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Tagebuch einer Trainerin

Pokémon Weiße Edition (Nacherzählung)
von

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Der Beginn einer Reise

Endlich ist es soweit, heute ist der große Tag.

Der Tag, an dem auch wir endlich unsere ersten Pokémon von Professor Esche bekommen, um uns auf die lang erwartete Reise durch die Einall Region zu machen. Eine Reise, die Kinder normalerweise im Alter von zehn Jahren schon antreten, um ein wenig von der Welt zu sehen und einen Plan für ihre zukünftige Karriere zu fassen. Wir allerdings haben uns Zeit gelassen, vier quälend lange Jahre, alles aus Rücksicht auf Bell, deren strenger Vater sie so jung nicht gehen lassen wollte. Jetzt allerdings steht das Paket mit den drei Pokébällen endlich in meinem Zimmer, und ich kann es kaum erwarten, hineinzusehen.
 

Der große Flachbildschirmfernseher, den Vater mir gekauft hat, flimmert vor meinem Gesicht, aber ich kann mich kaum auf das Wii-Spiel konzentrieren, mit dem ich die Wartezeit überbrücken wollte. Auch sonst gibt es in meinem Zimmer nicht viel, was von der schicken, blauen Geschenkbox ablenken könnte; dezent gemusterte Tapeten in hellem beige, blau gestrichene Holzvertäfelungen und ein heller Holzboden. Links neben dem Fernseher ein kleines Bücherregal, rechts eine dunkle Kommode. Der violett und pink gemusterte Teppich, auf dem ich sitze, ist der intensivste Farbklecks im ganzen Zimmer, dicht gefolgt von den dunkelvioletten Bezügen des Futonbetts am anderen Ende. Cheren sitzt auf dem blauen Sitzkissen vor meinem Schreibtisch. Er ist schon lange da und wirkt, wie immer, gelassen und gut vorbereitet. Als ich beschlossen habe, Bell zu liebe auch meine Reise aufzuschieben, hatte er sich bedingungslos angeschlossen, angeblich, weil er ohnehin schon weiß, was er mit seinem Leben machen und auf welche weiterführende Schule er gehen will. Die Pokémon Akademie, wo man alles lernt, was ein zukünftiger Meister, Professor oder Sammler der vielfältigen Monster wissen muss. Wir drei waren mit Abstand die Jüngsten in unserer Klasse, weil alle anderen Kinder unseres Jahrgangs die traditionelle Reise angetreten sind; ein oder zwei Jahre ist man schon unterwegs, und entsprechend weit waren uns unsere neuen Klassenkameraden voraus, in Jahren und in Erfahrung. Ein Vorteil für Cheren, der praktisch als alter Mann geboren wurde und immer schon besser mit Erwachsenen klarkam als mit Kindern seines Alters, aber für Bell war es Folter. Auch ich wollte nichts mehr als endlich die Reise anzutreten, die alle anderen schon hinter sich gebracht hatten und von der sie mit einer Begeisterung erzählen konnten, dass einem beim Zuhören schwindelig wurde. Aber nun ist es ja endlich soweit, und ich kann es kaum erwarten, all die Tipps und all das gelernte Wissen in der Praxis auszuprobieren. Seufzend schalte ich die Wii aus, ich kann mich ohnehin nicht konzentrieren. Die Geschenkbox steht immer noch auf dem hellen Holztisch, mittig zwischen Cheren und meinem Bett. Sie ist in glänzend blaues Papier gewickelt, mit einer breiten grünen Schleife darum, und alles an ihr sieht neu und aufregend und großartig aus. Wo Bell wohl so lange bleibt? Hoffentlich hat ihr Vater es sich nicht doch noch anders überlegt…

Gut, Bell ist nicht der pünktlichste Mensch, eigentlich kann ich mich nicht erinnern, sie je irgendwo zur abgemachten Zeit getroffen zu haben. Aber heute, am vielleicht wichtigsten Tag unseres Lebens, hätte sie ja mal eine Ausnahme machen können! Immerhin sitzen wir hier seit fast einer Stunde allein in meinem Zimmer, und während Cheren sich in sein Buch über Wechselwirkungen der Elemente vertieft hat, kann ich mich auf nichts Anderes konzentrieren als auf diese große, verführerische Geschenkbox.
 

Endlich sind doch Schritte auf der Treppe zu hören, und Bell kommt keuchend die Stufen hoch. Ich zucke beinahe erschrocken zusammen, als Cheren sein Buch zuschlägt, um unserer Freundin eine wohlverdiente Predigt zu halten: „Wirklich, Bell, du solltest dich schämen! Bianka und ich haben vier Jahre gewartet, damit wir zusammen reisen können, und jetzt, wo es endlich soweit ist, lässt du uns eine ganze Stunde lang hier sitzen. Ist es wirklich so schwer, ein einziges Mal pünktlich zu sein oder zumindest Bescheid zu sagen? Einmal zumindest?“

„Ich weiß, ich weiß“, wehrt Bell ab, „Und es tut mir auch leid, ehrlich, schneller ging es nicht!“ Ihr lautes Keuchen zeugt zumindest von der gemessenen Eile ob der Verspätung. Sie nimmt sich einen Moment, die Hände auf die Knie zu stützen, streicht eine hellblonde Strähne aus ihrem schweißnassen Gesicht und zieht ihren Rock zurecht. Als sie wieder aufblickt, hat sie ihr übliches breites Lächeln im Gesicht, und ihre grünen Augen funkeln vor Freude: „Aber gerade, weil es schon so spät ist: wollen wir nicht erstmal das Paket öffnen? Ich will endlich die Pokémon sehen…“

„Bell hat Recht, Cheren“, springe ich unserer Freundin bei, „Wir können es doch alle kaum noch erwarten.“

Cheren rückt seufzend seine Brille zurecht. Auch er streicht sich die Haare zurück, beinahe, als würde er unbewusst Bells Geste kopieren; seine Haare sind ebenfalls kinnlang, anders als Bells aber beinahe schwarz. „Du hast Recht, lass uns nicht noch mehr Zeit verschwenden“, lenkt er ein, „Bell wird es ohnehin nie lernen.“

„Ich bin dafür, dass Bianka das Paket aufmacht“, fordert Bell, „Immerhin hat sie mit der Professorin gesprochen, damit sie die Pokémon zu uns schickt und wir nicht zusammen mit den ganzen Zehnjährigen ins Labor kommen müssen. Ich finde, sie hat die Ehre verdient, als Erste aussuchen zu dürfen, oder, Cheren?“ Ihr strahlendes Lächeln wirkt entwaffnend, Cherens Wut ist sofort verraucht.

„Dem kann ich nur zustimmen. Danke, Bianka, dass du das für uns organisiert hast.“

Ich werde etwas rot, daher wende ich mich schnell der hübschen Box zu, die ich endlich öffnen darf. Mit zitternden Händen löse ich das samtene Geschenkband und hebe den Deckel der Box ab, während Cheren und Bell sich neugierig über meine Schultern lehnen. Im Inneren der Kiste liegen, gebettet auf einem Kissen, drei Pokébälle, jeweils mit einem kleinen Schild daran, das ein wenig über das enthaltene Monster erzählt. Die rotweißen Kapseln sind nagelneu und sauber poliert, anders als die unserer Klassenkameraden, die durch den täglichen Gebrauch schon gewisse Spuren davongetragen haben. Vorsichtig nehme ich die Bälle heraus, befreie die jungen Pokémon und trete etwas zurück, damit auch meine Freunde sie genau betrachten können.
 

Es sind niedliche Wesen, die hier nun auf meinem pinken Teppich hocken und neugierig in unsere Richtung schnuppern, viel kleiner und zarter als die unserer Mitschüler. Ganz rechts sitzt Floink, das Feuerpokémon, ein vierbeiniges, etwas molliges Wesen mit Ringelschwanz und großen Ohren. In der Mitte ist Ottaro, das Wasserpokémon, ganz von weichem, weißen und blauem Fell bedeckt. Es hat eine große, runde Nase und fast noch größere Augen, aus denen es mich fasziniert anstarrt. Links von ihm sitzt Serpifeu, das Pflanzenpokémon, ein längliches grünes Tier mit einer spitzen Nase, das fast ein wenig herabschauend auf seine Umgebung blickt. Ich weiß, dass Serpifeu das Starterpokémon ist, das Cheren ins Auge gefasst hat – schon seit Jahren schwärmt er von seiner Eleganz und der ruhigen Stärke, die seine entwickelte Form ausstrahlt. Ich kann verstehen, was er in dem Pokémon sieht, und betrachte mir die anderen beiden genauer. Floink ist unglaublich süß und lebhaft, es wirkt munter und aufmerksam, eine gute Voraussetzung, um sich zu einem starken Partner zu entwickeln. Ottaro ist ruhiger, sitzt fast ganz still, während es mich mit seinen riesigen schwarzen Augen fixiert. Als ich den Blick erwidere richtet es sich auf und klopft aufgeregt fiepend mit seinem breiten Schwanz auf den Boden. Ich kann mich geradeso zusammenreißen, nicht ebenso verzückt zu quietschen, und nehme das kleine Wesen in den Arm. Es ist fast noch weicher, als es ausgesehen hat, und schmiegt sich beinahe sofort vertrauensvoll an meine Brust – meine Entscheidung steht fest.

„Ich nehme Ottaro.“
 

„Dann will ich das hier!“, quietscht Bell und drückt das muntere Floink übermütig in den Ausschnitt ihrer orangefarbenen Weste, „Und Cheren bekommt Serpifeu.“

„Wieso entscheidest eigentlich du, welches Pokémon ich bekomme?“, beschwert Cheren sich scherzhaft, kann sein breites Grinsen aber nicht verbergen. Wir wussten doch alle drei, dass er sich genau dieses Pokémon gewünscht hat, und wenn wir es nicht gewusst hätte, wäre es spätestens jetzt deutlich zu sehen. In einer für ihn ungewohnt warmen Geste hebt Cheren das Pflanzenpokemon auf seinen Arm, streichelt es und atmet tief seinen sanften Blattgeruch ein. Ottaro liegt weiter still in meinem Arm, und wenn es schnurren könnte wie ein Felilou würde es das garantiert tun. Sein Körper fühlt sich warm an durch den dünnen Stoff meines T-Shirts, und die Erkenntnis, dass dieses kleine, weiche Pokémon mein eigenes ist, löst ein Kribbeln in mir aus, das vom Magen aus in jede Faser meines Körpers strömt.

Mein erstes eigenes Pokémon.

Ich bin endlich, endlich ein richtiger Trainer!

Der erste Kampf

Bell ist so begeistert von ihrem neuen Pokémon, dass sie am liebsten sofort kämpfen möchte – gleich hier, mitten in meinem Zimmer.

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee…“, beginnt Cheren noch, aber da ist Floink auch schon aus Bells Armen gesprungen und steht breitbeinig auf dem Teppich. Ich zögere, weiß, dass Cheren Recht hat, aber gleichzeitig bin auch ich zu begeistert, um mich in Geduld zu üben. Ottaro scheint meinen Eifer zu spüren und springt aus meinen Armen, stellt sich Floink kampfbereit entgegen und prustet entschlossen. Bell grinst breit und bezieht hinter ihrem Pokémon Position, gibt den Befehl zum ersten Angriff: „Los Floink, setz Tackle ein!“

Floink gehorcht sofort, und auch Ottaro lässt sich den Befehl zum Ausweichen nicht zweimal geben. Die Auswahl an Attacken ist noch nicht groß, die Pokémon sind klein und recht unerfahren, machen diesen Nachteil aber durch umso größeren Eifer wett.

„Ottaro, setz Pfund ein!“, weise ich mein Pokémon an, und das kleine Monster macht einen großen Satz über den Tisch, um seinen Gegner auch zu erwischen. Floink weicht aus, flinker, als man bei seiner gedrungenen Gestalt erwarten würde, springt an die Wand und stößt sich ab, um seinerseits den befohlenen Tackle auszuführen. Ottaro weicht aus und landet seinerseits einen Treffer, schlüpft dann schnell unter dem Stuhl durch, um dem Gegenangriff zu entgehen und schafft es ein zweites Mal, Floink einen Klapps mitzugeben. Der Kampf läuft gut für mich und die Begeisterung ist berauschend, aber auch Bell lässt nicht nach und muntert Floink auf, am Ball zu bleiben. Das Feuerpokémon schnaubt und legt noch eine Schippe drauf, galoppiert in einem waghalsigen Manöver über die Wand und wirft sich auf seinen Gegner. Der Tackle trifft Ottaro mit genug Wucht, um noch den Schrank dahinter umzuwerfen, und mein armes Ottaro kann nur die Pfoten über den Kopf heben, um sich vor der Lawine aus Büchern, DVDs und Videospielen zu schützen.

„Oh nein, Ottaro!“ Ich eile zur Stelle und ziehe das verletzte Pokémon heraus, der Kampf ist entschieden. Große, dunkle Augen blicken mich fast schuldbewusst an, als ich das Tierchen an mich drücke – ein Mädchen, wie ich nun deutlich sehen kann – und ich beeile mich zu sagen, dass es gut gekämpft hat. „Das war einfach Pech“, versichere ich dem Pokémon, „Wenn Floink jetzt keinen Volltreffer gelandet hätte, hättest du gewonnen, das weiß ich. Du warst richtig gut!“

Cheren tippt mir auf die Schulter und reicht mir einen Heiltrank, bevor er auch Bell einen zuwirft.

„Danke, Cheren. Was würden wir nur ohne dich machen?“, seufze ich und heile Ottaros Wunden.

„Es würde mir mehr bedeuten, wenn ihr mal auf mich hören würdet“, gibt Cheren trocken zurück, „Sehr euch mal um.“
 

Cheren hat Recht, es war keine gute Idee, in einem geschlossenen Raum zu kämpfen. Unsere Pokémon sind jung, klein, und haben noch keine elementbasierten Attacken, dennoch hat unser Kampf mein Zimmer komplett verwüstet. Es ist nicht nur das umgestürzte Regal, auch nicht die Hufabdrücke an der Wand, das ganze Zimmer liegt in Unordnung. Mein vorher ordentlich gemachtes Bett ist zerwühlt, der Tisch lehnt schräg auf dem Schreibtisch, wo er nur knapp den Computer verfehlt hat, und auch der teure Flachbildfernseher steht verdächtig schief auf seinem Sockel; das Kabel ist herausgerissen und der Bildschirm schwarz. Meine Wii zumindest scheint heil geblieben zu sein.

„Cheren muss auch kämpfen“, entscheidet Bell, „Los!“

Serpifeu windet sich eilfertig aus Cherens Armen, der seufzt tief. „Können wir zumindest dafür bitte nach draußen gehen…?“

Ich will einwerfen, dass es jetzt eh schon egal ist, aber ein Blick auf den schiefen Fernseher und die heilgebliebenen Geräte stimmt mich um. „Ja, gehen wir vor die Tür“, entscheide ich.
 

Im Garten haben wir mehr Platz und weniger, was kaputtgehen kann. Obwohl Serpifeu sich auf dem Rasen wohlfühlt und Cheren der beste Taktiker unter uns dreien ist zeigt sich nun der Wert der Erfahrung aus dem letzten Kampf – Ottaro läuft zu ihrer Bestform auf und schafft es, in schneller Folge gleich zwei kritische Treffer zu landen! Serpifeu lässt geschlagen den Kopf hängen, aber Cheren nimmt die Niederlage gelassen. „Guter Kampf, Bianka. Es war mir eine Ehre.“

Ich platze fast vor Stolz, ausgerechnet gegen Cheren gewonnen zu haben, schaffe es aber, mich zusammenzureißen. „Danke für den guten Kampf“, sage ich, und nehme gern einen weiteren Heiltrank für Ottaro entgegen. Auch Serpifeu ist wieder fit und bereit, seine Ehre in einem Kampf gegen Floink zu verteidigen. So gern ich dabei zusehen würde, muss ich leider schnell ins Haus zurück, um meiner Mutter den Zustand meines Zimmers zu beichten, bevor sie den Schaden selbst sieht. Mama lacht gutmütig, rückt mir die Kappe zurecht und tätschelt mir die Schulter.

„Ach Kinder… ihr und euer jugendlicher Eifer.“

Immerhin bietet sie an, das Chaos selbst aufzuräumen, damit wir zu unserer Reise aufbrechen können. Mama ist einfach die Beste!

„Nun aber los“, mahnt sie, „Ihr wollt euch sicher noch bei Professor Esche bedanken, nicht wahr? Ich mach das schon, bis du wiederkommst, ist dein Zimmer wieder wie vorher.“

Professor Esche

Während Cheren und ich direkt zum Labor aufbrechen, die neuen Pokémon auf dem Arm, macht Bell noch einen kleinen Umweg. Sie müsste noch schnell etwas erledigen, meinte sie, dauert nicht lang. Und so stehen wir hier nun vor dem Labor, spielen mit unseren neuen Pokémon, und warten. Das Labor von Professor Esche steht ganz im Norden der Stadt, etwas hangaufwärts und ein Stück in den Wald hineinversetzt. Es ist das größte Gebäude im Dorf und außerdem das einzige mit einem roten Dach – alle anderen Häuser Avenitias sind mit blauen Schindeln bedeckt. Die leuchtend orangeroten Ziegel und die Größe des Gebäudes machen das Labor zu einer beeindruckenden Erscheinung vor den austreibenden Bäumen des Waldrands und den immergrünen Tannen dahinter, aber mehr noch fallen der hohe Anbau mit seinem spitzen Dach, der noch viel höhere Kamin und das Windspiel davor auf. Vor dem Gebäude ist ein kleiner Park, dem man noch etwas ansieht, dass sich hier vor kurzem die zehnjährigen des Dorfes getroffen haben, um auf Einlass zu warten, und wie wir hatten sie ihre Augen sicher die ganze Zeit auf die große Uhr gerichtet. Cheren fegt Kekskrümel von einer der Bänke, und dort setzen wir uns und warten.

Und warten noch ein bisschen…

Und warten weiter…

Und warten noch etwas länger…

Als der Mittag langsam in den Nachmittag übergeht und der Minutenzeiger der großen Uhr auf dem Platz vor uns schon eine ganze Runde gedreht hat wird es mir zu bunt. Langsam wird es kalt und wir wollten Avenitia heute noch verlassen, am liebsten, bevor die Sonne untergeht. Cheren wird auch langsam grummelig, und so biete ich mich an, Bell zu suchen.

Obwohl ‚suchen‘ hier das falsche Wort ist - ‚holen‘ trifft es besser.
 

Der erste Ort, an dem ich suche, ist Bells Wohnung – ein kleines, blau bedachtes Haus in einem ganzen Dorf voller kleiner, blau bedachter Häuser. Meine Mutter lacht gerne darüber, wie verloren ein Fremder hier wäre, aber wenn man in diesem Dorf aufgewachsen ist, weiß man, wo man seine Freunde findet, und auch der Postbote weiß immer, in welchen der grauen Mettallbriefkästen er die Briefe zustellen muss. Bells Haus ist leicht zu erkennen an den hübschen Blumenbeeten, die ihre Mutter angelegt hat, und mehr noch an den albernen Gartenzwergen ihres Vaters.

Bell ist zu Hause und in eine hitzige Diskussion mit ebendiesem Vater verstrickt. Soweit ich durch die halboffene Tür mithören kann, hat der es sich nämlich noch einmal anders überlegt. Er will nun doch nicht, dass Bell mit uns loszieht, immerhin ist vierzehn ja kaum besser als zehn und sie ist einfach noch zu jung für eine so gefährliche Reise. Bell fühlt sich betrogen, so kurz vor ihrem Aufbruch doch die fest versprochene Erlaubnis entzogen zu bekommen, und so stehen beide mit hochrotem Kopf im Wohnzimmer und brüllen sich an, währen ich nur schockiert zusehen kann. Floink sitzt zitternd neben Bells Füßen, hilflos im Angesicht des brüllenden Mannes, der seiner neuen Trainerin solches Leid zufügt, und auch ich kann mir nur die Hände über die Ohren legen und mit weiten Augen zusehen, bis Bell sich endlich durchsetzt. Versprochen ist versprochen, die Taschen sind gepackt und die Reise geplant – wenn er sie jetzt noch aufhalten will, müsste er Bell einsperren und in Ketten legen. Ihr Vater scheint geneigt, das auch zu tun, besinnt sich dann aber eines Besseren. Bell darf gehen, wirft sich, blind vor Tränen, die Tasche um und ruft Floink in seinen Pokéball zurück. Ich lege Bell tröstend den Arm um die Schultern und führe sie aus dem Haus, froh, meiner tränenblinden Freundin zumindest ein bisschen helfen zu können.
 

„Tut mir leid, dass du das sehen musstest“, wimmert Bell, als sie sich außer Hörweite des Hauses kräftig die Nase schnäuzt und ihre geröteten Augen trocknet.

„Ist schon gut“, tröste ich, „Wir kennen ja deinen Vater…“

Schockiert bin ich dennoch, dass er so weit gehen würde. Ich wusste, dass Bells Vater besorgt ist, dass er denkt, es wäre unvernünftig und gefährlich, mit zehn Jahren die Welt zu bereisen, aber so wütend wie heute habe ich weder ihn noch Bell je erlebt. Bis eben dachte ich auch, der Kompromiss, erst mit vierzehn aufzubrechen, hätte ihn zufrieden gestellt…

„Erzähl bitte Cheren nichts davon“, bittet Bell mich, „Ich will ihn nicht noch mehr belasten.“

„Er wird schimpfen, weil du uns warten lassen hast“, warne ich.

„Ich weiß. Das ist mir lieber so.“

Ich klopfe meiner Freundin aufmunternd auf die Schultern. Es ist ungerecht, aber ich respektiere ihre Gefühle. Sie will nicht, dass Cheren sich Sorgen macht… lieber nimmt sie die Rüge über ihre Unpünktlichkeit in Kauf. Es kommt mir falsch vor, aber es ist nicht meine Entscheidung.
 

Meine Sorge scheint ohnehin unbegründet, denn obwohl sich Bell alle Mühe gibt entgeht Cherens scharfen Augen natürlich nicht, dass sie geweint hat, und er schluckt seine Rüge ungesagt herunter, winkt uns nur, ihm und Serpifeu ins Labor zu folgen. Bell ruft Floink wieder aus seinem Ball, um es im Arm halten zu können, und Ottaro springt sofort auf meine Schulter, um nicht hinter dem Konkurrenten zurückzubleiben. Ich streichle ihr amüsiert den flauschigen Kopf.

„Schön, dass ihr noch kommen konntet“, begrüßt uns die Professorin, „Ein wenig spät, aber an der Zeremonie für die Zehnjährigen wolltet ihr ja ohnehin nicht teilnehmen. Ihr habt sicher schon viel von den Kindern gehört, die schon von ihrer Reise zurück sind, aber lasst mich trotzdem noch ein paar Worte zu eurer Sicherheit sagen…“

Tatsächlich haben wir in den letzten vier Jahren bereits alles gehört und gelesen, was es zu wissen gibt, aber wir wagen nicht, zu widersprechen, als Professor Esche sich in ihren viel geübten Vortrag über Sicherheit und Regeln für junge Pokémontrainer stürzt und uns Schritt für Schritt herunterbetet, wo wir übernachten können und Schutz finden, an wen wir uns mit welchem Problem wenden und worauf wir Acht geben müssen. Auch, wie man hilfsbereite Fremde von gefährlichen Fremden unterscheidet wird thematisiert, wie man auf Gefahrensituationen reagiert, wie man sich vor wilden Pokémon schützt und ein paar Worte über Traineretikette und Preisgeld in lockeren Kämpfen. Es ist wenig wirklich Neues dabei und ich habe Mühe, nicht einzunicken, immerhin bin ich heute vor lauter Aufregung besonders früh aufgestanden. Zum Glück reißt Ottaro mich mit einem gezielten Klaps aus dem Schlaf, ehe die Professorin meine geistige Abwesenheit bemerken könnte.
 

„Aber genug der langen Vorträge“, meint sie schließlich, zu unser aller Erleichterung, „Ich sehe, ihr habt euch mit euren Pokémon bereits angefreundet und erste Erfahrungen im Kampf gesammelt?“

Cheren, Bell und ich grinsen einander schuldbewusst an, aber die Professorin scheint nicht wütend zu sein. „Es sagt einiges über euer Talent als Trainer, dass ihr so schnell eine Bindung zu euren ersten Pokémon aufgebaut habt. Was haltet ihr davon, diese Bindung noch ein wenig zu vertiefen, zum Beispiel durch einen Spitznamen?“

„Gute Idee!“, findet Bell, sofort wieder wach und munter, „Was meinst du Floink, wie willst du heißen?“ Sie hebt ihr Pokémon hoch und wirft einen prüfenden Blick zwischen dessen Hinterläufe. „Ein süßer Name für einen hübschen Jungen… Ich weiß, ich werde dich Rex nennen, das heißt König. Ein großer, starker König.“

„Floink!“, grunzt das Pokémon vergnügt, und Bell lacht fröhlich.

Ich lächle und wende mich meinem Ottaro zu, dass mich mit großen Augen ansieht. „Was meinst du?“, frage ich, „Würde dir der Name ‚Umi‘ gefallen?“ Ottaro quietscht zustimmend. „Das bedeutet ‚Meer‘.“

„Wie nennst du dein Serpifeu, Cheren?“, fragt Bell neugierig, und setzt unseren Freund gehörig unter Zugzwang.

„Ich hatte eigentlich nicht vor…“, er seufzt tief, „Naja, warum nicht. Er soll Siegfried heißen, ‚der Siegreiche‘. Zufrieden?“ Serpifeu plustert sich stolz auf, was wohl als Zustimmung zu werten ist.
 

Zum Abschluss, und nicht ohne einen weiteren lehrreichen Monolog, überreicht Professor Esche uns noch jeweils einen Pokédex und den Auftrag, diesen im Verlauf unserer Reise zu füllen. Das Gerät bietet auch hilfreiche Informationen über die Pokémon in unserem Team, eine Trainer ID, mit der wir uns ausweisen können und, für den Notfall, ein GPS System, damit wir nicht verloren gehen. Bells Vater soll sagen, was er will; diese Reise ist so sicher, wie ein Abenteuer es maximal sein kann. Und es wird noch besser: Direkt vor dem Labor wartet meine Mutter, um jedem von uns eine digitale Karte zu überreichen! Cheren ist begeistert, denn eine solche ist ungemein praktisch und wesentlich handlicher als seine aus Papier, zumal Mamas Karten sich wohl mit dem GPS des Pokédexsystems verbinden und so den genauen Standort ermitteln können. Verlaufen können wir uns also schonmal nicht mehr. Wir bedanken uns aufrichtig und überschwänglich, und ich erlaube Mama gerne, mich noch einmal fest an sich zu drücken. Umi springt auf meinen Kopf und schleckt Mama zutraulich das Gesicht ab, bis sie zu lachen beginnt.

„Nun aber los, lasst euch nicht aufhalten“, meint Mama schließlich, „Immerhin wollt ihr in Gavina sein, bevor es dunkel wird, und Professor Esche muss euch noch zeigen, wie man Pokémon fängt...“

Weil wir gerade erst gesehen haben, wie lange die Professorin dozieren kann, trifft die Warnung ins Schwarze, und wir sprinten geradezu los, um schnell an die Dorfgrenze zu kommen.

Die Professorin folgt uns lachend, aber ohne zu rennen.

Der erste Schritt von Vielen

Avenitia ist ein kleines, gemütliches Dorf. Wir sind hier aufgewachsen und haben uns stets wohl gefühlt, und wir werden am Ende unserer Reise gerne wieder zurückkommen. Aber dort draußen wartet eine ganze Welt darauf, von uns entdeckt zu werden, und nun, endlich, liegt sie vor uns: Route 1, nach Gavina.
 

Den ersten Schritt wollen wir gemeinsam gehen, und wir fassen uns an den Händen, Bell zu meiner Rechten, Cheren zu meiner Linken. Mein Herz klopft wie wild, ich hätte nie gedacht, dass es so aufregend sein könnte, einen einzigen Schritt zu gehen!

Der staubige Boden ist weich unter meinen festen Schuhen, ein breiter Weg durch einen lichten Wald. Links und rechts sind weiße Zäune aufgestellt, hinter denen zartrosa Blumen blühen, etwas weiter gibt es rechter Hand einen Ausguck, von dem man auf einen Ausläufer des Meeres blicken kann. Die Straße wird an vielen Stellen von hohem Gras überwuchert, weswegen man hier nur mit dem Auto durchfahren sollte, wenn man kein eigenes Pokémon bei sich hat. Eine warme Frühlingsbrise weht durch die Bäume und trägt den Duft von Honig und Blütenstaub mit sich. Aus dem hohen Gras dringt leises Gebell, immer wieder unterbrochen von schrillem Pfeifen. Wilde Pokémon, und sie sind nur noch wenige Schritte entfernt! Selbst Cheren ist die Begeisterung anzusehen, als wir uns der ersten großen Wiese auf unserem Weg nähern.
 

„Geduld, Kinder!“, mahnt Professor Esche, die lächelnd aufholt. Ihr eigenes Pokémon, ein süßes Piccochilla, springt bereits freudig neben ihr her, bereit, zusammen mit seiner Trainerin vorzuführen, wie man ein wildes Pokémon fängt.

Dass wir den Vorgang schon gefühlt tausend Mal im Fernsehen gesehen und von unseren älteren Mitschülern ebenso oft erklärt bekommen haben interessiert die Professorin dabei ebensowenig wie die Tatsache, dass wir die Bewegungen auf der Wii bereits üben konnten. Langsam habe ich das Gefühl, sie hört sich einfach gerne selbst reden... oder ist es so gewohnt, diesen Vortrag jedes Jahr auf dieselbe Weise zu halten, dass sie ihn gar nicht abkürzen könnte, ohne sich etwas dabei zu brechen. Zum Glück dauert es nicht lange, bis sie ein wildes Nagelotz aufgestöbert hat, das sich dem Kampf gegen Piccochilla stellen will. Das wilde Pokémon lässt sich ohne großen Widerstand schwächen und bleibt sogar im ersten geworfenen Ball drin, was keine Selbstverständlichkeit ist und uns erleichtert aufatmen lässt. Immerhin bekommt jeder von uns für seine Geduld noch fünf Pokébälle geschenkt, und die Professorin verabschiedet sich, damit wir endlich loslegen können.
 

„Eeend-lich!“, stöhnt Bell, „Ich dachte schon, wir kommen heute gar nicht mehr los...“

Cheren schnaubt belustigt. „Waren wir nicht deinetwegen schon mehr als zwei Stunden später dran?“

Bell übergeht die schneidende Bemerkung, sie hüpft bereits aufgeregt auf und ab und besieht sich das hohe Gras vor uns. „Hey, wie wäre es mit einem Wettrennen, um die verlorene Zeit aufzuholen?“, schlägt sie vor, „Wer bis Gavina die meisten Pokémon fängt und trotzdem vor Einbruch der Dunkelheit da ist, gewinnt!“

Damit zumindest sind Cheren und ich sofort einverstanden, eine solche Herausforderung lässt sich wohl kein angehender Trainer entgehen. Um einander nicht in die Quere zu kommen oder die Ergebnisse zu verfälschen, teilen wir uns auf und stöbern durchs hohe Gras, um möglichst viele wilde Pokémon zu finden. Den Vortrag der Professorin habe ich zwar nur mit einem Ohr verfolgt, aber die viele Übung auf der Wii macht sich bezahlt und das theoretische Wissen habe ich in den letzten vier Jahren zur Genüge vermittelt bekommen. Schnell ist eine ganze Gruppe Yorkleff aufgestöbert, zottelige vierbeinige Pokémon, die beinahe zu begeistert sind von der Idee, mit uns zu kämpfen. Umi schäumt geradezu über vor Tatendrang, schafft es aber, sich zu beherrschen und die Pokémon nur soweit zu schwächen, dass sie weder weglaufen noch das Bewusstsein verlieren. Von meinen fünf Pokébällen geht nur ein einziger fehl, und so erreiche ich Gavina mit vier frisch gefangenen Yorkleffs in meiner Tasche. Umi ist mächtig stolz auf ihren Erfolg, und ich ebenso. Auch Bell ist mächtig beeindruckt von meiner – unserer! - Leistung, und es sieht so aus als wäre ich nicht nur die Erste am Ziel, sondern auch die Erfolgreichste im Fangen von Pokémon gewesen. Bell hat nur ein einzelnes Yorkleff erwischt, Cheren hat insgesamt drei verschiedene Pokémon geschnappt, aber ich war die Beste. Umi plustert sich stolz auf, als ich das Lob an sie weitergebe, und ich kann sehen, wie Siegfried, das Serpifeu, beleidigt die spitze Nase rümpft.
 

Unsere kleine Feier wird von meinem Visocaster unterbrochen – Professor Esche ist uns vorausgefahren und will die Gelegenheit für einen weiteren hilfreichen Vortrag nutzen. Treffen sollen wir sie vor dem Pokémoncenter. Stöhnend fügen wir uns dem Unvermeidbaren und machen uns auf den Weg, aber diesmal ist es gar nicht mehr so schlimm, denn wir dürfen die Einrichtung nutzen, während die Professorin erklärt, und mit den vielen neuen Pokémon geht es auch recht munter zu. Das Pokémoncenter ist ein großes Gebäude mit einem auffälligen roten Dach. Wie Professor Esche erklärt, dürfen reisende Trainer ihre Pokémon hier kostenlos heilen lassen, bekommen zu Essen und ein Zimmer zum Übernachten. Finanziert wird die Einrichtung durch Steuergelder, die unsere Eltern bezahlen, sowie Clubbeiträge und Spenden. Wer für seine Unterstützung auch etwas erhalten will, kann Souvenirs und Lotterielose kaufen – letztere aber erst ab achtzehn. Auch Computer und fest installierte Telefone gibt es hier, die sich für bestimmte Aktionen kostenlos bedienen lassen – wer aus Spaß im Internet surft oder Videospiele spielt, muss Münzen einwerfen, wer seine Mutter anrufen oder Emails prüfen will, kann das auch so tun. Auch den Visocaster und den Pokédex kann man hier mit frischem Strom versorgen, und wer Angst hat oder ein Verbrechen beobachten konnte, findet die Polizeidienststelle gleich nebenan. Sogar einen Humanmediziner gibt es hier, schwerer verletzte Menschen müssen aber ins Krankenhaus ein paar Blocks weiter gebracht werden. Mit im Gebäude ist dafür ein Pokémarkt, in dem man nützliche Items für die Reise kaufen kann. Ich nutze die Gelegenheit, um Tränke und neue Pokébälle einzukaufen – wenn man zehn Pokébälle auf einmal kauft, bekommt man sie im Set mit einem speziellen Premiumball dazu! Meine Reisekasse ist nun deutlich leichter, aber Geld ist ja bekanntlich nichts wert, wenn man es nicht ausgibt.

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Wir lassen unsere Pokémon gründlich versorgen, essen zusammen und mieten uns zwei Zimmer – Cheren braucht der Regeln halber ein eigenes – und verabschieden uns von Professor Esche. Bell ist müde von der Reise und will sich gerne gleich hinlegen, während Cheren und ich die Dämmerung nutzen wollen, um uns noch vor dem Schlafengehen die Stadt anzusehen. Gavina ist eine große Stadt, in Terassen angelegt und dominiert von mehrstöckigen Häusern. Jetzt, wo die Sonne untergeht, flackern die Straßenlaternen ins Leben und tauchen die Straßen in ein ganz anderes Licht. „Faszinierend, nicht wahr?“, meint Cheren, „Ganz anders als unser Dorf.“

Ich kann nur zustimmend nicken und mich fragen, wie es wohl ist, statt einem Haus nur eine Wohnung in so einem großen Gebäude zu haben. Wie viele Familien wohl in jedem davon wohnen, und wie viele Kinder es dort gibt? Zwischen den Häusern sind Spielplätze und kleine Parks angelegt, auf einer Marktfläche hat sich ein großer Pulk Menschen versammelt. Irgendjemand scheint dort eine Rede zu halten.

„Lass uns das mal ansehen“, schlägt Cheren vor, und wir drängen uns in die Menge. Damit sie nicht verloren geht, nehme ich Umi auf die Arme, und Siegfried klettert an Cheren hoch, um sich wie ein Schal um dessen Schultern zu winden. Weil wir beinahe noch Kinder sind, lassen uns die erwachsenen Zuhörer ein wenig vor, und wir bekommen schnell einen guten Blick auf den Redner. Es ist ein großer, grünhaariger Mann mit einem seltsamen Monokel, der eine lange, schwere Kutte trägt und stark gestikulierend seinen Monolog vorträgt. Nach den vielen Ansprachen, die ich heute schon ertragen musste, fällt es mir schwer, mich nochmal auf so viel Text einzulassen, aber der Mann spricht mit solchem Eifer, dass die Worte doch zu mir durchdringen: es geht um Pokémon, und wie wir sie halten. „Wacht auf, ihr Schafe“, wird mehrmals wiederholt, „Seht sie euch an, eure Pokémon, seht, wie sie für euch arbeiten, für euch kämpfen, für euch leiden! Gefangen in diesen kleinen Kapseln, nur für euer Vergnügen aus der Welt gerissen und gezwungen, eurer Befehle zu harren. Wacht auf und seht, wie sie leiden!”

Ich runzle die Stirn und lockere instinktiv meinen Griff um Umis Körper. Das Ottaro nutzt die Gelegenheit, um keckernd auf meine Schultern zu klettern und, den Kopf auf meine Kappe gelegt, einen besseren Blick auf den Mann zu bekommen. „So ein Unsinn...“, höre ich Cheren neben mir grummeln, und viele der Umstehenden sind seiner Meinung. Der Redner lässt sich nicht beirren: „Und glaubt mir, ich kenne die Lügen. Legenden über Harmonie und Partnerschaft zwischen Menschen und Pokémon. Wacht auf, ihr Lämmer! Welche Partnerschaft macht es nötig, einen sogenannten ‘Freund’ wie einen Sklaven einzusperren? Ihr haltet sie in kleinen Bällen, zwingt ihnen euren Willen auf, dass eure Kinder mit ihnen spielen können. Wenn ihr sie nicht gleich gegeneinander kämpfen lasst, ungeachtet der Wunden, die sie sich zuziehen! Wacht auf, lasst sie frei! Wenn ihr eure Pokémon so liebt, wie ihr sagt, schickt sie zurück in die Freiheit, aus der ihr sie gerissen habt! Nur das ist die Wahrheit, der ihr euch stellen müsst.“

Cheren rollt deutlich mit den Augen, und Siegfried tut es ihm gleich. „Augenwischerei und Verschwörungstheorien“, meint er, „Mehr ist das nicht.“

Ich taste unsicher nach Umi, seufze erleichtert auf, als ich ihr weiches Fell unter meinen Fingern spüre. Sie fängt leise fiepend an, mir die Finger zu lecken, und ich erinnere mich an den Elan, mit dem sie heute für mich gekämpft hat. Sie sah nicht aus, als wäre sie gezwungen, warum auch?

„Wir sind doch Freunde, oder, Umi?“

Umi fiept und drückt ihre große Nase in meine Hand. Siegfried scheint derweil einen beruhigenden Geruch auszuströmen, ich kann sehen, dass Cheren trotz seiner Worte entspannter wirkt. Siegfried knurrt leise, die großen Augen auf den Redner gerichtet, der nun mit seiner militärisch anmutenden Entourage von dannen zieht. Die Menschen, die ihm zugehört haben, verteilen sich, kopfschüttelnd und murmelnd, und verschwinden wieder in ihren Häusern. Inzwischen ist es fast dunkel, umso mehr fällt mir der einzelne Junge auf, der im Licht einer Straßenlaterne stehen geblieben ist. Er scheint etwa in unserem Alter zu sein, groß gewachsen, mit langen grünen Haaren und einer schwarzen Kappe, die er tief ins Gesicht gezogen hat. Er scheint dem Redner zuzustimmen, spricht aufgeregt mit dem Felilou, das schnurrend um seine Beine streicht, und wiederholt, dass Pokémon frei sein sollten, statt von Menschen gequält zu werden. Cheren hört es auch, und ihm platzt der Kragen.

„Hörst du dir eigentlich selber zu?“, faucht er den Jungen an, „Du bist doch selbst ein Trainer und ein Mensch! Wenn du glaubst, dass Menschen grausam sind und keine Pokémon halten sollen, warum lässt du dein Felilou nicht einfach frei und verpisst dich?”

Der Junge blickt erschrocken auf, sieht aber nicht Cheren an, sondern Siegfried, der knurrend auf dessen Schultern sitzt. „Mein Felilou?“, echot er verwirrt, „Felilou gehört sich selbst, nicht mir, und er ist frei.“ Der Junge hebt die Arme, wie zum Beweis, dass er keinen Pokéball trägt. Umi springt von meinen Schultern, kampfbereit, und schnuppert in Richtung des Katzenpokémons. Siegfried fixiert weiter den Jungen. „Ihr seid anders“, murmelt der nun, „Ihre Stimmen, sie klingen anders. Was... wer seid ihr?“

„Sag lieber erstmal, wer du bist!“, faucht Cheren, „Schonmal was von Manieren gehört?“

Der Junge wirkt überrascht, als hätte man ihn völlig auf dem falschen Fuß erwischt. Er legt den Kopf schief wie ein verwirrtes Piccochilla, wippt ein wenig vor und zurück und murmelt unverständlich vor sich hin. Die Finger seiner linken Hand spielen mit einer Art Würfel, der an seinem Gürtel hängt... ich habe den Eindruck, der Junge ist mit zwischenmenschlichem Verhalten generell nicht vertraut. Cheren scheint zu demselben Schluss zu kommen, ich kann sehen, dass sein Ausdruck an Schärfe verliert. „Ich wollte dich nicht beleidigen“, gibt er nach, „Mein Name ist Cheren und das ist Bianka. Wir haben heute unsere Reise als Pokémontrainer angetreten... Siegfried und Umi hier sind unsere ersten Pokémon. Wie heißt du?“

„Ich bin N“, stellt der Junge sich vor, und ich brauche eine Weile um zu verstehen, dass sein ganzer Name wirklich nur dieser Buchstabe ist. „Ich bin... vielleicht bin ich ein Trainer, aber ich fange keine Pokémon. Felilou ist Felilou, wir sind Freunde. Ich will... ich mag Pokémon und ich möchte, dass es ihnen gut geht. Ich kann ihre Stimmen hören, sie sagen mir, wie sie bei den Menschen leiden, und das will ich nicht, das muss ich ändern.“

„Tut mir leid“, meint Cheren, „Du bist offensichtlich verwirrt und... speziell, aber das ist Blödsinn. ‘Stimmen der Pokémon?’ Pokémon können nicht sprechen, es sind Pokémon, keine Menschen! Sie denken und reden nicht wie wir, und anzunehmen, dass sie es doch tun, ist einfach falsch.“

„Du verstehst nicht“, argumentiert N, „Ich kann sie hören. Kann ihre Stimmen hören, immer schon. Nicht wie Menschen, die der Pokémon... sie leiden, weil Menschen wie ihr es nicht verstehen.“ Umi pfeift missgünstig und klatscht ihren flachen Schwanz auf den Boden. N blickt sie an, wieder aufgeschreckt und für den Moment aus seinem hektischen Rhythmus gerissen. „Anders... deine Stimme... eure sind anders. Warum? Ich muss mehr hören... du willst kämpfen, Ottaro? Felilou... du auch, mein Freund? Ein Kampf, damit ich eure Stimmen hören kann? Vielleicht ist das der Weg... es gefällt mir nicht, aber es geht wohl nur so. Ja, lass uns kämpfen, Bianka.“

Er sieht auf und mir direkt in die Augen. Einen Moment bin ich überrascht; bis eben war N nur ein Freak, aber jetzt, wo ich sein Gesicht sehen kann, wirkt er menschlicher auf mich, leichter zu lesen. Seine grünen Augen sind ungewöhnlich klar, sein Blick entschlossen. Der plötzliche Umschwung überrascht mich so sehr, dass ich fast Regel eins der Traineretikette vergessen hätte: Wenn sie die Blicke kreuzen, kommt es zum Kampf.
 

„Umi, bist du bereit?“, frage ich unnötigerweise, denn mein Ottaro ist längt vorgesprungen, um den Kampf aufzunehmen. Felilou streicht noch einmal um Ns Beine und fährt dann die Krallen aus, gibt mit einem lauten Miauen zu verstehen, dass es heiß darauf ist, zu kämpfen.

Das Traning im hohen Gras hat sich bezahlt gemacht, Umi ist gut in Form und hat eine neue Attacke gelernt, Aquaknarre. Felilou dagegen scheint tatsächlich ein wildes Pokémon zu sein; es hört auf Ns Ratschläge, diese kommen allerdings so zögerlich und unerfahren, dass das Pokémon seine eigenen Entscheidungen trifft. Entsprechend schnell ist der Kampf auch entschieden, Umi gelingt es ohne Probleme, den Gegner kampfunfähig zu machen.

N wirkt erschrocken, aber weniger über seine Niederlage als über den Kampf selbst. Beinahe tut er mir leid, so überfordert, wie er mit der Situation wirkt, während er sich murmelnd über Felilou beugt und das Pokémon mit ein paar Heiltränken wieder aufpäppelt. Umi will er auch heilen, aber sie faucht ihn nur ablehnend an.

„Gib mir das“, schlage ich sachte vor, lasse mir den Heiltrank geben, um ihn selbst auf Umis Kratzer zu sprühen. Sie keckert beleidigt, lässt es sich aber gefallen. „War das dein erster Kampf?“ N nickt verlegen und streichelt abwesend durch Felilous Fell. „Es ist seltsam, ihr seid so anders... Ottaros Stimme klingt so anders. Serpifeu auch, was ist das nur...“

Er wippt nervös vor und zurück, streichelt Felilou und scheint sich kaum beruhigen zu können. Ich wechsle einen Blick mit Umi, die mich aus ihren großen Augen ansieht, und tätschle N etwas hilflos die Schulter.

„Ich muss nachdenken“, meint er schließlich und steht fast ruckartig auf, „Danke, Felilou, du hast gut gekämpft. Geh nach Hause... auf Wiedersehen.“

Und schon hat er sich umgedreht und verschwindet in der Dunkelheit. Felilou bleibt etwas verloren sitzen, sieht ihm aus großen Augen nach und verschwindet schließlich mit einem leisen Maunzen im Gebüsch.
 

„Seltsamer Kerl“, meint Cheren, „Aber gut gekämpft, Bianka, Umi. Lass uns für heute zurück ins Pokémoncenter gehen, es ist echt spät geworden, und es ist kalt. Ich will duschen und ins Bett...“

Ich nicke und schließe mich an, Umi klettert wieder auf meine Schulter, um den Weg reiten zu können. Sie ist warm und weich, angenehm in der schnell auskühlenden Luft. „Glaubst du, es ist was dran an dieser Geschichte?“, frage ich Cheren.

„Ich weiß nicht, es klang nach einem Riesenhaufen Mist“, antwortet er, „Aber dieser Junge... er ist vermutlich irgendwie behindert oder so, aber das muss nicht heißen, dass er falsch liegt. Stimmen hin oder her, kann gut sein, dass er wirklich was sieht oder hört, was wir nicht mitbekommen, und nur keine besseren Worte dafür hat. Ich dachte erst, er vermenschlicht Pokémon, wie es viele Leute machen, aber dann kam es mir eher so vor, als würde er sich selbst mehr wie ein Pokémon sehen. In jedem Fall hast du ihn wohl ziemlich beeindruckt. Das Felilou hat sich wohl auch Hoffnungen auf ihn als Trainer gemacht.“

„Meinst du, es wollte von ihm gefangen werden? N hat es nach Hause geschickt, vielleicht hat es da Familie...“

„Vielleicht. Vielleicht wissen Pokémon aber auch, dass sie an der Seite von Menschen stärker werden und die Welt sehen können, und vielleicht gefällt ihnen das.“

„Umi und Siegfried scheinen sich ja bei uns wohlzufühlen...“

„Und das werden viele andere Pokémon auch“, beruhigt mich Cheren, „Sieh einfach genau hin und behandle sie gut, dann kann dir niemand etwas vorwerfen. N nicht, und dieser seltsame Typ auf dem Podium erst recht nicht. Hör einfach auf dein Herz.“

Umi pfeift leise und lehnt sich schwer auf meinen Kopf, ihre flossenartigen Füßchen fest auf meinen Schultern platziert. Sie wirkt entspannt und etwas müde... Es ist aber auch wirklich spät geworden.

Auf dem Weg

Der nächste Morgen kommt beinahe zu schnell, so spät sind wir schließlich ins Bett gekommen. Bell dagegen ist ausgeschlafen und erholt, als wir zusammen beim Frühstück sitzen, und lässt sich haarklein erzählen, was wir erlebt haben.

Das Pokémoncenter hat einen großen Speisesaal mit genug Platz für die zahlreichen Besucher: hauptsächlich Kinder, die ihre Reise angetreten sind, aber auch erwachsene aus aller Welt und einige Menschen in Bürokleidung. Die Morgensonne scheint hell durch die großen Fenster und spiegelt sich auf den roten Plastiktischen. Die grauen Tabletts dagegen sind matt, und das Essen reichlich. Ich habe mir Rührei, Speck und eine große Tasse Kakao vom Buffet geholt und bin richtig überrascht, wie schnell ich beim Reden noch essen kann; Mama hatte recht, Reisen macht wohl hungrig.

„Wild“, meint Bell schließlich, „So ein komischer Kauz. Ich frage mich, wo er hingegangen ist?“

„Gute Frage“, entgegnet Cheren, „Aber mich interessiert mehr, wo er herkommt. Er schien etwa in unserem Alter zu sein, hat aber den Eindruck gemacht, er hätte nie wirklich mit anderen Menschen zu tun gehabt... schlecht sozialisiert, keine Manieren, obwohl er sonst freundlich geklungen hat, und irgendwie fremd. Kann sein, dass er aus einer Einrichtung für geistig Behinderte ausgebüchst ist, aber dafür kam er mir eigentlich zu funktional vor. Eine vernünftige Klinik hätte ihm problemlos beibringen können, sich in der Welt besser zurechtzufinden...“

„Du machst dir zu viele Gedanken, Cheren. Du kennst den Jungen ja nicht mal richtig“, findet Bell.

„Darum geht es nicht“, blockt Cheren ab, „Ich habe nur das Gefühl, dass da etwas nicht stimmt. Es passt alles nicht zusammen, weißt du? Sein auffälliges Verhalten, seine Art, seine Überzeugung. Das alles im Kontext mit diesem seltsamen Aufwiegler... und dann passt es plötzlich ZU gut. Ich habe einfach Angst, dass da noch etwas auf uns zukommt, was gefährlich werden könnte.“

Ich löffle schweigend meine zweite Portion Rührei, die Ansprache von gestern liegt mir schwer im Magen. All diese Yorkleff, die ich gestern gefangen habe... ich entschuldige mich leise, überlasse Bell und Cheren ihrer Diskussion und gehe allein in den Innenhof des Pokémoncenters, um die vier Hundepokémon aus ihren Bällen zu holen. Umi beobachtet mich aufmerksam, als ich die Yorkleffs an meinen Händen schnuppern lasse. Es sind liebe Pokémon, zutraulich, und anders als N kann ich nicht verstehen, was sie mir sagen wollen. Ob sie ihr Zuhause vermissen? Oder freuen sie sich darauf, mit mir auf Reisen zu gehen? Drei der Welpen scheinen lieber miteinander zu spielen als mit mir, aber der vierte ist ausgesprochen zutraulich, scheint sogar irgendwo einen Trank gefunden zu haben, den es mir schwanzwedelnd in die Hand drückt. Laut meinem Pokédex handelt es sich bei diesem Verhalten um eine spezielle Fähigkeit dieses Pokémons, die sich ‘Mitnahme’ nennt. Sicher nützlich auf einer langen Reise... und wenn ich Yorkleff so in seine großen, ovalen Augen sehe, glaube ich fest daran, dass es diese Reise mit mir machen will.

„Du brauchst auch einen Namen“, finde ich, „Ich glaube, ich nenne dich Detleff. Was meinst du?“

Detleff kläfft freudig und wedelt mit dem Schwanz. Ich denke, das kann ich als Zustimmung werten. Die anderen Yorkleffs bringe ich zurück an die Grenze zur Route Eins, wo ich sie wieder in die Wildnis entlasse. Einen Moment sehen sie mich fast enttäuscht an, dann beginnt das Erste zu spielen, und die beiden anderen stimmen schnell mit ein. Sicher haben sie mich bald vergessen... Ich sehe Detleff an, der seinen Artgenossen hinterherblickt, mich dann aber sofort hechelnd anstrahlt und schwanzwedelnd an mir hochspringt. Ich lächle beruhigt und rufe ihn in seinen Ball zurück. Vielleicht kann ich die Stimmen der Pokémon nicht hören, aber sie hören meine und wissen sich mitzuteilen, wenn es darauf ankommt.
 

Ich finde Cheren im Pokémoncenter wieder, in der festen Erwartung, dass dieses Mal ich es bin, der den Aufbruch vertrödelt, aber Bell ist auch noch nicht fertig. Sie schreibt gerade einen Brief an ihren Vater, dass es ihr gut geht und er sich keine Sorgen machen soll, und will ihn unbedingt hier noch abschicken, damit er einen aus jeder Stadt bekommt, in der wir Halt machen. Keine Ahnung, was daran so lange dauert, aber Cheren hat schon wieder ein Buch aufgeschlagen und ich setze mich neben ihn, um ein wenig Tauziehen mit Detleff zu spielen. Das Hundepokémon ist noch jung und komplett unerfahren, kein Vergleich zu Umi, für die der weitere Weg schon recht leicht sein dürfte. Ich will ein wenig mit ihm trainieren, bevor wir aufbrechen, damit ihm die Pokémon auf Route Zwei nicht über den Kopf wachsen. Endlich ist Bell auch so weit, gibt ihren Brief auf und schließt sich uns an, damit wir endlich nach Orion City aufbrechen können, wo die erste Arena wartet. Kaum fünf Schritte hinter der Stadtgrenze klingelt plötzlich mein Visocaster – Mama ist dran, sie wollte meine Stimme hören. Ich entschuldige mich natürlich sofort dafür, gestern Abend nicht mehr angerufen zu haben, aber sie winkt nur lachend ab und meint, ich sollte mich mal umdrehen. Ich tue es, und mir bleibt prompt der Mund offenstehen.

„Hallo Schatz“, grüßt Mama, die direkt hinter mit aus dem Schatten des Stadttores tritt.

Sie winkt.

Ich winke mechanisch zurück.

Bell bricht in schallendes Gelächter aus, und auch Cheren kann sich ein leises Kichern nicht verkneifen.

„Was machst du denn hier?!“, entfährt es mir, und ich stimme selbst mit in das Gelächter ein.

Mama zieht eine Tasche hervor und überreicht sie mir strahlend. „Die habe ich gestern im Angebot gesehen und bin gleich nach Gavina gefahren, um sie dir zu kaufen“, erklärt sie, „Ich bin froh, dass ich dich noch erwischt habe.“

Ich öffne neugierig die Tasche und strahle, als ich den Inhalt sehe. „Turbotreter!“ Die neusten und besten Schuhe, die es auf dem Markt für junge Trainer zu kaufen gibt. Glücklich falle ich meiner Mutter um den Hals, bedanke mich ausgiebig und ziehe die neuen Schuhe gleich an. Sie sind superbequem, und der leicht ansteigende Weg nach Orion City sieht plötzlich viel weniger lang und beschwerlich aus.

„Behalt die alten Schuhe lieber noch eine Weile“, rät Mama, „Und trag die neuen nicht zu lang, bis sie richtig eingelaufen sind, sonst bekommst du Blasen. Nun lasst euch aber nicht von mir aufhalten, genießt euer Abenteuer!“

Ich umarme Mama noch ein letztes Mal, bedanke mich nochmals und winke ihr nach, als sie wieder in der Stadt verschwindet, dann binde ich meine alten Schuhe an den Rucksack und wende mich wieder nach vorne. Bell und Cheren nicken mir zu, und gemeinsam machen wir uns auf den gewundenen Weg nach Norden. Es ist ein sanfter, aber stetiger Anstieg, und immer wieder ist der helle Kiesweg von meterhohen Terrassen blockiert, die man zwar herunterspringen, aber kaum erklimmen kann. Immer wieder müssen wir einen TRampelpfad durchs hohe Gras nehmen, um zwischen den dichten Tannen voranzukommen. Heute sind auch einige Trainer unterwegs, die uns zum Kampf herausfordern. Ihre Pokémon sind keine Gegner für Umi, aber Detleff hinkt noch ziemlich hinterher und kann die Erfahrung gut brauchen, die er durch die Kämpfe gewinnt. Auch wilde Pokémon gibt es hier reichlich, neben weiteren Yorkleff und Nagelotz treffe ich auch einige Felilou. Da mein Gewissen durch Detleffs Eifer ein wenig beruhigt ist beschließe ich, mir eines davon zu fangen, dessen schönes Fell mir besonders ins Auge fällt. Es ist ein hastiger kleiner Kerl, der Detleff ganz schön ins Schwitzen bringt, aber er ist schnell gefangen. Als wir unter einem Baum Pause machen, um auf einer Picknickdecke unsere Brotzeit einzunehmen, rufe ich das frisch gefangene Pokémon aus seinem Ball, um ihm einen Trank zu geben und ihn mir genauer anzusehen.
 

Das violette Katzenpokémon hat intelligente Augen, ein süßes Schnäuzchen und eine Menge Energie, scheint aber sehr an mir und meiner Tasche interessiert und wird schnell zutraulich. „Ich will dich Louis nennen“, beschließe ich, „Willkommen im Team.“

„Gibst du jetzt all deinen Pokémon Namen?“, erkundigt sich Bell neugierig.

„Ja, du nicht?“, frage ich zurück. Dass Cheren nur sein Serpifeu extra benannt hat ist mir klar, aber von Bell hatte ich schon ein paar Kosenamen erwartet.

„Naja, ich hab ja erst zwei“, meint Bell, „Rex und das kleine Yorkleff... sie heißt Gina.“ Einen Moment sieht Bell ihre Pokémon still an, dann strahlt sie plötzlich. „Hey, weißt du was? Lass uns kämpfen, Bianka, ich will sehen, ob ich dich immer noch schlagen kann.“

„Sicher nicht mehr“, meint Cheren, „Jetzt, wo Umi ihren Typvorteil nutzen kann.“

„Das werden wir sehen!“, protestiert Bell und springt auf. Rex ist sofort dabei, stampft mit den Hüfchen und grunzt kampfeslustig. Nun kann ich kaum noch protestieren, also springe auch ich auf die Beine und gebe Umi die Erlaubnis, sich zu beweisen. Sie tut es; nach all dem Training ist sie beinahe unschlagbar, und Rex’ Verwundbarkeit gegenüber ihrer Aquaknarre tut ihr übriges, den Kampf schnell zu beenden. Um den Rest des Kampfes etwas fairer zu gestalten rufe ich sie zurück und schicke Detleff in den Kampf gegen Gina. Yorkleff gegen Yorkleff – es ist ein unübersichtlicher Kampf voll rollendem Fell, aber Detleff ist es, der sich als Sieger aus dem Knäul rauft. Er bellt laut und triumphierend, und ich lobe ihn ausgiebig. Bell seufzt enttäuscht, küsst ihre Pokémon aber dennoch voller Dankbarkeit und lässt eine Runde Tränke für alle springen.

„Guter Kampf, Bianka, vielen Dank.“

„Danke dir, Bell, es hat Spaß gemacht.“
 

Wir essen unsere Brotzeit zu Ende, räumen zusammen und machen uns auf den restlichen Weg nach Orion City. Ich habe meine alten Schuhe wieder angezogen, um mir keine Blasen zu laufen, aber nach der guten Mahlzeit und dem belebenden Trainingskampf ist der Anstieg doch weniger anstrengend, als er ausgesehen hat. Orion City ist schnell erreicht und wir haben noch viel Zeit, uns umzusehen, bevor wir uns im Pokémoncenter einrichten.

Orion City

Orion City ist eine große Stadt, mit hohen Häusern und einer bezaubernden Parkanlage. Das Wetter ist angenehm warm, als wir ankommen, aber die Gebäude und Bäume werfen tiefe Schatten, in denen sich die Kälte des Winters und auch noch ein letzter Rest Schnee hält.

„In so einem Appartment würde ich nicht wohnen wollen“, stellt Bell fest, als sie den Blick über die vielen kleinen Balkons schweifen lässt, hinter denen jeweils eine eigene kleine Wohnung liegen muss, „So ganz ohne eigenen Garten und wie in einem Regal…“

„Manche finden es sicher angenehm so“, entgegnet Cheren, „Immerhin hat man seine Nachbarn ganz in der Nähe, und in so einer großen Stadt gibt es auch viel mehr zu sehen als in unserem Dorf. Wir haben ja nicht mal ein eigenes Pokémoncenter, geschweige denn eine Arena oder einen Park. Ganz zu schweigen von der Trainerschule – da gehen wir übrigens als erstes hin.“

„Wie bitte?“, frage ich empört, „Und was ist mit dem Pokémoncenter?“ Ich deute auf das Gebäude mit dem leuchtend roten Dach, an dem Cheren uns gerade vorbeischleifen will.

„Genau, ich bin total müde vom Laufen, meine Pokémon sind müde vom Kämpfen, mir tun die Füße weh und ich hab Hunger“, stimmt Bell mir jammernd zu. „Können wir wenigstens kurz schonmal einchecken?“

„Und da anstehen?“, hält Cheren dagegen und weist auf die Schlange vor der Tür. „Die kommen gerade alle aus der Arena, und so, wie die aussehen, werden wir ohnehin einige Wochen hierbleiben und trainieren müssen. Lasst uns erst in die Trainerschule gehen und dann einchecken, wenn der Hochbetrieb vorbei ist.“

Bell stöhnt, ich seufze, aber insgeheim müssen wir beide zugeben, dass Cheren Recht hat. Die Trainerschule ist ein faszinierender Ort. Es ist ein dreistöckiges Steingebäude im altertümlichen Baustil, mit mintgrünem Anstrich und cremeweißen Säulen. Vor der Tür wehen schwere Fahnen aus rotem Samt mit goldener Borte, und die schwere Holztür verstärkt nur den ehrwürdigen Eindruck des alten Gebäudes. Unsere Schritte hallen in dem großen, marmorgefliesten Eingangsraum, und ich fühle mich plötzlich erschreckend klein zwischen den Statuen alter Helden und Forscher, die hier auf mich herabblicken. Wer alles lernen will, was es über Pokémon zu wissen gibt, findet eine Schule mit entsprechendem Bildungsweg in beinahe jedem Ort. Die Pokémonakademie allerdings ist wie Monument an das Wissen über Pokémon, der Traum eines jeden, der Pokémonprofessor, Sammler, Züchter, Arenaleiter oder Meister werden will. Die Bibliothek ist die größte ihrer Art in ganz Einall, mehrere Stockwerke hoch und dicht bepackt mit Büchern, Registern und Bildbänden über Pokémon aus der ganzen Welt, gesammelt über mehrere Jahrhunderte. Dazu gibt es hochmoderne Klassenräume, sowie renommierte Dozenten, die teilweise selbst Forschen und immer das aktuellste Wissen vermitteln. Die Türen stehen jedem offen, der einmal hineinschnuppern will, und wir verbringen beinahe den ganzen Nachmittag damit, uns über Typvorteile, Werte, Fähigkeiten und Taktiken schlauzulesen, Bilder von legendären Pokémon zu suchen und das riesige Gebäude zu bewundern. Im Innenhof findet sich sogar eine Arena!

„Hier einmal kämpfen zu können...“, seufzt Cheren verträumt, „Der Platz ist fast so groß wie in der Pokémonliga...“

Leises Kichern lässt uns aufschrecken, ein vorbeigehender Dozent scheint uns gehört zu haben. „Ihr seid Trainer, nicht wahr?“, erkundigt er sich, „Macht nur, ich erlaube euch einen Kampf.“

„Ehrlich?“ Cheren strahlt förmlich, ganz untypisch für ihn, und wendet sich sofort mir zu. „Was meinst du, Bianka, bereit für eine Revanche?”

Ich zögere, nun ärgere mich doch, dass wir nicht zuerst ins Pokémoncenter gegangen sind. Umi ist nicht schwer verletzt dank des Trankes, aber sie ist sicher erschöpft vom vielen Training, weil sie Detleff noch unterstützen musste. Für den Kampf gegen Cheren rafft sie sich allerdings auf, schon ist sie vor mich gesprungen und quietscht entschlossen.

„Bist du sicher?“, frage ich. Ein deutliches Nicken, Umi ist sicher. „Okay, dann gerne, ich nehme deine Herausforderung an!“
 

Letztes Mal habe ich gegen Cheren gewonnen, aber da konnte er auch seinen Typvorteil noch nicht ausspielen. Wie stark dieser sich auswirkt konnte ich ja kürzlich erst im Kampf gegen Bell testen, und das macht mir etwas Angst... aber Umi ist entschlossen und bereit, zu beweisen, dass sie auch mit dem Rücken zur Wand siegen kann, und sie nutzt die Größe der Arena, um Siegfrieds Rankenhieb wieder und wieder erfolgreich auszuweichen, während sie ihm mit gezielten Pfundattacken zusetzt. Fast besiegt schluckt das Pfanzenpokémon dann noch eine getragene Sinelbeere, um sich etwas zu heilen, aber der Kampf ist schon entschieden – Umi trifft mit einer gezielten Aquaknarre so ins Schwarze, dass Siegfrieds Resistenz gegen Wasserattacken ihn auch nicht mehr rettet.

„Danke Siegfried, komm zurück!“, ruft Cheren, und schickt sein zweites Pokémon, ein Felilou, in den Kampf. Überrascht stelle ich fest, wie ähnlich es dem Felilou sieht, mit dem N in Gavina gegen mich gekämpft hat – die weiße Zeichnung seines sonst violetten Fells und das Blitzen in seinen grünen Augen wirken beinahe zu vertraut. Ich schüttle den Kopf, um den Gedanken loszuwerden – sicher nur ein Zufall – und überlege kurz, mein eigenes Felilou in den Kampf zu schicken, aber Louis ist noch zu unerfahren.

„Umi, hältst du noch ein wenig durch?“, erkundige ich mich, und Umi pfeift zustimmend. „Okay, dann los, Aquaknarre!“
 

Umis Erschöpfung macht sie stärker, und je enger es für sie wird, desto mehr ähnelt ihre Aquaknarre einem richtigen Sturzbach. Felilou kämpft verbissen, muss sich aber schnell geschlagen geben: wie schon Ns Felilou hat auch dieses dem Wasserschwall nichts entgegenzusetzen. Der Kampf ist gewonnen, und ich rufe Umi erleichtert in ihren Ball zurück, damit sie sich ausruhen kann. „Gut gemacht, Umi, vielen Dank!“

„Du auch Felilou, mach dir nichts draus“, ruft Cheren sein Pokémon zurück, „Wir gehen jetzt ins Pokémoncenter. Vielen Dank, dass wir den Platz nutzen durften, das war eine großartige Erfahrung.“

Cheren verbeugt sich vor dem Dozenten, und ich tue es ihm eilig gleich.

„Gerne doch“, versichert der Dozent lächelnd, „Es freut mich immer, so junge und motivierte Trainer zu sehen. Ich hoffe, ihr kommt hierher zum Studieren, wenn ihr mit eurer Reise und mit der Schule fertig seid.“

„Auf jeden Fall“, versichert ihm Cheren, „Genau das ist mein Plan.“

„Das Ottaro ist schon sehr stark, auch gegen einen überlegenen Typ. Das ist gut, wenn ihr in der Arena antreten wollt, aber sich darauf zu verlassen, wäre waghalsig“, mahnt der Dozent.

„Ist es eine Pflanzenanrena?“, fragt Bell hoffnungsvoll.

„Nicht direkt“, ist die Antwort, „Die Arena von Orion City ist ein wenig anders.“

Wir hören staunend, was der Mann uns erklärt: Die Arena von Orion City wird neuerdings von nicht einem, sondern drei Arenaleitern geführt, Drillingen, die sich je einem Element verschrieben haben – Pflanze, Feuer und Wasser. Je nachdem, welches Pokémon ein Trainer zu Beginn von Professor Esche erhalten hat, muss man gegen einen der drei antreten, und zwar genau gegen den, dessen Typ einem die größten Probleme macht. Umi ist stark, aber ob es für die Arena reicht? Der Dozent hat Recht, wenn er sagt, dass ich mich lieber auf andere Pokémon verlassen sollte.
 

„Das ist dann wohl der Grund, warum die anderen so untypisch lange in Orion City geblieben sind“, schlussfolgert Cheren, als wir durch das schwere Holztor und die steinernen Eingangsstufen hinunter ins Abendlicht treten. „Nicht, weil es die erste Arena ist, sondern, weil es so schwer ist... wir müssen Pokémon fangen, die einen Vorteil in der Arena haben, oder unsere Pokémon so trainieren, dass wir zumindest keinen Nachteil haben... das kann dauern.“

Die Gebäude werfen lange Schatten durch das rotgoldene Zwielicht, und wo die Sonne nicht mehr hinreicht, wird es schnell bitterkalt. Ich schaudere in meinen zu knappen Klamotten. „Lasst uns erstmal ins Pokémoncenter gehen“, bitte ich, „Es ist spät geworden, unsere Pokémon sind verletzt und wir sind alle hungrig. Wir können ja morgen auf Route Zwei zurückkehren und dort mit dem Training anfangen, meint ihr nicht?“

„Gute Idee“, findet Bell, und schlägt ein eiliges Schrittempo an, „Ich hab gehört, dass man auch in der Traumbrache östlich der Stadt gut trainieren können soll, aber die Trainer da sind so stark, dass nur unsere Starterpokémon eine Chance haben werden... Gina kann ich da im Traum noch nicht trainieren.“

„Dann erstmal Route Zwei, bis wir in der Traumbranche bestehen“, beschließt Cheren, „Vorher brauchen wir die Arena gar nicht versuchen.“

Die Schlange vor dem Pokémoncenter ist deutlich kürzer, und offenbar kommen wir genau richtig, weil in der Mensa gerade das Abendessen serviert wird. Zimmer sind noch reichlich frei, von den diesjährigen Trainern sind wir wohl unter den ersten, die diesen Ort erreicht haben und nicht selbst in Orion City wohnen. Wir essen, während unsere Pokémon versorgt und gefüttert werden, und reden noch lange über Pläne und Strategien, bevor wir uns auf unsere Zimmer verteilen und endlich die wunden Füße hochlegen können.

Die erste Trainingsetappe

Orion City ist eine angenehme Stadt, in der es viel zu sehen gibt. Neben den hohen Wolkenkratzern gibt es hier einige Läden, Cafés und sogar Kinos, und wir müssen uns zusammenreißen, unsere Reisekasse nicht zum Vergnügen auszugeben. Zumindest an den Hotels und Herbergen können wir vorbeigehen; die Zimmer im Pokémoncenter sind schlicht, aber sie stehen uns unbegrenzt zur Verfügung, solange wir uns ernsthaft auf den Kampf in der Arena vorbereiten.

Und das tun wir, sowohl in Übungskämpfen gegeneinander, als auch, im Moment, vor allem auf Route Zwei, wo wir wilde Pokémon aufstöbern, die sich dem Kampf gegen unsere Pokémon stellen und schnell die Flucht ergreifen, wenn sie genug haben. Ns Worte nagen an mir, aber Detleff und auch Umi kämpfen mit solchem Elan, dass ich das Gefühl gut beiseiteschieben kann. Und egal wie oft wir sie in die Flucht schlagen, auch nach Wochen gibt es immer noch Pokémon, die uns im hohen Gras auflauern, um uns herauszufordern. Detleff macht schnell große Fortschritte und scheint mir bald stark genug, sein Training in die Traumbrache zu verlegen, aber Louis macht mir Sorgen. Er ist engagiert, kann es kaum abwarten, sich in den Kampf zu stürzen, und ist dabei doch so zart und verletzlich, dass er kaum einen Gegentreffer aushalten kann. Immer wieder liegt er zitternd in meinem Arm, während die anderen den Kampf für ihn beenden müssen, nur um dann wieder fauchend loszuspringen, um es mit dem nächsten Gegner zu versuchen. Er ist schon mächtig süß… noch will ich ihn nicht aus dem Team werfen, vielleicht lernt er einfach nur langsamer. Cherens Felilou zeigt sich etwas robuster, ist dafür aber langsamer als Louis. Vielleicht muss ich einfach eine entsprechende Strategie finden, um das Beste aus Louis‘ Geschwindigkeit zu machen.
 

Weil schließlich auch Bells Pokémon stark genug sind und Louis zumindest guten Willen zeigt, beschließen wir, endlich doch die Traumbrache in Angriff zu nehmen. Das Wetter wird schon merklich wärmer, die Krokusse und Märzenbecher machen den Weg frei für Tulpen und die ersten Gänseblümchen. Die Traumbrache scheint die Ruine eines alten Fabrikgeländes zu sein. Hinter den Mauern und umgefallenen Fässern kann ich hohes Gras sehen, in dem sich Pokémon tummeln, aber der Weg ist versperrt: auf der einen Seite liegt ein tiefer Graben, auf der anderen wuchern Sträucher, die man wohl nur mit einem scharfen Werkzeug herunterschneiden kann. Auf dem begehbaren Weg allerdings sammeln sich einige Trainer, die meisten knapp zehn Jahre alt und damit ebenso grün wie wir. Es ist ein wenig peinlich, dass wir so viel älter und doch genauso unerfahren sind wie diese Kinder, und das lassen sie uns auch spüren, als wir mit ihnen trainieren. Zumindest Cheren und ich schaffen es aber, uns im Kampf zu beweisen. Umi und Detleff sind stark genug, mir Respekt zu verschaffen, während Louis seine körperliche Schwäche mit ordentlich Tempo ausgleicht und mir zumindest keine Schande macht. Cherens Felilou und Siegfried zeigen sich ebenfalls von ihrer besten Seite. Bell hat dafür ordentliche Probleme, immer wieder verliert sie einen Trainingskampf gegen die Kinder, und es macht ihr ziemlich zu schaffen.
 

„Tut mir leid, dass wir meinetwegen so spät aufgebrochen sind“, schluchzt sie eines Abends beim Essen, „Es ist so peinlich, dass wir kaum stärker sind als diese frechen Kinder…“

Ihre grünen Augen sind schon ganz rotgeweint und geschwollen. Sie so zu sehen tut mir fürchterlich leid.

„Mach dir keine Gedanken“, bitte ich, lege sanft meine Hand auf Bells zitternden Arm. „Sie freuen sich nur, dass sie mit Teenagern wie uns mithalten können, das ist doch schön.“

„Bianka und ich bekommen auch nicht so viel Spott ab wie du“, erklärt Cheren, „Es ist schwer, sicher, aber wir können uns gut behaupten.“

„Wenn es dir so zu schaffen macht, können wir auch gerne auf Route Zwei zurückgehen und weiter mit den wilden Pokémon üben“, schlage ich vor, „Das geht zwar etwas langsamer, aber da würde dich immerhin niemand auslachen.“

Bell schüttelt schnell den Kopf. „Nein, ich brauche das Training. Mit den anderen Trainern übt es sich viel besser, Rex und Gina machen auch echt gute Fortschritte… ich will jetzt keinen Rückzieher machen, wo wir so kurz vorm Ziel sind. Wir sind jetzt schon einen ganzen Monat hier, und ihr beide seid fast schon gut genug für die Arena. Ich will euch nicht aufhalten…“

„Naja, so weit würde ich nicht gehen“, überlegt Cheren, „Die Arena ist doch eine Herausforderung, der ich mich noch nicht gewachsen fühle… Felilou ist stark, und Siegfried könnte den Typnachteil vielleicht schon ausgleichen, aber ich hätte schon gerne mehr Sicherheit und vielleicht ein Wasser- oder Bodenpokémon…“ Er blickt nachdenklich in sein Glas Wasser, als könnte er darin die Antwort finden. Eine Weile wenden wir uns wieder schweigend dem Essen zu: Die Kantine des Pokémoncenters kann nicht mit der Hausmannskost meiner Mutter mithalten, aber das Essen ist lecker, abwechslungsreich und nahrhaft. Heute gibt es Barschuft-Filet mit Bratkartoffeln und Kräutern, nur Bell hat sich das vegane Linsengericht geholt.

„Habt ihr das junge Mädchen gesehen, das am Ende der Straße sitzt?“, wechsle ich das Thema, „Sie scheint kein Trainer zu sein, trotzdem ist sie jeden Tag da und beobachtet uns. Ich würde gerne mal mit ihr reden.“

„Gute Idee, lass uns das morgen mal machen“, findet Cheren.

Bell nickt fleißig, wirkt aber immer noch etwas bedrückt, als wir uns auf den Weg nach oben in unser Zimmer machen. Für Cheren setzt sie eine muntere Miene auf, aber als die Tür hinter unserem Mädchenzimmer zufällt, seufzt sie wieder.

„Mach dir nicht so viele Gedanken, Bell“, versuche ich sie zu beruhigen, „Es ist doch okay, so wie es ist.“

„Danke, Bianka… es ist nur, wenn wir die Reise schon vor vier Jahren gemacht hatten, wäre es angenehmer… auch aus anderen Gründen.“

Es dauert einen Moment, aber dann dämmert mir, was sie Cheren nicht sagen konnte, und warum sie heute so oft zurück in die Stadt gelaufen ist, um ein Klo zu finden… ich war bisher nur dankbar, dass sie jedes Mal bereit war, Louis kurz ins Pokémoncenter mitzunehmen.

„Verstehe“, murmle ich, „Das ist natürlich unangenehm… aber wenn wir mit zehn gestartet wären, hätte es mich wahrscheinlich noch unterwegs und recht unerfahren getroffen“, gebe ich zu bedenken, „So bin ich wenigstens vorbereitet und habe schon alles dabei. Mich hat es ja ziemlich früh erwischt, aber für dich ist es neu, oder? Sag ruhig, wenn du was brauchst.“ Ich zeige ihr meine Notfalltasche mit Damenprodukten und Schmerztabletten, für den Fall der Fälle.

„Erzähl bitte Cheren nichts, mir ist das total peinlich…“, bittet Bell und nimmt sich tatsächlich etwas aus der Tasche, um nochmal schnell aufs Klo zu rennen. Ich nicke nur schweigend und packe den Rest wieder weg. Vermutlich ist das ein Grund, warum Jungs mehr Vergnügen auf ihrer Reise haben und statistisch länger durchhalten… Campen und Wandern macht eindeutig mehr Spaß, wenn einem der eigene Körper gerade keine Probleme macht.
 

Der nächste Tag ist sonnig und trocken, nicht gerade Umis Wohlfühlwetter, aber dafür zeigt Rex sich von seiner besten Seite und schafft es damit, Bell ein wenig aufzuheitern. Wie abgemacht gehen wir heute auf das Mädchen zu, das uns schon die ganze Zeit beobachtet hat. Sie hat kurze schwarze Haare und ein süßes rotes Kleid, ich schätze die auf etwa acht Jahre. Das Mädchen lächelt uns zu, als sie meinen Blick bemerkt, als hätte sie genau darauf gewartet.

„Ich hab mich gefragt, wann mich jemand anspricht“, meint sie, „Ihr trainiert für die Arena von Orion City, nicht wahr? Habt ihr diese Pokémon von Professor Esche bekommen?“

„Ja, das haben wir“, bestätigt Cheren, „Serpifeu – Siegfried – gehört zu mir, das Ottaro ist Biankas Umi, das Floink gehört Bell und heißt Rex.“

„Ihr seid ein wenig älter als die anderen Kinder hier“, stellt das Mädchen fest, „Ihr seid später gekommen, aber der Stärke eurer Pokémon nach seid ihr auch dieses Jahr gestartet, nicht wahr? Braucht ihr etwas Hilfe für die Arena?“

„Hättest du denn einen guten Tipp für uns?“, frage ich hoffnungsvoll.

„Besser“, schmunzelt das Mädchen, „Ich bin Pokémonzüchter und kann euch genau das geben, was ihr braucht. Was haltet ihr davon? Meine einzige Bedingung ist, dass ihr den anderen Trainern nichts verratet, die müssen von selbst auf mich zukommen.“

Ich tausche einen Blick mit Cheren und Bell aus.

„Es hört sich fast zu gut an, um wahr zu sein“, findet er, „Warum solltest du uns helfen wollen?“

Das Mädchen schmunzelt. „Sieh es als Teil der Prüfung. Ich habe euch beobachtet und für würdig befunden. Mich anzusprechen war die Bedingung.“ Sie zieht drei Pokébälle aus ihrer Tasche, alle mit einem Symbol versehen. „Sodamak für den Herren mit dem Serpifeu“, beginnt sie und streckt Cheren den ersten Ball hin, „Vegimak für das Mädchen mit dem Floink, und Grillmak für das Mädchen mit dem Ottaro. Sie werden ein bisschen Training brauchen, um euch in der Arena von Nutzen zu sein, aber dann wird es recht einfach. Viel Erfolg!“ Sie strahlt uns geradezu an, als wir die Pokémon aus ihren Bällen lassen, um sie genauer in Augenschein nehmen zu können. Sie sehen einander bemerkenswert ähnlich, süße Affenpokémon, jeweils in den Farben ihres Typs. Wir bedanken uns bei dem seltsamen Mädchen und machen uns sofort daran, die neuen Pokémon zu trainieren.



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