Tagebuch einer Trainerin von SoraNoRyu (Pokémon Weiße Edition (Nacherzählung)) ================================================================================ Kapitel 5: N ------------ Wir lassen unsere Pokémon gründlich versorgen, essen zusammen und mieten uns zwei Zimmer – Cheren braucht der Regeln halber ein eigenes – und verabschieden uns von Professor Esche. Bell ist müde von der Reise und will sich gerne gleich hinlegen, während Cheren und ich die Dämmerung nutzen wollen, um uns noch vor dem Schlafengehen die Stadt anzusehen. Gavina ist eine große Stadt, in Terassen angelegt und dominiert von mehrstöckigen Häusern. Jetzt, wo die Sonne untergeht, flackern die Straßenlaternen ins Leben und tauchen die Straßen in ein ganz anderes Licht. „Faszinierend, nicht wahr?“, meint Cheren, „Ganz anders als unser Dorf.“ Ich kann nur zustimmend nicken und mich fragen, wie es wohl ist, statt einem Haus nur eine Wohnung in so einem großen Gebäude zu haben. Wie viele Familien wohl in jedem davon wohnen, und wie viele Kinder es dort gibt? Zwischen den Häusern sind Spielplätze und kleine Parks angelegt, auf einer Marktfläche hat sich ein großer Pulk Menschen versammelt. Irgendjemand scheint dort eine Rede zu halten. „Lass uns das mal ansehen“, schlägt Cheren vor, und wir drängen uns in die Menge. Damit sie nicht verloren geht, nehme ich Umi auf die Arme, und Siegfried klettert an Cheren hoch, um sich wie ein Schal um dessen Schultern zu winden. Weil wir beinahe noch Kinder sind, lassen uns die erwachsenen Zuhörer ein wenig vor, und wir bekommen schnell einen guten Blick auf den Redner. Es ist ein großer, grünhaariger Mann mit einem seltsamen Monokel, der eine lange, schwere Kutte trägt und stark gestikulierend seinen Monolog vorträgt. Nach den vielen Ansprachen, die ich heute schon ertragen musste, fällt es mir schwer, mich nochmal auf so viel Text einzulassen, aber der Mann spricht mit solchem Eifer, dass die Worte doch zu mir durchdringen: es geht um Pokémon, und wie wir sie halten. „Wacht auf, ihr Schafe“, wird mehrmals wiederholt, „Seht sie euch an, eure Pokémon, seht, wie sie für euch arbeiten, für euch kämpfen, für euch leiden! Gefangen in diesen kleinen Kapseln, nur für euer Vergnügen aus der Welt gerissen und gezwungen, eurer Befehle zu harren. Wacht auf und seht, wie sie leiden!” Ich runzle die Stirn und lockere instinktiv meinen Griff um Umis Körper. Das Ottaro nutzt die Gelegenheit, um keckernd auf meine Schultern zu klettern und, den Kopf auf meine Kappe gelegt, einen besseren Blick auf den Mann zu bekommen. „So ein Unsinn...“, höre ich Cheren neben mir grummeln, und viele der Umstehenden sind seiner Meinung. Der Redner lässt sich nicht beirren: „Und glaubt mir, ich kenne die Lügen. Legenden über Harmonie und Partnerschaft zwischen Menschen und Pokémon. Wacht auf, ihr Lämmer! Welche Partnerschaft macht es nötig, einen sogenannten ‘Freund’ wie einen Sklaven einzusperren? Ihr haltet sie in kleinen Bällen, zwingt ihnen euren Willen auf, dass eure Kinder mit ihnen spielen können. Wenn ihr sie nicht gleich gegeneinander kämpfen lasst, ungeachtet der Wunden, die sie sich zuziehen! Wacht auf, lasst sie frei! Wenn ihr eure Pokémon so liebt, wie ihr sagt, schickt sie zurück in die Freiheit, aus der ihr sie gerissen habt! Nur das ist die Wahrheit, der ihr euch stellen müsst.“ Cheren rollt deutlich mit den Augen, und Siegfried tut es ihm gleich. „Augenwischerei und Verschwörungstheorien“, meint er, „Mehr ist das nicht.“ Ich taste unsicher nach Umi, seufze erleichtert auf, als ich ihr weiches Fell unter meinen Fingern spüre. Sie fängt leise fiepend an, mir die Finger zu lecken, und ich erinnere mich an den Elan, mit dem sie heute für mich gekämpft hat. Sie sah nicht aus, als wäre sie gezwungen, warum auch? „Wir sind doch Freunde, oder, Umi?“ Umi fiept und drückt ihre große Nase in meine Hand. Siegfried scheint derweil einen beruhigenden Geruch auszuströmen, ich kann sehen, dass Cheren trotz seiner Worte entspannter wirkt. Siegfried knurrt leise, die großen Augen auf den Redner gerichtet, der nun mit seiner militärisch anmutenden Entourage von dannen zieht. Die Menschen, die ihm zugehört haben, verteilen sich, kopfschüttelnd und murmelnd, und verschwinden wieder in ihren Häusern. Inzwischen ist es fast dunkel, umso mehr fällt mir der einzelne Junge auf, der im Licht einer Straßenlaterne stehen geblieben ist. Er scheint etwa in unserem Alter zu sein, groß gewachsen, mit langen grünen Haaren und einer schwarzen Kappe, die er tief ins Gesicht gezogen hat. Er scheint dem Redner zuzustimmen, spricht aufgeregt mit dem Felilou, das schnurrend um seine Beine streicht, und wiederholt, dass Pokémon frei sein sollten, statt von Menschen gequält zu werden. Cheren hört es auch, und ihm platzt der Kragen. „Hörst du dir eigentlich selber zu?“, faucht er den Jungen an, „Du bist doch selbst ein Trainer und ein Mensch! Wenn du glaubst, dass Menschen grausam sind und keine Pokémon halten sollen, warum lässt du dein Felilou nicht einfach frei und verpisst dich?” Der Junge blickt erschrocken auf, sieht aber nicht Cheren an, sondern Siegfried, der knurrend auf dessen Schultern sitzt. „Mein Felilou?“, echot er verwirrt, „Felilou gehört sich selbst, nicht mir, und er ist frei.“ Der Junge hebt die Arme, wie zum Beweis, dass er keinen Pokéball trägt. Umi springt von meinen Schultern, kampfbereit, und schnuppert in Richtung des Katzenpokémons. Siegfried fixiert weiter den Jungen. „Ihr seid anders“, murmelt der nun, „Ihre Stimmen, sie klingen anders. Was... wer seid ihr?“ „Sag lieber erstmal, wer du bist!“, faucht Cheren, „Schonmal was von Manieren gehört?“ Der Junge wirkt überrascht, als hätte man ihn völlig auf dem falschen Fuß erwischt. Er legt den Kopf schief wie ein verwirrtes Piccochilla, wippt ein wenig vor und zurück und murmelt unverständlich vor sich hin. Die Finger seiner linken Hand spielen mit einer Art Würfel, der an seinem Gürtel hängt... ich habe den Eindruck, der Junge ist mit zwischenmenschlichem Verhalten generell nicht vertraut. Cheren scheint zu demselben Schluss zu kommen, ich kann sehen, dass sein Ausdruck an Schärfe verliert. „Ich wollte dich nicht beleidigen“, gibt er nach, „Mein Name ist Cheren und das ist Bianka. Wir haben heute unsere Reise als Pokémontrainer angetreten... Siegfried und Umi hier sind unsere ersten Pokémon. Wie heißt du?“ „Ich bin N“, stellt der Junge sich vor, und ich brauche eine Weile um zu verstehen, dass sein ganzer Name wirklich nur dieser Buchstabe ist. „Ich bin... vielleicht bin ich ein Trainer, aber ich fange keine Pokémon. Felilou ist Felilou, wir sind Freunde. Ich will... ich mag Pokémon und ich möchte, dass es ihnen gut geht. Ich kann ihre Stimmen hören, sie sagen mir, wie sie bei den Menschen leiden, und das will ich nicht, das muss ich ändern.“ „Tut mir leid“, meint Cheren, „Du bist offensichtlich verwirrt und... speziell, aber das ist Blödsinn. ‘Stimmen der Pokémon?’ Pokémon können nicht sprechen, es sind Pokémon, keine Menschen! Sie denken und reden nicht wie wir, und anzunehmen, dass sie es doch tun, ist einfach falsch.“ „Du verstehst nicht“, argumentiert N, „Ich kann sie hören. Kann ihre Stimmen hören, immer schon. Nicht wie Menschen, die der Pokémon... sie leiden, weil Menschen wie ihr es nicht verstehen.“ Umi pfeift missgünstig und klatscht ihren flachen Schwanz auf den Boden. N blickt sie an, wieder aufgeschreckt und für den Moment aus seinem hektischen Rhythmus gerissen. „Anders... deine Stimme... eure sind anders. Warum? Ich muss mehr hören... du willst kämpfen, Ottaro? Felilou... du auch, mein Freund? Ein Kampf, damit ich eure Stimmen hören kann? Vielleicht ist das der Weg... es gefällt mir nicht, aber es geht wohl nur so. Ja, lass uns kämpfen, Bianka.“ Er sieht auf und mir direkt in die Augen. Einen Moment bin ich überrascht; bis eben war N nur ein Freak, aber jetzt, wo ich sein Gesicht sehen kann, wirkt er menschlicher auf mich, leichter zu lesen. Seine grünen Augen sind ungewöhnlich klar, sein Blick entschlossen. Der plötzliche Umschwung überrascht mich so sehr, dass ich fast Regel eins der Traineretikette vergessen hätte: Wenn sie die Blicke kreuzen, kommt es zum Kampf. „Umi, bist du bereit?“, frage ich unnötigerweise, denn mein Ottaro ist längt vorgesprungen, um den Kampf aufzunehmen. Felilou streicht noch einmal um Ns Beine und fährt dann die Krallen aus, gibt mit einem lauten Miauen zu verstehen, dass es heiß darauf ist, zu kämpfen. Das Traning im hohen Gras hat sich bezahlt gemacht, Umi ist gut in Form und hat eine neue Attacke gelernt, Aquaknarre. Felilou dagegen scheint tatsächlich ein wildes Pokémon zu sein; es hört auf Ns Ratschläge, diese kommen allerdings so zögerlich und unerfahren, dass das Pokémon seine eigenen Entscheidungen trifft. Entsprechend schnell ist der Kampf auch entschieden, Umi gelingt es ohne Probleme, den Gegner kampfunfähig zu machen. N wirkt erschrocken, aber weniger über seine Niederlage als über den Kampf selbst. Beinahe tut er mir leid, so überfordert, wie er mit der Situation wirkt, während er sich murmelnd über Felilou beugt und das Pokémon mit ein paar Heiltränken wieder aufpäppelt. Umi will er auch heilen, aber sie faucht ihn nur ablehnend an. „Gib mir das“, schlage ich sachte vor, lasse mir den Heiltrank geben, um ihn selbst auf Umis Kratzer zu sprühen. Sie keckert beleidigt, lässt es sich aber gefallen. „War das dein erster Kampf?“ N nickt verlegen und streichelt abwesend durch Felilous Fell. „Es ist seltsam, ihr seid so anders... Ottaros Stimme klingt so anders. Serpifeu auch, was ist das nur...“ Er wippt nervös vor und zurück, streichelt Felilou und scheint sich kaum beruhigen zu können. Ich wechsle einen Blick mit Umi, die mich aus ihren großen Augen ansieht, und tätschle N etwas hilflos die Schulter. „Ich muss nachdenken“, meint er schließlich und steht fast ruckartig auf, „Danke, Felilou, du hast gut gekämpft. Geh nach Hause... auf Wiedersehen.“ Und schon hat er sich umgedreht und verschwindet in der Dunkelheit. Felilou bleibt etwas verloren sitzen, sieht ihm aus großen Augen nach und verschwindet schließlich mit einem leisen Maunzen im Gebüsch. „Seltsamer Kerl“, meint Cheren, „Aber gut gekämpft, Bianka, Umi. Lass uns für heute zurück ins Pokémoncenter gehen, es ist echt spät geworden, und es ist kalt. Ich will duschen und ins Bett...“ Ich nicke und schließe mich an, Umi klettert wieder auf meine Schulter, um den Weg reiten zu können. Sie ist warm und weich, angenehm in der schnell auskühlenden Luft. „Glaubst du, es ist was dran an dieser Geschichte?“, frage ich Cheren. „Ich weiß nicht, es klang nach einem Riesenhaufen Mist“, antwortet er, „Aber dieser Junge... er ist vermutlich irgendwie behindert oder so, aber das muss nicht heißen, dass er falsch liegt. Stimmen hin oder her, kann gut sein, dass er wirklich was sieht oder hört, was wir nicht mitbekommen, und nur keine besseren Worte dafür hat. Ich dachte erst, er vermenschlicht Pokémon, wie es viele Leute machen, aber dann kam es mir eher so vor, als würde er sich selbst mehr wie ein Pokémon sehen. In jedem Fall hast du ihn wohl ziemlich beeindruckt. Das Felilou hat sich wohl auch Hoffnungen auf ihn als Trainer gemacht.“ „Meinst du, es wollte von ihm gefangen werden? N hat es nach Hause geschickt, vielleicht hat es da Familie...“ „Vielleicht. Vielleicht wissen Pokémon aber auch, dass sie an der Seite von Menschen stärker werden und die Welt sehen können, und vielleicht gefällt ihnen das.“ „Umi und Siegfried scheinen sich ja bei uns wohlzufühlen...“ „Und das werden viele andere Pokémon auch“, beruhigt mich Cheren, „Sieh einfach genau hin und behandle sie gut, dann kann dir niemand etwas vorwerfen. N nicht, und dieser seltsame Typ auf dem Podium erst recht nicht. Hör einfach auf dein Herz.“ Umi pfeift leise und lehnt sich schwer auf meinen Kopf, ihre flossenartigen Füßchen fest auf meinen Schultern platziert. Sie wirkt entspannt und etwas müde... Es ist aber auch wirklich spät geworden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)