waffen fasziniert. „Warum hast du nicht gefragt, ob sie dir das Ding zeigt?“ Auf einmal wirkte Jason fast beleidigt. „Die hätte mir ihre Waffe durch die Fresse gezogen, bevor ich auch nur den Mund aufmachen kann.“ Im Schneidersitz sank er laut schnaufend auf den Boden nieder. Und nachdem das Thema mit der Securityfrau und der Waffe wohl abgehakt war, ließ sich Kostja überreden, von seiner Nachtschicht zu erzählen. Seine Gedanken kreisten dabei weiter unaufhörlich um Emily. Er konnte sich einfach nicht an die Dinge erinnern, die wichtig sein mussten oder sollten. Sie stand seinen Fragen zwar offen gegenüber, aber ihre Antworten waren verwirrend und beruhigend. Im Grunde ergaben sie keinen Sinn. Bei der Frau, von der Jason erzählt hatte, handelte es sich mit ziemlicher Sicherheit um Emily. Das Mädchen hatte ebenfalls eine großkalibrige Waffe bei sich getragen. Kostja stand auf, streckte seine steifen Muskeln und begab sich in die Küche. Dabei entdeckte er ein Post-it, das auf dem Türstock klebte. Die Nachricht konnte er nicht entziffern. Wollte sie ihn ärgern? Grinsend betrachtete er das darauf befindliche Gekritzel. Wenn er sich nicht irrte, handelte es sich um japanische Schriftzeichen, die sich mit englischen Sätzen und Ungarisch zu einem wirren Kauderwelsch mischten. Was wollte sie ihm damit sagen? Er zupfte die Notiz vom Türstock, drehte den Zettel um und las sich die Sätze auf der Rückseite durch. Sie bedankte sich für seine Gastfreundschaft. Zudem bat sie ihn darum, ihre Stiefel nicht in der Sonne stehenzulassen. Kostja verstand ihre seltsame Bitte nicht, kam jedoch zu dem Schluss, dass sie ihre Gründe hatte. Also holte er die Schuhe vom Balkon, stellte sie ins Vorzimmer und begab sich kurz darauf in den Keller. Unschlüssig, ob er für ihre Kleidung den Trockner benutzen konnte, griff er auf die Wäscheleine zurück. Er stockte, als er plötzlich ihre Unterwäsche in den Händen hielt. Unwillkürlich dachte er an Jurij. Kostja schnaufte. Warum war es ihm unangenehm, dass Emily Sex hatte? Äußerlich hatte sie sich zwar nicht verändert, aber sie musste erwachsen sein. Vielleicht Ende 20 oder schon Mitte 30. Es gab Menschen, die selbst mit 40 noch, wie Teenager wirkten. Kostja ließ die Schultern hängen. Kleine, zierliche Dinge weckten wohl einfach seinen Beschützerinstinkt. Seufzend beendete er seine Arbeit und ging in seine Wohnung zurück. Jason leerte sein drittes Bier, kurz darauf schlief er auf der Couch ein, ein Biologiebuch in der Hand. Für Kostja das Zeichen, den angebrochenen Alkohol im Spülbecken zu entsorgen. Er weckte seinen besten Freund auf, funktionierte die Couch um und legte sich schlafen. Doch durch das pausenlose Schnarchen bekam er kein Auge zu. Mit dem Kopfkissen auf den Ohren wälzte er sich den größten Teil der Nacht von einer Seite zur anderen. Dass er sich am nächsten Morgen wie erschlagen fühlte, war nicht verblüffend. Die Tragegurte des Rucksacks in den Händen schleppte er sich in die U-Bahn, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt. Kostja wollte die Augen schließen, als ihm Jason auf die Schulter schlug. Sein Freund deutete auf ein Mädchen, das sich am anderen Ende des Abteils befand und in einem Buch las. Unter gesenkten Augenlidern sah er zu Jason. „Erinnere mich daran, dass ich dich umbringen werde“, murmelte er. Nach weiteren sechs Stationen, die Kostja verschlief, boxte ihm eine Faust in die Rippen. Unerwartet in die Wirklichkeit zurückgerissen, fuhr er zu Jason herum. Sein bester Freund sah ihn an, bevor er abwehrend die Hände hob. „Das war ich nicht“, beteuerte er atemlos. „Da ist ein Mädchen mit einem Sonnenhut und einem langen Kleid an uns vorbeigelaufen. Sie hatte einen pinken Rucksack bei sich.“ „Irgendeine Fremde soll mich geschlagen haben?“, fragte Kostja und presste die Hand auf seine Rippen. „Und warum genau sollte sie das machen?“ Jason schnitt eine Grimasse. „Weiß ich doch nicht.“ Eine Geschichte, die Kostja nicht glaubte. Sein müder Körper, der protestierend nach einem Bett verlangte, trieb ihn dennoch aus dem Zug. Der Tag hatte noch nicht begonnen und er dachte bereits daran, wieder umzukehren und nach Hause zu fahren. Wenn er einmal fehlte, brachte ihn sein Onkel nicht gleich um. Als er stehen blieb, um seinen Entschluss umzusetzen, rempelte ihn jemand von hinten an, sodass er nach vorne stolperte. Kaum hatte er sein Gleichgewicht zurückerlangt, drehte er sich um. Aber da war nur ein Mädchen in einem weißen Kleid mit langen Ärmeln, das am Straßenrand stand. Merkwürdig. Die brütende Hitze machte ihm zu schaffen. Ihre Haut dagegen lag versteckt unter Unmengen von Stoff, selbst ihre Finger. Die blickdichte Strumpfhose endete in geschlossenen Schuhen und auf dem Kopf trug sie einen Sonnenhut, der ihr über die Ohren rutschte. Sie bedeckte damit ihr Gesicht, als sie an Kostja vorbeilief und ihm dabei den pinkfarbenen Rucksack auf ihren Schultern zeigte. Dieses halbe Kind sollte ihm in die Rippen geschlagen haben? Der Gedanke erschien zu absurd. Stopp. Bevor er noch einmal darüber nachdenken konnte, setzte er sich in Bewegung. Kostja rutschte auf den Sohlen seiner Schuhe um die Ecke, stieß sich in der Kurve am Pfosten des Eingangstores ab und rannte über den Hof des Krankenhauses. „Emily!“, brüllte er verärgert. Das Mädchen ignorierte ihn mit Absicht. Obgleich sie bei der Lautstärke seiner Stimme sichtlich zusammenzuckte, rannte sie weiter, bog um eine Ecke und tauchte im Schatten des Nebengebäudes unter. Kostja blieb stehen, seine Augen flogen über die Gesichter der an ihm vorbeigehenden Menschen hinweg. Wo hatte sich dieses kleine Biest versteckt? Er wollte seinen Weg gerade fortsetzen, als er unerwartet am Arm festgehalten wurde. Eine Kraft, mit der er nicht gerechnet hatte, riss ihn zurück. „Guten Morgen ...“, grüßte ihn sein Onkel, mit diesem drohenden Unterton in der Stimme. „Wenn du erlaubst, möchte ich dich daran erinnern: Dass hier ist ein Krankenhaus!“ Kostja schlug das Herz bis zum Hals. Er wollte etwas erwidern, doch die Worte blieben ihm auf Brusthöhe stecken. Sein Onkel war der Leiter des Krankenhauses - ein sanftmütiger Mensch, der jedem Bereich seines Lebens die gleiche Hingabe schenkte. „Hast du ein Mädchen in einem weißen Kleid gesehen? Sie trägt einen Sonnenhut und hat einen pinken Rucksack. Ich muss ...“ „Kostja.“ Auch wenn es sich nur um seinen Namen handelte, wich er automatisch einen Schritt zurück. Doktor Gerassimow nickte, drehte sich um und begab sich ins Innere des Krankenhauses, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Kostja seufzte leise. Er hätte nicht von Emily anfangen dürfen und er sollte nicht vergessen, wo er sich befand. Murrend trottete er ins Krankenhaus, wobei er weiterhin Ausschau nach dem Mädchen hielt, das ihn schon am frühen Morgen in Schwierigkeiten gebracht hatte. Normalerweise schaffte er das ganz gut selbst. Kostja fuhr mit dem Aufzug in den ersten Stock, ging einen langen Flur entlang und begab sich direkt zu den Umkleideräumen. Dort traf er wieder auf Jason. Kapitel 2: ----------- Kostja sah ein, dass er Emily nicht finden konnte. Darum begab er sich zu den Umkleideräumen im ersten Stock und traf dort wieder auf Jason, der vom Oberarzt bereits seinen heutigen Schichtplan bekommen hatte. Als er seinen Spind öffnete, betraten zwei Männer das Zimmer, leise in eine Unterhaltung vertieft. Erschöpfung spiegelte sich in ihren Gesichtern. Sie hatten wohl die Nachtschicht. Es war schier unmöglich, im Krankenhaus einzuschlafen, weil die diensthabenden Ärzte ständig aus dem Bett geklingelt wurden. Kostja kannte ein paar Schwestern und Pfleger, darunter auch Ärzte, die wegen familiärer Umstände nur nachts arbeiten konnten. Wenn er an diesen Tagen am Ende seiner Schicht nach Hause ging und an den Fingern abzählte, wie viele Stunden Schlaf blieben, bis ihm der Wecker wieder Nägel in den Schädel rammte, traten sie gut gelaunt ihren Dienst an. Jason boxte ihm gegen die Schulter, wedelte mit dem Schichtplan und verschwand im Gewusel auf den Fluren. Seufzend schloss Kostja die Tür seines Spinds. Auch er musste sich endlich an die Arbeit begeben. Während er sich auf den Weg machte, zupfte er an den Falten seiner Kleidung. Heute war wieder einer dieser Tage, die er lieber zuhause verbracht hätte. Wenn er schon am frühen Morgen von seinem Onkel zurechtgewiesen wurde, war das immer ein schlechtes Omen. Natürlich hatte Doktor Gerassimow vollkommen Recht. Kostja atmete tief durch. Es brachte ihm nichts, wenn er den Tag verfluchte, bevor er überhaupt begonnen hatte. Er musste seine gute Laune unter allen Umständen behalten. Immerhin wartete ein voller Krankenhausflügel auf ihn. Das würde ein langer, sehr langer Tag werden. Kostja verließ den Umkleideraum, schritt den Flur entlang und blieb vor den Fahrstühlen stehen, die ihre Türen vor seiner Nase schlossen. Tief seufzend suchte er seine innere Mitte. Sein Lächeln verblasste auch dann nicht, als einer der beiden Fahrstühle die höchst magenkranke Mrs. Aber das Sushi war doch noch gut zu ihm brachte. Er grüßte sie freundlich, bevor er die Treppe benutzte. Selbst als sich ein älterer Herr beim Nähen einer Verletzung auf seine Schuhe erbrach, behielt Kostja seine scheinbar positive Einstellung bei. Die Akte eines Patienten ging verloren. Die Operation eines Jungen missglückte. Er musste trauernden Eltern eine Hiobsbotschaft überbringen. Kostja lächelte weiter. Nichts davon durchbrach seine aufgezwungene Maske. Um die Mittagszeit herum fokussierte er sich verbissen auf sein Mantra. Er musste Abstand gewinnen, ruhig bleiben, seine Geduld nicht verlieren. Was immer in diesem Krankenhaus geschah - es nahm keinen Einfluss auf sein Leben. Davon wollte er sich nur zu gern überzeugen. Doch, als er in den Toilettenräumen verschwand, um sich heftig zitternd zu übergeben, wurde einmal mehr die Grenze deutlich, bis zu der er sich selbst belügen konnte. Leichenblass lehnte sich Kostja gegen die Toilettentür, atmete stockend und hob den Kopf in den Nacken. Sein Magen schmerzte. Dieses gottverdammte Krankenhaus. Der Stress. Die anhaltenden Sorgen. Die Erschöpfung. Wie lange konnte er noch so weitermachen? Beruhig‘ dich, Kostja, sagte er sich selbst. Beruhig‘ dich. Es geht dir gut. Er atmete tief durch, brachte seine Erscheinung in Ordnung und lieferte sich ein Wett starren mit seinem Spiegelbild. Dann begab er sich in der Pause in die Kantine. Kostja schritt an den Reihen der Tische entlang, der Geräuschpegel lag weit über dem Erträglichen. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, der am Fenster stand. Jason setzte sich seinem erschöpften Freund gegenüber, vor ihm ein Teller mit in Soße ertränkten Spagetti, auf denen sich ein Berg Fleischklößchen häufte. Nachdenklich kauend betrachtete er Kostja das ein oder andere Mal. „Warum bist du heute so niedergeschlagen?“, erkundigte sich Jason mit einer Gabel Nudeln im Mund. „Ich meine ... Wir reden doch sonst auch über alles. Was ist passiert?“ Kostja hob den Kopf. Der Salzstreuer, den er zwischen seinen Händen auf der Tischplatte hin und her geschoben hatte, blieb auf halbem Weg stehen. „Sag‘ mir jetzt bitte nicht, du machst dir Sorgen um mich“, gab er zurück, hob eine Augenbraue und grinste. „Ich bin einfach nur erledigt. Die letzten Tage hätte man gut auf ein paar Wochen aufteilen können.“ „Als wenn ich mir Sorgen um dich mache ... so weit kommt’s noch“, erwiderte Jason, der sich weitere Nudeln in den Mund schaufelte. „Ich sollte es vielleicht nicht ansprechen, aber ich habe schon seit längerem das Gefühl, das dich etwas bedrückt. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ich höre zu.“ Kostja zuckte die Schultern. „Alles in Ordnung. Ich brauche einfach Urlaub.“ Jason lächelte breit, in seinen Augen blitzte der Schalk. „Gib‘ doch einfach zu, dass du neidisch bist, weil du die Knarre von dieser Security-Frau nicht gesehen hast“, stellte er amüsiert fest, wobei er die Zinken der Gabel fast drohend auf seinen Jugendfreund richtete. Laut aufstöhnend vergrub Kostja das Gesicht in den Händen. Warum hatte er nicht damit gerechnet? Jason lachte herzhaft, während er sich auf dem Stuhl zurücklehnte. Er versuchte, der Zeitung zu entkommen, die auf ihn zuhielt und die ihm die Blödheit mit Klatsch, Tratsch und ausreichend Schwung austreiben sollte. Er kapitulierte mit erhobenen Händen. „Idiot“, tadelte Kostja im Scherz. „Vergiss nicht, dass du mich auf den Schießstand mitnehmen wolltest.“ Jason gluckste. „Hab‘ ich nicht vergessen.“ Während er weiter aß, sah Kostja aus dem Fenster. Seine Augen streiften dabei eine Schar von Menschen, die mit Pappbechern neben einer Baumreihe standen. In ihrer Mitte hielt sich ein junges Mädchen auf, das sich alle Mühe gab unter der Krempe ihres Sommerhutes zu verschwinden. Rote, lange Haare, die sich in glänzenden Wellen über einen pinken Rucksack ergossen. Ein weißes Spitzenkleid und eine blickdichte Strumpfhose. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Überrascht schoss Kostja hoch, die Stuhlbeine rutschten dabei quietschend über den Boden. Da hatte sich dieses kleine Biest verkrochen. Kein Wunder, dass er sie nicht gefunden hatte. Jason folgte mit den Augen denen seines Freundes. „Ist das nicht diese Kleine von heute Morgen?“, fragte er. „Kennst du sie etwa?“ Kostja sank auf den Stuhl zurück. „Willst du dir die Knarre immer noch ansehen?“, wollte er wissen, Emily fest im Blick. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das Teil auch heute bei sich hat.“ „Die Frau vom Sicherheitsdienst ist hier?“ Jason sah sich in der Kantine um. „Wo? Ich sehe sie nicht.“ „Weißes Kleid, neben dem Baum.“ Jason verlor zunächst kein Wort, stattdessen nahm er das rothaarige Mädchen genauer unter die Lupe. „Soll das ein Witz sein? Das ist doch niemals die gleiche Person.“ „Kleider machen Leute.“ Als hätte sie der Unterhaltung gelauscht, wandte sich ihnen Emily zu. Ihre grünen Augen lagen auf Kostja. Sie hob die Hand und ließ sie wieder sinken. Irgendwas hatte wohl ihre Aufmerksamkeit erregt, denn noch bevor er ausatmen konnte, verschwand sie in einem anderen Teil des Hofes. Er stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte. Mit den Fetzen in seinem Kopf wusste er nichts anzufangen. Die Bruchstücke, die er für Erinnerungen hielt, gaben ihm mehr Rätsel auf, als sie lösten. Was sagten ihm die Verhaltensweisen, die er ihr gegenüber am gestrigen Morgen an den Tag gelegt hatte? Er musste - er wollte eine Antwort darauf finden. Kostja lehnte sich zurück, sein Blick lag auf Jason, der sich wieder dem Mittagessen zugewandt hatte. Emily hatte behauptet, ein Vampir zu sein. Er hatte nie an derartige Horrorgestalten geglaubt. Warum machte er es jetzt? Was war mit ihm los? Wieso vertraute er ihr? Sie benahm sich ein bisschen exzentrisch, zugegeben. Aber das war kein Beweis. Zumindest nicht für einen logisch denkenden Menschen. Der Wecker an seinem Smartphone meldete sich schrill zu Wort und Kostja stand auf. Er bat Jason um Entschuldigung, wirbelte auf dem Absatz herum und schritt grübelnd durch die Kantine. Die Angelegenheit mit Emily zog in seinem Verstand immer größer werdende Kreise. Wie sollte er sich auf die Arbeit konzentrieren, wenn sie ihm unaufhörlich durch den Kopf spukte? Sein Schichtplan schickte ihn nach der Mittagspause ins Erdgeschoss zur Ambulanz. Tief durchatmend massierte er sich den Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger. Er hasste die Ambulanz. Kostja machte einen Schlenker an der Anmeldung vorbei, warf einen Blick ins Wartezimmer und schnitt eine Grimasse. Patienten saßen teilweise auf dem Boden, weil es keine freien Stühle mehr gab. Einer seiner älteren Kollegen ging an ihm vorbei, ein Lächeln auf den Lippen. „Die Zeit vergeht schneller, als du glaubst“, wollte er den Assistenzarzt aufbauen, der mit dem Gedanken spielte, einfach zu verschwinden. Ein fast verzweifeltes Grinsen zuckte um Kostjas Lippen. Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch die Haare, trat sich innerlich selbst in den Hintern und öffnete die Tür zur Ambulanz. Im Raum stand eine Krankenschwester, die ihm beim Eintreten die Akte seines ersten Patienten gab. Kurz sah er sich die niedergeschriebenen Daten durch, dann wandte er sich der älteren Dame auf der Liege zu. Er musste jede Überlegung, die sich um Emily drehte, auf später verschieben. Kostja brauchte seine ganze Konzentration. Wieso fiel ihm das nur so schwer? Die Angelegenheit mit der arrangierten Hochzeit beschäftigte ihn ebenso, aber das konnte er während der Arbeit ausblenden. Warum wollte ihm das bei Emily nicht gelingen? Seine erste Patientin hatte einen Ausschlag am Knöchel, dessen Ursache er nicht eindeutig klären konnte, darum schickte er die Frau weiter. Der Nächste litt an Übelkeit, Erbrechen und Fieber. Kostja machte ein paar Tests, verschrieb Medikamente und bat freundlich um einen neuerlichen Besuch, wenn die Symptome nicht abheilten. Auf diese Weise zogen die nächsten Stunden an ihm vorbei. Immer wenn sich das Wartezimmer halbwegs leerte, genehmigte er sich schnell einen Kaffee. Dann ging es schon weiter. Eine Stunde vor Feierabend, als Kostja eine Stammpatientin nach Hause schickte, sah er Adrienn, die in Begleitung eines jungen Mädchens auf das Wartezimmer zusteuerte. Im Arm hielt seine Verlobte einen schwer aussehenden Aktenordner. Hatte sie einen neuen Fall? Adrienn blieb stehen, sprach mit einer Krankenschwester und setzte sich wieder in Bewegung. Das Mädchen verbarg sich hinter ihrem Rücken. „Doktor Gorodezki!“, rief ihm seine Verlobte entgegen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Dabei fiel ihr Anhängsel zurück. „Ich muss Sie sprechen.“ Adrienn benutzte seinen Vornamen im Krankenhaus nicht. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Wenn sich Patienten in der Nähe aufhielten, sprachen sich selbst die engsten Freunde mit dem Nachnamen und ihren Titeln an. Zumindest hier. Sie blieb neben Kostja stehen, scheuchte ihn ins Untersuchungszimmer zurück und schloss die Tür hinter sich, was ihn verwirrte. Das Mädchen, das seiner Verlobten zuvor am Rockzipfel hing, wartete draußen. „Doktor Gerassimow schickt mich zu Ihnen“, erklärte sie und gab ihm eine Akte. „Ich bringe Ihnen eine Patientin. Sie sollen einige Tests durchführen.“ Kostja runzelte die Stirn. „Und warum müssen Sie einen Patienten zu mir bringen?“ Adrienn zuckte die schmalen Schultern. „Weil das eine persönliche Anordnung von Doktor Gerassimow ist.“ „Und seit wann gibt es Patienten, die bevorzugt behandelt werden?“, wollte er wissen und ging zur Tür, um sie einen Spalt zu öffnen. Das Mädchen sah ihn lächelnd an. Adrienn bat sie herein und rückte einen Stuhl zurecht. „Das ist Miss Emily Elizabeth Lyall“, sagte seine Verlobte höflich. „Miss Lyall, wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen Doktor Kostja Gorodezki vorstellen. Er ist einer unserer vielversprechendsten jungen Ärzte auf dem Gebiet der Neurochirurgie.“ Eine seiner Augenbrauen schnellte in die Höhe. Warum war Emily hier? Sollte er sie wirklich untersuchen? Konnten Vampire überhaupt krank werden? Grübelnd betrachtete er das Mädchen, das sich im Untersuchungszimmer umsah. Dabei verrenkte sie sich fast den Hals. Aus einer Ahnung heraus schickte Kostja die Schwester raus, die ihm bisher assistiert hatte. „Sind Sie das erste Mal in einem Krankenhaus?“ „Ja“, gab Emily fröhlich zurück. „Ich muss einräumen, dass ich Krankenhäuser interessant finde … also jetzt ... In der Medizin hat sich so viel getan.“ Sie ging zu einem Schrank und Kostja schloss die aufgezogene Schublade, bevor sie nach einem der Gegenstände fassen konnte. Der Assistenzarzt sah zu seiner Verlobten. „Was ist vorgesehen?“ „Die üblichen Standarduntersuchungen“, erwiderte Adrienn und sah zu dem Mädchen, das die Türen eines Glasschrankes öffnen wollte. „Miss Lyall, das ist ein Krankenhaus und keine Ausstellung.“ Kostja durchquerte den Raum, ergriff Emily beim Ellenbogen und dirigierte sie zur Untersuchungsliege. Schnaufend ließ sie sich darauf nieder. Wenn sie gestern auf ihn wie eine Erwachsene gewirkt hatte, vermittelte sie ihm heute den gegenteiligen Eindruck. Er hatte das Gefühl, einem ungehorsamen Kind nachzulaufen. Möglicherweise lag das auch nur daran, dass sich Emily nach eigener Aussage zum ersten Mal in einem Krankenhaus aufhielt. Wie war das möglich? Er rollte auf einem Hocker an sie heran. „Würden Sie bitte den Mund öffnen und die Zunge rausstrecken“, bat er und leuchtete ihr in den Hals. „Wenn Sie noch nie in einem Krankenhaus waren, gab es bisher keine ernsthaften Beschwerden?“ Kostja steckte die Diagnostikleuchte in seinen Overall zurück, fasste nach ihrem Hals und tastete die Lymphknoten ab. „Schuss- und Stichverletzungen“, erwiderte Emily fidel. „Aber ich musste bisher nie in ein Krankenhaus. Mein Hausarzt hat mich zusammengeflickt.“ Kostja hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Sollte ihn das erstaunen, nach allem, was sie ihm gestern gesagt hatte? Adrienn lag gewiss die ein oder andere Bemerkung auf der Zunge, hüllte sich jedoch in ein bedeutsames Schweigen. „Was ist mit üblichen Kinderkrankheiten? Haben Sie noch Ihre Mandeln? „Die wurden mir aus ästetischen Gründen entfernt. Doktor Grey meinte, die sind nicht hübsch.“ Stirnrunzelnd sah er dem Mädchen ins Gesicht. Warum sagte sie das so fröhlich? Wenn keine Notwendigkeit dazu bestand, sollte ein gesundes Organ nicht entfernt werden. Vor allem nicht aus kosmetischen Gründen. Er sollte sich mit diesem Doktor Grey unterhalten. Ganz in ruhe und gesittet. „Machen Sie bitte Ihren Oberkörper frei.“ Emily hob abwehrend die Hände. „Nicht nötig“, entschied sie, ihre Augen streiften Adrienn. „Es geht mir gut.“ Kostja folgte ihrem Blick. „Machen Sie sich keine Gedanken. Miss Becskei wird Ihnen Ihre Privatsphäre gönnen, während ich Sie wie angeordnet untersuche“, schmunzelte er und deutete auf einen Raumteiler, hinter den Adrienn trat. Emily drehte sich zögernd um, hob die Fülle ihrer Haare und bat ihn, den Verschluss zu öffnen. Kostja gehorchte. „Ich werde Ihren Blutdruck messen, höre mir Ihre Lungen an und dann zeigen Sie mir Ihre ...“ Es war unmöglich, den Satz zu beenden. Als der Stoff fiel, blieben ihm die Worte im Hals stecken. Ihr Rücken war mit Narben gespickt. Vom Nacken bis zum Steißbein. Er konnte gar nicht bestimmen, welche wozu gehörte. Kostja räusperte sich und zwang sich, den Blick abzuwenden. „Drehen Sie sich bitte um“, bat er leise. Seitlich am Bauch machte er eine weitere Narbe aus, die vom Beckenknochen abwärts verlief. Emily ignorierte sein Starren und er war froh, dass sie nichts dazu sagte. Stattdessen betrachtete sie die schwarze Manschette, die er um ihren Oberarm legte. Der Assistenzarzt betätigte das daran befindliche Gerät und die im Stoff eingearbeiteten Luftpolster begannen sich zu füllen.  Zwischenzeitlich ging er zu seinem Schreibtisch, um sich Notizen zu machen. Die Narben auf ihrem Rücken wollte sich Kostja zu einem späteren Zeitpunkt genauer ansehen. Das Gerät piepste und er warf einen Blick auf das Display. Ihr Puls war für einen Menschen zu langsam. Interessant. Aber weil er das in Adrienns Gegenwart nicht ansprechen konnte, notierte er falsche Zahlen in der Akte. Warum machte er das? „Hundertzwanzig zu achtzig. Das ist gut“, meinte er, fasste nach seinem Stethoskop und hörte ihre Lungen ab. „Ich möchte noch ein paar Tests in Bezug auf Ihre körperliche Fitness machen, wenn das für Sie in Ordnung ist.“ „Bist du jetzt fertig?“, fragte Emily resigniert und wippte mit den Beinen. „Ich muss meine Meinung revidieren. Krankenhäuser sind nicht interessant.“ „Nein, sie sind stinklangweilig“, stimmte er amüsiert zu. „Ich brauche noch eine Blutprobe.“ Das Mädchen sprang von der Untersuchungsliege. „Nein!“, rief sie, in den Tiefen ihrer Augen glomm erneut dieses Feuer. Emily richtete ihre Kleidung, das Gesicht von ihm abgewandt. Kostja seufzte. Adrienn, die hinter dem Raumteiler hervorkam, zuckte überfordert mit den Schultern. Sie verstand nicht, warum das Mädchen auf eine Blutuntersuchung so heftig reagierte. Der Assistenzarzt hingegen hatte einen Verdacht. Wenn er die Existenz von Vampiren als Hypothese akzeptierte, dann war es nur plausibel, dass ihr Blutbild Merkmale aufwies, die sich von dem eines normalen Menschen unterschieden. Besaß sie eine Blutgruppe, die sich in das übliche Schema eingliederte? Sein Interesse war geweckt. „Gut“, gab er nach, half Emily erneut mit dem Verschluss und sah zu Adrienn. „Lassen wir das fürs Erste.“ „Aber ... Doktor Gorodezki ...“ Er lächelte beschwichtigend. „Wir können uns ihr Blut nicht mit Gewalt holen, Miss Becskei. Kommen Sie bitte in drei Tagen noch einmal ins Krankenhaus, Miss Lyall.“ Emily sah ihm verwirrt ins Gesicht. „Soll das vielleicht ein Witz sein?“, fragte sie. „Ich wollte mich noch entschuldigen. Wegen heute Morgen, ich ...“ Kostja legte die Hand auf ihre Schulter. „Vergiss es einfach“, bat er freundlich. Der Anwältin blieb der Mund offenstehen. „Ihr Beiden kennt euch?“, wollte sie wissen und das Mädchen nickte. „Warum habt ihr denn nichts gesagt? Dann hätten wir uns diesen ganzen Vorstellungsquatsch sparen können.“ Emily lachte. „Das war witzig“, gab sie zu, deutete erst auf sich und dann auf Kostja, der sich in sein Klemmbrett vertieft hatte. „Wir haben uns in Japan kennengelernt. Da war er noch ein Kind.“ „Sie kennen Kostja, seit er ein Kind war?“, fragte Adrienn und Emily nickte arglos, die Augen größer als sonst. „Miss Lyall, Doktor Gorodezki wird in diesem Jahr 27 … geht es Ihnen auch wirklich gut? Möchten Sie ein Glas Wasser?“ Kostja wurde hellhörig, seine Augen glitten zu dem Geburtsdatum auf der Krankenakte. Laut den Dokumenten war Emily erst vor ein paar Monaten 16 geworden. Sie lief bis über beide Ohren feuerrot an. Offensichtlich war ihr das peinlich. Aber warum hatte sie das gesagt? Natürlich glaubte ihr das niemand. Er stand auf. „Ich habe etwas durcheinandergebracht“, rechtfertigte sich Emily rasch und sah zu dem Assistenzarzt. „Ich sollte jetzt gehen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Miss Becskei. Auf Wiedersehen, Doktor Gorodezki.“ Das Mädchen lächelte, wirbelte auf dem Absatz herum und rannte wie ein Wirbelwind aus dem Raum. Kostja trat seufzend zu seinem Schreibtisch, in der Hand einen Kugelschreiber. Emily war ihm ein einziges Rätsel. Wie alt war sie tatsächlich? Log sie ihn an oder sagte sie ihm die Wahrheit? „Merkwürdiges Mädchen“, bemerkte Adrienn mit verschränkten Armen. Der Assistenzarzt lächelte verhalten. „Stimmt.“ „Kostja“, erklang die Stimme der Anwältin fast drohend. „Du schuldest mir eine Erklärung.“ Er wandte sich seiner Verlobten zu, die mit dem Aktenordner spielte. „Frag‘ mich jetzt bitte nicht, was das war“, antwortete er mit einem Anflug von Hilflosigkeit in der Stimme. Kostja setzte sich, sprang wieder auf und tigerte durch den Raum. „Es stimmt, dass wir uns kennen, aber ich habe sie erst gestern wiedergesehen.“ Adrienn nickte. „Verstehe“, meinte sie und lehnte sich gegen die Kante des Schreibtisches. Ihre Lippen zuckten. „Wie lange kennt ihr euch schon und woher?“ „Das klingt völlig verrückt, aber das weiß ich nicht“, gab er zurück und musste dabei unwillkürlich an sein gestriges Gespräch mit Emily denken. Warum hatte er nicht weiter darauf reagiert, als sie meinte, sie hätte ihn vor zwölf Jahren zu Familie Gorodezki gebracht? „Verrückt?“ „Ich scheine sie schon eine Ewigkeit zu kennen, mein Gefühl sagt mir, dass wir eine Menge durchgemacht haben, aber das ist völlig unmöglich.“ Während Adrienn seinen Worten lauschte, bohrten sich ihm ihre lauernden Blicke in den Nacken. „Klingt wirklich spannend“, gestand sie mit ehrlicher Neugier in der Stimme. Wie ein Kind, das den Weihnachtsmann enttarnen wollte. „Und weiter?“ Kostja lachte freudlos. „Ich finde das eher bedenklich. Man sollte doch meinen, dass ich jemanden, der mir einmal sehr nahestand, nicht einfach vergessen kann. Obwohl ... so kann ich das auch wieder nicht sagen. Ich habe mehr den Eindruck, als müsste ich Emily kennen. In etwa wie einen alten Schulfreund, den du nach einigen Jahren zufällig auf der Straße triffst und mit dem du dich sofort genauso gut verstehst wie früher, aber den du einfach nicht zuordnen kannst und du willst auch nicht fragen.“ Er warf ihr einen Blick zu. Geduldig lächelnd wohnte sie seinen verworrenen Erklärungen bei. In ihren braunen Augen lag etwas, dass er weder benennen noch verstehen konnte. Als Kostja erneut durch den Kopf ging, was er gesagt hatte, drehte sich ihm der Magen um. Es musste für Adrienn beunruhigend sein, wenn er gedankenverloren über Emily sprach. Doch bevor er verlegen werden oder sich rechtfertigen konnte, erreichte ihn eine andere Reaktion. „Also ... ich finde das süß“, durchbrach sie die eingetretene Stille. Ihr breites Lächeln versteckte sie hinter dem mitgenommenen Aktenordner. „Das ist Roman-Stoff vom Allerfeinsten. Ein Junge und ein Mädchen, die schon als Kinder Freunde waren und gemeinsam aufgewachsen sind, aber sich irgendwann aus den Augen verlieren und sich dann Jahre später wiederfinden und nur lückenhafte Erinnerungen aneinander haben.“ Kostja runzelte die Stirn. „So süß ist das nicht.“ Adrienn rutschte lächelnd vom Schreibtisch und ging zur Tür. „Dieses Mädchen scheint dich ganz schön zu beschäftigen. Sie ist wie eine Naturgewalt. Unter anderen Umständen ... und wenn sie tatsächlich dein Alter hätte ... wer weiß.“ Mit dieser rätselhaften Aussage und einem Zwinkern wollte sie den Raum verlassen, doch in Kostja kämpfte eine Frage um Beachtung. „Was schleppst du da eigentlich mit dir rum?“ Adrienn lachte auf. „Das hier?“, hakte sie nach, den Ordner dabei demonstrativ erhoben. Kostja nickte und mit einem Klicken offenbarte sich ihm der ominöse Inhalt. Leere Blätter. Adrienn konnte sich angesichts seines verdatterten Blickes nicht mehr beherrschen und brach in schallendes Gelächter aus. „Entschuldige, ich wollte dich nicht aufziehen. Ich weiß, dass du einen schweren Tag hattest“, gab sie kichernd zu und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Ich habe nur einfach keine Lust den Eindruck zu erwecken, ich hätte zu wenig zu tun. Das bringt die Leute nur auf dumme Ideen. Jetzt muss ich aber wirklich los ...“ Sie ließ den Satz in der Luft hängen, öffnete die Tür und tauchte mit wehenden Röcken im Gewusel des Gebäudes unter. Kostja hingegen brauchte einen Moment. Er mochte Adrienn. Sehr sogar. Nur leider nicht genug. Zwischen ihnen war eine tiefe Freundschaft erblüht, die auf gegenseitigem Respekt beruhte. Aber für ihre Verlobung, die Ehe, gab es keinen Boden. Nicht, dass es seine oder ihre Entscheidung gewesen wäre. Gelegentlich teilten sie das Bett miteinander, das konnte er nicht bestreiten. Aber zu mehr kam es zwischen ihnen nicht. Jeder führte sein eigenes Leben, als würde es die arrangierte Hochzeit, die ihn immer weiter auffraß, nicht geben. Kostja musste sich mit dem Gefühl auseinandersetzen, dass ihm sein Leben nicht gehörte. Er war nur der stumme Zuschauer eines Theaterstücks. Sein Onkel hatte alle Entscheidungen für ihn getroffen. Der Assistenzarzt klammerte sich fast verzweifelt an die Illusion, dass Doktor Gerassimow nur das Beste für ihn wollte. Dabei war dieses Alphatier von einem Familienoberhaupt chronisch blind für die Folgen seiner übertriebenen Fürsorge. Niemand außer Kostja besaß unter den Angestellten ein eigenes Büro. Es gab welche, doch die standen allen zur Verfügung. Der Assistenzarzt presste Daumen und Zeigefinger gegen seinen Nasenrücken. Gefälligkeiten wie einen eigenen Arbeitsbereich, maßgeschneiderte Kleidung oder dass er das Erbe von Doktor Gerassimow antreten sollte, liefen unweigerlich darauf hinaus, dass ihn seine Kollegen bis aufs Blut hassten. Was noch eine Stufe schlimmer wurde, wenn er sich vor Augen führte, dass das Krankenhaus ein Familienbetrieb war. Der Magen drehte sich ihm um, sobald er an seine Cousins dachte. Im Gegensatz zu der offenen Feindseligkeit, die ihn bei jeder Familienfeier erwartete, pflegten diese Unruhestifter im beruflichen Bereich eine etwas subtilere Methode der Kriegsführung. Kostja würgte seine Überlegungen ab und betrachtete das Display seines Smartphones. „Endlich Feierabend“, murmelte er gähnend. Er schnappte sich seinen inzwischen kalten Kaffee, verließ das Untersuchungszimmer und begab sich zu den Umkleideräumen im ersten Stock. Kostja ging rasch duschen, zog sich um und machte sich auf den Heimweg. Er wollte so schnell wie möglich weg von hier. Während er müde durch die Flure des Gebäudes schlurfte, warf er einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne stand schon schräg am Horizont, bereit, ihren Platz mit dem Mond zu tauschen. „Kostja!“ Er erstarrte in seinen Bewegungen, warf einen Blick über die Schulter und glaubte oder hoffte, dass er sich die Stimme nur eingebildet hatte. Im zweiten Moment wurde er eines Besseren belehrt. Jason sprang ihm förmlich auf den Rücken und das Gewicht riss ihn fast von den Füßen. Das breite Lächeln seines Freundes reichte von einem Ohr zum anderen. „Alter, du lässt mich jetzt schon allein?“ Kostja begrüßte seinen Jugendfreund mit einem etwas übertriebenen Handschlag. Es hielten sich keine Patienten in ihrer Nähe auf. „Du musst also noch arbeiten“, stellte er fest. „Ich dachte, du hast auch Feierabend?“ „Nö“, erwiderte Jason mundfaul. „Hab‘ noch zu tun. Ich wollte schon vor ‘ner Stunde bei dir in der Ambulanz vorbeischauen, aber dann war ich beschäftigt.“ Er kramte in seiner Tasche. „Hier, hab‘ dir was mitgebracht.“ Kostja betrachtete das zerdrückte Sandwich, das ihm entgegengehalten wurde. „Ernsthaft?“, fragte er, zwischen seinen Augenbrauen entstand eine steile Falte. „Pah.“ Jason schob das Sandwich wieder in seine Tasche, legte dem gepiesackten Erben des Krankenhauses den Arm um die Schultern und ging mit ihm den Flur entlang. „Wenn du dich hinsetzt, um endlich mal etwas zu essen, fällt Dick und Doof wahrscheinlich gerade dann etwas ein und du darfst dich wieder zum Dienst melden.“ Nur einen Lidschlag später, begann Jason über die Söhne des Krankenhausdirektors zu schimpfen wie ein Rohrspatz. Dabei nahm er kein Blatt vor den Mund. „Du musst dich endlich durchsetzen“, bat Jason zum gefühlten tausendsten Mal. Kostja hatte diese Worte schon so oft gehört, dass es ihm zu den Ohren rauskam und doch gab er seinem Freund gedanklich jedes Mal Recht. Er sollte sich wehren. Er musste für sich einstehen, aber er wusste auch, wie die Geschichte endete. Bei der Vorstellung wurde ihm flau im Magen. Gedankenverloren schritt er durch die Türen, die in den Hof führten. Dort stand er plötzlich einem vertrauten Gesicht gegenüberstand. Sogleich fand Jason Millionen Gründen, warum er ins Krankenhaus zurückkehren musste. „So ein Sack“, murmelte Kostja verdrießlich, seine Augen bohrten sich in den Rücken von Jason, der hinter den Glastüren verschwand. Dann sah er zu dem vor ihm stehenden Mädchen. „Hey.“ Kapitel 3: ----------- Den Kopf zur Seite geneigt, sah ihn Emily an. „Hallo“, sagte sie heiter, mit einer Wasserflasche in der Hand. „Willst du nach Hause?“ Er blieb ihr eine Antwort schuldig. „Das war ein guter Moment, um zu verschwinden“, spielte er auf ihre überstürzte Flucht aus dem Untersuchungszimmer an. „Adrienn glaubt dir nicht, das ist dir bewusst?“ Das Mädchen malte mit der Schuhspitze Kreise auf den Boden. „Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich und warf ihm unter den Strähnen ihrer Vorderhaare einen Blick zu. „Ich habe nicht nachgedacht.“ „Warum erzählst du sowas überhaupt?“, fragte er. Adrienn hatte sicher Recht. Emily konnte ihn nicht seit seiner Kindheit kennen. Jedenfalls dann nicht, wenn die Daten in ihrer Akte stimmten. Sie hob ruckartig den Kopf, in ihrem Gesicht standen tausend Fragen. „Es ist die Wahrheit“, protestierte sie leise. Offenbar verstand sie nicht, wo das Problem lag. „Wir kennen uns, seit du ein Kind warst.“ Es klang verrückt. Und genau darum hatte Kostja beschlossen, dass er noch mehr Informationen über Emily sammeln wollte, bevor er sich ein Urteil bildete. „Wie alt bist du wirklich?“ Also glaubte er ihr. Vorerst. Emily wippte auf den Füßen. „Ich bin 937 Jahre alt.“ Als sie seinen ungläubigen Blick bemerkte, zog sie den Mundwinkel auf der linken Seite in die Höhe. „Du könntest dir die 900 auch einfach wegdenken“, bot sie ihm großzügig an. Kostja ließ sich auf eine Parkbank fallen, die unter einer Eiche stand und starrte mit blassen Wangen auf seine Füße, bevor er in Gelächter ausbrach. Ob aus Sorge um seine Zurechnungsfähigkeit, weil er für einen studierten Menschen nicht genug Zweifel aufbrachte oder auch nur angesichts dieser schier lächerlichen Situation, konnte er nicht mit Gewissheit sagen. Aber das machte jetzt keinen Unterschied mehr. Der Assistenzarzt lachte, bis ihm die Tränen kamen und sich die Augen der umstehenden Patienten und Besucher auf ihn richteten. Dann war das Geburtsdatum auf ihrer Krankenakte doch gefälscht. Verständlich. Kostja sah wieder zu Emily und rang sich ein Lächeln ab. „Ich glaube, 37 würde ich dir auch nicht unbedingt abkaufen.“ Sie dachte kurz nach. „Dann vielleicht ... 20?“ „Ich fürchte, auch dafür siehst du nicht alt genug aus.“ Emily lächelte beschämt, den Kopf gesenkt. „Nein ... Nein. Vermutlich nicht.“ Kostja verwarf das Thema. „Was kannst du mir noch erzählen? Ich will alles wissen.“ Um sein Interesse zu untermauern, stützte er die Ellenbogen auf seine Knie, verschränkte die Finger ineinander und hielt Blickkontakt. Wissbegierde glänzte in seinen Augen. Emily trat nervös von einem Fuß auf den anderen, ihre Wangen färbten sich tiefrot. „Was interessiert dich denn?“ Kostja überlegte. Im Grunde wollte er alles wissen, was er über Vampire in Erfahrung bringen konnte. Verstohlen sah er sich um. Kein Besucher oder Patient stand in ihrer Nähe und nachdem er sich wieder beruhigt hatte, schenkte ihnen niemand weitere Beachtung. Ihre Unterhaltung blieb unbelauscht. „Ich werde dir sagen, was ich glaube zu wissen oder was ich glaube, herausgefunden zu haben.“ Emily nickte. „Und das innerhalb von einem Tag“, lachte sie, während sie an dem Verschluss der Wasserflasche spielte. „Das dürfte interessant werden.“ Kostja musste lächeln. „Ich vermute, dass euer Körper ähnlich wie der menschliche funktioniert. Das bedeutet, deine körperlichen Reaktionen unterscheiden sich nicht unbedingt von meinen.“ Seine Augen glitten über ihr Gesicht, der Mediziner brach an die Oberfläche. „Was mir aufgefallen ist: Du bewegst dich sehr auffällig, wenn die Sonne scheint, und du trägst einen ungewöhnlich großen Hut. Mir macht die Hitze zu schaffen, während deine Haut über und über mit Stoff bedeckt ist. Dir machen die Temperaturen also nichts aus, dafür scheinst du Sonnenlicht nicht so gut zu vertragen. Dass du in Flammen aufgehst oder zu Asche zerfällst, glaube ich nicht, sonst würdest du das Risiko erst gar nicht eingehen. Realistisch wäre für mich eine Art von Lichtempfindlichkeit. Vielleicht Porphyrie?“ „Durch und durch ein Arzt“, bemerkte das Mädchen vergnügt. Kostja machte eine Pause, seine Augen wanderten über ihre reglose Gestalt. Selbst ihre Atmung schien verlangsamt. Emily stand neben der Parkbank, der Wind zupfte an den Strähnen ihrer Haare, das Gesicht hielt sie dem Krankenhaus zugewandt. Bevor sich Kostja umdrehen und ihrem Blick folgen konnte, erreichte ihn eine jugendliche, einfühlsame Stimme, die er schon einmal gehört hatte. Zumindest glaubte er das. „Darf ich bei der Stunde mitmachen?“ Kostja erhob sich auf die Füße, drehte sich um und stand einem jungen Mann mit blonden Haaren und brauen oder roten Augen gegenüber, wobei er Letzteres aus medizinischer Sicht für völlig unmöglich hielt. Außer es handelte sich um Kontaktlinsen. Der Fremde sprang mit Leichtigkeit über die Parkbank hinweg, trat an Emily heran und zog ihr Handschuhe an. „Mein Name ist Nick. Ich bin ihr Adoptivbruder“, erklärte er. „Ich passe auf, dass ihr charismatische Badboys wie du nicht an die Wäsche gehen.“ Kostja wusste sofort, dass es sich bei dem Mann um den Drachen handelte, den Emily tags zuvor erwähnt hatte. Nick wirkte freundlich und offenherzig, doch seine Worte wurden von der dumpfen Ahnung echter Gefahr begleitet und lösten in dem Assistenzarzt leichtes Unbehagen aus. Mit einem Beschützer wie diesem vor Selbstbewusstsein trotzenden Drachen im Rücken, gab es wahrscheinlich nichts auf der Welt, vor dem sich Emily fürchten musste. „Mein Name ist Kostja“, stellte er sich vor, obgleich er den Eindruck hatte, dass ihn dieser Nick bereits kannte. „Und ich glaube, du schätzt mich komplett falsch ein, was meinen Ruf in der Frauenwelt angeht.“ Der Drache lachte und zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon. Zählt doch eh‘ nur, was die Person über dich denkt, die dich mag.“ Sein Blick wanderte an Kostja vorbei. Bevor der Assistenzarzt darauf hätte reagieren können, mischte sich Emily ins Gespräch ein. „Sollen wir dich vielleicht mitnehmen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, wirbelte das Mädchen auf dem Absatz herum, marschierte steif in Richtung Parkplatz und zog einen kleinen Gegenstand aus ihrer Tasche. In der nächsten Sekunde durchdrang ein Zwitschern die Stille. Kostja folgte ihr. Er hatte ohnehin kein Interesse daran, mit Dutzenden von fremden Menschen in einem überfüllten Zug zu stehen. Aber als er die schwarze Limousine entdeckte, der Emily wie selbstverständlich entgegenlief, schienen seine Schuhe am Boden festzukleben. War das ein Witz? Das Mädchen öffnete die Tür, kletterte auf die hinteren Sitze und zog sich den Sonnenhut vom Kopf. Den Schlüssel warf sie auf den Fahrersitz. Kostja quollen fast die Augen aus den Höhlen. Also kein Witz. Er hatte so ein Auto schon einmal gesehen. Es handelte sich um eines dieser Modelle, die so weit außerhalb seiner Gehaltsklasse lagen, dass sie gut und gerne im Buckingham Palace hätten stehen können. Nick schlug ihm auf die Schulter. „Ich habe Ian gesagt, dass er so eine potthässliche Snob-Schaukel nicht kaufen soll“, erklärte der Drache grinsend und ging zu Emily. „Aber auf mich hört der Kerl ja nicht.“ Kostja fand blinzelnd aus seiner Starre. „Wer ist Ian?“, fragte er skeptisch, bevor er sich zu einem voreiligen Seitenhieb genötigt sah. „Versucht er, mit der Limousine irgendwas zu kompensieren?“ Der Drache lachte erneut, drehte sich um und ging rückwärts auf das Auto zu. „Du hast ja keine Ahnung.“ Nick fasste nach dem Schlüssel, den Emily durch den Wagen geworfen hatte, klemmte sich hinter das Steuer und warf ihr einen Blick durch den Rückspiegel zu. Kostja sank auf den Beifahrersitz, der Rucksack lag auf seinem Schoss. Im kühlen Inneren der Limousine roch es nach Leder, klimatisierter Luft und Apfel. Der Assistenzarzt schloss die Tür. Er ließ den Sicherheitsgurt einrasten und kramte sein Smartphone hervor. „Kostja … ich habe dir gestern doch gesagt, dass ich noch arbeiten muss“, begann Emily und hielt ihren Blick aus dem Fenster gerichtet. „Das war wegen Ian. Nick und ich arbeiten für ihn. So etwas wie Personenschutz und Kurier.“ Der Drache überprüfte den Rück- und die Seitenspiegel, dann erwachte der Motor zum Leben. „Ian Colquhoun gehört zu den einflussreichsten Personen in unseren Kreisen“, murmelte er, legte den Rückwärtsgang ein und manövrierte das Auto vom Parkplatz. „Aber der Kerl hat vielleicht ein Ego ...“ Sie redeten, als wüsste Kostja, worum es ging und was sie noch zu ihm sagten, bekam er nur am Rande mit. Während er seine Augen auf die Frontscheibe gerichtet hielt, die Menschen und Autos beobachtete, die an ihnen vorbeizogen, wurden seine Lider immer schwerer. Dass sanfte Schaukeln der Limousine tat sein Übriges.   ***   Das silbrig glitzernde Mondlicht ergoss sich wie flüssige Meeresopale durch das geöffnete Fenster, der laue Abendwind spielte mit den Vorhängen. Der Assistenzarzt rollte sich auf die Seite, das Gesicht vergrub er in den Stoff der Kissen. In der Luft lag der Duft von frisch gefallenem Regen, der sich mit aufgelockerter Erde vermischte. Kiefernadeln, Tannenzweige, Baumrinde. Es roch wie Emily. Was? Er riss die Augen auf, wandte den Kopf zur Seite und sah sich verschlafen um. Wie war er denn nach Hause gekommen? Er stemmte sich hoch. Vor wenigen Minuten saß er in einer Limousine - Emily auf dem Rücksitz, Nick hinter dem Steuer. Er musste im Auto eingeschlafen sein. Zumindest nahm er das an, doch wie konnte er dann in seinem Bett landen? Kostja stand auf, tastete sich durch die dunkle Wohnung - dabei stieß er sich den Fuß am Bücherregal - und schaltete das Licht an. Ein abgerissenes Stück Papier, das auf dem Couchtisch lag, sprang ihm ins Auge. Während er den Fetzen betrachtete, kochte eine böse Vorahnung in ihm hoch und er hoffte inständig, dass er sich irrte.   Kostja,   weil du im Auto eingeschlafen bist, hat dich Nick in deine Wohnung und in dein Bett gebracht. Du solltest dir vielleicht ein paar Tage Urlaub nehmen und ein bisschen ausspannen. Überarbeite dich nicht und pass‘ auf dich auf.   Emily   Peinlich. Kostja schnitt eine Grimasse, ließ den Brief in eine Schublade des Sideboards fallen und schlurfte in die Küche. Kurz sah er auf die Uhr. In weniger als drei Stunden musste er sich wieder im Krankenhaus einfinden. Ihm wurde einmal mehr die Nachtschicht aufs Auge gedrückt. Er aß eine Kleinigkeit, dann hockte er mit angezogenen Knien auf dem Boden, ein Buch in den Händen. Kostja las sich ein Kapitel über Porphyrie durch. Leise murmelnd ging er die aufgezählten Begriffe durch, bis er an einem Ausdruck hängen blieb. Drakula-Symptome. Erythrodontie oder Blutzähne genannt. Photophobie. Eine nettere Umschreibung für Tagschläfer und Anämie, die mit starker Blässe einherging. Konnte es sein, dass eine Erkrankung wie diese zu dem weit verbreiteten Vampir-Mythos geführt hatte? Der Assistenzarzt schüttelte amüsiert den Kopf. Nein, vermutlich waren diese Wesen in früheren Zeiten einfach nur unvorsichtig gewesen. Kostja legte das Buch zur Seite, seine Augen lagen erneut auf der Wanduhr. Nachdem er Emily getroffen hatte, die entgegen jeglicher Vernunft sein Vertrauen besaß, konnte er die Ironie klar und deutlich erkennen. Vampire hatten die Menschen davon überzeugt, dass ihre Rasse auf einer Krankheit beruhte. Kostja schürzte die Lippen, die Neugier fraß sich durch seinen Geist. So weit die trockene Theorie. Aber wie sah es in der Realität aus?   ***   Die nachfolgenden Wochen vergingen wie im Flug, die Tage wurden länger und der ersehnte Sommeranfang hielt mit halsbrecherischem Tempo auf die Hauptstadt Ungarns zu. Emily bemühte sich täglich ins Krankenhaus, um nach Kostja zu sehen. Ihre Ausreden überboten sich in ihrem Einfallsreichtum gegenseitig. Wenn der Assistenzarzt etwas Zeit aufbrachte, blieb sie eine Weile und spielte mit ihm - so lächerlich es klang - in seinem Büro Karten. Jagte er dagegen von einer Station zur nächsten, ging sie schnell wieder. Seinen Cousins machte es einen teuflischen Spaß, wenn sie den Adoptivsohn ihrer Tante mit nervenzerfetzenden Patienten quälen konnten. Kostja nahm die Streiche mit einer Engelsgeduld hin. Dabei fiel er nach diesen Tagen völlig erschöpft ins Bett. Sie verstand sein Verhalten nicht, hatte jedoch aufgehört, diesbezüglich Fragen zu stellen. Emily hielt sich oft im Krankenhaus auf, selbst wenn sie Kostja keinen Besuch abstattete. Sie saß meistens in der Cafeteria mit einem Buch, das den Titel Das erste Date trug, trank die Plörre, die als Kaffee betitelt wurde und wartete darauf, dass sie seine Cousins zu Gesicht bekam. Pünktlich wie ein Uhrwerk konnte sie die Beiden immer um die Mittagszeit herum, in der Nähe des Raucherhofes erspähen. Sie hatte sich dazu entschlossen, dass diese Clowns ihre eigene Medizin zu schmecken bekamen. Man sollte annehmen, dass sie für derartige Streiche schon viel zu alt wäre. Und doch fotografierte sie die beiden heimlich, erstellte am Computer einen Flyer und fügte ihre Handynummern hinzu, die sie im Internet gefunden hatte. Den Aufruf druckte sie zwei Dutzend Mal. Emily musste schmunzeln, als sie sich den Text noch einmal durchlas. Potenzprobleme? Du bist nicht allein. Komm‘ in unsere Selbsthilfegruppe. Dann brachte sie die Zettel in Umlauf, indem sie sie rund ums Krankenhaus verteilte. Das Mädchen schob einige von den Flyern unter die Stapel von Zeitschriften in den Wartezimmern, andere landeten in der Schwesternstation und manche wurden an die Wand geklebt. Mindestens einer musste den Weg in die Hände von Doktor Gerassimow gefunden haben. Emily war zufällig in der Nähe, als die beiden Zielpersonen mit hochrotem Kopf das Büro ihres Vaters verließen. Sie konnte einen Teil des Gesprächs zwischen ihnen hören, als sie an dem Mädchen vorbeigingen. „Beurlaubt? Ich kann nicht glauben, dass unser alter Herr das ernst meint. Ich bin mir sicher, dass Kostja dahintersteckt. Wenn er glaubt, dass er damit davonkommt, dann irrt er sich.“ Emily‘s Magen schien sich zu verknoten. Das war es nicht, was sie beabsichtigt hatte. Natürlich sollten beide Übeltäter beschämt werden, aber doch nicht so. Wenn sie nicht mehr ins Krankenhaus kommen konnten, verschlechterte sich womöglich die Behandlung von Patienten und dann wollten sie auch noch versuchen, Kostja mit hineinzuziehen. Das Mädchen erstickte eine Woche später fast an ihrem schlechten Gewissen. War sie zu weit gegangen? Die beiden hatten einen Denkzettel verdient, das stand außer Frage. Aber als sie für unbestimmbare Zeit von ihrer Arbeit entbunden wurden, mit der Begründung, dass ein derartiger Unsinn dem Image des Krankenhauses schadete, raste ihr das Herz in der Brust. Sie sollte sich entschuldigen, oder nicht? Emily mochte es nicht, wenn sie sich in Bezug auf ihr eigenes Verhalten unsicher war. „Was denkst du?“, wollte sie von dem neben ihr sitzenden Drachen wissen. „War das falsch?“ Nick blätterte die Seite in seinem Buch um. „Bist du denn der Meinung, dass du dich falsch verhalten hast?“, fragte er ruhig, griff nach dem Lesezeichen, das auf dem Tisch lag und wandte sich dem Mädchen zu. „Ich habe es dir doch schon gesagt. Ich weiß, dass du es nicht magst, wenn diese ... wenn sie Kostja schikanieren, aber er muss den Mund aufmachen. Nicht du. Seine familiären Probleme gehen dich nichts an.“ Emily legte die Arme auf den Tisch, bettete ihren Kopf darauf und betrachtete den zum Anwesen gehörenden Garten. Sie saß mit Nick auf der Terrasse, beschützt von einem aufgespannten Sonnenschirm, ihrer Kleidung und dem großen Hut auf ihrem Kopf. Während das Mädchen dem Abendwind lauschte, der leise raschelnd durch die Kronen der Bäume strich, legten sich ihre Wimpern auf ihre Wangen. Nick hatte Recht. Sie musste sich nicht darum kümmern, wenn Kostja von seinen Familienmitgliedern gepiesackt wurde. Das war eine private Angelegenheit. Sie brauchte sich keine Sorgen machen. Und warum hatte sie dann den gegenteiligen Eindruck? Sie fühlte sich hin- und hergerissen. Wie sollte sie damit umgehen? Wenn sie an Kostja dachte, wollte sie ihn mehr als alles andere beschützen. „Ich mag Ungerechtigkeiten nicht“, murmelte sie. „Du solltest sehen, wie sie ihn behandeln. Als wäre er ein Sklave.“ Nick schlug das Buch zu. Er legte seine Hand auf ihren Kopf. Sie wusste, dass sie still getadelt wurde. Emily machte sich um Kostja zu viele Gedanken. Der Drache schob den Einzelband auf den Tisch, lehnte sich zurück und ließ seine Augen auf dem Mädchen ruhen. „Ich wollte dir das eigentlich nicht sagen, aber auch Kostja wurde nach deiner Racheaktion vorläufig beurlaubt“, sagte er. Emily wich das Blut aus den Wangen. „Was?“ Nick zuckte die Schultern. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihm seine Cousins die Schuld in die Schuhe schieben. Die Beiden halten sich für unantastbar, weil sie die Söhne des Direktors sind. Natürlich glauben sie nicht, dass jemand anderes dafür verantwortlich ist … es war wirklich kindisch. Wie bist du eigentlich auf Potenzprobleme gekommen?“ Sie verkniff sich das Lachen. „Ich habe gegoogelt“, gab sie zu. „Und dabei bin ich auf eine Internetseite gestoßen, die 13 Racheaktionen für den Ex-Freund vorschlägt.“ „Okay, aber auch so eine Seite ist kindisch. Darum wirst du dich bei Doktor Gerassimow und seiner Familie entschuldigen“, trug er ihr auf. „Und ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass du die Vier morgen Früh bei der Matthiaskirche antriffst. Sie besuchen jeden Sonntag die Messe um kurz nach zehn Uhr.“ Emily schnitt eine Grimasse. „Warum muss es eine Kirche sein?“, brummelte sie säuerlich, stieß sich vom Tisch ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hasse Kirchen. Selbst, wenn es einen Gott geben sollte ...“ Nick tätschelte ihre Hand. „Es gibt Menschen und Wesen, die an irgendwas glauben müssen, die daran glauben wollen. Dass du das nicht kannst, ist verständlich und auch dein gutes Recht.“ Seine Finger legten sich warm, fast tröstlich um ihre. Der Drache zog sie auf die Füße und trat mit ihr zu den Terrassentüren der Villa. „Und jetzt sei ein braves Mädchen und lass dich von Papa bekochen.“ Sie hob die Faust und der Drache nahm lachend die Beine in die Hand. „Lass das, du Trottel!“ Die aufs Abendessen folgende Nacht verbrachte Emily unruhig. Ihre Träume waren durchzogen von Kirchen, den Abbildern Gottes und gelegentlichen Einbrüchen zu zwei dümmlich lachenden Männern mit Potenzproblemen. Am nächsten Morgen öffnete sie die Augen. Nur ein Albtraum. Emily seufzte erleichtert und sah zu Nick, der seit 500 Jahren jede Nacht neben ihr schlief. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, dann ging sie unter die Dusche. Sie beeilte sich mit dem Anziehen, dem Haare kämmen und Frühstücken. Dann putzte sie sich die Zähne. Es blieb ihr nicht viel Zeit bis zur Morgenmesse. Gerade als Emily aus dem Haus stürmen wollte, hielt sie auf der Türschwelle inne. Wenn sie an eine Kirche dachte, drehte sich ihr der Magen um. Sie schüttelte ihre Überlegungen ab. Es brachte ihr nichts, sich selbst zu bemitleiden. Zehn Minuten später befand sie sich auf dem Weg zur Matthiaskirche. Weil sie keinen Führerschein für ein Auto besaß, griff Emily auf die Honda zurück, die sie im vergangenen Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Sie blieb vor einer Kreuzung stehen, reihte sich in den frühmorgendlichen Verkehr ein und begab sich ins Buda Stadtviertel. Ihr Ziel lag im Herzen des Burgviertels. Emily stellte die Maschine neben einem Schild ab, dass die Matthiaskirche als UNESCO-Weltkulturerbe auswies, ging zum Haupteingang und versuchte, in der Menschenmasse das bekannte Gesicht von Doktor Gerassimow zu finden. Keine leichte Aufgabe bei ihrer Größe. Sie nahm im Schatten den Motorradhelm ab, ihre Augen flogen grübelnd über den Vorplatz. Und als sie die Holy Trinity Statue entdeckte, kam ihr ein Gedanke. Sie stieg auf die höchsten Stufen, um einen besseren Überblick zu bekommen. „Miss Lyall?“ Blinzelnd drehte sie sich um. „Doktor Gerassimow“, sagte sie erstaunt, sprang mit einem Satz von den Stufen der Statue und kam stolpernd vor dem Leiter des Krankenhauses zum Stehen. „Könnte ich kurz mit Ihnen reden?“ Behutsam legte er dem Mädchen die Hand in den Rücken und führte sie in den Schatten der Kirche zurück. „Sie sollten nicht auf die Statue klettern“, gab er ihr zu bedenken. Seine braunen Augen funkelten. „Was kann ich für Sie tun?“ Emily war so nervös, als würde sie vor Gericht stehen, den Strick des Henkers um den Hals. Dieser Mann reichte mit seiner beeindruckenden Körpergröße, den breiten Schultern und den markanten Zügen an Ian heran. Und wirkte genauso einschüchternd. Die Beiden strahlten Autorität, Selbstbewusstsein und Disziplin aus. Es waren Dinge, die Emily nicht besaß. „Doktor Gerassimow, ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen“, brachte sie nur mit Mühe hervor. „Ich war es, die ... die ...“ Sie brach ab. Doktor Gerassimow fasste nach ihrer Schulter. „Ich weiß, dass die Flyer von Ihnen verteilt wurden, Miss Lyall“, half er ihr gutmütig weiter. „Und ich weiß auch, warum sie das gemacht haben.“ Emily hob mit großen Augen den Kopf. „Aber ... warum haben Sie dann ... ich meine ...?“ Er hob seine Hand. „Warum ich Kostja oder meine Söhne beurlaubt habe?“, führte er den Satz zu Ende. Doktor Gerassimow lehnte sich mit dem Rücken gegen die Außenmauer der Kirche. „Das ist einfach zu erklären: Die Drei würden sich den Kopf von den Schultern reißen. Das kann ich in einem Krankenhaus nicht zulassen.“ Unbehaglich fasste sich das Mädchen in den Nacken, die Augen gen Boden gerichtet. „Wie sollen Sie denn auch Kinder, die keine Kinder mehr sind, bestrafen?“, fragte sie nervös. „Sie können ihnen keinen Hausarrest aufbrummen oder ihnen den Fernseher verbieten.“ „Meine Söhne sind wirklich gute Ärzte, das kann ich nicht bestreiten und wenn Kostja das Krankenhaus nach meinem Tod übernimmt, wird er auf ihre Kooperation angewiesen sein.“ „Denken Sie, wenn Sie sich einmischen, könnten das ihre Beziehung zu Kostja noch weiter vergiften?“ Doktor Gerassimow lächelte. „Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, was für eine Gefahr die Beiden in Kostja sehen“, erklärte er, die Hände schob er in seine Hosentaschen. „Aber ich fürchte, dass ich alles schlimmer mache, wenn ich mich einmische.“ „Vermutlich. Es ist wie bei Kindern in der Schule ...“ Emily wurde unterbrochen, als das Läuten der Glocken wie eine Kavallerie über den Platz donnerte. „Jetzt muss ich aber wirklich los. Es war schön, Sie wiederzusehen, Miss Lyall.“ Er hob einen Finger an die Lippen. „Und dieses Gespräch bleibt unser Geheimnis.“ Der Mediziner hastete durch die prächtigen Türen der Matthiaskirche. Emily blieb unschlüssig stehen. Warum sollte das Gespräch ein Geheimnis bleiben? Sie hatte nicht erwartet, dass er ihr verzeihen wurde. Vor wenigen Stunden war ihr nicht einmal bewusst gewesen, dass Doktor Gerassimow den Übeltäter dieses idiotischen Streiches längst überführt hatte oder dass er ihr albernes Verhalten gut und richtig fand. Leise seufzend zog sich das Mädchen den Motorradhelm wieder über den Kopf und begab sich zu ihrer Maschine. Ihre Augen verweilten länger als nötig auf der Kirche. In diesem Gebäude wurden Sissi und Franz zum Kaiser und zur Kaiserin von Ungarn gekrönt, wodurch es eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Emily wandte sich von dem Bildnis ab. Sie wollte bei Kostja vorbeifahren. Sie saß auf, startete den Motor und fuhr los. Der Assistenzarzt wohnte auf der Pester Seite der Stadt, im zwanzigsten Bezirk nahe der Donau. Das Mädchen schaltete einen Gang höher, die Straße fest im Blick. Geschickt schlängelte sie sich an den wartenden Fahrzeugen vorbei, die auf der Kettenbrücke zum Stillstand gekommen waren. Kurz vor der Ausfahrt Széchenyi István tér in südlicher Richtung waren zwei PKWs zusammengeprallt und hatten sich ineinander verkeilt. Sie machte einen Umweg, damit sie den Unfall großflächig umfahren konnte. Dadurch erreichte sie die Wohnung des Assistenzarztes erst nach knapp dreißig Minuten. Die Straßen von Budapest waren an diesem Tag eine Qual. Ihre Maschine ließ sie auf dem Parkplatz vor dem Hochhaus ausrollen, stieg ab und verfrachtete den Motorradhelm im Stauraum unter der Sitzbank. Kurz betrachtete sie sich selbst im Schaufenster eines Gemüsehändlers. Dieser verdammte Helm! Sie sah aus, als hätte sie sich die Haare an den Kopf gekleistert. Emily stieß die Luft aus den Lungen und fuhr sich mit den Händen durch die unfreiwillig gebändigte Mähne, während sie auf die Eingangstüren zuschritt und aus einer Gewohnheit heraus nach dem Griff fasste. Dabei stellte sie verwundert fest, dass nicht abgeschlossen war. Ungewöhnlich. Sie warf einen Blick ins Treppenhaus, sah sich um und stieg über die Treppen in den vierten Stock. Nick hatte sie gefragt, ob sie selbst glaubte, ihr Verhalten sei falsch gewesen. Das konnte sie mit einem klaren Ja beantworten. Doktor Gerassimow konnte diesen kindischen Streich belächeln. Er hatte ihr verziehen. Aber sie selbst hatte sich noch nie zuvor so geschämt. Auf jeden Fall musste sie Kostja die Wahrheit sagen. Und als sie schließlich mit erhobener Hand vor seiner Haustür stand, war ihr trotz gleichbleibender Körpertemperatur, unangenehm kalt. Emily holte nach Luft und drückte mit rasendem Herzen auf die Klingel. Ob er zuhause war? Sie sprang vor Schreck fast an die Decke, als die Tür nach einer gefühlten Ewigkeit aufgerissen wurde. Jason kniff die Augen zusammen, blinzelte und sah ihr ins Gesicht. „Ich kenne dich doch“, lallte er mit schwerer Zunge, seine Wangen waren blutleer, seine Augen rot gerändert. „Du bist dieses komische Mädchen.“ Komisch? Emily hielt die Luft an. Der Geruch von Alkohol drang ihr in die Nase. „Guten Morgen“, sagte sie höflich. „Könnte ich mit Mr. Gorodezki sprechen oder ist das gerade unmöglich?“ Jason zeigte hinter sich und gähnte. „Der hockt unter der Dusche“, meinte er verschlafen. Der Mediziner streckte sich, bevor er in die Wohnung zurück schlurfte. „Komm‘ rein.“ Mit den Zähnen in ihrer Unterlippe warf sie einen Blick ins Wohnzimmer. Als hätte eine Armee darin gewütet. Leere Flaschen kullerten über das Parkett, Chipstüten häuften sich auf dem Boden und dreckige Wäschestücke lagen überall verstreut. Und dann war da dieser unerträgliche Geruch nach Alkohol, der ihre Nase zu erschlagen drohte. Emily schloss die Wohnungstür hinter sich, durchquerte den Raum und riss die Fenster auf. Brummelnd versteckte sich Jason unter der Bettdecke. Gleichzeitig öffnete sich die Tür zum Badezimmer. „Gib‘ mir mal eine Hose!“, rief Kostja, den Arm in den Flur gestreckt. „Und eine Shorts!“ Kapitel 4: ----------- Emily stieß die Luft aus den Lungen. Warum hatte er sich nicht gleich etwas zum Anziehen mitgenommen? Vertieft wühlte sie in den Schubladen seines Kleiderschrankes, öffnete die Türen und erspähte im oberen Regal eine ausgewaschene, blaue Jeanshose. Aus dem unteren Fach zog sie eine Boxershorts. Beides drückte sie Kostja wortlos zwischen die Finger. Er bedankte sich, dann schloss sich die Tür des Badezimmers wieder. Sie hörte ein Klappern, einen Fluch. Der Assistenzarzt kam herausgestolpert, wollte etwas sagen und verstummte bei ihrem Anblick. „Ich wünsche einen guten Morgen“, rief sie verschmitzt. Er nahm das Handtuch von seinem Kopf. „Was machst du hier?“, wollte er verwirrt blinzelnd von ihr wissen. Als der Stoff verschwand, bekam sie seinen nackten Oberkörper zu Gesicht. Emily konnte ihn nur mit großen Augen anstarren, diesen vor Kraft und Vitalität strotzenden Mann mit den filigran definierten Muskeln. Obgleich der Assistenzarzt eher schmal gebaut war, fast zierlich auf sie wirkte - anders als Ian oder Nick - hatte Emily das Gefühl, das Herz sprang ihr aus der Brust. Sie konnte kaum atmen. „Alles in Ordnung?“ Warum brachte sie sein Anblick so durcheinander? Kostja war nicht der erste Mann, den sie nur halb bekleidet zu Gesicht bekam und sicherlich auch nicht der Letzte. Emily hob den Kopf an. Da war etwas in den Tiefen seiner eisblauen Augen, dass sie anzog und herausforderte, wie ein Rätsel, das darauf wartete, gelöst zu werden. Dieser verflixte Mann! Was wollte sie von ihm? Mit zwei ausholenden Schritten überwand Kostja den zwischen ihnen liegenden Abstand. Ihr Blut kochte. Emily war gleichzeitig verwirrt, beschämt und voller Interesse. Dabei hatte sie Ian und Nick des Öfteren ohne Hose gesehen. Unbeabsichtigt. Und es hatte ihr nie etwas ausgemacht. Niemals hatte sie diese Verlegenheit - Emily stutzte. Doch hatte sie und das war schon so lange her, dass sie sich kaum daran erinnerte. Vielleicht hatte sie es aber auch mit Absicht aus ihrem Kopf verbannt. „Ich wollte meine Kleidung holen“, log sie, ihre Augen lagen auf seiner Hose, die ihm tief auf den Hüften hing. „Und meine Schuhe ... aber das gehört ja zum Begriff Kleidung dazu, oder? Also ich meine, eigentlich ist es unnötig, dass ich die Stiefel auch noch extra erwähne ...“ Sie stoppte sich mit Gewalt. „Tut mir leid.“ Kostja lachte auf. „Kein Problem.“ Der Assistenzarzt begann in seinem Kleiderschrank zu wühlen. Emily wippte auf den Füßen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Augen peinlich genau von ihm abgewandt. Sie musste sich wieder beruhigen, die aufsteigenden Bilder verdrängen. Ihr Herz pochte so laut, dass er es mit Sicherheit hören konnte. Frustriert stieß sie die Luft aus ihren Lungen. Sie sollte ihn nicht anstarren! Warum sah sie dann immer wieder zu seinem Hintern, den der Schnitt der Jeans reizvoll zur Geltung brachte? „Möchtest du dich waschen?“, fragte Kostja und Emily fuhr zusammen, wie ein Kind, das er bei etwas Verbotenem ertappt hatte. „Du hast Schmieröl im Gesicht.“ Amüsiert drehte sich der Assistenzarzt um, in den Händen hielt er einen Stapel mit frisch gewaschener Kleidung. „Ich dachte, du würdest es vielleicht gerne wissen.“ Die Farbe in ihren Wangen nahm eine Nuance zu. Kostja hatte es geschafft, dass sie den Grund für ihre Verlegenheit vergessen hatte - wenn auch nur um einem anderen Platz zu machen. „Warum hast du mir nichts gesagt?“ Er zuckte die Schultern. „Hab‘ ich doch jetzt“, gab er zurück. „Das bisschen Schmieröl ist doch kein Weltuntergang.“ Emily schnitt eine Grimasse. „Ich sollte nach Hause gehen. Deine Verlobte wird nicht begeistert sein, wenn sie mich in deiner Wohnung findet“, erklärte sie und rang sich ein Lächeln ab. „Ich weiß nicht mal selbst, was ich eigentlich von dir wollte ... Warte, doch ... ich ... meine Kleidung ...“ „Adrienn ist nicht hier“, war seine einzige Erwiderung. Emily hielt ihre Augen auf die geschlossene Haustür gerichtet. „Das wird sie bald. Ich habe ihren Geruch schon seit fünf Minuten in der Nase.“ „Dann ist es wahr?“, fragte Kostja überrascht, warf einen Blick zu Jason, der sich unter seiner Bettdecke verkrochen hatte und senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Dass Vampire einen ausgeprägten Geruchssinn haben?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Möglich“, schmunzelte sie, ein Muskel in ihrer Wange zuckte. „Jetzt wasch‘ dich endlich“, wiederholte sich Kostja, drehte sich um und trat zu seinem Kleiderschrank. Er zog ein schwarzes T-Shirt unter einem Stapel hervor. „Adrienn wird dich schon nicht auffressen.“ „Auf deine Verantwortung“, gab das Mädchen zurück, eilte ins Badezimmer und schlug die Tür lauter als nötig hinter sich zu. Emily lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, die Luft stieß sie mit einem Seufzen aus ihren Lungen. Konnte es sein, dass sie viel zu viel Zeit mit Kostja verbrachte? Seit ein paar Wochen verstand sie sich selbst immer weniger. Was waren das für Gefühle, die ihr Herz in Aufruhr versetzten? Sie mochte das nicht. Seufzend trat sie an das Waschbecken heran, drehte den Kopf zur Seite und studierte den Fleck an ihrer Wange im Spiegel. Ohne Zweifel Schmieröl. Suchend sah sie sich um und entdeckte in einem kleinen Schrank für Putzutensilien ein Waschmittel unbekannter Marke. Emily wusch sich das Gesicht, trocknete sich ab, wobei sie sich im Spiegel selbst in die Augen sah und wandte sich dann der Tür zu. Gedämpft drang die Stimme von Kostja durch das Holz. Er begrüßte Adrienn. Die Beiden passten wunderbar zusammen. Sie verstanden sich gut und es gab kaum Differenzen. Im Grunde die perfekten Voraussetzungen für eine harmonische Partnerschaft. Emily betrachtete ihre Hand, die sich zitternd auf die Türklinke legte. Es fühlte sich falsch an, dass sie sich in seiner Nähe aufhielt, mit einer Selbstverständlichkeit, die sie erschrecken sollte. Es war genauso wie bei Nick. Obwohl er andere Verpflichtungen hatte, kümmerte er sich unermüdlich um sie. War sie eine Last? Sie fluchte so unflätig wie ein Taxifahrer im frühmorgendlichen Berufsverkehr. Nein, kein Drama, kein Selbstmitleid. Jeder Mensch und jedes Wesen auf diesem gottverdammten Planeten traf Entscheidungen aus eigenen Beweggründen. Kostja wollte mit ihr befreundet sein und Adrienn schien sich nicht daran zu stören. Nick hatte schon Oft betont, dass er sich um seine leiblichen Geschwister genauso liebevoll gekümmert hätte. Warum fühlte sie sich dann so scheußlich, als stünde sie vor Gericht? Emily fasste sich ein Herz, drückte die Klinke nach unten und begab sich mit einem aufgesetzten Lächeln ins Wohnzimmer. Zwei Augenpaare - blau und braun - wandten sich ihr zu. „Ach, stimmt ja. Emily kam vor einer halben Stunde vorbei, um ihre Kleidung zu holen. Ich hatte dir doch neulich gesagt, dass wir uns vor ein paar Wochen durch Zufall getroffen haben, und an dem Tag hat es wie aus Kübeln geregnet“, erzählte Kostja seiner Verlobten, die der Geschichte aufmerksam folgte. „Ich habe ihr angeboten, dass sie bei mir duschen kann. Ihre Kleider habe ich gewaschen und irgendwie haben die bis jetzt bei mir rumgelegen.“ Während Kostja die Geschehnisse detailliert wiedergab, holte er Gläser, eine Flasche Saft und eine Tüte Chips, um seiner Verpflichtung als Gastgeber nachzukommen. Emily wollte sich leise an Adrienn vorbeistehlen, wurde von der Anwältin am Arm festgehalten und zu einem Stuhl in Fensternähe dirigiert. Adrienn neigte den Kopf zur Seite. Ihr amüsiertes Lachen durchbrach die in der Luft liegende Anspannung. „Tut mir leid“, brachte sie hervor. „Das ist mir jetzt unangenehm. Ich habe tatsächlich vergessen, eifersüchtig zu werden.“ Sie wandte sich an Emily. „Entschuldige, aber du musst nicht weglaufen.“ Kostja holte ein Glas Wasser, in das er ein Aspirin fallen ließ. „Du bist unmöglich.“ Sie trat auf den Assistenzarzt zu und tätschelte ihm lachend den Kopf. „Du musst mir nicht erklären, warum du weiblichen Besuch hast. Vor allem nicht so genau, als würdest du eine Aussage bei der Polizei machen.“ Ein wissender Blick zu Emily folgte, die sich auf ihrem Stuhl verkrampfte und während sie Adrienn beobachtete, wurde ihr etwas eng in der Brust. „Emily hatte dir gegenüber Bedenken“, wandte Kostja lachend ein. „Sie wollte nicht, dass du einen falschen Eindruck von unserer … Beziehung zueinander bekommst.“ Adrienn pendelte zwischen Kostja und Emily. „Ihr seid ja süß! Und anständig, das wollen wir nicht vergessen. Ich bin ohnehin der Meinung, dass die meisten Dramen nur durch zu wenig Kommunikation und Verständnis entstehen. Da fällt mir ein ...“ Adrienn redete und redete. Sie war wie ein Wasserfall, der kein Ende fand. Emily klinkte sich spätestens nach dem Thema mit den kuscheligen Elefanten im Zoo aus. Sie nahm sich ein Glas, goss sich etwas von dem Orangensaft ein und ließ ihre Überlegungen auf Wanderschaft gehen. Diese Anwältin benahm sich nicht wie eine Frau, die in wenigen Monaten vor dem Traualter stand. Stattdessen schien Kostja mehr wie einer ihrer besten Freunde zu sein. Aus welchen Gründen heirateten sie? War das normal? Unwillkürlich musste Emily an Nick und Ian denken. Dass sie ineinander verliebt waren, erkannte selbst ein Blinder. Doch wenn sich diese beiden Sturköpfe zusammen in einem Raum aufhielten, stand die Luft in Flammen. Sie schrien, sie stritten und sie gingen sich verbal an die Kehle. Das war ein Kräftemessen, dessen Ausgang nur die beiden kannten. Sobald der erste Stuhl oder die erste Vase gegen die Wand donnerte, hielten selbst die Bediensteten wohlweislich Abstand. War das normal? Adrienn klatschte in die Hände. „Das hätte ich fast vergessen! Eigentlich wollte ich dir noch etwas erzählen, Kostja. Ich habe deinen Onkel zufällig in der Stadtmitte getroffen. Er hat mir gesagt, dass nächsten Monat ein neuer Arzt im Krankenhaus anfängt, der einen Assistenten haben will. Aber er hat sich nicht mit irgendjemandem zufriedengegeben. Du sollst die Stelle bekommen und wenn ihm der Wunsch verwehrt wird, dann soll Doktor Gerassimow bleiben, wo der Pfeffer wächst, um den Kerl zu zitieren. Vielleicht kennst du ihn, sein Name lautet Doktor Albert Grey. Scheint ein Engländer oder Amerikaner zu sein, aber mehr weiß ich auch nicht über ihn.“ Kostja ließ seinen Blick zu Emily gleiten. „Den Namen habe ich schon einmal gehört“, erwiderte er und leerte das Glas mit dem Aspirin in einem Zug. „Was hat mein Onkel dazu gesagt?“ „Dein Onkel hat zugestimmt. Er meinte, er könnte es sich nicht erlauben, dass Doktor Grey den Posten im Krankenhaus ausschlägt, weil er wohl zu den besten Ärzten im Bereich der Neurochirurgie gehört. Vermutlich hätte ich dir das etwas schonender beibringen sollen. Tut mir leid.“ Abwehrend hob Kostja die Hand. „Du musst dich nicht dafür entschuldigen“, erklärte er seiner Verlobten amüsiert. „Ich bin schon gespannt, was das für ein Kerl ist. Sollte er mir unsympathisch sein, kann er bleiben, wo der Pfeffer wächst.“ Emily verschluckte sich fast an ihrem Orangensaft. Doktor Grey war ein vampirischer Arzt, der von Ian während des Ersten Weltkriegs verwandelt wurde. Seitdem stand er in den Diensten der Familie Colquhoun. Er kümmerte sich um alle Wesen, die seiner Hilfe bedurften und besaß eine eigene Praxis in der Innenstadt, die mit den modernsten Technologien ausgestattet war. Warum wollte er in einem Krankenhaus arbeiten? Wahrscheinlich hatte Ian seine Finger im Spiel. Damit erklärte sich die völlig absurde Anordnung vor ein paar Wochen. Sie hatte ohnehin nicht verstanden, warum sie die Klinik von Doktor Gerassimow unter die Lupe nehmen, und Bericht erstatten sollte. Ein Würgen riss sie aus ihren Überlegungen. In der nächsten Sekunde sprang Jason auf die Beine, stürmte durch den Raum und verschwand mit einem Hechtsprung im Badezimmer. Kostja erhob sich auf die Füße. Er entschuldigte sich bei seinem Besuch, dann folgte er Jason und schob die Tür ins Schloss. Adrienn lachte. „Kostja hat sich wirklich gefreut, Sie wiederzusehen, Miss Lyall. Er hat das nicht gesagt, aber es stand ihm ins Gesicht geschrieben.“ Sie schwenkte den Orangensaft in ihrem Glas. „Ich hatte immer das Gefühl, dass etwas Wichtiges in seinem Leben fehlt. Sie müssen ihm sehr viel bedeuten.“ Emily grub die Zähne in ihre Unterlippe, ihre Augen lagen auf ihren Händen. Sie wollte nicht mit Adrienn allein sein und sie wollte nicht über ihre Beziehung zu Kostja reden oder über diese seltsamen Gefühle, die sie in seiner Nähe überkamen. Im Grunde wollte sie gar nichts sagen. Als sie sich vor ein paar Wochen im Krankenhaus aufgehalten hatte, führte sie mit der Anwältin keinen lockeren Smalltalk. Sie hatte sich auf das Wesentliche konzentriert. Emily konnte sich schwach daran erinnern, dass sie manchmal mit Menschen gesprochen hatte, aber sie wusste nicht mehr worüber. Nachdem sie im Alter von nicht einmal sieben Jahren zu Nick gekommen war, lebte sie isoliert in einer Burg in den schottischen Hochebenen. Sie war schon früh der Welt der Wesen begegnet, wuchs unter ihnen auf und lernte sie und ihre Lebensweise zu verstehen und zu lieben. Mit 16 stand sie dann der alles entscheidenden Frage gegenüber, ob sie zu ihnen gehören wollte oder nicht. Emily hatte sich für Nick entschieden - für die Familie, die sie in ihm gefunden hatte. Er war die einzige Person gewesen, zu der sie einen festen Bezug entwickelt hatte. Ian hatte sie nicht nur zu einem Vampir gemacht, er schenkte ihr zudem ein Leben, das sie gemeinsam mit diesem Drachen führen konnte. Sie hatte seit 931 Jahren nur selten mit Menschen geredet, denen die Welt der Unsterblichen verschlossen geblieben war. Und jetzt saß sie hier. Ihre Augen flogen zu der geschlossenen Badezimmertür, durch die gedämpfte Würgelaute und Flüche drangen. „Er hat mir erzählt, dass ihr heiraten werdet. Glückwunsch“, wechselte Emily das Thema. Sie hatte den Eindruck, aus einem Manuskript vorzulesen „Gibt es schon ein konkretes Datum?“ Adrienn schien es nicht zu bemerken. „Ich möchte eine romantische Herbsthochzeit“, antwortete sie verträumt, ihre Augen glitten über Emily hinweg. „Willst du vielleicht meine Brautjungfer sein? Die Kleider bestehen aus gelbem Samt. Du wirst sicher hinreißend darin aussehen.“ „Warum gelb?“ „Spontaner Einfall. Ich mag Rothaarige in Gelb.“ Emily presste die Lippen zusammen, die Stirn in Falten gelegt. Was sollte bitte eine Brautjungfer sein? Sie setzte ein Lächeln auf, um ihre eigene Unsicherheit zu kaschieren. „Das würde ich wirklich gerne“, erklärte sie mit gespielter Freude und hoffte, in ihrer Rolle authentisch zu wirkte. „Aber ist Kostja damit einverstanden?“ Zumindest nahm sie an, dass der Bräutigam ein Mitspracherecht hatte. Warum musste es so schwierig sein, sich mit Menschen zu unterhalten? Adrienn winkte ab. „Er hat nichts zu melden und das weiß er“, erklärte sie belustigt, stand auf und ergriff die Hände des Mädchens. „Mach‘ dir keine Gedanken.“ Die Tür zum Badezimmer öffnete sich. Jason kam herausgetorkelt, weiß wie die Farbe an der Wand. Kostja folgte ihm, einen Putzlappen zwischen den Fingern. Emily runzelte die Stirn, befreite sich von Adrienn und stand auf. Hart trommelte ihr das Herz gegen die Rippen. Warum konnte er nicht aussehen wie eine schleimige Kröte? „Miss Becskei hat mich gefragt, ob ich ihre Brautjungfer sein möchte“, warf sie in den Raum und klang dabei nicht ganz so begeistert wie erhofft. Kostja öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu und sah mit starrer Miene zu Adrienn. Emily wusste nicht, was sie von der Reaktion halten sollte. Mochte er die Vorstellung nicht, dass er sie auf seiner Hochzeit zu Gesicht bekam? Es fiel ihr schwer, den Assistenzarzt einzuschätzen. „Ich muss nach Hause“, erklärte Emily verkrampft lächelnd. „Mein Bruder wartet auf mich. Ich wünsche noch einen schönen Tag.“ Adrienn trat auf sie zu. „Warte.“ Das Mädchen drehte sich auf dem Absatz um und spürte einen Schmerz, der sie unerwartet heftig traf. Diese Frau war unglaublich schön. Hochgewachsen und gertenschlank, mit endlos langen Beinen, sanft gerundeten Hüften und einer üppigen Oberweite. Emily ließ gedanklich den Kopf hängen. Mit 16 hatte sie nicht darüber nachgedacht, dass ihre körperliche Entwicklung durch die Verwandlung in einen Vampir gänzlich zum Stillstand kam. „Die erste Anprobe findet nächsten Monat statt. Wenn das für dich in Ordnung ist, lasse ich mir von Kostja deine Handynummer geben und werde dich dann rechtzeitig informieren.“ Adrienn stieß ihrem Verlobten den Ellenbogen in die Rippen. „Bring‘ sie nach Hause. Es gibt einfach zu viele Kinder, die sich für Gangster halten.“ Kostja grinste. „Die gibt es auch hier drin.“ Der Assistenzarzt übergab seiner Verlobten den Putzlappen, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und kämpfte sich in seine Schuhe. Er hatte die Haustür noch nicht ins Schloss gezogen, als mehrere Chipstüten schimpfend an ihm vorbeiflogen. „Daneben“, rief Kostja grinsend. „Ich verstehe nicht“, sagte Emily, als er nach ihrer Hand fasste. Lachend lief er die Treppe runter, flüchtete über die Straße und versteckte sich in einer Gasse. Der sonst so ernste Assistenzarzt zeigte eine fast spitzbübische Kindlichkeit, ein Feuer, dass sie nicht erwartet hatte und dass sie fesselte, mitriss und in ihr loderte. Er wartete einen Moment, dann setzte er seinen Weg fort. Wie zwei Teenager, die etwas angestellt hatten, liefen sie lachend durch die Straßen von Budapest, wichen ungeschickt entgegenkommenden Passanten aus und animierten ein paar Autofahrer zu einem wütenden Hupkonzert. Emily war verwirrt, aber sie hatte schon seit einer sehr langen Zeit nicht mehr so viel Spaß gehabt. Kostja blieb neben einem Restaurant stehen, schnappte nach Luft und sah keuchend zu dem Mädchen, das am liebsten niemals aufhören wollte zu rennen. „Geschafft“, brachte er gut gelaunt hervor. „Jetzt hat sie Jason am Hals.“ Emily stimmte in sein Lachen ein. „Du spinnst doch.“ Seine Augen funkelten. „Auf jeden Fall.“ Weil er nicht länger auf der Flucht zu sein schien, schlenderte er mit Emily gemütlich durch die dunklen Straßen der Stadt und erzählte ihr nebenbei von Dingen, die ihn interessierten. Bis er unerwartet das Thema wechselte. „Wie kommt es eigentlich, dass dich Adrienn als ihre Brautjungfer möchte?“ Emily errötete peinlich berührt. „Also, um ehrlich zu sein ...“, druckste sie und zerknautschte den Stoff ihrer Kleidung zwischen den Fingern. „... ich habe keine Ahnung, was eine Brautjungfer ist. Ich habe nur aus Höflichkeit zugesagt.“ Der Assistenzarzt blieb unvermittelt stehen. „Ohne Scheiß?“, hakte er verdattert nach. Die Augen auf sein Gesicht gerichtet, schürzte Emily die Lippen. „Du bist gemein.“ Kostja tätschelte ihre Schulter. „Im Prinzip sind das die engsten Freundinnen der Braut. Adrienn hat bisher niemanden gefragt und dich kennt sie gar nicht, darum hat es mich überrascht.“ Die Zähne in ihrer Unterlippe vergraben, die Arme vor der Brust verschränkt, wog Emily nachdenklich den Kopf. Sie versuchte, sich vorzustellen, dass Adrienn eine Freundin in ihr sah, doch zu ihrem Leidwesen scheiterte sie kläglich. Kostja betrat die menschenüberfüllte Metró am Ferenciek Platz. Während sie über die Stufen gingen, griff er nach ihrer Hand, zog sie hinter sich und kämpfte sich mit ihr durch die Masse von Pendlern. Gemeinsam traten sie auf den Bahnsteig, wobei sie haarscharf einem Dutzend Männern und Frauen auswichen, die mit Aktenkoffern, Regenschirmen und Taschen hantierten und über das verzögerte Eintreffen der blauen Linie M3 schimpften. Emily stellte sich auf ihre Zehenspitzen, reckte den Hals und flüsterte Kostja ins Ohr. „Was muss ich machen?“, wollte sie von ihm wissen. „Ich meine, eine Brautjungfer muss doch für irgendwas gut sein.“ Er fing seine Begleiterin auf, nachdem sie von einer älteren Frau zur Seite gestoßen wurde, die sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menschenmenge erkämpfte. „Soweit ich weiß, bist du jetzt ein Helfer der Braut“, beantwortete er ihre Frage mit einem Lächeln. „Adrienn wird dich nach deiner Meinung fragen und dich bei sämtlichen Planungen zu Rate ziehen. Im Prinzip musst du dafür sorgen, dass sie sich ganz auf ihren großen Tag konzentrieren kann.“ Emily guckte schief. „Kann sie dafür nicht einen Partyplaner engagieren? Das macht Ian immer, damit er sich nicht um lästige Details kümmern muss.“ Der Assistenzarzt lachte abermals. „Mach dir keine Sorgen, ich kenne Adrienn. Dass sie etwas aus der Hand gibt, kann ich mir nicht vorstellen. Natürlich ist so eine Hochzeit eine riesengroße Belastung und allein kaum zu bewältigen. Mich hat sie aus ihren Plänen ausgeschlossen, weil ich es gewagt habe den Herbst-Aspekt unterschwellig zu kritisieren.“ Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. „Toll“, sprudelte es aus Emily hervor. Hilflos warf sie die Arme in die Luft. „Ähm ... nicht, dass ich mich nicht geehrt fühle ... glaube ich jedenfalls. Nur ... ich bin wohl die letzte Person auf diesem Planeten, die auch nur den blassesten Schimmer davon hat, wie sie mit Menschen umgehen soll.“ Als Kostja sie zweifelnd ansah, fügte sie erklärend hinzu: „Ich habe den größten Teil meines Lebens isoliert gelebt und jetzt habe ich einfach kein Interesse mehr an Menschen.“ Kostja lächelte. „Keine Angst, du schaffst das. Adrienn und du, ihr werdet super miteinander auskommen“, versuchte er, die Sorgenfalten auf ihrer Stirn wieder zu glätten. „Ich kann mir nichts anderes vorstellen. Und wenn es dir wirklich zu viel wird, kannst du es ihr auch offen sagen. Sie schätzt Ehrlichkeit.“ Bevor Emily etwas erwidern konnte, rauschte ein blank polierter Zug in die Station ein, gefolgt von einem kalten Windstoß, der sie fast von den Füßen riss. Die Türen öffneten sich mit einem vernehmlichen Zischen. Kostja fasste nach ihren Schultern, zog sie von der über den Boden verlaufenden Markierung weg und schob das Mädchen hinter seinen Rücken.  Die aussteigenden Menschen hätten sie in ihrer Ungeduld niedergetrampelt. Zeitgleich quetschten sich die auf dem Bahnsteig wartenden Pendler in die vollgestopften Waggons. Das führte dazu, dass innerhalb von Sekunden ein Gewirr von durcheinanderschreienden Stimmen die Metró am Ferenciek Platz durchzog. Es war das gleiche Theater wie jeden Tag. Kostja ergriff Emily an der Hand, nutzte den Moment, als sich eine Frau und ein Mann gegenseitig anbrüllten, und sprang in den Zug, der den beiden Streithähnen vor der Nase wegfuhr. Er führte Emily zu einem freien Sitzplatz. „Vielleicht sollte ich mir die nächste Brautjungfer aussuchen“, nahm er das Gespräch wieder auf und grinste. „Einfach nur um sie zu ärgern.“ „Nimm‘ Jason“, schlug ihm Emily lachend vor. „Er würde in einem gelben Samtkleid sicher bezaubernd aussehen.“ Den Rest der Fahrt verbrachten sie damit, sich einen Plan nach dem anderen auszudenken, die sich in ihrer Idiotie stets mühelos überboten. Angefangen von Ring tragenden Ziegenböcken über Wildschweine im Jackett bis hin zu Flamingos, die die Bowle ausschenkten. Kostja spielte mit dem spontanen Einfall, eine deutsche Rockband anzuheuern. Emily fand ein Hochzeitskleid in allen Regenbogenfarben mit pinken Einhorn-Schuhen eine gute Idee, ebenso, dass die Gäste eine Schweinemaske aus Pappmaschee trugen. Offenbar fühlten sich die übrigen Passagiere durch die Unterhaltung gestört, denn nach drei Stationen hatten sich die Sitzplätze um sie herum geleert. Die beiden sahen einander spitzbübisch an, dann brachen sie in Gelächter aus. An der nächsten Haltestelle verließen sie den Zug. „Emily, ich will dir schon länger etwas sagen“, murmelte Kostja, die Hände in den Hosentaschen. Seine Mundwinkel zuckten. „Du bist wirklich klein.“ Bevor sie sich auf ihn hätte stürzen können, die Fäuste erhoben, hielt er ihre Arme fest. „Damit wollte ich dich nicht beleidigen.“ Sie lachte unbeschwert. „Das weiß ich.“ „Es ist nur ... wenn ich dich ansehe, ohne daran zu denken, wie du dich gibst oder wie alt du tatsächlich bist, habe ich das Gefühl, dass ein Teenager vor mir steht.“ Er stieß die Luft aus seinen Lungen. „Heute Morgen habe ich von dir geträumt und was ich geträumt habe, dazu habe ich kein Recht. Du bist eine gute Freundin für mich, teilweise bist du wie eine kleine Schwester. Aber seit ich diesen Traum ... gottverdammt, irgendwas hat sich verändert. Als du mich heute so angestarrt hast, wusste ich, dass du ganz sicher kein Kind bist und ...“ Bevor er sich weiter um Kopf und Kragen reden konnte, fiel ihm das Mädchen ins Wort: „Kostja, atmen. Das war nur ein Traum. Du brauchst dich nicht schämen. Ich glaube, das ist völlig normal.“ Spielerisch schlug sie ihm gegen den Arm. „Außerdem wirst du bald heiraten. Du kriegst langsam kalte Füße. Alles in Ordnung.“ Kostja nahm Emily in den Schwitzkasten und zerzauste ihr die Haare. „Du bist ganz schön frech. Mach nicht plötzlich einen auf Erwachsen. Das ist unheimlich.“ Lachend klopfte sie ihm auf den Arm und er ließ sie los. Gemeinsam streiften sie durch einen etwas entlegeneren Teil der Stadt, der nach ein paar Querstraßen an den Városliget angrenzte. Die an den Straßenecken stehenden Lampen wurden flackernd in Betrieb genommen. Emily dachte darüber nach, dass Kostja eine interessante Feststellung gemacht hatte. Ob das bewusst passiert war, konnte sie nicht sagen. „Ich werde mich nicht mehr weiterentwickeln. Durch die Verwandlung in einen Vampir, werde ich bis in alle Ewigkeit 16 bleiben, Kostja. Nur mein Geist reift weiter.“ Sie seufzte auf. „Das ist eines der Dinge, um die ich Adrienn beneide.“ Kostja hüllte sich in Schweigen. „Darum steht in deiner Krankenakte das du 16 bist.“ Er sah sie an. „Wer hat dir das angetan?“ „Niemand. Ich wollte das ... dieses Leben.“ Damit war das Thema beendet. Nachdem sie ein schmiedeeisernes Tor erreicht hatten, versuchte Kostja, einen Blick auf das riesige Haus dahinter zu erhaschen. Er sah aber nur Bäume, Gras, einen Kiesweg und Schatten. „Ich würde gerne sagen, dass du es ganz schön hier hast, aber das Ding gibt leider nicht viel her.“ Das Mädchen schmunzelte. „Du könntest auch nicht mehr sehen, wenn das Tor offenstehen würde“, erwiderte Emily gut gelaunt. „Der Garten ist wirklich riesig.“ Kostja stieß sie humorvoll zur Seite. „Gib nicht so an, du Snob“, zog er sie auf. „Dafür hast du es gemütlich“, gab sie zurück, trat an das Tor heran und schlang ihre Finger um eine Stange. „Deine Wohnung ist zwar klein, aber das mag ich.“ Sie warf ihm einen rätselhaften Blick zu. „Ich möchte dich etwas fragen, aber versteh‘ mich bitte nicht falsch.“ Kostja nickte. „Schieß los.“ Sie drehte sich um, holte tief Luft und fühlte, wie ihr die Hitze über den Hals in die Wangen kroch. „Ich würde gerne wissen, ob du mich ...“ Beschämt spielte sie mit ihren Fingern. „Also ... findest du mich ... findest du mich attraktiv?“ Er riss die Augen auf. „Was?“ „Ich habe dir doch gesagt, du sollst es nicht falsch verstehen. Ich möchte nur, dass du mir eine ehrliche Antwort gibst. Ich habe dir erzählt, dass ich nicht mehr wachsen werde und auch, wenn es keinen Mann gibt, an dem ich ein besonderes Interesse habe, stelle ich mir doch die Frage, ob ich im Fall eines Falles überhaupt Chancen als Frau habe oder überhaupt als Frau durchgehe.“ Kostja kratzte sich am Hinterkopf. Emily hatte ihm ihre Frage ohne Gefühl gestellt. Sie empfand nichts Nennenswertes dabei. Sie hatte sich mit der Vorstellung, auf ewig diesen Körper zu besitzen angefreundet. Wenn sie einen Blick in den Spiegel warf, sah ihr dieses Gesicht daraus entgegen. Ein Gesicht, das sie eigentlich ganz gerne hatte und das seine Vorzüge besaß. „Muss ich die Frage beantworten?“, wollte Kostja leidend wissen und als Emily nickte, sah er ein, dass er keine Wahl hatte. „Du entsprichst nicht ganz meinem Geschmack. Sorry. Du bist mir persönlich zu dünn und zu klein. Aber wenn wir uns als Fremde auf offener Straße über den Weg gelaufen wären, hätte ich mich definitiv nach dir umgedreht. Du hast etwas an dir, dem man sich nur schwer entziehen kann und du bist trotz deines jugendlichen Aussehens sehr attraktiv.“ Er wurde blass. „Gott, ich kann nicht glauben, wie falsch das klingt.“ Emily lachte. „Wenn ich dich richtig verstehe: Im Fall eines Falles hätte ich Chancen. Mach‘ es doch nicht so kompliziert.“ Der Assistenzarzt nickte. „Ich bin mir sicher, dass es viele Kerle in deinem Alter gibt, die …“ „Nein.“ Sie hob die Hände, ihre Wangen glühten im Licht der Straßenbeleuchtung wie eine Signalfackel. „Sag‘ es nicht. Die Vorstellung ist ekelhaft.“ Kostja breitete die Arme in einer auffordernden Geste aus. Auch wenn das Mädchen nicht verstand, kam sie näher und ließ sich von ihm an seine Brust ziehen. „Mach’s gut.“ Sie löste sich wieder von ihm und trat einen Schritt zurück. „Pass auf dich auf.“ Als sie zum Tor ging, auf eine Klingel drückte und darauf wartete, dass ihr geöffnet wurde, fragte Kostja aus einem Impuls heraus: „Sag‘ mal, wer ist Nick eigentlich wirklich?“ Ihr Lächeln reichte von einem Ohr zum anderen. „Wir sind zusammen aufgewachsen“, erklärte sie und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Das macht uns wohl zu so etwas wie Geschwistern, aber eigentlich ist er mein Sponsor.“ Das Tor begann sich lautlos zu öffnen. „Was ist ein Sponsor in deiner Welt?“ „Willst du das wirklich wissen?“ Kostja dachte kurz nach. „Nein, eigentlich nicht.“ Er hob zum Gruß die Hand. „Bis Morgen.“ Er durfte noch nicht gehen. Emily musste ihm noch etwas Dringendes beichten. „Kostja, die Flyer im Krankenhaus ...“ Sein Lächeln reicht von einem Ohr zum anderen. „Vergiss es einfach, Miss weiß nicht, was eine Brautjungfer ist.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)