Zum Inhalt der Seite

Never let me go

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich bin mir unsicher, ob es wirklich eine Triggerwarnung braucht, aber es wird schon ein bisschen düster; mit Andeutungen von selbstverletzendem Verhalten, Depressionen, Suizid, Krankheit und Tod. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wer noch nichts nach Staffel 3 des Animes weitergelesen oder -geguckt hat, wird hier vielleicht ein bisschen gespoilert, was Tachihara angeht. Es ist mehr ein Teaser, da ich nichts Konkretes sage. Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

More than just a leitmotif – More chaotic, no relief

More than just a leitmotif

More chaotic, no relief“

 

Placebo, „Special K“

 

„Das Büro der besoffenen Detektive.“

„GANZ SICHER NICHT!“

Der entrüstete Ausruf hallte aus der ehemaligen Apotheke, in der sich die beiden diskutierenden Männer befanden, weit hinaus über das dichte Blattwerk des idyllischen Merrion Square Parks und, in die andere Richtung, weit, weit über die altehrwürdigen Mauern des Trinity Colleges bis hin zu den sehr stattlichen Überresten der hiesigen Burg in weiterer Entfernung.

Die alte Apotheke mit ihrer weißen Fassade und ihren großen Fenstern war erst seit kurzem von den beiden stark unterschiedlichen Männern gepachtet worden. Sie hatten viel damit vor - und bisher hatte noch nichts so wirklich reibungslos funktioniert. Dabei wussten die beiden Männer genau, was ihnen vorschwebte, denn sie hatten im fernen Japan eine Firma kennengelernt, nach der sie ihre nun modellieren wollten. In der Theorie hatte dies alles ganz einfach geklungen. Sie hatten sich direkt nach ihrer Rückkehr aus Japan tatenfroh in die Arbeit gestürzt; nur um festzustellen, dass keiner von ihnen ein Händchen für bürokratische Aufgaben hatte.

Tatsächlich war einer von beiden vom bloßen Wort „Bürokratie“ so angewidert, dass er seinem Gefährten alle administrativen Tätigkeiten überlassen hatte – was nicht die klügste Entscheidung gewesen war.

Denn – so hatte der grundsätzlich vor sämtlichen Verwaltungsaufgaben flüchtende Oscar Wilde es zähneknirschend erfahren müssen – obwohl sein Kompagnon so akribisch und beflissen war … James Joyce war eine Katastrophe, wenn es um das Beschaffen und Ausfüllen wichtiger Dokumente ging. Der sonst überkorrekte Ire mit den kurzen, sandig blonden Haaren und der (nicht selten vor Wut beschlagenden) Brille wurde regelmäßig zum nervösen Wrack, wenn sie zum Amt für übernatürliche Fähigkeiten in Dublin trabten. Wilde fand das irgendwie süß – und sah trotzdem nicht ein, dass er dem spürbar überforderten Freund die lästige Arbeit abnehmen sollte. Er hatte dabei natürlich nur das Beste für seinen langjährigen Kollegen im Sinn: Joyce musste lernen, mit allen Schwierigkeiten selbst fertig zu werden und dabei die Ruhe zu behalten. Zum Glück schaffte Wilde es jedes Mal, wenn Joyce auf dem Amt einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte, die zuständigen Beamten wieder zu besänftigen und einzulullen, so dass sie ständig Aufschub für viel zu schnell nahende Fristen gewährt bekamen.

Die Eröffnung ihrer eigenen Firma nach dem Vorbild dieser gewissen japanischen Firma hatte sich so immer und immer weiter verzögert. Himmel, hätte er gewusst, was da alles auf sie zukäme, hätte er es sich vielleicht anders überlegt … nein. Hätte er nicht. Wilde musste innerlich gequält lächeln, wenn er daran dachte. Dies war seine Berufung. Dies war das, wonach er so lange gesucht und sich gesehnt hatte. Dies war die Wiedergutmachung für alle Sünden, die er je begangen hatte.

Die Eröffnung eines eigenen Detektivbüros.

Und endlich waren sie in den Besitz einer eigenen Befähigtenlizenz gekommen. Nun hatten sie die Räumlichkeiten, die Lizenz und einen Eröffnungstermin, es fehlte nur noch der Name für ihre Detektei.

„Was ist falsch an dem Namen?“ Wilde grinste vergnügt, obwohl sein letzter Vorschlag so lautstark abgelehnt worden war. „Ich finde, der hat etwas. Er bleibt auf jeden Fall im Kopf.“

„Ja, aber nur so lange, bis wir wegen des bescheuerten Namens pleite gehen“, konterte Joyce umgehend.

„Aw, immer so pessimistisch. Wenn du jetzt schon von unserer Pleite sprichst, bringt das bestimmt Unglück.“ Wilde zwirbelte eine seiner langen, braunen Haarsträhnen um einem Finger „Bitte, ich bin offen für Gegenvorschläge.“

„Ein Gegenvorschlag?“ Joyce räusperte sich und kreuzte die Arme vor der karierten Anzugweste, die er seit neustem immer trug. Er hatte sie äußerst modisch gefunden; bis ein gewisser Wirrkopf sie mit verschmitztem Lächeln und deutlich sichtbarem Augenzwinkern „adrett“ genannt hatte. Adrett! ADRETT! Gut, vielleicht hatte er selbst ein bisschen weniger modisches Gespür als der feine Herr Wilde, der sich vermutlich im Dunkeln anziehen konnte und dennoch aussehen würde wie aus einem Hochglanzmodemagazin. Aber er selbst wickelte auch nicht jeden Verkäufer um den Finger, um einen Rabatt zu bekommen. Und er war ganz bestimmt NICHT neidisch, dass dem so war!

„Jimmy?“

Joyce zuckte zusammen, als er angesprochen wurde.

„Hat das einen Grund, dass du mein schickes Seidenhemd so anstarrst und dabei die große Vene auf deiner Stirn hervortritt?“

Er zuckte erneut zusammen. „N-nein.“

„Wenn du meinst.“ Wilde grinste wieder schelmisch. „Und der Name für unsere Detektei? Irgendeine Idee?“

„Selbstverständlich.“ Der Blonde räusperte sich, als sein Gegenüber ihn mit großen, erwartungsvollen Augen anblickte. „Detektur.“

„Häh?“

„Detektur.“

„Häh?“

„DETEKTUR! SPRECH ICH SUAHELI??“

„Ist schwer zu sagen ….“ Wilde legte den Kopf schief. „Was soll eine Detektur sein?“

„Eine Kombination aus 'Detektei' und 'Agentur' natürlich.“

„Natürlich. … Glaubst du, das versteht irgendjemand?“

„Wieso sollte man dies nicht verstehen?“ Von sich sehr überzeugt, schob Joyce seine Brille hoch. „Du wirst schon sehen, sobald wir die ersten Erfolge erzielt haben, wird dieses Wort jedem Kind, jedem Greis und selbst jedem sturzbetrunkenen Pubbesucher ein Begriff sein.“

„Ich hoffe, du beschreibst da nicht unsere zukünftige Klientel.“

„Wer ist jetzt der Pessimist?“

Der Brünette schenkte ihm ein weiteres Schmunzeln. „Immer noch du. Und damit deine Miesmuschel-Vorhersagen nicht Realität werden, lass uns bitte endlich einen Namen finden, um das dämliche Schild draußen beschriften zu können. Ist schon schlimm genug, dass wir unser Büro in einer verlassenen Apotheke einrichten müssen.“

„Beschwer dich noch. Wo sollen wir denn sonst hin?“

„Paris soll wunderschön zu dieser Jahreszeit sein.“

„PARIS IST ZU JEDER JAHRESZEIT

WUNDERSCHÖN! UND ZU JEDER JAHRESZEIT VIEL ZU TEUER!!“

„Awwww ...“ Wilde seufzte herzzerreißend, während sein Kamerad durchatmete.

„Wir hatten noch Glück, dass ich durch gute Beziehungen günstig an diese Immobilie gekommen bin. Unsere Finanzen geben momentan nicht mehr her. Die Lizenz und der gesamte Verwaltungsaufwand haben unserem Geschäftsbudget den Todesstoß verpasst. Sehen wir die Rückkehr in die Heimat als einen Neuanfang auf vertrautem Boden an. Und wir sind dem englischen Sommerregen endlich entkommen.“

„Und was ist mit dem irischen Sommerregen?“

Joyce biss sich auf die Zähne. Er war es gewohnt, dass sein Kollege an seinen Nerven sägte und ihn fast zur Weißglut brachte. Aber nach dem Tod ihres früheren Vorgesetzten (nein, Aldous Huxley war doch viel mehr als das gewesen) und ihres jüngeren Schützlings James Matthew Barrie hatten sie nur noch sich. Sie waren die einzigen, die von der einst so vielversprechenden Organisation übrig geblieben waren.

„Jimmy ...“, drang plötzlich die weitaus sanfter und beinahe traurig klingende Stimme Wildes an seine Ohren. „Wenn du so dreinschaust, dann denkst du an … die beiden, oder?“

Joyce sah mit weit aufgerissenen Augen zu seinem scheinbar alles durchschauenden Freund. Wie machte der Mann das? Wieso wusste er stets, was er dachte?

„Nein. Nein, daran habe ich gar nicht gedacht“, log er im Angesicht von Wildes nun trübsinniger Miene. „Nicht direkt.“

Sein Gefährte blickte ihn mit erhobener Augenbraue argwöhnisch an. „Nicht direkt?“

„Ich … ich dachte an … an das Büro der bewaffneten Detektive. Wie mögen die wohl auf ihren Namen gekommen sein?“

Wildes Miene hellte sich wieder auf. „Ich kann mir vorstellen, dass ihr Chef darauf gekommen ist. Man sieht ihm seinen Intellekt schließlich an. Hach~“, sein Tonfall wurde schwärmerisch. „Was die wohl gerade so treiben? Ob Fukuzawa noch Single ist?“

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich die letzte Frage eindeutig bejahen lässt.“ Selbst Joyces strenge Mimik zierte plötzlich ein zartes Schmunzeln, als er an die Mitglieder der Detektei zurückdachte. „Sie sind schon eine … interessante Truppe.“

„Ja, sie sind sehr süß.“

Die lächelnden Mienen der beiden Männer verfinsterten sich gleichzeitig, als sie ebenso gleichzeitig hinzufügten:

„Nur er nicht.“

Sein Name war ein Tabu. Sie sprachen niemals über oder von ihm, sie verboten sich gegenseitig, an ihn zu denken. Es war zu kurz gefasst, ihm die Schuld an dem Verlust der beiden anderen zu geben, aber dennoch war er für sie eine persona non grata. Nein, sie wollten auf keinen Fall je wieder etwas mit Osamu Dazai zu tun haben.

Das Klingeln der Türglocke riss sie aus ihren geteilten Gedanken. Die beiden Männer drehten sich erstaunt zur Eingangstüre um und blickten noch erstaunter drein, als eine hübsche und äußerst gut gekleidete junge Frau das Innere des Geschäfts betrat. Ihre glänzenden dunkelbraunen Haare waren zusammengesteckt und sie trug einen edel aussehenden Hut mit breiter Krempe, der perfekt auf ihr restliches Outfit abgestimmt war. Sichtlich ratlos blieb sie vor den Männern stehen und sah sich blinzelnd im Raum um.

„Verzeihung“, sprach sie mit klarer, heller Stimme und in akzentfreiem Englisch, „ich … ich hatte gehört, hier sollte ein Detektivbüro eröffnen, bin ich da einem Irrtum unterlegen?“

Ihre Verwirrung war mehr als verständlich. Das Innere der ehemaligen Apotheke sah aus wie … eine Apotheke. Sie hatten noch nichts baulich verändern können, denn Handwerker waren teuer und als Joyce Wilde gefragt hatte, ob dieser womöglich handwerkliches Geschick besäße, hatte der Dunkelhaarige einen mehrminütigen Lachanfall gehabt. Er war wortwörtlich Tränen lachend auf dem Boden herumgerollt, worauf Joyce trocken erwidert hatte: „Ein einfaches 'Nein' hätte auch gereicht.“

„Das ist ein Detektivbüro, hübsches Kind“, begrüßte Wilde nun die Besucherin und lehnte sich gegen den Tresen. „Dieser Einrichtungsstil ist im Ausland gerade der letzte Schrei.“

„Ach, so ist das?“ Die Dame blinzelte ihn überrascht an. „Entschuldigung, das habe ich nicht gewusst.“

Joyce schnaubte einmal missbilligend in Wildes Richtung, ehe er sich ihrem Gast zuwandte. „Bitte verzeihen Sie, wir haben noch nicht offiziell eröffnet, aber wir könnten uns durchaus schon eines Falls annehmen, wenn Sie deswegen hier sind.“

Jetzt war es an Wilde, das Verhalten seines Partner zu kommentieren. Amüsiert rollte er mit den Augen. Der Andere hätte genauso gut noch anhängen können: „Bitte seien Sie wegen eines Falls hier! Wir brauchen das Geld! Dringend!“ Aber er wollte nicht widersprechen. Außerdem war es wirklich herzallerliebst, wie er sich in die Arbeit stürzte. Mit Klienten konnte er deutlich besser umgehen als mit Verwaltungsbeamten.

„Ah, was für ein Glück, dann hatte ich das doch korrekt gehört.“ Die Besucherin atmete hörbar aus und lächelte. „Ich habe in der Tat einen Fall für Sie.“

Die beiden Männer tauschten einen schnellen, freudigen Blick aus. Sie hatten noch nicht offiziell eröffnet und trotzdem wehte die Mundpropaganda bereits die ersten Kunden in den Laden? Das lief ja viel, viel besser als erwartet! Joyce beeilte sich, der Frau einen Stuhl hinzustellen, auf den sie sich umgehend setzte.

„Wie können wir Ihnen helfen?“, fragte Wilde und versuchte, seine Vorfreude zu unterdrücken. Vielleicht war die Dame wegen irgendeines dramatischen Falls hier und da wäre es unangebracht, allzu euphorisch zu wirken.

„Ein Freund von mir ist verschwunden“, begann sie mit bedrückter Stimme. „Eigentlich komme ich aus einem kleinen Ort in England und kenne ihn daher, doch er hat ganz überstürzt das Land verlassen und ich kann ihn seitdem nicht mehr erreichen.“

„Und Sie glauben, dass er nach Dublin gekommen ist?“, hakte Joyce nach.

Sie nickte. „Er hat dies angedeutet, daher nehme ich stark an, dass er zurück in seine Heimat ist.“

„Er ist also Ire.“ Wilde legte eine Hand an sein Kinn. „Wissen Sie, ob er in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt?“

Erneut nickte sie. „Mir sind die Details unbekannt, doch er wirkte, als würde er plötzlich um sein Leben bangen, als hätte er eine unheilvolle Nachricht bekommen.“

Abermals tauschten die beiden Männer einen Blick aus. Dieser jedoch sagte: Oh Gott, muss es gleich so ein Fall sein?

„Hat er vielleicht tatsächlich eine Nachricht bekommen?“, fragte Wilde und die Frau legte nachdenklich den Kopf schief.

„Wie ich sagte, die Details sind mir nicht bekannt. Aber als er voller Panik zu mir kam, hielt er einen Brief in der Hand. Nur den Inhalt kenne ich nicht.“ Ihr Blick wurde noch gedankenversunkener. „Er ist mir ein lieber Freund, doch über seine Vergangenheit weiß ich kaum etwas. Er erwähnte einmal, dass er früher mit zwielichtigen Personen zu tun gehabt hatte und dass seine Vergangenheit ihn vielleicht eines Tages einholen könnte …. Oh bitte!“, flehte sie mit einem Mal, „Bitte finden Sie ihn! Es wäre schrecklich, wenn ihm etwas zustoßen sollte!“

„Nun ...“, entgegnete Joyce und sah aus dem Augenwinkel, wie Wilde schulterzuckend nickte und damit seine Zustimmung gab. „Wir brauchen erst einmal ein paar grundlegende Informationen. Wie heißt ihr Freund? Haben Sie ein Foto von ihm?“

„Yay“, entfuhr es der Dame und als wäre sie selbst darüber erschrocken, entgleisten für einen kurzen Moment ihre Gesichtszüge. „Ich meine, j-a, hier ist ein Bild von ihm.“ Sie kramte in ihrer Handtasche und zog ein Foto heraus, dass sie Joyce übergab. Er musterte es auf der Stelle.

Der darauf abgebildete junge Mann war beinahe lächerlich attraktiv. Man konnte gar nicht sagen, was als erstes an ihm ins Auge sprang: Sein gelocktes, goldblondes Haar, die scharlachroten Lippen oder die tiefblauen Augen, in denen man sich verlieren konnte? Gab es wirklich Menschen, die so perfekt aussahen? Bis gerade eben hatte er gedacht, dass der Vermisste sich sicher mit irgendwelchen Kriminellen eingelassen hatte, aber jetzt, wo er das Gesicht dieses Schönlings sah …. Joyce zuckte gedanklich mit den Achseln. Der Kerl konnte trotzdem Dreck am Stecken haben. Sich mental darauf vorbereitend, dass Wilde eine ganze Menge Kommentare zu diesem Adonis vom Stapel lassen würde, hielt er ihm das Foto hin – und wunderte sich mit einem Mal zutiefst. Sein Kamerad zog hörbar die Luft ein und wurde schlagartig leichenblass im Gesicht. Was war denn nun?

„Sein Name ist Dorian Gray“, sagte die Klientin in die aufgekommene Stille hinein und Joyce kam gar nicht dazu, auf ihre Information zu reagieren, denn er konnte sehen, wie Wildes Lippen zu zittern anfingen.

„Tut mir leid“, wandte der Brünette sich hastig und mit bebender Stimme an die Dame, „wir können den Fall nicht übernehmen.“

Übertölpelt und verwirrt blinzelte sie zuerst ihn, dann Joyce an. „Sie können nicht …?“

„Nein, es geht nicht. Es tut mir sehr leid.“ Wilde spürte Joyces Blick auf sich, doch er erwiderte ihn nicht. Die Augen streng an ihm vorbei gerichtet, verließ er eiligen Schrittes den Verkaufsraum und zog sich in das Hinterzimmer zurück.

Verdattert blickten sowohl Joyce als auch die Klientin ihm hinterher.

„Entschuldigung“, bot Ersterer nach einer sprachlosen Weile räuspernd an, „wir … wir müssen noch ein paar Dinge klären, bis wir Ihnen eine Zusage geben können. Kann ich Sie irgendwie erreichen?“

Sie nickte und holte eine Visitenkarte aus ihrer Tasche.

Elizabeth Higgins stand dort geschrieben und darunter war eine Handynummer notiert.

„Ich hoffe sehr, Sie werden mir helfen.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Fräulein Higgins. Ich werde mich bei Ihnen melden.“

Sie verabschiedeten sich und die Frau verließ das improvisierte Detektivbüro. Den Blick auf die Visitenkarte gerichtet, massierte sich Joyce mit einer Hand die Schläfen. Was in aller Welt war in Wilde gefahren? Ein solches Verhalten war mehr als ungewöhnlich für seinen exaltierten Gefährten. Er hatte noch nie jemanden abgewiesen, der ihre Hilfe benötigte. Noch nie. Warum fing er jetzt damit an? Und so plötzlich? Kannte er diesen Gray vielleicht?

Nein.

Oder -

Doch?

Joyce dachte daran, wie ihre Besucherin erzählt hatte, dass sie kaum etwas über die Vergangenheit ihres lieben Freundes wusste. Was wusste er eigentlich über Wildes Vergangen-

„Ich weiß, dass das gerade nicht der beste Start für unser Detektivbüro war“, sagte der wieder aus dem Hinterzimmer gekommene Wilde stimmlos, „aber versprich mir, dass wir diesen Fall nicht annehmen, ja? Bitte, Jimmy, versprich es mir.“

Irritiert wandte Joyce sich zu ihm um. Sein Gegenüber hatte einen Gesichtsausdruck, von dem er sich nicht erinnern konnte, ihn je bei ihm gesehen zu haben. Wilde sah … verängstigt aus. „Warum nicht? Warum sollen wir diesen Fall nicht annehmen?“

Mit einem unguten Gefühl im Magen beobachtete Joyce, wie Wilde wortlos auf ihn zukam. Über die verängstigte Miene des Anderen hatte sich etwas Bedrohliches gelegt.

„Weil ich mich darum kümmern werde. Und dann gibt es keinen Fall.“ Er schritt an ihm vorbei.

„Moment. Was soll das heißen? Was ist hier los? Wo gehst du hin?“

Der Brünette hielt an und drehte sich ihm wieder zu. Ein schwaches, melancholisches Lächeln war auf seinen Lippen. „Du vertraust mir doch, oder, Jimmy?“

Für einige, lange Sekunden starrte Joyce seinen Partner lediglich an. In jeder anderen Situation hätte er ohne zu zögern darauf antworten können, doch was war das nur für ein beklemmendes Gefühl, das sich in seinem ganzen Körper ausbreitete? Ihm wurde richtig übel davon. „Verrätst du mir, was hier los ist, wenn du wiederkommst?“

Wildes Lächeln wurde ein wenig entspannter. „Zumindest die Details. Das große Ganze lasse ich aus.“

Der Blonde grummelte und kreuzte die Arme vor der Brust. „Mach bloß keinen Mist.“

„Ich? Jimmy, ich bitte dich. Du kennst mich doch.“ Wilde warf ihm eine Kusshand zu und trat durch die Tür ins mittlerweile dunkel gewordene Dublin.

Joyce wusste nicht, was er davon halte sollte, dass sich ihm ein unerfreulicher Gedanke aufgedrängt hatte:

Tue ich das wirklich?

 

Die Nacht war angebrochen und Wilde nicht zurückgekommen. Irgendwann hatte Joyce sich erschöpft an ihrem Behelfsschreibtisch, der neben dem Tresen stand, niedergelassen und war über die Vorstellung, dem brünetten Wirrkopf direkt bei seiner Rückkehr den Hals umzudrehen, eingeschlafen. Ein sanftes Rütteln an seiner Schulter weckte ihn. Schläfrig öffnete er die Augen, hob den Kopf und blickte in ein schelmisches Schmunzeln.

„Aww, Jimmy, sag nicht, du hast hier auf mich gewartet?“

Ein zartes, hellrotes Licht drang durch die Fenster. Es musste noch sehr früh am Morgen sein.

„Wo zur Hölle hast du gesteckt?“

Wilde ließ sich ihm gegenüber am Tisch nieder und legte seinen Kopf auf seine aufgestützten Hände ab. „Was für eine unflätige Wortwahl. Verdammt, das gehört sich doch nicht.“ Er lachte und erregte damit nur noch mehr Missmut. „Beruhige dich, Jimmy, die Vene kommt schon wieder heraus. Ich habe alles erledigt. Sag dem schönen Fräulein Higgins, dass sie nachhause fliegen kann.“

Joyce hob zweifelnd eine Augenbraue. „Alles erledigt? Das heißt …?“

„Das heißt das, was es heißt“, antwortete der Andere mit einem ominösen Lächeln im Gesicht. „Sie wird ihn vielleicht nicht so bald wiedersehen, aber es besteht kein Grund, uns zu engagieren.“

„Kannst du eigentlich noch mehr in Rätseln sprechen?“

„Sicher, könnte ich versuchen.“

Ein tiefer, lauter Seufzer hallte durch die alte Apotheke. „Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du irgendwann mein Untergang sein wirst?“

„Weiß nicht mehr so genau.“ Wilde lachte erneut und Joyce bildete sich ein, dass es sich wie zuvor auch schrecklich gezwungen anhörte.

„Geht es dir gut?“

Die unerwartete Frage des Blonden erwischte Wilde kalt. Baff sah er ihn für einen Moment lang nur schweigend an, bevor das gekünstelte Lächeln endgültig verschwand und einer sichtbaren Schwermut Platz machte.

„Nein“, antwortete er so ehrlich, dass es fast weh tat. „Aber das Gefühl kenne ich und ich weiß, dass es nach einiger Zeit wieder besser wird.“

Sprachlos starrte Joyce ihn nach dieser Antwort an. Was sollte das bedeuten?

Ein Buch mit sieben Siegeln.

Der Mann war ein Buch mit sieben Siegeln.

„Na schön“, erwiderte Joyce schulterzuckend. „Wenn du doch irgendwann darüber reden willst, würde ich dir mehr als nur ein Ohr leihen.“

„Ah, Jimmy, es ist besser, wenn du manche Dinge nicht weißt.“

„Tolle Grundlage für eine gemeinsame Firmengründung.“ Er schüttelte den Kopf. „Den nächsten Fall nehmen wir aber an, egal, was du sagst. Und außerdem höre auf, mich ständig Jimmy zu ne-“

„POLIZEI! KEINE BEWEGUNG!“

Sein Satz wurde von einem aus dem Nichts heranrückenden Polizeisonderkommando unterbrochen. Ein Blick aus dem Schaufenster verriet ihnen, dass das Gebäude gerade umstellt wurde – von schwerbewaffneten Polizisten, die mit gezogenen Maschinengewehren in den Laden stürmten.

Sprachlos und mit erhobenen Händen starrte Joyce auf die Einsatzkräfte, die plötzlich vor ihnen standen. Das war die spezielle Eingriffstruppe, die für die Verfolgung und Festsetzung von Befähigten zuständig war.

„Das muss ein Missverständnis-“

„Oscar Wilde?“, fiel einer der Polizisten dem blonden Iren erneut barsch ins Wort und richtete seine Waffe auf Wilde. „Sie werden wegen des dringenden Tatverdachts, Dorian Gray ermordet zu haben, verhaftet. Leisten Sie keinen Widerstand, sonst sehen wir uns gezwungen, Gewalt anzuwenden.“

„Was?!“ Joyces Augen schnellten zu seinem Kollegen, der seine Hände nur lasch erhoben hatte. Wilde blickte entgeistert durch den Polizisten hindurch – als hätten ihn gerade sämtliche Lebensgeister verlassen. Seine Lippen zitterten von neuem.

„Dorian ...“, hauchte er so leise, das nur Joyce es hören konnte, „Dorian, du wolltest mir doch keinen Ärger mehr machen …. Vielleicht war es nie möglich zu entkommen. Vielleicht hattest du Recht, Dorian. Vielleicht hattest du dieses eine Mal Recht.“

Wie paralysiert beobachtete Joyce, wie Wilde, die Hände nach wie vor nur lasch gehoben, bedächtig aufstand und er, ein geradezu verzweifeltes, resigniertes Lächeln auf den Lippen, jeglichen Blickkontakt mit ihm vermied.

„Wilde …?“, war alles, was der blonde Ire fassungslos hervorbringen konnte, doch der Angesprochene reagierte nicht darauf. Wortlos ließ er sich von den Polizisten abführen, während Joyce vollkommen entgeistert und hilflos ihm hinterhersah.

Come on walk with me into the rising tide

Come on walk with me – Into the rising tide“

 

Placebo, „For what it's worth“

 

Zehn nach acht.

Mit wachsender Besorgnis schaute Atsushi Nakajima von der Uhr an der Wand zurück zu seinen Kollegen. Das war mehr als ungewöhnlich. Sollte er sich deswegen gleich Sorgen machen? Einerseits waren zehn Minuten Verspätung eigentlich nicht so viel, andererseits gab es für ihn mit Sicherheit keinen Unterschied zwischen zehn Minuten und zehn Stunden Verspätung. Beides war für ihn undenkbar und je mehr Atsushi darüber nachdachte, desto mehr war er sich sicher, auf jeden Fall beunruhigt sein zu sollen.

„Ist das schon einmal vorgekommen?“, fragte er zaghaft in Richtung Yosanos, die gerade dabei war, Tanizaki Bestellungen für medizinischen Bedarf zu diktieren.

„Was meinst du?“ Die Ärztin schaute hoch und folgte Atsushis Blick zu dem noch verwahrlosten Platz ihm schräg gegenüber. „Ach so … ja, einmal, wenn ich mich recht erinnere. Als er krank war, aber da hatte er sich per Telefon abgemeldet.“

„Dann ist er vielleicht krank?“ Für den Bruchteil einer Sekunde beruhigte dieser Gedanke Atsushi ein wenig. Dann machte er ihn noch nervöser. Denn es musste schon eine richtig schlimme Erkrankung sein, wenn sie jemanden wie Kunikida davon abhielt, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen.

„Bei mir hat er sich nicht abgemeldet“, warf Tanizaki, nun auch leicht aufgeschreckt, ein. „Sollten wir lieber bei ihm anrufen und nachfragen?“

„Möglicherweise ist etwas vorgefallen.“ Mit ernster Miene legte Kyoka Kunikidas selbstgeschriebenes Handbuch zur korrekten Erstellung und Ausfüllung sämtlicher für den Regelbetrieb notwendiger Unterlagen und Formulare (so stand es tatsächlich auf dem Einband des dicken Wälzers geschrieben), in dem sie bis gerade gelesen hatte, beiseite und blickte entschlossen in die Runde. Sie wirkte, als würde sie jeden Augenblick ihr Schwert ziehen, um jedem, der er auch nur daran dachte, einem der Detektive ein Haar zu krümmen, den Garaus zu machen.

Atsushi schluckte angesichts ihrer aus dem Nichts kommenden, bedrohlichen Aura. Reagierte sie nicht vielleicht ein klein wenig über? Der Junge seufzte innerlich. Nein. Bei dem Wahnsinn, der hier stets abging, konnte er Kyokas Reaktion nachvollziehen. Es war nicht so abwegig, dass ihnen jemand nach dem Leben trachtete und sie alle hatten es schon mehrmals schmerzlich erfahren müssen, wie es war, wenn sie ohne Vorwarnung angegriffen wurden und in Lebensgefahr gerieten.

War Kunikida also vielleicht wirklich in Gefa-

'Rumms!'

„AAAH!“ Atsushi schreckte zusammen, als mitten in seinen düsteren Überlegungen die Tür aufgerissen wurde und Kenji hereinspazierte.

„Einen wunderschönen guten Morgen euch allen!“, begrüßte der blonde Junge gut gelaunt seine Kollegen. „Ist das schon heiß. Die Sonne brennt richtig vom Himmel …. Atsushi, du solltest mal raus gehen, du bist ja weiß wie eine Wand.“

„J-ja, d-danke, K-Kenji.“ Peinlich berührt räusperte er sich. Keiner der anderen hatte sich erschreckt. Wieso war nur er allein wieder so ein Nervenbündel?

„Du hast nicht zufällig Kunikida heute Morgen schon gesehen, oder?“, richtete Tanizaki an den gerade Eingetroffenen, der umgehend verneinte.

„Das ist aber seltsam, dass Kunikida noch nicht da ist“, entgegnete Kenji in seinem üblichen heiteren Tonfall. „Oh, Dazai ist ja auch noch nicht da … aber das ist nicht seltsam.“

Das war es in der Tat nicht. Von neuem innerlich seufzend schaute Atsushi zum auf seinem Schreibtisch schlafenden Ranpo. Sollte er ihn wecken, um nach seiner Einschätzung der Situation zu frag-

„Lass mich schlafen, Atsushi.“

WHAAAAA! Ohne dieses Mal laut zu schreien, war der Junge erneut zusammengezuckt. Er war es gewohnt, dass Dazai scheinbar seine Gedanken lesen konnte, aber Ranpo auch?

„Kunikida ist gerade nicht glücklich, aber er ist nicht in Gefahr.“ Der Meisterdetektiv antwortete ihm, ohne die Augen zu öffnen. Er gähnte einmal ausgiebig und im nächsten Moment hörte man ihn ganz gleichmäßig atmen. Er war wieder eingeschlafen.

Von diesem Anblick amüsiert und durch die Worte des Schwarzhaarigen beruhigt, zuckte Yosano mit den Schultern und wandte sich wieder ihrer Liste zu. „Nein, Tanizaki, die Großpackung Skalpelle. Oder besser zwei. Von denen kann ich- ich meine, man nie genug haben.“

Jeder konnte sehen, wie ein Schauer den Rücken des Rothaarigen herunterlief.

Manchmal, so ging es Atsushi nun durch den Kopf, fragte er sich schon, wie das in anderen Firmen wohl so war. Ob da die Mitarbeiter auch alle so … so … nein. Keine Ahnung, welches Wort da passte.

„Wenn wir in den nächsten zehn Minuten nichts von ihm hören, rufst du ihn an“, drang Kyokas Stimme an seine Ohren. Sie wartete ab, ehe er ihr lächelnd zunickte, um ihr zu zeigen, dass er seine Nerven unter Kontrolle hatte. Dann öffnete sie von neuem das Handbuch und las weiter. Ihre bedrohliche Aura war genauso schnell wie sie gekommen war wieder verschwunden.

Keiner von diesen liebenswerten Exzentrikern würde in einer anderen Firma funktionieren, dachte Atsushi und schmunzelte. Sie waren wirklich ein großartiges, perfekt aufeinander eingestimmtes Team-

'RUMMS!'

„WO IST ER??!!“

Die Tür flog mit einem lauten Krachen auf, sodass alle (mit Ausnahme von Ranpo) zu ihr blickten.

Durch die Tür stapfte ein in eine Regenjacke gekleideter Mann – und er hatte die Kapuze bis ins tiefrote Gesicht gezogen … hatte Kenji nicht gesagt, dass es draußen sonnig und heiß war?

Moment.

Atsushi musterte den vor Wut schnaubenden Mann näher.

„Kunikida?“

„WEISS IRGENDJEMAND, WO DAZAI STECKT?“

„Hier ist er nicht“, erwiderte Yosano, hob skeptisch eine Augenbraue und stemmte eine Hand in ihre Hüfte. „Und was ist mit dir? Wir haben schon fast angefangen, uns Sorgen zu machen. Du siehst ja nicht einmal verletzt aus.“ Der letzte Teil hatte wahrhaft enttäuscht geklungen.

„I-ist alles in Ordnung?“ Atsushi konnte selbst nicht fassen, dass er das gerade gesagt hatte, denn die Antwort war offensichtlich. Kunikida stand wutentbrannt und vor Schweiß triefend in eine Regenjacke gehüllt vor ihnen und war merklich bereit, Dazai zu teeren und zu federn.

Es wunderte ihn also gar nicht, dass Kunikidas jähzorniger Blick auf ihm landete.

„ORDNUNG?? SIEHT HIERVON IRGENDETWAS NACH ORDNUNG AUS?! DAZAI VERSUCHT, SÄMTLICHE ORDNUNG ZU ZERSTÖREN! JA, DAS IST SEIN ÜBERGEORDNETER PLAN! WIESO IST MIR DAS NICHT SCHON FRÜHER AUFGEFALLEN?!“

Ratsuchend sah Atsushi zu den anderen, die sich nicht trauten, einen Mucks zu machen.

„Können wir dir irgendwie helfen?“, wagte sich Kenji furchtlos wie eh und je vor und Atsushi befürchtete bereits, der jüngere Kollege würde gleich ebenso fürchterlich angeschrien. Doch als der tobende Idealist in Kenjis ehrliches und aufrichtiges Lächeln blickte, schmolz sein Zorn dahin. Seine Schultern sackten resigniert zusammen und er ließ den Kopf hängen.

„Hilfe“, murmelte er geschlagen.

„Entschuldige, was?“, fragte Atsushi verwundert nach.

„Hilfe“, wiederholte Kunikida kleinlaut und beinahe herzzerreißend. „Bitte helft mir, aber lacht mich bitte nicht aus.“

„I-In Ordnung. Werden wir nicht … richtig?“ Nun sah Atsushi überfordert zu den anderen.

„Wenn ich noch einmal in dieser Montur rausgehe, bekomme ich sicher einen Hitzschlag“, erklärte Kunikida weiter in dem deprimierten Tonfall, in den er verfallen war.

„Wir helfen dir.“ Der silberhaarige Junge versuchte, mutig zu klingen, doch irgendetwas an der Situation machte ihm Angst. Was hatte den armen Kunikida dermaßen mitgenommen?

„Ihr dürft nicht lachen.“

„Werden wir nicht.“

Kunikida nahm tief Luft, während Atsushi eben diese vor Anspannung beinahe anhielt, als der Ältere die Kapuze von seinem Kopf streifte.

Mit großen Augen starrten sie alle wortlos auf das, was da vor ihnen enthüllt worden war.

„Tut mir leid“, brach es glucksend aus Yosano hervor, „ich … ich kann nicht anders ...“ Sehr zum Missfallen des armen Idealisten prustete sie los.

„Oooh, wie Kirschblüten!“, freute sich Kenji in ihr Gelächter hinein, während Ranpo widerwillig den Kopf gehoben hatte.

„Du hast allen Grund, sauer auf Dazai zu sein. Die Farbe steht dir nicht. Aber ich kriege Lust auf die Schokoriegel mit Erdbeergeschmack! Haben wir noch welche da?“

„Nicht lachen … nicht lachen ...“ Neben Atsushi hyperventilierte Kyoka fast. Sie biss sich auf die Lippen und letztlich sogar ins Handbuch, um ihre Selbstdisziplin zu bewahren, aber ihre Bemühungen blieben fruchtlos: Wie Yosano fing sie an loszuprusten. Atsushi musste zugeben, dass er kein besseres Bild abgab. Er spürte, wie seine Mundwinkel beinahe von Ohr zu Ohr reichten.

„Auch du, Atsushi?“ Mit einem tiefen Seufzer schüttelte Kunikida den in einer ungewohnten Farbe erstrahlenden Kopf, als er das Klicken einer Kamera hinter sich hörte. Er wirbelte in die Richtung zurück und fand Tanizaki entschuldigend mit den Händen wedelnd vor.

„Bitte entschuldige, aber wenn ich das Naomi nicht zeige, wird sie mir das nie verzeihen.“

„Schön, wir haben alle kräftig gelacht“, maulte Kunikida angefressen. „Dazai hat mir etwas ins Shampoo gemischt und nun sind meine Haare rosa. Ha ha. Ändert etwas daran, bevor noch mehr Leute mich so sehen!“

Als hätte er unbeabsichtigt ein Stichwort gegeben, ging hinter ihm die Türe auf.

„Kunikida“, hörte man die tiefe Stimme des eintretenden Chefs sagen, „hast du den Bericht für das Ministerium ferti-“ Fukuzawa blieb wie vom Donner gerührt und mit aufgerissenen Augen vor dem rosahaarigen Mitarbeiter stehen.

„Noch nicht“, beeilte sich dieser bemüht nonchalant zu antworten. „Sie haben ihn bis heute Nachmittag.“

Etliche Sekunden vergingen, in denen der Chef einfach nur weiter auf die neue Farbpracht des bebrillten Detektivs starrte. „ … Gut.“ Er nickte, machte hastig kehrt und räusperte sich laut. Im Büro der bewaffneten Detektive war es allerdings so totenstill geworden, dass sie alle das Glucksen hinaushören konnten, das eigentlich von dem Räuspern verdeckt werden sollte.

„ICH WERDE IHN TÖTEN!!! MIT MEINEN EIGENEN ZWEI HÄNDEN WERDE ICH DAZAI TÖTEN!!!“

„Wenn du ihn jetzt umbringst“, Yosano wischte sich die gelachten Tränen weg, „wird dein Foto für die Verbrecherkartei genau so aussehen.“ Sie prustete bei dieser Vorstellung von neuem los.

„Naomi hat bereits geantwortet“, warf Tanizaki beschwichtigend ein, „sie findet es zwar sehr schade, aber sie bringt in der Mittagspause blonde Farbe vorbei.“

„Er muss trotzdem dafür bezahlen.“ Kunikida verschränkte missmutig die Arme vor der Brust.

„Ranpo, du wusstest, dass das passiert war?“ Erstaunt wandte sich Atsushi dem Meisterdetektiv zu, der eine Schnute zog, weil er in seinen Schubladen die gewünschten Riegel nicht hatte finden können.

„Ich muss zugeben, ich war mir nicht sicher, welche Farbe es werden würde ...“ Er grinste spitzbübisch. „Aber Dazai hat gestern Rabattcoupons für einen Drogeriemarkt ausgeschnitten.“

„Atsushi“, sagte der Idealist plötzlich mit ernster Miene, „schaff mir diesen Hohlkopf her, damit ich ihn umbringen kann.“

Der Angesprochene lachte verlegen. Wieso musste immer er da mit hineingezogen werden? Was hatte Dazai sich überhaupt dabei gedacht? Atsushi schüttelte gedanklich den Kopf. Das war eine dumme Frage. Das Innere von Dazais Kopf war ein Buch mit sieben Siegeln. Und sehr wahrscheinlich war es besser, es gar nicht zu öffnen zu versuchen, denn es bestand die Gefahr, dass man mit seinem Inhalt nicht umgehen konnte. Er selbst hatte dies vor nicht allzu langer Zeit auf grausame Weise erfahren müssen. Dazai hatte eine düstere, blutgetränkte Vergangenheit und Atsushi fand es schon schwer genug, mit dem bisschen umzugehen, was er über seinen Mentor erfahren hatte.

Doch trotzdem, trotz allem, was er Schreckliches über Dazai gelernt hatte, vertraute er ihm. Seine Aktionen waren für ihn nicht nachvollziehbar, aber sie gehörten irgendwie zu ihm. Diese Streiche, die er Kunikida spielte, verstanden sich besser mit dem Bild, das Atsushi von Dazai hatte, als die Vorstellung, dass der brünette Wirrkopf ein herzloser Massenmörder gewesen war. Er musste sich stets ins Gedächtnis rufen, dass beides zu Dazai gehörte. Was für ein Glück sie hatten, dass sie es nur mit einer dieser beiden Seiten zu tun hatten.

Er hielt inne.

Wie seltsam, dass er jetzt wieder daran denken musste. Hoffentlich war dies kein ungutes Vorzeichen … nein, sicher nicht. Er machte sich einfach mal wieder zu viele Sorgen. Keine Sorgen machte er sich wegen Kunikidas Drohung. Sie war nicht ganz ernst zu nehmen – aber auch nicht ganz unernst. Musste Dazai es immer übertreiben?

„Soll ich die üblichen Orte abklappern?“

„Ja, die üblichen“, entgegnete Kunikida gestresst. „Und mach schnell. Ich will ihm jedes Haar einzeln ausreißen. Das wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen und meinen Tagesablauf noch mehr durcheinanderbringen.“

Achselzuckend machte Atsushi sich auf den Weg zur Tür hinaus. Dazai und Kunikida waren ein wirklich merkwürdiges Gespann.

Sie sind exzentrisch, aber liebenswert; exzentrisch, aber liebenswert, wiederholte der Junge immer wieder in Gedanken.

„Bring Schokoriegel mit!“

Exzentrisch, aber liebenswert; exzentrisch, aber liebenswert ...

 

Das Meer rauschte ohrenbetäubend.

Obwohl es ein so sonniger Tag war, schienen die Wellen in heller Aufruhr zu sein. Mit ganzer Kraft schlugen sie mit einem lauten 'Platsch' gegen die Wellenbrecher, schwappten abgemindert durch sie hindurch ans Ufer und zogen sich wieder in das brausende Meer zurück. Der Mann im braunen Trenchcoat, der knietief im Wasser stand, schien sich an nichts von alldem zu stören. Bewegungslos blieb er mit den Händen in seinen Manteltaschen an Ort und Stelle stehen, den Rücken zum Ufer und den Blick aufs offene Meer gerichtet, während der Wind durch seine dunklen Haare wirbelte.

„Dazai?“ Atsushi hatte seine Schuhe ausgezogen und watete mit langsamen, vorsichtigen Schritten durch die Wellen auf den darin stehenden Mann zu. Er reagierte nicht. In der Zwischenzeit waren bereits Stunden vergangen und der junge Detektiv hatte schon mehrere (zunehmend wütendere) Anrufe von Kunikida erhalten. Dazai war natürlich so clever, nicht an sein Handy zu gehen.

Dies war der letzte Ort auf der Liste der Orte, an denen man Dazai typischerweise fand.

Und es war der, den Atsushi am wenigsten mochte.

Wenn Dazai so teilnahmslos im Wasser herumstand und nicht auf Zurufe reagierte, dann stimmte irgendetwas nicht. Atsushi konnte nicht benennen, was es war, aber es gab ihm ein überwältigendes Gefühl von Hilflosigkeit. Das einzig andere Mal, als er ihn hier gefunden hatte (nachdem er tagelang verschwunden gewesen war), war glücklicherweise Yosano dabei gewesen und hatte sich darum gekümmert. Sie war zu Dazai hinausgestapft, hatte ihn angeschrien und ihm dann eine gescheuert. Auf der Fahrt zurück hatte keiner ein einziges Wort gesagt, was die gesamte eh schon unheimliche Situation noch beklemmender gemacht hatte.

Und jetzt war er allein mit genau so einer Situation.

„Dazai!“, versuchte er es noch lauter, während er sich dem Älteren näherte. „Dazai!“

Konnte es wirklich sein, dass er ihn nicht hörte? Dazai hatte doch sonst ein geradezu übermenschliches Gehör, wie konnte das dann sein?

Zögerlich blieb er hinter dem Dunkelhaarigen stehen. „Dazai?“ Er musste ihn hören, es konnte gar nicht sein, dass er ihn nicht hörte. Doch nach wie vor reagierte er nicht. Er zuckte nicht einmal.

„DAZAI!!“

Der Schrei schallte über den gesamten Küstenabschnitt. Es war Atsushi augenblicklich peinlich, so lauthals geschrien zu haben.

„Atsushi“, hauchte Dazai plötzlich ganz leise mit brüchiger Stimme, aber ohne sich zu ihm umzudrehen, „ich weiß, ich habe einmal gesagt, Männer zu umarmen, sei nicht mein Geschmack, aber ...“

Der Junge hielt die Luft an. Was? Was?? Wieso in aller Welt fing Dazai jetzt davon an?!

„... aber … würdest du mit mir Doppelsuizid begehen?“

HÄÄÄÄÄHHH???

Atsushi vergaß endgültig zu atmen. Vor Schreck über diesen Satz fiel er beinahe rücklings ins Meer. Dazai fragte ihn, ob …?? Wie sollte er auf so eine Frage nur antworten?? Schweiß rann seine Stirn und seinen Rücken hinunter, während er fast seine Zunge verschluckte.

„D-dazai, i-ich … i-ich … “

Gemächlich drehte Dazai sich zu ihm um und … grinste von Ohr zu Ohr.

Häh?

„Atsushi, nach all der Zeit glaubst du mir wirklich noch jede Lüge? Du bist so gutgläubig. Als Detektiv ist das aber eher schlecht.“

„D-das … das war nur ein Scherz?“ Nun fiel der Junge fast vornüber.

„Du kannst so süß sein, was als Detektiv auch eher schlecht ist, aber eine hübsche Frau bist du definitiv nicht. Also, ja. Das. War. Ein. Scherz!“ Das genüssliche Grinsen des Brünetten verstärkte sich noch.

„Nur ein Scherz … nur ein Scherz ...“ Mit zuckenden Augen prüfte Atsushi seinen eigenen Puls. Er war jenseits von Gut und Böse.

„Dass du hier bist, heißt demnach, dass Kunikida trotzdem im Büro erschienen ist? Ich weiß nicht, ob ich das für bewundernswert oder für masochistisch halten soll.“ Dazai schüttelte seine Beine aus und bewegte seinen Kopf hin und her, als wollte er steif gewordene Muskeln lockern. Wie lange stand er hier eigentlich schon?

„Dazai ...“, begann Atsushi unsicher, „warum bist du hier und nicht in der Detektei?“

Milde verwundert blinzelte der Ältere ihn an. „Mir war nach frischer Luft.“

„Den ganzen Morgen und Vormittag lang?“

Dazais Stutzen intensivierte sich leicht, ehe er kurz zum Himmel blickte. „Ist es schon Mittag?“

„Schon weit nach Mittag, ja.“

„Na sowas.“ Dazai zuckte flüchtig mit den Schultern und begann, zum Ufer zurück zu gehen.

Perplex sah Atsushi ihm noch einen Moment lang hinterher. Dazai wusste nicht einmal, wie lange er hier gestanden hatte? Sollte ihn das beunruhigen? Also, mehr noch als es dies sowieso bereits tat? Ein ungutes Gefühl bildete sich in der Magengrube des Jungen, als ihn ein weiterer unheilvoller Gedanke überkam: Würde es weiterhin einfach gutgehen, dass keiner von ihnen Dazai so richtig kannte? Von Verstehen wollte Atsushi gar nicht erst sprechen, denn der mysteriöse Braunschopf ließ schließlich niemanden an sich heran. Konnte Dazais undurchsichtiges Verhalten irgendwann vielleicht zum Problem werden?

Er schüttelte kräftig den Kopf, als wollte er den Gedanken so loswerden. Er vertraute Dazai. Sein Mentor war ein guter Mensch. Er beschützte seine Kollegen und die ganze Stadt. Daran gab es keinen Zweifel – und daran hielt er sich fest.

„Atsushi“, rief genau dieser vom Ufer herüber, „was stehst du da denn jetzt so nutzlos in der Gegend herum? Wollten wir nicht zur Detektei?“

„Ja! Komme sofort!“ Mit schnellen Schritten lief er durch die Wellen aus dem Wasser hinaus. „Wir müssen aber noch Schokoriegel mit Erdbeergeschmack besorgen!“

„Die Rosafarbigen?“

„Ja, genau die.“

Dazais Lachen schallte über den gesamten Küstenabschnitt.

 

War das Wagemut, Todessehnsucht oder die krasseste Unbeschwertheit, die je ein Mensch an den Tag gelegt hatte? Atsushi blieb, die Tüte mit den Süßigkeiten wie ein Schild vor sich haltend, einen Schritt hinter Dazai, als dieser beschwingt aus dem Aufzug tänzelte und gerade dabei war, nach dem Türgriff zu greifen, als die Türe von innen aufflog.

Dazais Gesicht strahlte regelrecht, als er sah, wer ihn da begrüßte – mit einem Handtuch um seine Schultern und Streifen von Alufolie um jede einzelne Haarsträhne.

„Oooh, Kunikida, du hättest sie wenigstens einen Tag lang so lassen sollen. Vielleicht hättest du ja noch Gefallen an der neuen Farbe gefunden.“

Obwohl er weiter von ihm weg stand, hörte Atsushi das ungesund klingende Zähneknirschen des wieder erblondenden Kollegen.

„Ist dir bewusst, wie peinlich es ist, in diesem Aufzug einen Klienten zu empfangen?“, zeterte Kunikida und seine berüchtigten Venen traten alle auf einen Schlag auf seiner Stirn hervor, als Dazai als Antwort nur euphorisch nickte. „Es gibt genau eintausenddreihundertundzweiundachtzig Dinge, die ich dir jetzt am liebsten antun würde, aber die muss ich leider alle auf später verschieben, da wir Arbeit haben.“

„Ein großer Auftrag?“, fragte Atsushi aus dem Hintergrund und Kunikida atmete hörbar aus.

„Der Klient ist gerade eben eingetroffen und meinte, wir sollten auf euch warten. Mein Gefühl sagt mir, dass das ein verdammt großer Auftrag wird.“

Verdattert sah Atsushi zu Dazai, der nun ernst und äußerst interessiert dreinblickte. Der Klient wollte auf sie warten? Wer mochte das sein? Jemand, den sie kannten? Der junge Detektiv folgte den beiden Älteren bis zu dem Empfangsbereich der Detektei. Die anderen, inklusive des Chefs, waren bereits dort.

„Oha, das scheint wirklich ein großer Auftrag zu werden – und ein sehr interessanter obendrein“, entfuhr es Dazai ominös, nachdem er den Klienten im Separee erblickt hatte. Neugierig und aufgeregt lugte Atsushi hinter ihm hervor, um zu sehen, was für ein Klient alle Detektive so angespannt um sich versammelt hatte. Ihm blieb die Spucke weg, als er den geheimnisvollen Klienten erkannte.

„Herr Joyce??“

Time will help you through, but it doesn't have the time to give you all the answers to the never-ending why

Time will help you through

But it doesn't have the time

To give you all the answers

To the never-ending why“

 

Placebo, „The never-ending why“

 

„Herr Joyce??“ Baff starrte Atsushi auf den Besucher und konnte seinen Augen kaum trauen. Dort vor ihm auf einem der Sessel im Empfangsbereich saß tatsächlich der blonde Ire, den sie unter so dramatischen Umständen kennengelernt hatten. Sein Blick sah ernst und angespannt und sehr, sehr erschöpft aus. „Sind-sind Sie etwa unser Klient?“

Ein schwaches Lächeln bildete sich auf den Lippen ihres Gastes, als er den silberhaarigen Detektiv erblickte. „Es ist schön, dich wiederzusehen, Junge. Wenn ich mir für unser Wiedersehen auch bessere Umstände gewünscht hätte.“

„Sie erzählten uns gerade, dass Ihr Partner wegen Mordverdachts verhaftet wurde?“, schloss Fukuzawa an das Gespräch an, das durch das Eintreffen von Dazai und Atsushi unterbrochen worden war. Ersterer spitzte bei dieser Information die Ohren, während Letzterer erschrocken die Augen aufriss.

„Was? Herr Wilde soll wegen ...was?“ Atsushi konnte das Gehörte gar nicht fassen. Er hatte den brünetten Iren als äußerst liebenswerten, wenn auch Dazai-ähnlich verschrobenen Gentleman kennengelernt, der selbstlos mit seiner Fähigkeit Tanizaki geheilt hatte, damit dieser ihnen zu Hilfe hatte kommen können. Es war undenkbar, dass-

„Die Polizei legte mehrere Beweise für seine Schuld vor“, durchschnitt Joyce schwermütig seine Gedanken. „Sie haben ihn bereits ins Gefängnis gebracht.“

„Hm?“ Ranpo verzog missmutig das Gesicht. Offensichtlich störte ihn etwas. „So zügig? Das heißt, er hat sich schuldig bekannt.“

Die Blicke der Detektive schnellten von ihrem Kollegen zurück zu Joyce.

„Hat er?“, hakte Yosano ungeduldig nach.

Der Angesprochene senkte seinen Kopf. „Angeblich ja … aber ...“ Er hob ihn von neuem und sah entschlossen in die Runde vor ihm. „Aber bei dieser Sache gibt es mir zu viele Ungereimtheiten.“

„Oder Sie wollen das nur denken, weil Sie sich nicht eingestehen wollen, dass es anders sein könnte“, warf Dazai ein und kassierte dafür unverzüglich einen bösen Blick seitens Joyce. Von dem Ausmaß dieses tödlichen Blicks selbst erstaunt, machte Dazai einen Schritt zurück. Der Ire war mehr als spürbar noch nicht mit ihm im Reinen. Man konnte es ihm auch nur schwer verdenken. Atsushi seufzte innerlich. Vielleicht sollte Dazai sich hier lieber zurückhalten.

„Wollen Sie, dass wir Ihnen helfen, seine Unschuld zu beweisen?“, fragte der Junge und wunderte sich, wie sie das anstellen sollten. Die Iren waren doch in ihrer Heimat gewesen; wie sollten sie da Tausende von Kilometern entfernt ermitteln?

„Ja und nein“, antwortete Joyce zu seiner Überraschung. „Sie sehen, es sind eine Menge seltsamer Dinge geschehen und ich sehe mich allein nicht im Stande aus diesen schlau zu werden.“ Er suchte den Blickkontakt zu Fukuzawa, so als wartete er auf sein Einverständnis.

„Bitte“, forderte der Chef ihn prompt auf, „erzählen Sie uns, was vorgefallen ist.“

Joyce nickte und holte tief Luft, bevor er loslegte. Er erzählte im Detail von der Klientin, dem verschwundenen Dorian Gray, dem plötzlich veränderten Verhalten seines Partners und letztlich von der Verhaftung.

„Das passt alles ungut zusammen“, resümierte Kunikida nachdenklich. „Und er hat sich schuldig bekannt, oder?“

„Wie ich schon sagte“, winkte Joyce ab, „hier fangen die seltsamen Vorkommnisse erst an. Ich habe seitdem kein Wort mehr mit Wilde wechseln können. Weder auf der Polizeiwache, noch im Gefängnis. Dass er seine Schuld gestanden haben soll, habe ich nur von den Ermittlern erfahren. Er selbst will mich angeblich nicht sehen oder sprechen, was mir merkwürdig vorkommt. Zudem habe ich versucht, unsere Klientin zu informieren, doch unter dieser Nummer ist niemand zu erreichen. Ihre Visitenkarte ist also augenscheinlich eine Fälschung.“

„Vielleicht hat sie sich darauf nur verschrieben“, warf Kenji ein und wunderte sich, dass ein nun sehr aufmerksamer Ranpo ihm signalisierte, still zu sein.

„Sssht. Da kommt noch mehr.“

Joyce nickte abermals. „Kurz darauf erhielt ich einen Brief ohne jeglichen Absender, in dem stand, dass sich eventuell die Unschuld Wildes beweisen lasse, wenn ich eine bestimmte Person in Yokohama ausfindig machen würde.“

„In Yokohama?“ Kyoka runzelte die Stirn. „Hier? Wie kann das sein?“

Geschlagen zuckte der Ire mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Der einzige Hinweis im Brief lautet: 'Finde die Person in Yokohama, die auch von jeglichem Glück verlassen wurde.'

„Eine Person in Yokohama, die auch von jeglichem Glück verlassen wurde?“ Dazai lachte spöttisch und fing sich dafür böse Blicke von Joyce und sogar Atsushi ein. „Tut mir leid, aber … Tanizaki, wie viele Einwohner hat Yokohama?“

Der Rothaarige zuckte zusammen, als er in das Gespräch mit hineingezogen wurde. „E-etwa 3,7 Millionen. Warum?“

„Wir haben etwa 3,7 Millionen Personen, die demnach in Frage kommen, darum.“

„Moment“, wandte Kunikida ein, „Sie und Wilde waren doch zum ersten Mal in Japan und im Besonderen in Yokohama, als ...“ Er räusperte sich und schaute verstohlen zu Dazai, „... diese Sache passiert ist. War das etwa gelogen?“

„Nein“, antwortete Joyce wie aus der Pistole geschossen. „Nein, ich für meinen Teil bin zuvor noch nie hier gewesen und er versicherte mir damals, dass das bei ihm genauso war. Wir waren damals auch die gesamte Zeit zusammen, er hatte mit niemandem sonst hier Kontakt.“

„Muss ich es aussprechen?“ Dazais verschmitztes Lächeln bekam eine düstere Färbung. „Auch wenn ihr gleich wieder versucht, mich mit euren Blicken zu töten – das funktioniert übrigens nicht, aber danke, dass ihr es trotzdem probiert: Der liebe Herr Wilde hat ge-lo-gen.“

Joyce unterdrückte eher vergeblich ein zorniges Grummeln. „Das glaube ich nicht.“

„Oder Sie wollen es nicht glauben.“

Kunikida und Atsushi stellten sich umgehend zwischen ihren Kollegen und den erbost aufgesprungenen Iren, der den Eindruck machte, Dazai am liebsten sofort den Hals umdrehen zu wollen.

„Herr Joyce.“ Fukuzawa brauchte nur das Wort zu erheben, um augenblicklich für Ruhe zu sorgen. „Es ist verständlich, dass Sie aufgebracht sind, jedoch sollten wir Dazais Theorie nicht sofort verwerfen.“

Sichtlich peinlich berührt nickte ihr Besucher, setzte sich wieder und strich sich über seine Weste. „Ich weiß nicht, ob er gelogen hat. Ich weiß sowieso nicht mehr, was ich noch glauben soll. Es will mir auch nicht den Kopf, warum er sich schuldig bekannt haben soll. Und warum er nicht mit mir reden möchte. Nichts davon ergibt irgendeinen Sinn. Ich brauche Ihre Hilfe. Ohne Sie werde ich nur ziellos durch Yokohama irren und überhaupt nichts in Erfahrung bringen. Darum bitte ich das Büro der bewaffneten Detektive, mir zu helfen.“

Atsushi empfand tiefstes Mitleid für den Mann. Er wirkte verzweifelt und war ganz auf sich allein gestellt. Er wusste nur zu gut, wie sich das anfühlte. Hinzu kam noch, dass der Ire so verzweifelt war, dass er selbst jemanden um Hilfe bat, den er offenkundig zu hassen schien. Joyce wollte, dass Dazai sich das alles anhörte, weil er um dessen unvergleichlich hohe Intelligenz wusste. Er wollte, dass Dazai ihm half.

„Ranpo“, sprach der Chef nun mit Blick auf den sichtlich grübelnden Meisterdetektiv. „Was denkst du?“

„Die Beweise.“

„Hm?“, ertönte es unisono von fast allen anderen.

„Die Beweise“, wiederholte Ranpo unbeirrt, „die Beweise gegen Wilde. Wie sehen die aus?“

Verdutzt blinzelte Joyce ihn an. „Der aussagekräftigste Beweis ist ein Brief, geschrieben in Wildes Handschrift und adressiert an diesen Dorian Gray. In diesem forderte Wilde ihn auf, zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort zu kommen.“

„Die Zeit ist der Todeszeitpunkt und der Ort der Tatort“, schlussfolgerte Ranpo umgehend und Joyce bejahte ihm dies. „Sie haben der Polizei von der mysteriösen Klientin und dem Brief, der diesem Dorian Gray Angst gemacht hat, erzählt.“

„Unglücklicherweise ja.“

„Woraus die Ermittler geschlossen haben, dass Gray vor Wilde Angst hatte. Sie denken, die Frau wird aus Angst auch untergetaucht sein und es interessiert sie eh nicht weiter, weil sie ja längst ihr Schuldbekenntnis haben. Oh!“ Die grünen Augen des Meisterdetektivs weiteten sich für einen kurzen Moment. „Gray wurde erstochen, oder?“

„Woher wissen Sie-“

„Wen kennen wir, der wegen seiner Fähigkeit immer einen kleinen Dolch mit sich herumträgt?“ Ranpos Frage war wirklich nur eine rein Rhetorische gewesen, denn er fuhr auf der Stelle fort. „Das geht gar nicht, dass Sie uns anlügen wollten, Herr Joyce.“ Er kreuzte unzufrieden die Arme vor der Brust. „Die Tatwaffe war ein Dolch mit Wildes Fingerabdrücken darauf und das wollten Sie vor uns verheimlichen, weil das zu sehr gegen Ihren Partner spricht.“

Mit offenem Mund und deutlich erkennbarem Schweiß auf der Stirn war Joyce mit jedem Wort Ranpos immer weiter in den Sessel gerutscht.

Zerknirscht ließ er Kopf und Schultern hängen. „Es tut mir leid, Ihre Zeit verschwendet zu haben“, sagte er so kleinlaut, dass es Atsushis Herz beinahe brach. Aber nach alldem, was Ranpo gerade aufgedeckt hatte, konnten sie vermutlich in der Tat nichts mehr für ihn tu-

„Wieso?“ Besagter Meisterdetektiv winkte fröhlich ab. „Jetzt wird der Fall doch endlich interessant!“

Joyces Kopf schnellte nach oben. „Soll das heißen, Sie …?“

„Ich kann weder den Tatort noch die Leiche untersuchen. Alle Beweise sprechen gegen den Verdächtigen und trotzdem soll es eine Möglichkeit geben, seine Unschuld zu beweisen? Ich platze fast vor Neugier!“ Ranpo strahlte über das ganze Gesicht, was Fukuzawa sich angestrengt über die Schläfen reiben ließ. So glückselig auszusehen war kein angemessenes Verhalten für eine solche Situation. Wann würde Ranpo das je lernen?

„Kunikida“, sagte der Chef stattdessen und der Betroffene stand direkt stramm. „Im Moment haben wir keine dringlichen Aufträge, oder?“

„Nein. Es hatte eigentlich eine ruhige Woche werden sollen.“

Fukuzawa schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder, als er weitersprach. „Gut. Du und Tanizaki werdet Ranpo unterstützen. Atsushi und Dazai, ihr werdet zusammen mit Herrn Joyce versuchen herauszufinden, ob es nicht doch eine Verbindung zwischen Herrn Wilde und dieser Stadt gibt.“

Perplex blickte Atsushi von seinem Vorgesetzten zu Joyce und letztlich zu Dazai, der sein typisches Lächeln lächelte und mit den Achseln zuckte. War das eine gute Idee? Wieso teilte der Chef sie ausgerechnet so ein? Zwischen Dazai und Joyce lag doch eine nahezu gefährliche Spannung in der Luft. Sollte er etwa als Puffer zwischen den beiden agieren? Das war kein Job auf den er sonderlich scharf war.

„Wenn Sie meinen, Chef.“ Dazai steckte seine Hände in seine Manteltaschen. „Aber ich kann nicht garantieren, dass ich etwas finde.“

„Versuch es“, entgegnete Fukuzawa lediglich und nicht minder kryptisch.

„Äääh ...“ Atsushi kam sich wieder einmal so vor, als hätte er etwas verpasst. Was sollte Dazai wo finden? Seine überforderte Miene entging seinem Mentor nicht.

„Atsushi, wer kann am besten einen Lügner überführen?“, fragte dieser daher.

„Äh, häh?“ Was sollte das denn jetzt? „Ein Detektiv?“

„Herrje, nein.“ Der Braunschopf gab ein Geräusch von sich, wie man es bei einer Quizhow hörte, wenn der Kandidat inkorrekt geantwortet hatte. „Vollkommen falsch, Atsushi. Ein Lügner kann am besten einen Lügner überführen. Und wenn Herr Joyce realisiert, dass er seinen Partner noch viel schlechter kannte als er dachte und herausfindet, dass dieser etwas vor ihm zu verheimlichen versucht, braucht er jemanden, der seine Gefühle und all diesen Kram versteht.“ Dazai machte eine kurze Pause, in der er seinen Schützling anblinzelte, um zu sehen, ob er ihm folgen konnte. Konnte er nicht. „Dann braucht er dich, Atsushi.“

„Oh … oh!“ Der junge Detektiv starrte aufgeschreckt zu ihrem entgeistert dreinblickenden Klienten. Joyce hatte jedes Wort gehört und schluckte schwer. War Dazai gerade absichtlich so direkt gewesen? Sein Gerede musste auf Joyce gewirkt haben wie das Abreißen eines Pflasters von einer frischen Wunde. Rücksichtsvoll war anders.

Definitiv vollkommen anders.

Atsushi stöhnte innerlich.

„Könntest du wenigstens versuchen, unseren Klienten nicht gleich umzubringen?“, rügte Yosano ihren brünetten Kollegen. „Er sieht aus, als würde er gleich einen Herzinfarkt kriegen. Und ich bin noch mitten in der Inventur des Arztzimmers und wollte das erst zu Ende machen.“

Der arme Herr Joyce. Ob er es inzwischen bereute, zu ihnen gekommen zu sein? Atsushi beäugte ihn mitleidig und erschrak fast ein wenig, als Kyoka ihm plötzlich etwas zuraunte: „Als er hier ankam, wollte er auf Dazai warten. Weißt du, was das heißt? Ihm ist selbst schon der Gedanke gekommen, dass sein Freund etwas vor ihm verheimlicht und er glaubt, dass nur jemand wie Dazai dahinterkommen kann. Allerdings hofft er wahrscheinlich noch, dass Dazai nichts findet.“

Atsushi zog scharf die Luft ein, als der im Laufe des Gesprächs immer bleicher gewordene Ire seine Hände zu Fäusten ballte, ein paar Mal tief durchatmete und schließlich voller Entschlossenheit zu Dazai blickte.

„Niemand ist unzufriedener mit dieser Zusammenarbeit als ich es bin, das können Sie mir glauben, doch wenn ich dies tun muss, um Wilde zu helfen, dann ist es eben so.“

Dazais Lächeln wich einer gleichmütigen Miene und er zuckte erneut mit den Schultern. „Es ist besser, wenn Sie jetzt gleich Ihre Hoffnungen begraben. Sie haben in der Illusion gelebt, jemanden ganz genau zu kennen. Das war dumm. Man kann einen anderen Menschen nie genau kennen. Freunden Sie sich lieber schnell mit dem Gedanken an, dass Sie etwas über Ihren Partner erfahren werden, das Sie lieber nicht gewusst hätten. Ansonsten werden wir hier nicht weiterkommen.“

Für einen quälend langen Moment war es mucksmäuschenstill in der Detektei geworden. Atsushi wusste, dass die anderen zu Dazai sahen, obwohl er selbst den Blick gen Boden gerichtet hatte. Dazai musste es bewusst sein, an was seine Worte sie erinnerten. Er war unter ihnen derjenige mit der düsteren Vergangenheit und den unzähligen Geheimnissen. Sie schafften es nur damit umzugehen, in dem sie es verdrängten und an Dazai glaubten. Aber irgendetwas nagte von neuem an Atsushi. So sehr er dem jetzigen Dazai auch vertraute, er wusste nicht, wie er damit umgehen würde, noch weitere Details aus dessen Vergangenheit zu erfahren. Doch er wusste genau, was er tun würde, wenn Dazai seine Hilfe bräuchte. Und dies war der einzige Rat, den ihr Klient nun brauchte.

„Sie wollen ihm helfen, oder?“ Zur Verblüffung aller hatte der junge Detektiv das Wort an Joyce gerichtet. „Das ist das, was jetzt wichtig ist.“

Baff erwiderte der Ire den Blick des Jungen und lächelte schwach. „Du bist ein erstaunlicher junger Mann. Deine Kollegen sollten sich glücklich schätzen, dich zu haben.“ Er nickte. „Selbst wenn Wilde etwas vor mir verheimlichen sollte, kann es unmöglich so schlimm sein wie die Taten manch anderer.“ Er schaute absichtlich an Dazai vorbei. „Daher lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren.“

„Na endlich!“, plärrte Ranpo unsanft und viel zu laut in die ergriffene Atmosphäre hinein. „Die ganze Sache wird sowieso etwas lästig, da will ich mir nicht noch ewig die Beine in den Bauch stehen! Ich brauche eine vollständige Liste aller Orte, an denen Sie sich das letzte Mal in Yokohama aufgehalten haben. Und die Tüte mit den Erdbeer-Schokoriegeln!“

Nachdem Joyce nach dieser Ansage Ranpo alle Orte, die ihm einfielen, genannt hatte und der schmatzende Meisterdetektiv Tanizaki beauftragt hatte, sie auf einer Karte zu markieren, gesellte sich der nun wieder vollständig erblondete Kunikida mit einem hörbaren Seufzer zu dem im Separee wartenden Klienten.

„Ich möchte mich für Dazais Verhalten entschuldigen“, sagte der Idealist ohne jegliche Aufforderung. „Ich kann Ihnen versichern, dass der Rest von uns nicht so unsensibel ist. Das heißt … nicht ganz so unsensibel.“ Er räusperte sich verlegen.

Joyce winkte ab. „Bitte, Herr Kunikida, ich bin froh, dass wir alle so zivilisiert miteinander umgehen können, nach dem, was vorgefallen ist. Nur mit Herrn Dazai ist es … schwer.“ Die Augen des Iren wanderten zu Dazai, der mit Ranpo den Stadtplan mit den Markierungen studierte. „Um ehrlich zu sein …. Ich bewundere Sie.“ Er schaute zu dem nun überraschten Kunikida.

„Mich?“

„Sie arbeiten als sein Partner mit ihm zusammen, obwohl Sie wissen, was er Schreckliches getan hat. Ich glaube nicht, dass ich dies könnte.“

Bei dieser Aussage wurde es Kunikida spürbar unwohl. Er runzelte seine Stirn noch mehr, als er es meist eh schon tat. „Ich will nicht herunterspielen, was Dazai dem Jungen und seiner Familie damals angetan hat, aber er hat als bewaffneter Detektiv schon sehr vielen Menschen das Leben gerettet.“

Joyce nickte verständnisvoll. „Ich will Ihnen keine Diskussion darüber zumuten, ob gute Taten frühere böse Taten auslöschen können. Aber ich würde Sie gerne etwas fragen ...“ Er atmete schwermütig ein. „Wie geht man damit um, praktisch nichts über jemanden zu wissen, mit dem man bereits so viele Jahre zusammen verbracht hat? Haben Sie keine Angst davor, immer weitere und immer furchtbarere Dinge über Herrn Dazai zu erfahren? Er hat leider damit Recht, dass es dumm von mir gewesen war, anzunehmen, Wilde zu kennen. Was weiß ich tatsächlich über ihn? Nichts! Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein Serienmörder oder etwas ähnlich Garstiges gewesen ist, aber das würde man bei Ihrem Kollegen heutzutage auch nicht vermuten.“ Mit verunsichertem, beinahe ängstlichem Blick sah Joyce zu seinem Gegenüber. „Wie soll man nur damit umgehen, jemanden, dem man vertraut hat, eigentlich gar nicht zu kennen?“

Sprachlos starrte Kunikida sein irisches Ebenbild an. Seine sonst so ernste Miene war sichtlich erschüttert. Wie man damit umging? Er schluckte. Keine Ahnung. Bis gerade eben hatte es funktioniert, ohne dass er sich diese Frage auch nur gestellt hatte. Dazai hatte noch mehr dunkle Geheimnisse in petto, da war er sich sicher, aber die sollten ihn nur interessieren, wenn es für die Detektei oder ihn relevant war …. Er hielt den Atem an. Ein Denkfehler! Das war ein Denkfehler! Ein massiver! Das letzte Mal war etwas aus Dazais Vergangenheit zu einer Gefahr für das Büro geworden und da hatte er dies im Vorfeld auch nicht kommen sehen. Es konnte also wieder passieren … oder? Er vertraute Dazai, aber …

„Kunikida, Ranpo ist so weit. Du darfst ihn durch die Gegend kutschie-“ Dazais Stimme riss den bebrillten Detektiv so abrupt aus seinen Gedanken, dass er Dazai ganz erschrocken anblickte und dieser so in seinem Satz innehielt. „Hat unser irischer Freund dir Gruselgeschichten von der grünen Insel erzählt?“

„Unsinn!“, entgegneten die beiden Blondschöpfe einhellig und rückten sich in perfekter Synchronizität ihre Brillen zurecht.

„Okay, das IST gruselig.“ Dazai schüttelte sich. „Hoffentlich verfolgt das Bild mich nicht bis in meine Albträume.“

„Was für ein Bild?“, fragte Kunikida ehrlich ahnungslos und sich auch nicht für die Antwort interessierend. Er stand auf und schritt an Dazai vorbei.

„Benimm dich!“, zischte er ihm zu, worauf dieser für einen flüchtigen Moment dämonisch grinste, ehe er gespielt pikiert antwortete:

„Bitte, Kunikida, du kennst mich doch. Ich weiß mich immer zu benehmen.“

Dazai war dezent irritiert, als sein Lieblingsopfer darauf nicht wie gewohnt explodierend reagierte, sondern ihm lediglich einen bitterernsten Blick zuwarf.

Kenne ich ihn wirklich? Nein. Ich habe keine Ahnung, was in seinem Kopf vorgeht. Und ich weiß noch viel weniger, was früher darin vorging. Ich bin mindestens so dumm wie Joyce – und wenn es schlecht läuft, werde ich genauso böse überrascht werden.

Kunikida war ein Idealist. Er war immer perfekt vorbereitet und hasste nichts mehr als nicht vorbereitet zu sein und Pläne nicht einhalten zu können. Dazai war in seinen Berechnungen ein unbekannter Faktor. Was, wenn es wirklich noch einmal passierte? Was, wenn noch einmal Dazais Vergangenheit sie alle einholte? Konnten sie einfach so weitermachen?

Ranpo quengelte und Kunikida versuchte, diese Gedanken weit von sich zu schieben. Erst einmal galt es, sich um ihren Auftrag zu kümmern, auch wenn er einen Gedanken nicht loswerden konnte:

Er hasste unbekannte Faktoren.

Mit merklich schlechter Laune brach er mit Tanizaki und Ranpo auf.

Since I was born, I started to decay

Since I was born, I started to decay“

 

Placebo, „Teenage angst“

 

„Vor Langeweile zu sterben, ist langweilig!“

Der Junge, der dies ausrief, guckte mit lustloser Miene zum blauen Himmel hinauf. Seine wuscheligen braunen Haare wehten in der zarten Brise, die durch die Stadt Yokohama blies. Er war vielleicht gerade einmal ein Teenager; seine Statur war zu klein für einen Erwachsenen und allzu kräftig sah er ebenso nicht aus. Vielleicht war sogar eher das Gegenteil der Fall. Für ein gewöhnliches Kind jedoch hatte er einen viel zu außergewöhnlichen Blick in seinen Augen. Seine ganze Miene verriet, dass er alles außer gewöhnlich war. Was für ein Junge war das, dessen Augen abwechselnd gänzlich leer und völlig abgeklärt dreinblickten? Manchmal, so wie heute, sah man ihn gelangweilt und gleichgültig und ohne jeglichen Elan durch die Gegend schlurfen, andere Male wirkte er plötzlich wie verzweifelt und panisch und schien mit seinen großen, dunklen Augen durch alles hindurchzustarren. Niemand, der diesen Jungen bisher gesehen hatte, wusste, wer er war, woher er gekommen war und wohin er gehörte. Ein Straßenkind wäre die offensichtlichste Vermutung gewesen, doch die Straßenkinder waren fast immer in Gruppen oder wenigstens zu zweit unterwegs. Nur dieser Junge war immer allein.

Die wenigen Leute, die ihn einmal angesprochen hatten, berichteten hinterher, dass man ihn vielleicht besser einfach in Ruhe lassen sollte. Doch – warum wirkten diese Leute so verstört, wenn sie dies sagten? Hatten sie eine weitere Seite an diesem Jungen gesehen? Eine, die ihnen Angst gemacht hatte? Wie konnte ein Kind ihnen Angst eingeflößt haben? Er war doch nur ein Kind … oder? Der sprunghafte Anstieg von Diebstählen und Einbrüchen in letzter Zeit konnten unmöglich etwas mit diesem einen Jungen zu tun haben … oder? Er trug stets warme Kleidung, wenn auch keine saubere, und Hunger schien er auch nicht zu leiden. Und dann diese Verbände. Er machte sich anscheinend nichts aus frischer Kleidung, aber er schien regelmäßig die Verbände um seine Arme, Beine und seinen Hals zu wechseln. Warum in aller Welt trug dieses Kind so viele Bandagen an seinem kleinen Körper? Er hatte doch nichts zu verstecken … oder? Sollte man sich Gedanken darüber machen, dass anderswo sogar Überfälle und Morde geschehen waren? Das hatte sicher nichts mit diesem Jungen zu tun … oder?

Irgendwann begannen die Leute zu hinterfragen, ob dies wirklich ein Kind oder gar ein Mensch war. Der Krieg war lang und grausam gewesen und lockten solche Ereignisse nicht oft Dämonen und böse Geister hervor? Die Gerüchte rund um den seltsamen Jungen wurden immer wilder und so wurde es zu einem stadtweiten Habitus, ihn einfach in Ruhe zu lassen.

Dazai war eigentlich ganz zufrieden damit, dass sie ihn in Ruhe ließen. Anfangs war es ja noch ganz unterhaltsam gewesen, die Leute zu verschrecken, die nachfragen wollten, wer er denn war. Aber er musste auch höllisch aufpassen, dass er nicht zu viel Aufmerksamkeit erregte. Wenn die Leute nicht aufhörten nachzufragen oder ihn gar mitnehmen wollten, artete das Ganze jedes Mal in Arbeit aus. Wobei es schon irgendwie interessant gewesen war vor einer Weile diese Menschenhändler um die Ecke zu bringen. Um die war es nun wirklich nicht schade.

„Haaaa~“

Er seufzte lang und tief. Etwas Interessantes war ihm schon lange nicht mehr passiert. Zu lange. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seit er von weit oben aus dem Norden nach Yokohama zurückgekehrt war. Eine Ewigkeit, seit er bei seiner langweiligen Tante und ihrem langweiligen Mann gelebt hatte. Unbewusst strich seine rechte Hand über die Narben, die unter den Verbänden auf seinem linken Arm versteckt waren. Was sein geistloser Onkel wohl gerade machte? Ah~, die Erinnerung an sein Gesicht, als ihm damals klar geworden war, was mit seiner Frau geschehen war … das war interessant gewesen. Dazai begann über die Verbände zu kratzen und die Narben zu irritieren.

Seine Mutter würde es nicht gut finden, dass er dies als interessant bezeichnete. Aber sie war ja nicht mehr am Leben, also hatte sie auch kein Mitsprachrecht in der heftigen Diskussion, die fast pausenlos in seinem Kopf stattfand. Wenn sie ihre Meinung dazu hätte äußern wollen, hätte sie nicht sterben dürfen. So einfach war das.

Mittlerweile hatte er die Verbände auseinander geschoben und kratzte mit voller Kraft über die alten Narben und die noch frischeren Wunden. Das nagende Gefühl machte sich mal wieder in seinem Inneren breit und Dazai hasste es, wenn es das tat! Es sollte endlich die Klappe halten und still sein! Es fiel ihm viel schwerer zu denken, wenn es die Kontrolle über ihn übernahm. Hier musste doch irgendwo etwas sein, mit dem es sich abstellen ließ! Irgendetwas, das ihn davon befreien konnte; wenn auch nur für einen flüchtigen Moment. Weswegen war er denn sonst in die Stadt zurückgekommen?! Mit inzwischen beinahe manischem Gesichtsausdruck blickte er sich um, während er seinen linken Arm blutig kratzte. Hier musste etwas sein! Etwas, das so interessant war, dass es das Nagen und die Gedanken abstellte! Diese Stadt war so groß, es konnte gar nicht sein, dass hier nichts war!

„Dann eben …!“

Dazai atmete immer schneller und hatte trotzdem das Gefühl zu ersticken. Wenn er nichts Interessantes finden konnte, dann musste er zu seinem anderen Plan, mit dem er bisher jedes Mal gescheitert war, übergehen. Als würde er verfolgt, rannte er in Richtung des Flusses und sprang ohne zu zögern in das Wasser. Die Strömung war kräftig, wenn er Glück hatte, würde er im Handumdrehen unter Wasser gezogen werden. Der Fluss riss ihn mit und inmitten des kalten, dreckigen Wassers atmete Dazai gedanklich auf.

Bis ihn plötzlich etwas an seiner Kleidung packte und unnachgiebig an ihm zerrte. Der Junge riss unter Wasser die Augen auf und versuchte, sich von was auch immer ihn da festhielt loszureißen, doch stattdessen zog das Etwas noch stärker an ihm und schleifte ihn in Richtung des Ufers. Dazai spürte wieder Boden unter sich, als zwei Hände nach ihm griffen und ihn endgültig aus dem Fluss herauszogen.

„Du meine Güte!“, hörte er die aufgeregte und ängstliche helle Stimme eines Kindes, während er selbst das Flusswasser elendig aushustete. „Bist du in Ordnung??“

Heftig nach Luft schnappend, drehte er seinen Kopf zu dem Störenfried, der an seine Seite geeilt war und warf ihm den finstersten Blick zu, den er bewerkstelligen konnte. Das Kind – ein schmächtiges, schmutziges Wesen mit großen, erschrockenen Augen – wich ein wenig von ihm. Zu seinem Erstaunen lief es allerdings nicht davon.

„Geht es?“, fragte es stattdessen vorsichtig.

„Nein!“, fuhr Dazai es zornig an und musste erneut husten, weil sein Hals vom Hochwürgen des Wassers rau geworden war.

„Du hattest Glück, dass meine Angel sich in deiner Kleidung verfangen hatte“, erklärte es, ohne auf die offensichtliche Wut des Anderen zu reagieren.

„Angel?“, hakte Dazai ungläubig nach. Das war ein Witz, oder? Seine Bemühungen waren nicht wirklich von diesem Winzling und dessen Versuch, in dieser trüben Brühe zu fischen, zunichte gemacht worden, oder?

Das Kind neigte seinen Kopf zu der neben ihnen liegenden, eindeutig selbstgebauten, schäbigen Angel. Es nickte und strich sich seine langen, strähnigen, ungewaschenen, rostbraunen Haare aus dem Gesicht. „Frischen Fisch gibt's heute wohl nicht, aber ich bin froh, dass ich nicht schon früher aufgegeben habe, sonst hätte dich ja keiner herausgezogen.“ Das in Lumpen gekleidete Balg besaß die Frechheit zu lächeln.

„Fisch aus diesem Fluss essen?“ Dazai richtete sich auf und verzog angewidert das Gesicht. „Das klingt nach einer grausamen Art zu sterben.“

„Na ja, so oft fange ich auch nichts, aber so manches Mal hat mich ein Fang hier raus schon vor dem Verhungern bewahrt.“

Ein Straßenkind, natürlich. Es war ihm auf den ersten Blick klar gewesen. Je länger er mit ihm redete, desto mehr vermutete Dazai, dass sein „Retter“ ein Junge war. Wie alt war jedoch in Anbetracht seiner hageren Gestalt und den eingefallenen Gesichtszügen schwer zu sagen. Sein Alter? Vielleicht, aber wahrscheinlich eher etwas jünger. Interessierte ihn aber auch nicht näher.

„Hast du irgendeinen Ort, an den du gehen kannst?“, fragte das Kind nun.

„Was kümmert dich das?“

„Es wird bald dunkel. Dann ist die Ecke hier nicht so sicher. Du kannst mit mir kommen, wenn du sonst nirgends hin kannst.“

Was für ein seltsames Kind.

Dazai zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen.“

Seine neue Bekanntschaft lächelte erneut, so als würde ihn diese Antwort ehrlich freuen. Der Junge wollte Dazai beim Aufstehen helfen, was dieser aber umgehend ablehnte. Schweigend gingen sie nebeneinander her, was ihn zu Dazais Leidwesen allerdings nicht davon abhielt, immer wieder auf den blutenden linken Arm zu schielen.

„Hast du dich verletzt?“

„Nein, der sieht immer so aus.“ Der Braunschopf rollte innerlich mit den Augen.

„Tut das nicht weh?“

„Es tut eine ganze Menge.“

„ … Ah … ha? Du trägst ziemlich viele Verbände.“

„Schick, nicht wahr?“

„Äh … ah! Hier müssen wir lang!“ Das fremde Kind bog um eine Ecke und kletterte in ein altes, riesiges Abflussrohr, das anscheinend zu einer stillgelegten Fabrik am Flussufer gehörte. Wenn Dazai hätte raten müssen, warum der Fluss so eine eklige Brühe war, sein Toptipp wäre diese Fabrik gewesen. Der Junge hielt ihm eine Hand hin, um ihm beim Reinklettern zu helfen, aber Dazai hievte sich mit seinem mehr oder weniger gesunden Arm in das Innere des Rohrs. Dort angekommen blickte er sich musternd um, nachdem sein Gastgeber eine Kerze angezündet hatte. Auf dem Boden lag eine ranzige, zerschlissene Matratze mit einer ebenso vergammelten Decke darauf. Daneben standen ein paar alte Plastikflaschen, in die eine klare Flüssigkeit (vermutlich Wasser und aufgrund der Farbe definitiv nicht aus dem Fluss) nachgefüllt worden war und dabei lag eine dicht verschlossene Plastiktüte, die das Kind nun öffnete.

„Wenn du Hunger hast, ich habe noch zwei Scheiben Brot, die ...“, er betrachtete die Scheiben im Kerzenlicht, „auch noch gut zu sein scheinen und ich habe noch ein paar Snackriegel, die mir ein netter Ladenbesitzer geschenkt hat, weil sie nah am Ablaufdatum sind.“ Er hielt Dazai die erwähnten Sachen wie einen großen Schatz hin.

Dieser fischte sich einen der Snackriegel aus der Tüte und setzte sich auf die Matratze. „Sehr hübsch hast du's hier.“

Der Junge blinzelte ihn fragend an, nahm sich selbst eine der trockenen Brotscheiben und ließ sich neben seinem Gast nieder. „Ich … ich verstehe die halbe Zeit nicht, was du ernst meinst und was nicht.“

„Nur die halbe?“ Dazai lachte. „So gut hat mich ja lange niemand verstanden!“ Sein Lachen verstummte abrupt wieder. „Aber das gerade meinte ich ernst. Irgendwie … gefällt es mir.“

Eine angenehme Stille trat zwischen sie, während sie ihr karges Mahl aßen. Das Kind bot Dazai (mit dem Hinweis, dass das Wasser aus dem Wasserhahn einer öffentlichen Toilette kam) etwas zu trinken an und Dazai trank gierig ein paar Schlücke. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt etwas getrunken hatte – die Flussbrühe ausgenommen. Sein Gastgeber schien doch recht interessant zu sein. Wenn jemand so dürr und krank aussah, warum kümmerte er sich dann um einen anderen? Er hatte doch definitiv genug eigene Probleme.

„Ich habe gesehen, wie du gesprungen bist“, sagte das verwunderliche Kind auf einmal leise in die Stille hinein und Dazai stutzte. „In den Fluss. Ich habe gesehen, wie du hinein gesprungen bist.“

„Und?“ Dazais Stimme hatte eine kalte Färbung angenommen.

„Ich habe auch schon einmal darüber nachgedacht“, antwortete es bekümmert und richtete seinen Blick auf die Matratze. „Aber … ich möchte leben. Auch wenn es schwer ist und wehtut und manchmal kaum zu ertragen ist.“

Dazai schluckte und sah verdutzt zu ihm. „Das ist deine Sache“, entgegnete er und war selbst verwirrt darüber, wie brüchig seine Stimme plötzlich klang, „lass mich damit in Ruhe.“

„Werde ich. Ich dachte nur, vielleicht willst du noch einmal darüber nachdenken und doch versuchen zu leben.“

„Das ist das Gegenteil davon, mich in Ruhe zu lassen.“ Er war drauf und dran, aufzuspringen und abzuhauen, als der Junge weitersprach.

„Tut mir leid.“ Tränen tropften auf die Matratze. „Es ist nur …. Ich hatte vorhin ganz plötzlich den überwältigenden Drang, dich zu retten. Ich weiß nicht, warum und wie in aller Welt ich das überhaupt geschafft habe. Sieh mich an, ich bin nun wirklich nicht der Stärkste.“ Er wischte sich die nach wie vor fallenden Tränen mit den Händen weg und lachte traurig. „Aber da war wie eine Stimme in meinem Kopf, die mich anschrie, dich zu retten. Komisch, oder?“

„Du bist komisch, ja.“ Mit einem Mal war Dazais Zorn verraucht. Er konnte sich selbst nicht erklären warum, doch das Gerede des seltsamen Kindes hatte dies bewirkt. Das Kind war nicht seltsam, dachte er und merkte nicht, wie sich ein unheimliches Lächeln auf seinen Lippen formte; es war wirklich interessant.

„Ach“, es schniefte und sah wieder zu seinem Gast, „hast du eigentlich einen Namen? Ich habe selber keinen, daher habe ich vergessen, dich danach zu fragen.“

„Du hast keinen Namen?“

Es schüttelte den Kopf und Dazais Grinsen wurde noch stärker.

„Dann habe ich auch keinen.“

 

Wie Dazai in der darauffolgenden Zeit erfuhr, war der Junge ohne Namen als sehr kleines Kind von Menschenhändlern entführt worden und konnte sich daher nicht an seine Herkunft, seine Familie oder sonst etwas erinnern. Vor einiger Zeit (der Junge wusste nicht einmal, wie lang das wohl her sein mochte) hatten die Menschenhändler ihn dann zurückgelassen und seitdem schlug er sich in den Straßen von Yokohama alleine durch. Er ging anderen Leuten, besonders Erwachsenen, meistens aus dem Weg, denn man konnte ja nicht wissen, ob nicht einer von ihnen ein Menschenhändler war und ihn erneut verkaufen oder für irgendwelche schlimmen Dinge missbrauchen wollte. Daher fand er es ratsamer, nicht den Kontakt zu anderen zu suchen. Dazai war in der Tat der Erste, mit dem er nach sehr langer Zeit überhaupt wieder sprach.

Der Junge hatte sehr offensichtlich Freude daran, einen Gefährten gefunden zu haben, obwohl dieser meist nur wenig redete und das Meiste davon wiederum ziemlich rätselhaft war. Ihr nun gemeinsamer Tagesablauf bestand darin, dass der Junge Dazai fröhlich vollblubberte und Dazai das Geblubbere stoisch über sich ergehen ließ. Da der Braunschopf das größere Talent dafür hatte, Lebensmittel zu besorgen (Das entsetzte „Du klaust die Sachen doch nicht etwa??“ hatte er irgendwie süß gefunden), schaffte er Essen herbei und quartierte sich im Gegenzug in der mehr als bescheidenen Behausung seiner neuen Bekanntschaft ein.

Der Junge war ein Rätsel und das sollte aus Dazais Mund etwas bedeuten. Er verstand ihn nicht, absolut nicht. Wie konnte jemand, der praktisch im Vorhof zur Hölle lebte, so am Leben festhalten? Er suchte auch nicht nach einem Sinn des Lebens, einem Grund für das alles. Als Dazai ihn danach gefragt hatte, hatte er ihn nur mit seinen großen Augen angeblinzelt, kurz nachgedacht und schließlich verkündet:

„Der Sinn des Lebens liegt darin … zu leben.“

Dazai hatte sich bei dieser Antwort nicht nur im übertragenen Sinne, sondern tatsächlich eine Hand vor die Stirn geschlagen. Hatte er von diesem Kind etwa wahrhaftig eine Antwort erwartet?

Ihm war sehr zügig klar geworden, warum die Menschenhändler den Jungen zurückgelassen hatten. Es war der gleiche Grund, der auch hinter seinem elenden Aussehen stand. Nicht allein Armut und Hunger hatten ihn so zugerichtet, nein, seine aschfahle Haut, seine schmächtige Statur und seine kraftlosen Bewegungen kamen von etwas anderem. Immer, wenn der Junge so stark hustete, dass es ins Würgen überging, oder Fieber und Schüttelfrost ihn so stark schwächten, dass er nicht in der Lage war, aufzustehen, saß Dazai einfach nur da und beobachtete ihn. Es machte keinen Sinn. Er musste es doch selbst wissen. Er musste wissen, dass die Krankheit ihn bald dahinraffen würde und trotzdem hielt er so am Leben fest? Verstand einer die Menschen!

„Stellst du dir manchmal vor, wie es wäre, in einer Familie zu leben?“, sagte der Junge nachdem er zuvor eine halbe Stunde durchgehustet hatte.

„Nein. Warum?“ Dazai sah ihn halb interessiert, halb gelangweilt an.

„Ich mir schon. Vielleicht … vielleicht weil ich mich nicht an sie erinnern kann.“

„Vielleicht waren sie furchtbare Menschen“, erwiderte Dazai. „Vielleicht haben sie dich ja an die Menschenhändler verkauft.“

Der Junge schüttelte schwach und anscheinend belustigt den Kopf. „Du sagst immer solche Sachen. Aber nie erzählst du etwas von dir.“

Ein süffisantes Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht. „Was möchtest du denn wissen?“

„Hast du eine Familie?“

Er warf theatralisch die Arme in die Höhe. „Was für eine vorhersehbare Frage! Mit einer offensichtlichen Antwort!“

„Du könntest ja auch von zu Hause abgehauen sein.“

„Welchen Unterschied macht das?“

„Du könntest zu deiner Familie zurück.“

Dazai entfuhr ein unzufriedenes Stöhnen. „Zu der Familie, vor der ich laut deiner Logik abgehauen bin? Warum haut man denn ab? Weil es da so schön war, dass man es vor Glück kaum ausgehalten hat?“

Der Junge seufzte. „Du bist ein echt seltsamer Mensch.“ Zu seiner Verwunderung sah Dazai ihn plötzlich mit großen Augen an und begann aus dem Nichts heraus wie ein Wahnsinniger zu lachen. „Habe ich etwas Lustiges gesagt?“

Das Lachen ebbte rasch wieder ab und Dazai bedachte ihn mit einem Gesichtsausdruck, den er nicht einordnen konnte. So hatte er seinen Begleiter noch nie gesehen. Er wirkte plötzlich so … so … zerbrechlich?

„Denkst du, ich bin ein Mensch?“, hauchte er so leise, dass es kaum zu vernehmen war.

„J-ja … ja, natürlich. Was denn sonst?“ Der Junge stutzte aufs Heftigste, als sein Gegenüber abermals lauthals zu lachen anfing.

„Das ist das Erste, was ich höre!“ Dazai schüttelte sich vor Lachen.

 

Es war schade.

Auch wenn der Junge immer mehr nur noch im Fieberwahn sprach, so wollte Dazai dennoch hören, was er zu sagen hatte. Nicht zuletzt, weil er plötzlich unbewusst Fetzen einer Fremdsprache in seine zunehmend zusammenhangslosen Sätze webte. Es war interessant, dass er sich ausgerechnet jetzt doch endlich an etwas aus seiner Vergangenheit, seiner Herkunft erinnerte.

Doch Dazai hatte bereits am Morgen, nachdem sie aufgewacht waren, gewusst, was der Tag bringen würde. Der Junge hatte schon seit Tagen nicht mehr essen, trinken oder aufstehen können. Entweder hatte er unruhig geschlafen oder seinen Mitbewohner mit glasigen Augen angesehen. Die Decke war über und über voll mit dem Blut, das er ausgehustet hatte.

Es ging zu Ende.

Es dauerte Stunden und die meisten Menschen hätten den grausamen Anblick und die qualvollen Geräusche wahrscheinlich kaum ertragen, aber Dazai saß die gesamte Zeit ganz ruhig da und blickte auf ihn hinunter. Als von draußen schwach das rote Licht der untergehenden Sonne bis zu ihnen hineinschien, öffnete der sterbende Junge ein letztes Mal seine Augen, starrte ins Nichts und flüsterte den Anfang eines Satzes, den er nicht mehr beenden würde.

„Aber etwas lieben … das ...“

Dazai sah zu, wie sämtliches Leben seiner seltsamen Bekanntschaft entwich. Dann stand er auf und verließ das alte Abflussrohr in den kalten Abend.

Wie der Satz wohl hatte enden sollen?

Er zuckte mit den Schultern. War auch egal.

Abrupt stoppte er.

Nein.

Nein!

„Was … ? Wie … ??“ Aufkommende Panik schimmerte in seiner Stimme durch. Vollkommen verwirrt, was nun los war, blickte er auf seine zitternden Hände.

Er spürte ein grässliches Nagen in seinem Innern.

A joke is just another way of telling the truth

A joke is just another way of telling the truth“

 

Placebo, „Hugz“

 

Michizo Tachihara gähnte mit weit aufgerissenem Mund.

Sein gelangweilter Blick wanderte kurz zum Nachthimmel über dem Hafen Yokohamas hinauf, dann wieder auf die gähnend leere Umgebung um ihn herum.

Nein, solche drögen und sterbenslangweiligen Patrouillengänge waren absolut nicht sein Ding. Seit Stunden schlurfte er durch die Straßen der Speicherstadt, kontrollierte die schmalen Gassen zwischen den Lagerhäusern und bekam dabei zusehends schlechtere Laune.

Personalmangel.

War das sein Problem??

Nein, war es nicht. Und trotzdem musste er es ausbaden. Er sah nicht, dass Koyo oder Kajii zum Bewachen wichtiger Lieferungen abgestellt wurden. Wobei Letzterer wirklich nicht zur Überwachung von irgendetwas taugte. Ginge es darum, die Lieferungen in die Luft zu jagen, wäre er sicher die erste Wahl. Und Koyo würde ihn allein für den Gedanken, dass sie so eine Arbeit erledigen sollte, aufschlitzen.

Tachihara erschauderte.

War vielleicht besser, dass die alle nicht hier waren.

Chuuya und Akutagawa waren anderweitig im Einsatz, wodurch an tatsächlich brauchbaren Mitgliedern der Hafen-Mafia nur mal wieder die Schwarze Echse übrig war. Und er gegen Gin bei Stein-Papier-Schere verloren hatte, sodass sie zusammen mit Hirotsu und all ihren Untergebenen die Lieferungen bewachte, während er und seine Leute draußen herumgeistern mussten.

Der rothaarige Mafioso stöhnte unzufrieden in die Nachtluft hinein. Gin hatte bestimmt irgendwie geschummelt. So viel Glück konnte sie überhaupt nicht haben. Darauf ansprechen würde er sie aber eher nicht. Sonst würde es ihm mit einem Mal ein bisschen zu viel Action geben. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Wie lange sie wohl noch alle so zusammen sein würden? Tachihara stellte das Lächeln augenblicklich ab. Was dachte er da bloß? Was sollte diese blöde Gefühlsduselei? Diese Leute bedeuteten ihm nichts. Er warf dem Nachthimmel einen erbosten Blick zu, so als könnte dieser irgendetwas für seine komischen Gedanken. Er würde sicherlich niemals vergessen, was sein eigentliches Ziel war oder wem seine eigentliche Loyalität gehörte. Niemals. Wie kam er überhaupt darauf, dass diese Mafiatypen ihm irgendetwas bedeuteten?

So etwas darf ich nicht denken. Nicht einmal im Scherz.

Er schüttelte über sich selbst den Kopf und steuerte die nächste Seitengasse an.

Dämliche, einsame Patrouillengänge mit ihren dämlichen Gelegenheiten nachzudenken!!

Ein bisschen mehr Action würde ihn gewiss auf andere Gedanken bringen.

'BOOM!'

Tachihara zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich ein lauter Knall und viel Geschrei in seiner Nähe zu hören waren.

 

Etliche Minuten bevor ein gewisser Mafioso seinen Gedanken nachzuhängen begann, war am Hafen das erschöpfte Keuchen einer Frau zu hören. Die Frau hielt nach Luft schnappend inne, richtete ihre rostbraunen Haare, die sie in einer sorgsam zurechtgemachten Bobfrisur trug und klopfte sich im Anschluss den Schmutz von ihrem langen roten Kleid und dem dazu passenden Schulterumhang. Sie trug einen vollgepackten Rucksack auf ihrem Rücken und zusätzlich eine Handtasche über ihrer Schulter. Sollte man ihr Alter schätzen, würde man sie am ehesten in ihren 20igern vermuten.

„Ich weiß, ich sagte, ich wäre einverstanden mit körperlicher Arbeit“, richtete sie das Wort an ihre beiden Begleiter, „aber ich bin doch kein Zugtier. Lassen Sie mich wenigstens kurz verschnaufen. Besonders nach dieser langen Überfahrt. Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, dass wir es lebend nach Japan schaffen.“

„Wir stehen unter Zeitdruck, nur deswegen dränge ich Sie so“, entgegnete ein Mann mit aschblonden, streng gescheitelten Haaren, der älter als sie wirkte, angesäuert. Aus einer Tasche seines schwarzen Cordsakkos holte er eine Taschenuhr hinaus, sah mit ernster Miene darauf und ließ sie wieder in der Tasche verschwinden. „Wir liegen bereits hinter dem Zeitplan zurück.“

„Als würde dieser Zeitplan uns irgendwie helfen“, gab die Frau zurück. „Wenn wir erwischt werden, werden wir erwischt, egal, ob wir im Plan sind oder nicht.“

Er warf ihr einen entrüsteten Blick zu. „Planung ist alles, meine Verehrte.“

„Ich kann noch, George“, meldete die zweite Frau der kleinen Gruppe sich energisch zu Wort. Sie hatte mattbraunes Haar und trug einen schäbigen schwarzen Mantel über einem dreckig aussehenden braunen Rock. Sie wischte sich ihre Hände an der Schürze, die sie darüber anhatte, ab. Betrachtete man ihr Äußeres und verglich es mit der schicken Kleidung, die die beiden anderen trugen, konnte man kaum glauben, dass sie zueinander gehörten.

„Ich erwarte von dir auch nichts anderes, Eliza.“

Die angesprochene junge Dame schien höchst erfreut über diesen Satz zu sein, obwohl er ohne jegliche Freundlichkeit geäußert worden war. Der Satz hatte vielmehr so kühl geklungen, dass er kaum als Lob hätte durchgehen können.

„Nun denn, es hilft ja nichts. Immerhin haben wir es schon ungesehen aus dem Laderaum des Schiffes in den Hafen geschafft.“ Die erste Frau seufzte und sah wie die drei anderen hinab zu der großen Kiste, die sie bis hierhin geschleift hatten. „Wie weit ist es noch?“

„Hinter diesen Lagerhäusern parkt ein Auto, welches wir an uns nehmen können“, antwortete der Mann.

„Dann wollen wir mal, ehe uns wirklich noch jemand bemerkt.“

Alle drei hoben die Kiste von neuem schwerfällig an, bevor die Jüngere der beiden Frauen erschrocken stockte.

„Eliza? Kommt etwa jemand her?“ Der Mann gab ihnen ein Zeichen, die Kiste wieder vorsichtig abzusetzen.

„Yay, da ist jemand.“

Das einzige männliche Mitglied der illustren Runde wies sie daraufhin sichtlich empört zurecht: „Eliza, bitte, auch in so einer verzwickten Lage solltest du auf deine Aussprache achten.“

Die Frau mit den rostbraunen Haaren blickte die beiden anderen ungläubig an. „Ist das jetzt Ihr Ernst?“

Als würde er ihren Einwand nicht verstehen, hob er kritisch eine Augenbraue.

„Selbstverständlich. Ich scherze niemals. Es gibt nichts Ernsteres als eine korrekte Aussprache.“

Noch während er sprach, hatten die Männer, die zu Tachihara gehörten, die Gruppe samt ihrer suspekten Kiste erspäht und waren zu ihr aufgeschlossen.

„Hey! Was wollt ihr hier? Was macht ihr auf dem Gebiet der Hafen-Mafia?“

„Hafen-Mafia?“, wiederholte der Mann und seine Mimik wurde dabei merkwürdig leer. Dann lachte er plötzlich. „DAS muss ein Scherz sein! Die ersten Menschen, auf die wir in Yokohama treffen, gehören ausgerechnet zur Hafen-Mafia?“

Von dieser irr anmutenden Reaktion verwirrt, zogen die Mafiosi ihre Waffen und richteten sie auf die Fremden. „Da stimmt was nicht. Diese Gestalten sind mehr als verdächtig. Sollen wir sie gleich erschießen oder erst Tachihara fragen?“

Unter den Untergebenen von Tachihara waren einige erfahrene Mafiaveteranen und diese waren die ersten, die sich noch mehr über die seltsame Gruppe wunderten, auf die sie da gestoßen waren. Die meisten Leute reagierten auf die Drohung, erschossen zu werden, mit Angst oder Gegenwehr – doch diese drei blieben entsetzlich ruhig. Viel zu ruhig. Die Männer überkam ein mulmiges Gefühl.

„Sie wollen uns erschießen“, klagte die Frau im roten Kleid; und nicht etwa den Mafiosi, sondern ihren Begleitern. Dabei wirkte sie … vollkommen entnervt.

„Es gibt keinen Grund, wütend zu werden, Frau Mansfield“, erwiderte der Mann gelassen, bevor er sich an die Mafiamitglieder wandte. „Hätten Sie die Güte, uns einfach vorbeizulassen? Wir sind sehr in Eile.“

Die Angesprochenen tauschten kurz verdatterte Blicke aus. Was stimmte denn mit denen nicht? Diese komischen Gestalten blickten in die Läufe gezogener, geladener Waffen und sagten dann so etwas??

„Nein, du Spinner! Natürlich nicht!“, platzte es aus einem heraus.

Das Gesicht des Blonden wurde für einen flüchtigen Moment nachdenklich.

„Ich verstehe. Dann handelt es sich der Definition nach hierbei wohl um eine todernste Angelegenheit.“

„Häh??“

„Eliza, kümmere dich darum.“

„Ya- ich meine, j-a, sehr gerne!“ Die junge Frau strahlte vor Glück – und stand plötzlich mitten unter den Mafiosi. „Ich nehme mir das einmal.“ Bevor der arme Kerl, dem sie dies gesagt hatte, begreifen konnte, was geschah, hatte sie den Stift einer Handgranate, die er an seinem Gürtel hängen hatte, herausgezogen.

Eine laute Explosion erfüllte den Hafen mit einem ohrenbetäubenden Knall und einem grellen Lichtblitz. Ein paar der Männer hatte es sofort erwischt, einige andere waren gerade so dem aus dem Nichts gekommenen Angriff entkommen. Diese wollten das Feuer auf die Unbekannten eröffnen, als ihnen auffiel, dass ihre Waffen aus ihren Händen verschwunden waren. Die Mafiosi verzogen ihre Gesichter, so als hätten sie plötzlich Schmerzen. Im nächsten Augenblick wurden sie von Eliza erschossen.

„WAS ZUR HÖLLE IST HIER LOS?!“

Atemlos starrte der herbeigeeilte Tachihara auf das blutige Schlachtfeld. In Sekundenschnelle hatte er seine eigenen Pistolen gezückt und auf Eliza geschossen. Die Kugeln durchlöcherten sie regelrecht und doch verzog sie keine Miene. Tachihara traute seinen Augen nicht, als sie mit einem Mal nicht mehr vor ihm stand. Er blinzelte irritiert und plötzlich war die Fremde wieder da.

„Noch einer?“, fragte sie genervt. „Soll ich mich auch noch um den kümmern?“

„Dies scheint notwendig zu sein, ja“, antwortete der Mann unaufgeregt, den sie George nannte und der mit der jungen Dame, die auf den Namen Mansfield hörte, nur am Rande des Geschehens verharrte und es beobachtete.

Was stimmt denn mit denen nicht? Wer in aller Welt ist das?! Oder eher … was in aller Welt ist das?! Na schön, wenn ich diese Frau nicht erschießen kann, dann-

Tachihara richtete seine Waffen auf die beiden anderen und bekam so nicht mit, wie sich plötzlich doch etwas in Elizas Gesicht regte. Ihre Mimik verzog sich durch ihre rasende Wut in eine gruselige Grimasse. Der Mafioso schoss und erstarrte noch in dem Augenblick, in dem seine Kugeln auf ihr Ziel zuflogen.

Eliza erschien in der Schussbahn und fing die für ihre Begleiter bestimmten Geschosse ab. Erneut wurde sie eindeutig von den Kugeln getroffen, ohne dass es sie in irgendeiner Weise zu kümmern schien. Mehr noch, ihre vorigen Einschusslöcher waren wie von Geisterhand verschwunden.

Wie ist sie so schnell …? Und warum zur Hölle blutet sie nicht einmal? Können Kugeln ihr nichts anhaben? Scheiße, was hat die für eine krasse Fähigkeit?

„Du wagst es, auf George zu schießen?“, fauchte sie voller Zorn und wirkte inzwischen wie eine Furie. „Dafür wirst du sterben! Ich werde dich töten!“

Was geht denn mit der ab?

Der Rothaarige blickte entgeistert auf die Gegnerin vor ihm. Ihre Aura war auf einen Schlag so bösartig geworden, dass sie der von Akutagawa das Wasser reichen konnte.

Es gibt Dämonen nicht wirklich … oder?

Abrupt schnellte Elizas Blick nach oben und Tachihara traute seinen Augen abermals nicht, als die Pistole in ihrer Hand mit einem Mal zu einem Kurzschwert wurde – mit dem sie Gins Überraschungsangriff abwehrte. Die beiden Klingen krachten aufeinander und die Fremde schaffte es, Gin von sich zu stoßen. Die Schwarzhaarige ging gleich zum Gegenangriff über und stürmte mit blitzschnellen Bewegungen wieder auf ihre Zielperson zu, die sich nicht weniger schnell bewegte und die Attacke erneut parierte. Als hätte sie übermenschliche Kraftreserven, gelang es Eliza, Gin zurückzudrängen und ihr einen harten Tritt in den Bauch zu verpassen. Die Assassine krachte unsanft auf den Boden und hatte gerade einmal Gelegenheit hochzublicken, als ihre Widersacherin mit eiskaltem Blick plötzlich über ihr stand.

Tachihara stockte der Atem, als sich in Elizas anderer Hand von neuem ein Revolver materialisierte, den sie auf die andere Frau richtete.

„GIN!“, schrie er panisch und in seiner Verzweiflung kurz davor, zu einer anderen Waffe zu greifen, als Hirotsu aus dem Schatten hinzueilte und die Angreiferin mit seiner Fähigkeit traf. Noch während ihr Körper in einem hohen Bogen weggeschleudert wurde, verzerrte und verbog dieser sich und sie landete mit einem lauten Platsch im Wasser des Hafenbeckens.

„Was … was zum Teufel war das?“ Tachihara atmete endlich aus, nachdem er die Luft angehalten hatte. Verunsichert sah er auf das dunkle Meer hinaus und schließlich zu Hirotsu, der Gin vom Boden aufhalf. Zum Glück hatte er die beiden verständigt, nachdem er die Explosion gehört hatte. Als würde ihm siedend heiß etwas einfallen, schnellte Tachiharas Kopf zu der Stelle, an der die beiden anderen Fremden gestanden hatten.

„Was ist, Tachihara?“, fragte Hirotsu irritiert, als er die entsetzte Miene des Jüngeren erblickte.

„Sie sind weg. Scheiße, sie sind weg!“ Er rannte zu der Stelle, an der nur noch eine riesige, geöffnete, leere Kiste stand, neben der ein leerer Rucksack lag.

„Willst du damit sagen, diese Frau von eben war nicht allein?“, hakte Hirotsu nach und blickte sich um, nachdem sein Kollege dies bejaht hatte.

„Da waren noch zwei! Sie müssen abgehauen sein, als die Verrückte gegen Gin gekämpft hat!“

„Drei Leute haben also dieses Massaker angerichtet, ja?“ Hirotsus Augen schweiften über die toten Männer, die zu Tachiharas Einheit gehört hatten, während er zu dem Rothaarigen aufschloss.

Tachihara schaute zu ihm und Hirotsu stutzte bei dem erschütterten Gesicht, das er machte. „Oh nein. Das war die Verrückte allein.“

„Wie beunruhigend“, äußerte er, ohne dabei beunruhigt zu klingen. „Weswegen sind sie hergekommen? Besonders mit so einer starken Befähigten? Schmuggler?“ Die Finger des Ältesten der drei strichen über den Rand der merkwürdigen Kiste. „Was wohl in dieser Kiste gewesen ist? … Huh?“ Er beugte sich hinunter und beäugte im Licht, das die am Hafen aufgestellten Laternen warfen, die Außenhülle der Kiste. „Da sind kleine, von Menschenhand geschaffene Löcher in dieser Kiste.“ Er steckte einen Finger durch ein solches Loch hindurch.

„Was hat das zu bedeuten?“

Hirotsu zog seinen Finger wieder heraus. „So etwas macht man, um etwas zu schmuggeln, das atmen muss.

Beide horchten auf, als Gin sich ihnen näherte. Sie hatte sich die Leichname der getöteten Männer angesehen und anscheinend dabei etwas gefunden. Sie hielt ihren Kameraden eine Handvoll ausländisch aussehender Münzen hin. Hirotsu griff sich eine und hielt sie vor sein Monokel, während er sein anderes Auge zukniff. „Wer auch immer das war … ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Wir sollten umgehend dem Boss davon berichten.“

 

Wie man es von ihm gewohnt war, hörte sich Ogai Mori die Geschichte seiner drei Untergebenen mit der größtmöglichen Gelassenheit an. Die Ellbogen auf seinen Schreibtisch gestützt und die Finger ineinander verhakt, schloss er kurz die Augen, nachdem Hirotsu mit seinem Bericht fertig war.

„Das klingt alles sehr unerfreulich“, sagte er schließlich vollkommen ruhig, als er die Augen wieder aufmachte. „Es wäre besser gewesen, diese Frau, die eine gesamte Mannschaft auslöschen konnte, nicht gleich umzubringen. Ich hätte sie zu gerne ein, zwei Sachen gefragt.“

„Es tut uns leid“, entschuldigte Hirotsu sich, „aber die Umstände ließen keine andere Vorgehensweise zu.“

Mori seufzte und zuckte mit den Schultern. „Ja, schade ist es dennoch. Aber jetzt liegt sie irgendwo auf dem Meeresgrund und ist für uns nicht mehr von Interesse. Ihre zwei Gefährten allerdings … sollten uns nicht davonkommen.“ Ein kaltes Lächeln glitt über sein Gesicht. „Tachihara, du hast sie als Einziger gesehen, wir müssen uns demnach auf deine Beschreibung von ihnen verlassen.“

Der Angesprochene nickte mit finsterer, entschlossener Miene. „Diese elenden Hunde finde ich. Besonders den Dreckskerl, der anscheinend ihr Anführer ist. George, oder so ähnlich.“

„George?“ Mit untypisch interessiertem Gesichtsausdruck richtete sich der Boss der Hafen-Mafia auf. „Einer von ihnen hieß 'George'?“

„Ja, das habe ich zumindest so verstanden. Die Irre hat das gesagt.“

„Fangen wir einmal mit ihm an“, erwiderte Mori und selbst Elise, die sich bisher nicht für das Gespräch interessiert hatte, drehte sich nun neugierig zu ihm. Andere konnten dies nicht ausmachen, aber ihr, die ihn besser kannte als sonst jemand, entging es nicht. Dieser Hauch von Nervosität, der ihren Rintaro schlagartig umgab. „Wie sah er aus?“

„Ähm ...“, begann Tachihara nachdenklich, „etwa so groß.“ Er zeigte auf die ungefähre Größe Hirotsus. „Sah nach dunkelblonden Haaren aus. Und ein Scheitel, als würde der sich mit einem Lineal kämmen.“

„Gibt es ein Problem, Boss?“, warf Hirotsu ein, als er die für einen kurzen Moment geweiteten Augen seines Vorgesetzten bemerkt hatte.

„Wie alt würdest du ihn schätzen?“ Die Schwarze Echse tauschte untereinander verwunderte Blicke aus, als Mori Hirotsus Frage ignorierte.

„Uh, äh“, Tachihara kratzte sich am Kopf, „schwer zu sagen ... so äh, ich weiß nicht genau, etwa Ihr Alter?“

„Verstehe.“ Mori wandte seine Augen von den drei vor sich ab, nahm sich eine der Münzen, die Gin auf dem Schreibtisch abgelegt hatte und besah sich diese.

„Boss?“, fragte Hirotsu erneut nach.

Er legte die Münze wieder hin. Allem Anschein nach hatte sie ihm keinen brauchbaren Hinweis geliefert. „Tachihara, du sagtest, du hättest das Gefühl gehabt, einem Dämon gegenüberzustehen?“

Der Rothaarige stutzte. „Na ja. Schon, irgendwie. Warum?“

Mori lachte plötzlich und verwirrte damit alle Anwesenden. „Vielleicht war es eher ein Geist. Ein Geist aus der Vergangenheit.“

Abermals sahen die Mitglieder der Schwarzen Echse sich verdutzt an. Was redete der Boss da?

Das Oberhaupt der Mafia kehrte zu seiner kühlen, düsteren Art zurück. „Findet die beiden, die entkommen sind. Ich würde mir sehr gerne selbst ein Bild von ihnen machen. Holt auch Chuuya und Akutagawa hinzu. Es könnte möglich sein, dass wir es hier mit einer dringenden Angelegenheit zu tun haben.“

Die drei nickten und Tachihara und Gin verließen unverzüglich das Büro. Lediglich Hirotsu warf noch einmal einen Blick zurück und es beunruhigte selbst ihn seinen Boss dermaßen gedankenverloren an seinem Schreibtisch sitzen zu sehen.

Ein Geist aus der Vergangenheit? Aus Moris Vergangenheit? Das konnte nichts Gutes zu bedeuten haben. Nein, wahrscheinlich hatte Tachihara Recht. Wahrscheinlich bekamen sie es nun mit waschechten Dämonen zu tun.

It's a race, a race for rats – A race for rats to die

It's a race, a race for rats

A race for rats to die“

 

Placebo, „Slave to the wage“

 

„Ich verstehe das nicht so wirklich, Dazai.“ Atsushi blinzelte den Rücken seines Mentors planlos an, während er mit Joyce hinter ihm her trabte. „Was genau suchen wir? Sollen wir nach irgendetwas Ausschau halten?“

Ohne jegliche Eile blickte Dazai, die Hände gemütlich hinter seinem Kopf verschränkt, über seine Schulter zu seinem Schützling zurück. „Wieso fragst du mich das?“ Er klang amüsiert, ließ seine Augen kurz zu Joyce wandern und richtete seinen Blick wieder nach vorn.

Ihre Dreiergruppe hatte kurz nach Ranpo, Tanizaki und Kunikida die Detektei verlassen, doch im Gegensatz zu den anderen, die zielgerichtet zum Bahnhof Tobe aufgebrochen waren, liefen sie seit einer halben Ewigkeit scheinbar ziellos durch die Stadt. Dazai schritt voran, ging mal ganze Straßenzüge strikt geradeaus, bog mal abrupt in andere Straßen ab – ohne auch nur einen Blick auf den Stadtplan zu werfen, auf dem Joyce die Punkte markiert hatte, an denen er damals mit Wilde gewesen war. Er konnte auch nicht auf besagten Stadtplan gucken; diesen hatte er nämlich – zu Atsushis schierem Entsetzen - noch im Büro zusammengeknüllt und weggeworfen. Welchen Sinn hatte die ganze Markiererei dann gehabt? Benötigte Ranpo den Plan ebenso nicht? Und wer außer Dazai sollte denn bitte wissen, wohin sie unterwegs waren?

Atsushi schwirrte der Kopf – als er plötzlich eine Eingebung hatte. Aus dem Augenwinkel sah er zu Joyce, der (wenn er nicht gerade Dazais Rücken mit bösen Blicken bombardierte) ihren gesamten Fußmarsch über schon mit wachen Augen die Umgebung betrachtet hatte.

„Herr Joyce“, fragte er schließlich, „wissen Sie, wohin wir unterwegs sind?“

„Ich glaube nicht, dass wir tatsächlich irgendwohin unterwegs sind“, antwortete der Ire gleichermaßen kryptisch und räusperte sich, als er Atsushis endgültig verwirrte Miene bemerkte. „Wir steuern kein Ziel an, Junge. Wir laufen Wege ab, an denen Wilde und ich damals vorbei gekommen sind. Ist doch so, oder, Herr Dazai?“

Mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht wandte sich der Angesprochene im Gehen zu ihnen herum und löste mit einer ausladenden Geste die Verschränkung seiner Arme auf. „Ranpo sagte mir: 'Der Weg ist das Ziel und jegliche Abgründe, die sich unterwegs auftun, sind dein Fachgebiet, Dazai.' Ich weiß nicht, ob mir diese Art der Arbeitsteilung gefällt, aber Ranpo hat immer Recht, also widerspreche ich ihm in dieser Sache nicht.“

„Moment.“ Atsushi klappte beinahe der Unterkiefer herunter, als er begriff, was das hieß. „Du hast dir sämtliche Markierungen auf dem Stadtplan gemerkt?“

Dazais lächelte noch eine Spur genüsslicher. „Das ist nichts Besonderes. Kyoka könnte das auch.“

Atsushi hörte Joyce neben sich angestrengt seufzen. „Das ist nicht alles, Junge. Wir laufen die exakt gleichen Wege wie damals ab. Das heißt, er hat aus den Markierungen geschlossen, wie genau wir uns durch die Stadt bewegt haben. Also, wo wir abgebogen sind, wie lange wir auf einer Straße unterwegs gewesen sind, an welchen Stellen wir stehen geblieben sind, um uns umzusehen. Das ist unheimlich. In höchstem Grade unheimlich. Wer zum Teufel ist der Kerl?“ Obwohl Joyce ihn bei diesen Worten bitterernst fixierte, hielt Dazai seinem strengen Blick ohne Probleme und ohne dass es ihn groß zu kümmern schien stand. Nur sein Lächeln war wieder etwas ominöser geworden.

„Und?“, fragte Dazai. „Ist Ihnen schon etwas aufgefallen?“

„Noch nicht“, brummte der Ire zurück.

„Sagen Sie Bescheid, sobald es so ist.“ Dazai grinste von neuem, als er zu Atsushi schaute. „Tür zu, es zieht!“, rief er erheitert aus und der Junge klappte seinen offenstehenden Mund zu.

Unfassbar. Das war einfach nur noch unfassbar.

Wohl wissend, dass er ihn gerade anstarrte, schüttelte Atsushi ungläubig den Kopf.

Dazai wirkte die halbe Zeit, als hätte er nicht alle Zacken in der Krone, doch dann gab es die andere Hälfte der Zeit immer diese Momente, in denen er den jungen Detektiv vollkommen verblüffte. Sein Mentor war nicht einfach nur außerordentlich klug, selbst ihn ein Genie zu nennen, war eine bodenlose Untertreibung. Dazai war übermenschlich.

'Klonk!'

„Aua!“

Und Dazai war gerade beim Rückwärtslaufen volle Kanne gegen eine Straßenlaterne gedonnert. Atsushis Augen zuckten, als der Brünette sich lautstark jammernd den Hinterkopf und den Rücken rieb. Vielleicht sollte er vorsichtiger damit sein, Dazai auf ein Podest zu heben. Mit einem unübersehbaren, schadenfrohen Grinsen im Gesicht schritt Joyce an ihm vorbei und übernahm die Führung.

„Herr Joyce“, fragte Atsushi nach einigen Metern und während Dazai neben ihm weiterhin jaulte, „ich wundere mich das schon die ganze Zeit: Die Wege, die Sie genommen haben, sind nie die kürzesten. Es erinnert mich sehr an die Zeit, nachdem ich neu nach Yokohama gekommen war. Ich habe ständig ungewollt Umwege gemacht und mich in den Straßen verirrt.“

„Tja, weißt du“, erwiderte er hörbar in seinem Stolz gekränkt und die Umgebung aufmerksam im Blick behaltend, „wir haben uns auch in einem Stück verirrt. Wir haben einen ganzen Tag gebraucht, um die Detektei überhaupt zu finden. Als wir dann nach einem Vorwand gesucht haben, um dich anzusprechen, hatten wir immerhin schnell eine Idee.“ Als er dies sagte, klang er mit einem Mal unbeschwerter und auch wenn er sein Gesicht nicht sehen konnte, stellte Atsushi sich vor, dass Joyce vielleicht gerade lächelte. Es freute ihn für den arg gebeutelten Mann. Ihm selbst zauberte es bei der Erinnerung an ihre erste Begegnung ein zartes Lächeln auf die Lippen. Alles, was danach passiert war, war schrecklich gewesen, aber dieses erste Treffen mit dem gleichermaßen chaotischen wie charismatischen Duo war eine schöne Erinnerung. Atsushi hatte keinen Zweifel daran, dass die beiden aneinander hingen. Und genau deswegen war es so wichtig, ihnen zu helfen. Es war rührend, wie Joyce so viel auf sich nahm, um seinem Kameraden zu helfen. Ob Kunikida das Gleiche für-

„Auauauau!“ Dazais kindisches Wehklagen schnitt seinen Gedankengang ab.

Vielleicht müsste man Kunikida erst dazu überreden …

„Kennen Sie und Herr Wilde sich schon lange?“, wollte Atsushi nun wissen und Joyce nickte.

„Wir lernten uns zwar erst einige Zeit nach Kriegsende kennen, aber mir kommt es so vor, als würde ich mit diesem Vogel bereits eine Ewigkeit zusammenarbeiten. Zumindest fühlt es sich so an, als würde ich seitdem dreimal so schnell altern.“

Atsushi konnte das gequälte Grinsen im Gesicht des Iren förmlich spüren. „Ich glaube … ich verstehe, was Sie meinen.“ Er warf einen unverhohlenen Seitenblick auf seinen 'Ich mag doch keine Schmerzen' winselnden Kollegen.

„Wie haben Sie sich kennengelernt?“

Joyce zuckte amüsiert mit den Schultern. „Mein früherer Chef hat ihn mir vor die Nase gesetzt.“

„Ihr früherer Chef?“

„Aldous Huxley.“

„Oh!“ Atsushi zuckte bei diesem Namen zusammen. Er wollte das Gespräch nicht in unliebsame Gefilde lenken. „Entschuldigung.“

Der Ire warf einen kurzen Blick über seine Schulter zurück. „Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen, Junge. Mir wäre es auch lieber, die Dinge wären anders gelaufen, aber … nun sind sie wie sie sind. Wir sind mit schuld daran. Und wir werden mit dieser Schuld leben müssen. Ich habe Wilde versprochen, dass wir nie wieder wie paralysiert einfach nur zusehen werden, wenn jemand in sein Unglück rennt. Wir hätten sie schon viel früher aufhalten müssen. Egal wie. Wir hätten etwas tun müssen.“

„Sie sind nicht der Typ dafür“, warf Dazai, sein Gejammer plötzlich einstellend, ein.

„Wofür?“, hakte Atsushi nach.

„Für Mordkomplotte“, entgegnete sein Mentor beiläufig. „Den beiden kam wohl der Gedanke, dass sie ihre Gefährten hätten retten können, wenn sie mich stattdessen aufgespürt und erledigt hätten, aber wir wissen doch, wie das ausgegangen wäre. Sie haben zwar darüber debattiert, ob ich leben oder sterben sollte, doch selbst wenn sie sich für Letzteres entschieden hätten, hätte zumindest sein Gewissen das nicht zugelassen. Unser irischer Blondschopf hat sicher nicht das Zeug zum Mörder. Da sein gutaussehender Kompagnon irgendwelche düsteren Geheimnisse verbirgt, bin ich mir bei ihm nicht vollkommen sicher. Vertrau mir, Atsushi, bei so etwas kenne ich mich aus.“

„Aha …?“

Wieso klingt er, als wolle er damit angeben??

„Nur zu Ihrer Information“, zischte Joyce merklich gereizt, „Wilde war auch dagegen, Sie umzubringen.“

„Das ist wahr, Dazai. Er wollte ebenso nicht, dass du stirbst.“

„Mag ja sein“, widersprach Dazai unbeeindruckt, „allerdings würde ich ihm deswegen in diesem Fall immer noch kein Unschuldszeugnis ausstellen. Mit mir hatte er ja auch nichts zu tun. Bei dem Mord an Gray allerdings sieht die Sache anders aus. Der scheint einen persönlichen Hintergrund zu haben.“

„Und welchen?“, fragte Atsushi mit einem flauen Gefühl im Magen nach. Dazai betrat schon wieder ganz dünnes Eis.

„Wenn ich das wüsste, müssten wir uns nicht die Füße wund laufen.“

Abrupt blieb Joyce stehen und schaute sich um, als würde er etwas suchen. Die beiden Detektive hielten ebenso an. Mittlerweile hatte die Sonne bereits begonnen, unterzugehen.

„Hier? Warum sind Sie hier stehen geblieben?“ Dazai runzelte die Stirn. Offenkundig passte diese Stelle nicht in das Muster, das er gesehen hatte.

Der Ire nickte, als er scheinbar das gefunden hatte, was er gesucht hatte. Dazai folgte seinem Blick und für einen kurzen Moment war Atsushi fast so etwas wie erleichtert, dass selbst sein Mentor die Situation nicht auf Anhieb verstand.

„Das gibt keinen Sinn. Von hier aus kann man nichts sehen, was einem bei der Orientierung durch die Stadt hilfreich wäre. Wieso also haben Sie damals hier angehalten?“ Mit nachdenklicher Miene sah der Brünette zu den Hochhausfassaden auf die Joyces Blick zeigte. An den Mauern der Gebäude waren Plakatflächen angebracht, auf denen die aktuelle Ausstellung des Kunstmuseums beworben wurde.

„Nicht ich bin damals hier stehen geblieben, sondern Wilde“, erzählte Joyce. „Sein Blick ging da rüber und er lächelte. Als ich ihn fragte warum, sagte er nur, dass er an einen alten Freund hatte denken müssen.“

„Damals zeigten die Plakate auch die Ausstellung des Kunstmuseums?“ Dazai fasste sich mit einer Hand ans Kinn.

„Ja. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was darauf zu sehen war. Wir sind auch recht zügig wieder weitergegangen. Halten Sie das für wichtig?“ Der Tonfall des Blonden verriet, dass er diese Information eigentlich für nebensächlich hielt, doch er ahnte bereits, dass Dazai dies sehr wahrscheinlich anders bewertete.

„Es ist auf jeden Fall interessant“, erwiderte dieser. „Ich nehme schwer an, dass Sie überhaupt gar nichts über diesen scheinbar Kunst liebenden Freund wissen?“

„Absolut gar nichts.“

„Wie ich es mir gedacht habe.“ Dazais ominöses Lächeln kehrte zurück. „Wir haben ihn. Den Abgrund, der sich unterwegs auftut.“

„Äh ...“, Atsushi hasste es, sich mal wieder gänzlich planlos in ein Gespräch einschalten zu müssen. „Und wie hilft uns das jetzt? Was genau daran ist interessant?“

„Atsushi“, sein älterer Kollege schüttelte gespielt tadelnd den Kopf, „überleg doch mal: Wenn du in so einer heiklen und dramatischen Angelegenheit wie die beiden damals unterwegs wärst, würdest du plötzlich wegen eines schnöden Plakats anhalten und an einen einfachen Bekannten denken?“

„Uhm … nein?“ Direkt nachdem er geantwortet hatte, kam eine Erkenntnis über den silberhaarigen Jungen. „Außer es hätte mit dem Plakat und dem Freund noch viel mehr auf sich! Irgendetwas muss auf diesem Plakat gewesen sein, was für Wilde von besonderer Bedeutung war!“

Dazai applaudierte halbernst. „Jetzt denkst du wie ein Detektiv, Atsushi.“

„Aber wie sollen wir-“

Mitten in Joyces begonnene Frage platzte das Klingeln von Atsushis Handy.

„Oh? Es ist Kunikida. Vielleicht haben sie auch eine Spur gefunden.“ Der junge Detektiv ging ran.

 

„Leer.“

„Hm?“ Auf dem Weg zur früheren Unterkunft der beiden Iren blickte Kunikida mit mildem Entsetzen zu dem auf der Rückbank seines Wagens lümmelnden Ranpo. Der Meisterdetektiv hielt die vor wenigen Minuten noch fast voll gewesene Tüte mit den Erdbeer-Schokoriegeln kopfüber zu ihm hin. Überall auf der Rückbank und dem Fußboden waren die leeren Verpackungen verstreut.

„Du hast in der kurzen Zeit die ganze Tüte aufgefre-ah! Aufgegessen, Ranpo?“ Auch Tanizaki schien recht entsetzt zu sein, was den Appetit des Älteren betraf. Dem Rothaarigen wurde schon bei dem Gedanken, so viel Süßkram auf einmal in sich hineinzustopfen, übel. Zudem roch es nun im Innenraum heftig nach den Schokoriegeln. „Ist dir jetzt nicht schlecht?“

„Schlecht? Wieso soll mir denn schlecht sein? Ich könnte aber etwas Salziges vertragen, wenn du etwas da hast ...“

„N-nein, tut mir leid.“ Tanizaki würgte ein wenig und ließ Kunikida um die Unversehrtheit seines Autos bangen.

„Hmm, dann müssen wir unterwegs noch was besorgen.“

„Vielleicht gönnst du deinem Magen eine kurze Pause“, schlug Kunikida diplomatisch vor.

„Das sagt der Chef auch immer.“ Ranpo zog einen Schmollmund und kreuzte beleidigt die Arme vor der Brust. „Was soll ich bei dieser komischen Stimmung hier denn sonst machen außer etwas Leckeres zu essen?“

„Komische Stimmung?“ Kunikida stutzte. „Welche komische Stimmung?“

„Äh, ja“, begann Tanizaki zögerlich, „ist alles in Ordnung, Kunikida? Du wirkst ein wenig … angespannt.“

„Ich?“ Der Idealist sah aus dem Augenwinkel zu ihm. „Ich verstehe absolut nicht, wovon du redest.“

„Kunikida ...“ Tanizaki zeigte auf die Hände des am Steuer sitzenden Mannes und dieser folgte irritiert und verwundert dem Fingerzeig. Seine Hände verkrampften sich regelrecht um das Lenkrad und die Knöchel traten bereits weiß hervor. „Außerdem knarzt du die ganze Zeit schon mit den Zähnen und machst ein Gesicht, als würdest du dem Nächsten, der dich anspricht, den Kopf abbeißen.“

Als er dies alles hörte, lockerte sich Kunikidas Anspannung umgehend. Er hatte nicht bemerkt, dass er all dies getan und damit für die unbehagliche Atmosphäre im Wagen gesorgt hatte. Seit er die Detektei verlassen hatte, hatte er an nichts anderes denken können, als an das Gespräch mit Joyce. Vertrauen war etwas äußerst Fragiles. Es brauchte nicht viel, um es zu erschüttern oder sogar zu zerstören. Joyce hatte Wilde vertraut und nicht damit gerechnet, dass dieser etwas womöglich Grausames vor ihm verbarg, das beide in Bedrängnis bringen würde. Doch er selbst stand nicht besser da.

Kunikida rechnete damit, dass Dazais Vergangenheit noch weitere Probleme machen würde, aber … dieses Wissen half ihm nicht. Er konnte noch so viele Überlegungen anstellen, ihm fehlte die Gewissheit. Solange niemand von ihnen Dazais ganze Vergangenheit kannte, konnten sie sich nicht darauf vorbereiten, falls noch jemand Rachegedanken gegen den Spinner hegte und sie angriff. Dazai musste dieser Umstand bekannt sein und trotzdem tat er nichts dagegen. Er verlor kein Wort zu viel über sich, hüllte sich in absolutes Schweigen. Warum hüllte sich jemand in so drastisches Schweigen? Weil er etwas zu verbergen hatte – oder in Dazais Fall: Weil er viel zu viel zu verbergen hatte. Konnte man so jemandem überhaupt trauen? War Dazai eine Gefahr für die Detektei?

„Kunikida ...“ Tanizakis dezent beunruhigte Stimme holte ihn aus seinen schwermütigen Gedanken. „Wir sind da. Da vorne ist es.“

Mit fahrigen Bewegungen lenkte Kunikida das Auto auf den Parkplatz vor dem kleinen Hotel, das in einer abgelegenen Straße hinter dem Bahnhof Tobe gelegen war. Hier waren Wilde und Joyce damals abgestiegen und hier wollte Ranpo als allererstes nach Hinweisen suchen. Er stellte den Motor ab und wunderte sich, dass Tanizaki ihn so besorgt musterte.

„Du hast wieder dieses Gesicht gemacht“, erklärte der Rothaarige, „aber dieses Mal bist du dabei ganz blass geworden.“

Der Idealist räusperte sich. „Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen.“

„Vielleicht gönnst du deinem Kopf mal eine kurze Pause“, ertönte es ungewöhnlich ernst und mahnend von der Rückbank, „das bringt doch jetzt nichts.“ Ranpo stieg aus und streckte sich.

Er hat Recht. Meine Überlegungen drehen sich nur im Kreis.

Kunikida zuckte seufzend mit den Achseln und verließ mit Tanizaki den Wagen. Er sah sich um.

„Wo willst du anfangen, Ranpo? Brauchst du den Stadtplan?“

„Ah!“ Tanizaki schreckte zusammen. „Der ist noch im Büro! Ich wusste nicht-“

„Natürlich nicht.“ Ranpo winkte augenrollend ab. „Ich weiß längst, wo wir suchen müssen.“

Die beiden anderen warteten gespannt ab, ob er ihnen diese Information auch noch zuteil werden ließe, aber der Meisterdetektiv gähnte ausgiebig und blinzelte gut gelaunt und zufrieden in die Sonne.

„Ein schöner Tag! Zum Glück habe ich die Schokoriegel aufgegessen, sonst wären sie mir ruckzuck geschmolzen.“

Vor Kunikidas innerem Auge bedeckte eine eklige, rosafarbene Schicht seine schöne Rückbank und ließ ihn erneut seufzen. Immerhin war ein halbwegs satter Ranpo ein halbwegs pflegeleichter Ranpo.

„Das Hotel liegt sehr abgelegen, findet ihr nicht?“, fragte Tanizaki, während er sich umschaute. Außer dem Hotel gab es hier nur wenige Geschäfte und umso mehr Wohnhäuser. Ein typisches altes Wohngebiet.

„Sie mussten damals für eine unbestimmte Zeit in Yokohama bleiben“, entgegnete Kunikida. „Abseits des Zentrums sind die Unterkünfte erheblich günstiger.“

„Es ist trotzdem ziemlich umständlich, von hier zum Hafen oder zur Detektei zu fahren.“ Ranpo machte nach wie vor keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. „Die beiden hatten keinen Plan von Yokohama.“

Kunikidas Stirn legte sich in Falten. „Also meinst du, dass Wilde doch die Wahrheit gesagt hat und noch nie zuvor hier gewesen war?“

„Das halte ich für wahrscheinlich. Aber Dazai hat das auch nicht einfach so dahergesagt. Es gibt eine Verbindung zwischen Wilde und dieser Stadt. Sonst würde dieser Brief ja keinen Sinn machen.“

„Dann kennt er hier jemanden?“, mutmaßte Kunikida nun.

„Das werden wir bald erfahren.“ Zum Unverständnis der beiden anderen grinste Ranpo. „Sehen wir uns mal das Hotel an!“

Die drei betraten das Gebäude und wie so oft machte Kunikida die Vorarbeit und erklärte erst dem Rezeptionisten und dann der Besitzerin, dass sie wegen einer Ermittlung hier waren. Die überschaubare Belegschaft des kleinen Hotels zeigte sich sehr kooperativ, zeigte ihnen alles und erzählte, so gut sie sich erinnern konnte, von den irischen Gästen. Besonders den Damen war Wilde so stark in Erinnerung geblieben, dass sie allesamt rot wurden und ins Schwärmen gerieten, wenn sie von ihm sprachen. Tanizaki ließ dies verlegen lächeln, doch Kunikida rollte mit den Augen. Aus irgendeinem Grund konnte er sich denken, was für einen Honig dieser Kerl den Frauen um den Mund geschmiert haben musste. Selbst die Besitzerin hatte sich so weit einlullen lassen, dass sie mit dem Preis für das Zimmer noch heruntergegangen war. An wen erinnerte ihn das nur?

Unglücklicherweise brachten sie aber nichts Brauchbares in Erfahrung. Die Iren waren stets nett und zuvorkommend gewesen, hatten ihr Zimmer in tadellosem Zustand verlassen und waren immer zu zweit unterwegs gewesen. Keine dieser Informationen brachte sie irgendwie weiter.

Am Ende aller Befragungen fiel Tanizaki eine Kleinigkeit auf.

„Ranpo … du hast nicht einmal deine Brille aufgesetzt.“

„Hm? Nö, warum auch?“ Er knabberte eine Tüte Brezeln, die er aus dem Snackautomat in der Lobby gezogen hatte.

„Also ...“ Tanizaki sah leicht hilflos zu Kunikida, der genauso überfragt war wie er, bevor er das Wort wieder an Ranpo richtete. „Das heißt, wir finden hier keinen Hinweis?“

Der Meisterdetektiv blickte gelangweilt schmatzend zu ihm hoch. „Nö.“

„Ääh, und das heißt … wir machen jetzt was?“

Nachdem er den letzten Brezel in den Mund geworfen und die Tüte entsorgt hatte, legte Ranpo den Kopf schief. „Ist doch offensichtlich. Wir gehen wieder nach draußen“ sprach er und marschierte an seinen verdatterten Kollegen vorbei.

Ist das offensichtlich?“, fragte der Blick des Rothaarigen und Kunikida ächzte laut.

„Anscheinend ist es offensichtlich.“

Sie folgten dem dienstältesten Detektiv nach draußen, wo dieser auf dem Bürgersteig vor dem Hotel stehen geblieben war.

„Ranpo?“, fragte jetzt Kunikida vorsichtig. Er hatte ebenso immense Schwierigkeiten Ranpos Verhalten und Denkweisen nachzuvollziehen, aber im Gegensatz zu den Ungewissheiten, die Dazai betrafen, fürchtete Kunikida bei ihm nicht, dass dies für irgendeinen von ihnen gefährlich werden würde. Bei dem dezent kindischen Meisterdetektiv musste er nur beachten, stets sehr behutsam vorzugehen, da dessen Launen sonst unberechenbar wurden.

„AAALSOO!“, rief Ranpo plötzlich lautstark aus, sodass er damit den Puls der beiden anderen schlagartig in die Höhe trieb. „Im Hotel finden wir keine Spur! Vielleicht sollten wir lieber aufgeben und den Fall abhaken! Sowieso, was interessiert mich dieser Wilde überhaupt! Das ist ein langweiliger Fall! Lasst uns nach Hause gehen!“

Baff und ratlos starrten Tanizaki und Kunikida zu ihrem Kameraden. Was war denn jetzt in ihn gefahren?

„Aber, Ranpo ...“, begann Ersterer entsetzt und brach seinen Einspruch jäh ab, als der Schwarzhaarige sich zu ihnen umdrehte und … über das ganze Gesicht spitzbübisch grinste.

Was soll diese Schmierenkomödie?, ging es Kunikida durch den Kopf. Ranpo verfolgte damit wohl irgendeine Absicht, aber welche?

„Entschuldigung“, erklang da plötzlich die Stimme einer jungen Frau, die von dem Weg, der hinter das Hotel führte, heraneilte. Sie hatte glänzende, dunkelbraune Haare und trug ein edel aussehendes Outfit, das nicht in diese einfache Wohngegend passte. „Ich kam nicht umher, mitanzuhören, was Sie gerade gesagt haben. Sie erwähnten jemanden namens 'Wilde', nicht wahr?“

Mit seiner üblichen trägen Miene drehte Ranpo sich der Frau zu. „Schon, aber ...“, er gähnte mit offenem Mund, „das Thema ist vom Tisch.“

Kunikida hob skeptisch eine Augenbraue, als er die Frau musterte. Wieso wirkte sie so nervös?

„Sie sprachen von einem Fall, oder?“, beeilte sie sich zu sagen. „Ermitteln Sie in einer Sache, die mit diesem Herrn zusammenhängt?“

„Kennen Sie Herrn Wilde?“, hakte Tanizaki nach und die junge Dame nickte aufgeregt.

„Wir sind uns hier ein paar Mal zufällig begegnet, als er auf dem Weg irgendwohin war und haben uns kurz unterhalten. Ein faszinierender, doch recht undurchsichtiger Mann war das.“

„So?“ Ranpo zückte seine Brille und setzte sie auf. „Vielleicht können Sie diesen schrecklich langweiligen Fall doch noch interessant machen.“ Seine grünen Augen nahmen sie geradezu ins Visier, sodass sie noch nervöser wurde und anfing, an ihrem Kleid herumzunesteln.

„Können Sie eventuell etwas mehr ins Detail gehen, was Ihre Aussage von eben angeht?“, forderte Kunikida sie bedachtsam auf. „Inwiefern machte Herr Wilde auf Sie einen undurchsichtigen Eindruck?“

„Uhm ...“ Sie bemerkte ihre fahrigen Handbewegungen und stellte sie ein. „Ich weiß nicht genau, wie ich das erklären soll. Immer, wenn ich mit ihm sprach, hatte ich ein ungutes Gefühl, so als … als wäre er … unehrlich. Zutiefst unehrlich. Und dann, dass er nur im Schutz der Nacht herauskroch … wie eine Ratte.“

Die ganze Zeit, während sie sprach, hörte Kunikida nicht auf, sie zu beäugen.„Darf ich fragen, ob noch jemand bei ihm war, als Sie ihm hier begegnet sind?“

„Nein, er war allein.“

„Huh? Das ist seltsam“, warf Tanizaki ein. „Die Hotelangestellten haben alle ausgesagt, dass Wilde und Joyce immer zusammen das Gebäude verlassen hätten.“

„Oh, wie gesagt, das war nachts. Vermutlich hatte sich Herr Wilde herausgeschlichen, während sein Begleiter schlief und die Rezeption nicht besetzt war“, antwortete die Unbekannte.

Mit kritischem Blick rückte Kunikida seine Brille zurecht. „Sie wissen nicht, wohin er mitten in der Nacht wohl wollte, oder?“

Sie schüttelte den Kopf. „Darüber hat er sich ausgeschwiegen.“

„Kunikida“, sagte Ranpo da plötzlich, „ruf doch mal Atsushi an und frag ihn nach seiner Meinung zu dieser Sache.“

„Atsushi?“, hakte der Idealist verwundert nach.

„Ja, Atsushi. Ich habe in der Detektei blöderweise vergessen, nach seiner Nummer zu fragen.“

Kaum wahrnehmbar hatte sich Kunikidas fragende Miene für einen Augenblick geklärt. „Atsushi, alles klar.“ Er holte sein Handy heraus und wählte die Nummer des Jungen.

 

„Kunikida?“, meldete Atsushi sich, nachdem er den Anruf angenommen hatte. „Was gibt es?“

„Können du und die anderen mich gut hören?“

„Hm? Moment ...“ Er winkte Dazai und Joyce zu sich heran und stellte auf Lautsprecher. „Jetzt.“

„Es ist wichtig, dass ihr jetzt gut aufpasst. Am besten erklärt Ranpo euch alles.“

„Verstanden!“ Gespannt wartete Atsushi, doch niemand am anderen Ende sagte etwas. Fragend blickte er zu Dazai, der ihm signalisierte, still abzuwarten.

„Dann bleiben Sie jetzt doch an diesem Fall dran?“ Im Hintergrund hörten sie die Stimme einer Frau.

„Natürlich.“ Das war Ranpos Stimme. „Nun wo der Fall mit einem Mal so spannend ist. Ich frage mich nur noch, was eine Frau in so schicker Garderobe in dieser Gegend macht und das auch noch nachts? Und warum sie mehrmals mit einem Fremden spricht, bei dem sie ein ungutes Gefühl hat und den sie dann sogar mit einer Ratte vergleicht? Außerdem warum sie weiß, dass Wilde und Joyce sich hier ein Zimmer geteilt haben? Und warum sie wie aus dem Nichts von einem Weg kommt, an dessen Ende nichts außer einer Sackgasse liegt? Die kann man aus den oberen Fenstern des Hotels übrigens ganz wunderbar sehen. … Sie waren doch ehrlich zu uns, oder?“

„Yay! I-ich meine, j-a, natürlich war ich das!“

Atsushi bemerkte, wie Joyce scharf die Luft einzog und ganz bleich wurde.

„Herr Kunikida!!“, schrie er ins Telefon. „Das ist sie! Die mysteriöse Klientin, der wir in Dublin begegnet sind!!“

Am anderen Ende der Leitung hörten sie Kunikida ausatmen. „Ich verstehe.“

 

Kunikida senkte das Telefon herab, ohne aufzulegen. Sein strenger Blick ließ die Frau nicht aus den Augen. Ihre nervösen Finger krallten sich in den Stoff ihres Kleides. Sie wusste, dass sie aufgeflogen war.

„Wer auch immer diesen Brief an Joyce geschickt hat“, erklärte Ranpo, „wusste, dass dieser sich an die Detektei wenden würde und hat uns deswegen beobachten lassen. Sie hatten regelrecht Panik, dass wir den Fall tatsächlich nicht weiter verfolgen würden. Daher diese verzweifelte Aktion gerade.“

„Das verstehe ich nicht ganz“, wandte Tanizaki, die Frau ebenso nicht mehr aus den Augen lassend, ein. „Wenn sie zu den Leuten gehört, die den Brief geschickt haben, wofür braucht sie dann uns? Warum ist es so wichtig, dass wir das Rätsel aus dem Brief lösen?“

„Weil sie selbst nicht wissen, wer die Person in Yokohama ist, die auch von jeglichem Glück verlassen wurde“, erwiderte Ranpo zügig. „Das sollen wir für sie herausfinden.“

Die Frau senkte geschlagen ihren Kopf und ließ ihr Kleid los.

„Folgen Sie uns bitte widerstandslos zur Detektei“, legte Kunikida ihr ruhig und doch alarmiert nahe, „und beantworten Sie uns dort alles, was wir wissen wollen.“

Sie hob ihren Kopf wieder – und allen drei Detektiven lief es mit einem Mal eiskalt den Rücken hinunter. Ihre Aura hatte sich völlig verändert.

„Ihr lästigen Ratten“, fauchte sie mit einem unheimlichen, verzerrten Gesichtsausdruck, der sie kaum noch wie einen Menschen aussehen ließ. „Wir werden in diesem Rennen um jeden Preis als Sieger hervorgehen. Seht dies als eine Warnung.“ In ihrer rechten Hand materialisierte sich eine Schusswaffe, sodass Tanizaki und Kunikida sich beeilten, ihre eigenen Pistolen zu ziehen und auf sie zu richten. Nur Ranpo stand ihr komplett schutzlos gegenüber.

 

„Kunikida?“, fragte Atsushi ängstlich nach, als er die unheilvolle Stimme der Frau hörte. „Was ist bei euch los?“

„Herr Joyce“, antwortete der Idealist angespannt, „Ihre Klientin ist eine Befähigte.“

„Lassen Sie sie nicht entkommen!“, flehte der Ire. „Sie ist vermutlich die Einzige, die uns weiterhelfen kann!“

„Wir brauchen nur einen von euch.“ Die Stimme der Frau erklang ein weiteres Mal, ehe ein Schuss ertönte.

Hilflos hielten die drei Männer, die ihn durch das Telefon gehört hatten und in diesem Moment nichts tun konnten, den Atem an.

„Kunikida??“, brüllte Atsushi in die beklemmende, nach dem Schuss aufgekommene Stille hinein. „KUNIKIDA!! ANTWORTE! KUNIKIDA!!“

I was born out of time, I'm not meant to be here

I was born out of time

I'm not meant to be here“

 

Placebo, „Try better next time“

 

„Hier steckst du also.“

Erleichtert atmete Odasaku aus und schloss die Tür, durch die er auf das Flachdach des Hochhauses gelangt war.

„Habe ich doch gesagt“, entgegnete Dazai unaufgeregt und ohne ihn anzusehen. Er lag auf dem Rücken und blickte zum blauen Himmel hinauf. Keine Wolke war dort oben zu sehen. Es war ein schrecklich heißer und schrecklich schwüler Tag.

„Hast du nicht.“ Odasaku schüttelte sanft den Kopf und setzte sich neben Dazai. „Du sagtest nur immer wieder, wie blau der Himmel hier oben wäre und dass man so weit über der Stadt fast vergessen könnte, dass so viele Menschen um einen herum wären.“

„Würdest du diesen Ort anders beschreiben?“

Der Rothaarige schaute stillschweigend zu seinem daliegenden Freund, der sein sichtbares Auge auf ihn gerichtet hatte. Vor einer knappen Stunde hatte Dazai ihn angerufen und immer und immer wieder nur von dem blauen Himmel gefaselt. Alle Alarmglocken des Älteren hatten bei diesem entrückt klingenden Gerede zu schrillen begonnen und während er innerlich panisch wurde, hatte er mit ruhiger Stimme versucht, Dazai weitere Informationen zu seinem aktuellen Aufenthaltsort zu entlocken. Irgendwie war es ihm gelungen, ihn dazu zu bewegen, zu beschreiben, was er auf dem Weg dorthin wahrgenommen hatte und was er sehen konnte, wenn er nicht nur streng nach oben blickte, sondern seinen Blick schweifen ließ. Nicht nur Dazais Beschreibungen waren allesamt äußerst vage und undeutlich gewesen, der Klang seiner Stimme war es ebenso gewesen. Das, was er am Telefon gesagt hatte, gepaart mit einer ihm mittlerweile nur zu bekannten verwaschenen, unartikulierten Sprechweise; es war diese Mischung, die Odasaku gerade atemlos durch halb Yokohama hatte hetzen lassen. Es war eine Sache, wenn sie am Ende des Tages zusammen im Lupin etwas tranken, aber es war eine völlig andere, wenn es kurz nach Mittag war und Dazai ihn vollkommen dicht vom Dach eines Hochhauses anrief.

Er beugte sich näher zu dem Jüngeren herunter, um dessen Auge besser mustern zu können.

„Hast du nur getrunken oder noch etwas anderes eingeworfen?“

Der Angesprochene lächelte kurz und schloss sein Auge. „Das ist langweilig, Odasaku. Lass uns etwas Lustiges machen.“ Er zuckte erschrocken zusammen und riss sein Auge wieder auf, als er eine Hand erst auf seiner Wange, dann auf seiner Stirn spürte.

„Du glühst vor Hitze.“

„Es ist ja auch furchtbar warm heute, findest du nicht auch?“

„Gehen wir rein?“

„Nein.“

„Du wirst einen Hitzschlag kriegen.“

„Ich will noch ein bisschen hier bleiben, Odasaku. Nur ein bisschen. Hast du gesehen, wie blau der Himmel ist?“

Odasaku hob seinen Blick kurz gen Himmel und ließ ihn dann über das Dach wandern. Er würde Dazai freiwillig nicht so schnell von hier wegbekommen. Es gab diese Phasen, in denen der Brünette eher an ein kleines, hilfloses Kind erinnerte als an einen eiskalten, gnadenlosen Mafioso. Und Odasaku hatte stets Sorge, dass er Dazai verlieren könnte, wenn er in diesen Phasen das Falsche sagte oder tat.

„Da hinten ist ein bisschen Schatten“, schlug er daher vor. „Und zieh besser den Mantel aus. Du bist schweißgebadet.“

Dazai kam beiden Aufforderungen ohne Protest nach, wenn er auch statt aufzustehen und zu gehen, mehr in den Schatten stolperte und kroch.

„Wie lange bist du schon hier?“ Odasaku ließ sich neben ihm nieder, als er sich endlich aus der Sonne herausgesetzt hatte und behielt ihn aufmerksam im Auge. Alkohol, etwaige sonstige Substanzen und starke Hitze waren nichts, was sich gut miteinander vertrug. Er wusste, dass Dazai rücksichtslos mit sich selbst umging; er würde nichts sagen, wenn es ihm plötzlich schlechter ginge. Wenn er umkippte, könnte es vielleicht schon zu spät sein. Odasaku musste sofort reagieren, sobald er auch nur ein Anzeichen für eine Verschlechterung seines Zustandes bemerkte.

„Hier?“ Dazais unfokussierter Blick landete auf ihm. „Meinst du in dieser Welt? Zu lange.“

„Und ein Hitzschlag ist die Lösung?“

„Huh? Nein.“ Der Jüngere winkte ab. „Definitiv nicht. Meine Verbände sind alle durchgeschwitzt. Kannst du dir vorstellen, wie unangenehm sich das anfühlt, Odasaku? Richtig eklig.“

Obwohl seine Frage nicht beantwortet worden war, ließ er das Gespräch dennoch in die so sonderbar umgelenkte Richtung laufen. Dazais Gedankengänge waren kaum bis gar nicht nachvollziehbar, aber Odasaku wusste um seine privilegierte Position: Dazai redete mit niemandem sonst so offen wie mit ihm.

„Woher weißt du, dass du schon zu lange in dieser Welt bist? Fühlt sich das ähnlich wie ein Hitzschlag an?“

Für einen Augenblick sah Dazai ihn nur erstaunt an, dann lächelte er ganz aufgeregt. „Ja! Ja! Das ist ein sehr guter Vergleich, Odasaku!“

„Und gibt es dann nicht auch irgendetwas, was man zur Abkühlung machen könnte?“

„Danach suche ich doch!“

„Vielleicht etwas weniger Endgültiges?“

„Danach suche ich auch! Ich suche, Odasaku! Ich suche doch!“

„Hmm ...“ Odasaku legte den Kopf in den Nacken. „Wenn ich meine Schlüssel manchmal auf Anhieb nicht finden kann, suche ich immer zuerst an den unmöglichsten Stellen, bevor ich an den offensichtlicheren Stellen nachsehe. Und meistens sind sie dann genau da.“

Er fühlte den Blick des Jüngeren auf sich, wie er ihn sprachlos anstarrte. Abrupt brach Dazai in Gelächter aus.

„Du bist großartig, Odasaku!“, presste er zwischen seinem Lachanfall heraus. „Ich kenne niemanden, der auf dieses Problem in dieser Weise antworten würde!“ Er lachte so heftig, dass Tränen aus seinem unverdeckten Auge liefen und sein noch nicht ausgewachsener Körper sich schüttelte. Dann, beinahe genauso plötzlich, ebbte das Lachen wieder ab.

„Ich habe das Gefühl, schon ewig zu suchen“, fügte Dazai sehr viel leiser und mit gesenktem Kopf an, „schon so lange. So lange. Odasaku?“ Er hob seinen Kopf wieder, sodass der Andere seine angsterfüllte Miene sehen konnte.

Der Anblick ließ ihn den Atem anhalten. „Ja?“, fragte er trotzdem, ohne durchscheinen zu lassen, wie schrecklich verunsichert er war.

„Lass uns etwas spielen.“

„Und was?“

„Wir versuchen, das Gegenteil zu allem zu finden.“

„Das Gegenteil?“

Dazai nickte und seine Stimmung schien sich wieder aufzuhellen. „Ich habe versucht, es allein zu spielen, aber ich habe verloren.“

„Wie verliert man dabei?“

„Alles hat ein Gegenteil.“ Dazai drehte sich wieder dem Horizont zu. „Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Die meisten sind einfach: Leben – Tod, Liebe - Hass, Frieden – Krieg, Licht - Dunkelheit und so weiter und so weiter. Nur … nur zu einer Sache habe ich kein Gegenteil gefunden.“ Er wandte sich erneut seinem Freund zu, der gleichermaßen gespannt wie angespannt auf das wartete, was nun kommen mochte.

„Odasaku … was ist das Gegenteil von Zeit?“

Der Gefragte stutzte und geriet sichtlich ins Grübeln. „Das Gegenteil von Zeit …?“ Er musste Dazai nicht ansehen, um zu wissen, dass dieser ihn erwartungsvoll anblickte. „Braucht Zeit ein Gegenteil?“

„Selbstverständlich!“

„Okay ...“ Odasaku dachte angestrengt über dieses Problem nach, aber er konnte es nicht einmal greifen. „Welches Konzept soll das Gegenteil von Zeit denn ausdrücken?“, fragte er nach einer ganzen Weile.

„Zeit vergeht, sie schreitet voran, sie fließt“, antwortete Dazai umgehend. „Das Gegenteil muss die Umkehrung von all diesem ausdrücken.“

„Stillstand?“, bot Odasaku an und erntete unverzüglich ein Kopfschütteln.

„Stillstand macht einfach nichts. Das Gegenteil von Zeit muss ausdrücken, dass die Zeit bleibt, zurückschreitet und rückwärts fließt.“

Nun war es Odasaku, der ein Kopfschütteln andeutete. „Nichts davon ist tatsächlich möglich. Du hast das Spiel nicht verloren, wenn es allein schon das Konzept überhaupt nicht geben kann. Zeit vergeht; das ist ein unumkehrbarer Vorgang. Man kann sie weder zurückdrehen, noch anhalten. Und das ist für alles und jeden gleich.“

Die Schultern des Jüngeren sackten enttäuscht hinab. „Und wenn es das nicht ist?“, hauchte er niedergeschlagen. „Was, wenn die Zeit nicht für jeden vergeht?“

Odasaku stutzte von neuem. „Hast du das Gefühl, die Zeit vergeht nicht?“

„Nein, für mich hat sie etwas anderes im Sinn.“ Dazai atmete plötzlich schwerer. „Sie ist … zu sehr damit beschäftigt … grausam zu sein.“ Man konnte mitansehen, wie seine Verzweiflung mit jeder verstreichenden Sekunde wuchs. Eine panische Angst schien ihn zu überkommen und Odasaku konnte sich nicht erklären, woher sie kam und warum dem so war.

„Was, wenn sie für mich nicht vergeht??“, rief Dazai auf einmal aus. „Was, wenn sie dies niemals tut?? Etwa, weil ich nicht hierher gehöre?? Ist es das?? Ist es, weil ich nicht hier sein sollte?!“ Er machte Anstalten aufspringen zu wollen, doch stattdessen kippte er vornüber und fiel bewusstlos zu Boden. Gerade so schaffte Odasaku es, ihn rechtzeitig aufzufangen.

In Windeseile hob er den Jüngeren hoch und stürmte mit ihm durch die Türe, die langen, mit einem Mal viel zu langen Treppen hinunter und weg von diesem verfluchten Dach, auf dem Dazai in seinem bedenklichen Zustand viel zu lange den blauen Himmel angestarrt hatte. Erneut hetzte er nun atemlos durch Yokohama, den erschreckend jungen und ebenso erschreckend kaputten Körper seines Freundes auf den Armen tragend, um Hilfe für ihn zu finden. Zumindest für den Körper.

Odasaku fühlte sich, als hätte er versagt, als hätte er abermals versagt. Er konnte es selbst nicht finden, das, was Dazai von seinen Qualen erlösen würde. Er versuchte, ihm die bestmöglichen Antworten zu geben, doch tief in seinem Innern wusste er, dass sie nicht gut genug waren. Immer und immer wieder führten sie diese Gespräche, die sich um Leben und Tod drehten, ohne dass auch nur einer von beiden sich Ersterem gänzlich zu- und Letzterem gänzlich abwenden konnte.

Leben und Tod.

Sie rannten gerade genauso durch seine Finger wie die Zeit. Er hielt sie alle in seinen Armen, konnte sie alle sehen in dem Gesicht, das mehr sah als alle anderen. Er konnte lächerliche fünf Sekunden in die Zukunft sehen und das half ihm in diesem Fall überhaupt nichts. Er konnte nichts am Fluss der Zeit ändern, ihn weder rückwärts laufen lassen, um herauszufinden, woher Dazais Qualen kamen, noch vorwärts, um zu sehen, ob Dazai irgendwann eine weniger qualvolle Zukunft erwartete.

Leben und Tod.

Dazai hatte selbst einmal gesagt, dass sie nicht wirklich der genaue Gegensatz zueinander waren, sondern zueinander gehörten. Alles gehörte zueinander und vielleicht gehörte die Zeit zu allem. Denn wenn es keine Zeit gab, gab es nichts. Gab es keine Zeit, gab es keine Bewegung, keine Entwicklung, kein Leben, nur Stillstand, ewige Paralyse. Die Welt konnte nur existieren, wenn es Leben darauf gab; ohne dieses wäre sie nur ein riesiger, toter Fels.

Die Zeit und die Welt waren unterm Strich voneinander abhängig.

Während er seinen Griff um den ohnmächtigen Jungen (und nichts anderes war er) in seinen Armen verstärkte, klammerte Odasaku sich an den Gedanken, dass die Zeit verging und niemals stehenblieb.

Solange die Zeit für jemanden verging, war derjenige am Leben.

Er musste einen Weg finden, die Zeit für Dazai vergehen zu lassen. Er musste einen Weg finden, Dazai zu dieser Welt gehören zu lassen.

Er musste einen Weg finden.

I'm sentimental and violent

I'm sentimental and violent“

 

Placebo, „Chemtrails“

 

„Aber ich-!“

„Nein, Eliza! Das war nicht der Plan!“

„Aber George!“ Vehement wehrte Eliza sich gegen die Schelte des Mannes, den Tachihara als den Anführer der verdächtigen drei ausgemacht hatte. „Du hast selbst gesagt, das Büro der bewaffneten Detektive könnte zum Problem werden und du hattest Recht! Sie sind hinterlistig! Sie sind eine Gefahr für uns!“

„Deswegen darfst du trotzdem nicht einfach einen von ihnen erschießen! Stell dir vor, du hättest den Falschen getroffen!“

Eliza stemmte wütend die Hände in ihre Hüften und schnaubte. „Ich halte mich an den Plan, aber ich tue das, was ich für richtig halte!“

Ihre Worte schienen den Mann außerordentlich zu erschrecken. Man konnte sehen, wie sämtliche Farbe aus seinem Gesicht wich. „Du tust, was du für richtig hältst?“ Er starrte sie ungläubig an – was sie nicht beeindruckte. Einen Schmollmund ziehend, erwiderte sie wortlos seinen entsetzten Blick.

„Dann solltest du dich erst einmal zurückziehen“, sagte er stimmlos und kurz darauf verschwand die Frau einfach aus dem kleinen Kellerraum des alten Lagerhauses, das sie als ihr Versteck bezogen hatten. Das schwache Licht einer einzigen, alten Glühbirne erhellte den Raum gerade so weit, dass man erkennen konnte, dass sich mehrere Personen darin befanden. Es gab keine Fenster und nur eine einzige, verschlossene Tür – die die Frau nicht benutzt hatte. Sie hatte sich wortwörtlich schlichtweg in Luft aufgelöst.

„Oh, Georgie, Georgie, Georgie“, ertönte da die gespielt tadelnde Stimme eines weiteren Mannes unweit neben ihm und ließ ihn mit den Zähnen knirschen. „Du scheinst sie aber nicht sonderlich gut unter Kontrolle zu haben. Seit wann hast du sie? Damals hattest du sie noch nicht, oder? Das wäre ja eine Schande, wenn du so eine Schönheit vor uns versteckt hättest.“

Der Mann drehte sich zu der Person, von der dies alles gekommen war. Diese hatte langes, gewelltes, braunes Haar, war an einen Stuhl gefesselt und sah mit einem süffisantem Lächeln im Gesicht, in das er am liebsten reinschlagen wollte, zu ihm hinauf. Selbst bei diesem schlechten Licht konnte man erkennen, dass dieser Gefangene sehr blass aussah und anscheinend bereits mehrmals ins Gesicht geschlagen worden war. Ein lilafarbener Fleck hatte sich um sein rechtes Auge gebildet, verkrustetes Blut klebte an seiner Nase und seinen Lippen. Wilde war alles andere als begeistert davon, dass sie sein eigentlich bezauberndes Antlitz dermaßen verunstaltet hatten.

„Siehst du dich wirklich in der Position, mich noch weiter reizen zu können? Du weißt, dass ich diesen Namen hasse!“

„Hach~, mein Gedächtnis hat etwas gelitten. Hilf mir noch mal: Bernie war dir auch nicht lieber, oder?“ Wilde kniff die Augen zu, als der Andere zum Schlag ausholte.

„Herr Shaw“, unterbrach eine weibliche Stimme den Gewaltausbruch. Es war Mansfield, die Frau im roten Kleid. „Sie haben Eliza unter Kontrolle, oder? Ich möchte Sie nicht daran erinnern müssen, dass wir eine Abmachung haben.“

Shaw senkte seine geballte Faust wieder hinab und atmete durch. „Machen Sie sich keine Sorgen. Eliza kennt unsere Abmachung. Sie wird Ihrer Zielperson keinen Schaden zufügen. Das garantiere ich Ihnen.“

Dadurch nur milde besänftigt nickte Mansfield. „Ich bin kein Anhänger von roher Gewalt. Der Vorfall am Hafen war schon recht unangenehm. Ich akzeptiere dies nur, weil Sie mir mit meiner Agenda helfen.“ Ihre Augen wanderten kurz zu Wilde hinab. „Knebeln Sie ihn lieber wieder oder nehmen Sie den Rest des Betäubungsmittels, statt ihn zu verprügeln. Er wird Ihnen sowieso nichts verraten, was Ihrer Mission dienlich wäre.“

„Lassen Sie das meine Sorge sein“, entgegnete Shaw scharf und seine Komplizin zuckte mit den Schultern, ehe sie sich ihre Pelerine wieder umlegte und zur Tür schritt, für die sie einen der zwei Schlüssel besaß.

„Wenn es Ihnen recht ist, würde ich nun gerne mein Ziel weiterverfolgen.“

„Ich erwarte Sie im Anschluss daran zurück.“

Sie verabschiedeten sich unterkühlt, doch höflich voneinander und so blieben die beiden Männer allein in dem ungemütlichen Kellerraum zurück.

Wachsam beobachtete Wilde sein Gegenüber, das sichtlich grübelnd die Tür anstarrte.

„Einerseits bin ich froh, dass du noch lebst“, begann der Dunkelhaarige ernst nach einer Weile der Stille, „aber andererseits fällt unser Wiedersehen ganz anders aus als ich es mir vorgestellt hätte.“

Ein verbitterter und aufgebrachter Blick landete auf ihm. „Wie hast du es dir denn vorgestellt? Dass ich dir freudestrahlend um den Hals falle, nachdem du und die anderen mich durch die Hölle habt gehen lassen? Sollten wir über die guten, alten Zeiten reden? Die, bevor ihr mich bereitwillig geopfert habt?“

Wilde schluckte. Seine Augen verrieten, wie sehr ihn diese Worte mitnahmen. „George … es tut mi-“

„Sag bloß nicht, dass es dir leid tut, du elender Heuchler!“ Mit wütenden Schritten schloss Shaw zu ihm auf, packte seine Haare und riss ihm an diesen gewaltsam den Kopf nach hinten. „DU verdammter Dreckskerl hättest damals gehen sollen! DU hättest gefangen genommen und gefoltert werden sollen!“

Wilde zog vor Schmerzen die Luft scharf ein, als er seinem alten Bekannten ins vor Zorn verzerrte Gesicht blickte. „Musste Dorian … deswegen sterben?“

Ruckartig ließ Shaw ihn wieder los. „Dorians Tod war unvermeidbar. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass es ein befriedigendes Gefühl ist zu wissen, dass er endlich für seine Untaten bestraft worden ist. Dieser unnütze, primitive, minderbemittelte Schönling. Alle haben sich immer von seinem Äußeren blenden lassen. Diese Idioten! Ich verachte jeden von ihnen genauso sehr wie ihn.“

Schwach schüttelte Wilde den Kopf. Seine Mimik war nachdenklich geworden. „Ich frage mich das schon die ganze Zeit ….“ Eindringlich schaute er Shaw an. „Das alles hier passt nicht zu dir. Selbst wenn du diese schrecklichen Dinge durchmachen musstest … du kannst dich unmöglich so stark verändert haben, George. Dorian und Basil zu ermorden, mir Dorians Tod anzuhängen und mich dann mit der Hilfe von Schmiergeld aus dem Gefängnis zu befreien – oder eher zu entführen – um mich dann heimlich nach Yokohama zu schmuggeln, um etwas zu finden, was ursprünglich einer der Gründe für die ganze Tragödie war.“ Er schüttelte abermals den Kopf, diesmal intensiver. „Nein, das passt nicht zu dir. So bist du nicht.“

Shaws Miene wurde eisig. „Woher willst du wissen, wie ich jetzt bin? Du hast keine Ahnung. Du wirst niemals verstehen können, wie es sich anfühlt, vom Feind gefangen genommen zu werden, alleine in einer Zelle zu verrotten und von einem Wahnsinnigen gefoltert zu werden. Und das alles mit dem Wissen, dass keiner jemals zu deiner Rettung kommen wird, weil du als Kriegsverbrecher und Landesverräter giltst. Du erbärmlicher Feigling hast mir das angetan und dafür wirst du jetzt leiden.“

Wilde versuchte fieberhaft, die sich in seinen Augen formenden Tränen wegzublinzeln, doch er scheiterte. „In Ordnung“, sagte er schließlich mit brüchiger Stimme, „nimm an mir Rache, tob dich aus, aber ich bitte dich, bei aller Menschlichkeit, die dir noch geblieben ist: Lass Joyce und die Detektive da raus. Sie haben nichts mit dem, was damals passiert ist, zu tun.“

Der blonde Mann erwiderte überrascht seinen Blick, bevor er spöttisch lachte. „Sie haben nichts damit zu tun?“ Sein Lachen wurde lauter und lauter. „Sie haben mit dir zu tun, oder? Wie könnte ich dich möglichst schlimm leiden lassen, wenn ich sie nicht schlimm leiden lasse? Besonders deinen neuen Freund, deinen Partner, dem du nie erzählt hast, was du während des Krieges so getrieben hast? Er wird sich glücklich schätzen können, wenn er einen schnelleren Tod als Dorian sterben darf.“

Angst und Wut mischten sich in das inzwischen tränenüberströmte Gesicht Wildes. „Nein. Das klingt nicht nach dir. Hat Henrys Geist von dir Besitz ergriffen?“

„Henry?“ Shaw lachte von neuem. „Dieser Glückliche! Er durfte sterben, bevor alles den Bach hinunterging!“ Das Lachen versiegte und er zog erneut mit brutaler Gewalt den Kopf des Anderen nach hinten, sodass man meinen konnte, er versuchte, ihm den Kopf abzureißen. „Ich bin ein gerechter Mensch. Wenn wir das fehlende Teil haben und du brav mitmachst, verschonen wir deinen neuen Freund. Für die Sicherheit aller Detektive kann ich jedoch nicht garantieren. Einen musste ich zum Abschuss freigeben, sonst hätte ich die talentierte Frau Mansfield nicht rekrutieren können.“

Wilde wollte etwas antworten, aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein, was er sagen sollte. Seine Tränen brannten in seinen Wunden und wollten trotzdem nicht aufhören zu fallen. Basil war tot, Dorian war tot und George hatte den Verstand verloren. Es war seine Schuld. Seinetwegen hatten seine alten Freunde ihre Leben verloren und seinetwegen war Joyce in Gefahr. Er hatte kommen sehen, dass Dorians Ermordung mit seiner Vergangenheit zusammenhängen musste und deswegen schnell den Mord gestanden und den Wunsch geäußert, Joyce nicht sehen zu wollen. Er durfte nicht in dieses Drama mit hineingezogen werden. Unter gar keinen Umständen.

Doch er hatte sich verkalkuliert. Er hatte gehofft, die Sache zügig abwenden zu können, indem er ins Gefängnis ging und der Fall ad acta gelegt werden würde. Der Schaden für Joyces Ruf wäre zwar immer noch da gewesen, aber er wäre nicht irreparabel gewesen. Niemand würde einer Detektei Aufträge geben, die von einem verurteilten Mörder mitgegründet worden war. Aber Joyce war clever, er käme klar und war fähig, etwas Neues anzufangen.

Wenn jedoch bei weiteren Ermittlungen herausgekommen wäre, was Wilde während des großen Krieges zwischen England, Japan, Frankreich und Deutschland getan hatte, hätte dies auch Joyce das Genick gebrochen.

Und er hätte ihm nie wieder in die Augen sehen können.

Ja, wenn er ehrlich war, wog dies schwerer als er offen zugeben wollte: Joyce sollte nichts davon wissen, denn Wilde wusste nicht, ob er es ertragen würde, wenn der blonde, liebenswerte Choleriker sich von ihm abwenden würde. So wie es einst Dorian getan hatte.

Er hatte nicht kommen sehen, dass alles damit zusammenhing, dass Shaw mithilfe eines wahnsinnigen Racheplans versuchen würde, Basils verfluchte Erfindung wiederzubeleben.

„Wenn du diesen schrecklichen Apparat wieder zusammengesetzt hast“, raunte Wilde mit erstickter Stimme, „was dann?“

Shaw ließ ihn los. „Wenn du mir hilfst, darf dein Freund leben.“

„Und was hast du dann vor?“

Sein Landsmann sah von oben auf ihn herab. „Leben erschaffen.“

 

„Kunikida!“ Atsushi rannte den Flur des Krankenhauses entlang, als ginge es um Leben oder Tod – was es tat, aber der junge Detektiv wusste mit einer schmerzlichen Gewissheit, dass er im Moment nichts tun konnte. Völlig außer Puste kam er im Wartebereich der Notaufnahme vor dem dort sitzenden Kollegen zum Stehen. Kunikida hatte, bis er Atsushis Zuruf gehört hatte, den Kopf in den Händen gehalten und den Boden angestarrt. Nun richtete er sich auf und schaute mit verstörter Miene zu ihm auf. Atsushi stockte der Atem, als er seine mitgenommene Gestalt sah. Sie hatten über das Telefon den Schuss gehört, dann eine kurze, aber umso beängstigendere Stille, dann Schreie. Schrecklich viele und schrecklich laute Schreie.

„Wie habt ihr es geschafft, so schnell herzukommen?“, fragte Kunikida stimmlos und seine plötzlich so fragil wirkende Erscheinung ließ Atsushi schlucken.

„Dazai ist auf die Straße gesprungen und hat ein Auto angehalten, das uns dann hergebracht hat.“ Er warf einen kurzen Blick zurück auf Dazai und Joyce, die hinter ihm eintrafen. Joyce war kreidebleich und erinnerte momentan noch mehr an Kunikida als er es sonst sowieso schon tat und selbst Dazai wirkte ernst und besorgt.

„Was ist mit ihm?“, fragte Letzterer nun.

„Er wird notoperiert.“

„Ist Yosano auf dem Weg?“, hakte Atsushi zunehmend beklommen nach.

Kunikida nickte schwach.

„Was genau ist passiert?“, richtete Dazai das Wort an ihn – und an den ungewöhnlich stillen Kollegen, der neben ihm saß und scheinbar ins Nichts starrte. Dass er, der sonst nie einfach nur stillschweigend dasaß, so bestürzt Löcher in die Luft starrte, machte die Anspannung um sie herum noch eintausendmal schlimmer.

„Das hatte ich nicht bedacht“, gab Ranpo schließlich leise von sich, „ich hatte nicht bedacht, dass so etwas passieren könnte.“

„Niemand gibt Ihnen die Schuld“, wandte Joyce energisch ein, „ich hatte es selbst nicht bemerkt. Niemand hat damit rechnen können, dass diese Frau eine Fähigkeit ist.“

Während Kunikida wiedergab, was geschehen war, erinnerte Atsushi sich mit einer aufsteigenden Übelkeit an Ranpos entsetzten Ausruf nach dem Schuss.

Sie ist kein Mensch!! Sie ist eine Fähigkeit!! Sie ist eine Fähigkeit!!“

Die mysteriöse Frau hatte eine Pistole in ihrer Hand materialisiert, diese auf Ranpo gerichtet und just in dem Augenblick, in dem sie hatte abdrücken wollen, sich in Luft aufgelöst, um plötzlich hinter Tanizaki aufzutauchen und ihm in den Rücken zu schießen. Blitzschnell hatte sie dann mit der Waffe auf Kunikida gezielt, der seines Schocks zum Trotz das Feuer auf sie hatte eröffnen wollen, als sie sich von neuem in Luft aufgelöst hatte und dieses Mal nicht zurückgekehrt war.

„Kann das wirklich sein?“ Kunikida blickte bitterernst zu Dazai. „Kann sie wirklich eine Fähigkeit sein?“

Sichtlich gedankenversunken hatte der Angesprochene der Geschichte gelauscht, ehe er hörbar ausatmete, den Kopf in den Nacken legte und die Neonleuchte an der Decke anschaute. „Ich verstehe Ranpos Gedankengang. Wäre sie eine Befähigte, hätte sie wie wir auch eine Fähigkeit. Da sie aber Dinge als auch sich selbst verschwinden und wieder herbringen lassen kann, hieße das entweder, dass sie eine außergewöhnlich starke Fähigkeit mit mehreren Eigenschaften hätte oder dass es zwei Fähigkeiten wären – was nach unserem Kenntnisstand beides unmöglich ist.“

Aufmerksam beobachtete Atsushi seinen Mentor. Er konnte weder seine noch Ranpos Gedankengänge nachvollziehen. Wie schlossen sie daraus auf die drastische Annahme, dass diese Frau gar kein Mensch war?

„Der springende Punkt ist ...“, Atsushi erschrak, als Dazai ihn direkt ansah, während er fortfuhr, „dass sie aus dem Nichts auftauchte und ins Nichts verschwand.“

„Aber ...“, der Jüngste der Runde schüttelte den Kopf, „das ist doch vielleicht ihre Fähigkeit … oder nicht?“

„Oha, Atsushi, jetzt denkst du aber schlecht von deinen Kollegen“, widersprach Dazai ihm spöttisch. „Meinst du nicht, die drei sind so kompetent, dass sie es merken würden, wenn sie verfolgt würden? Sie wurden ja auch beobachtet, deswegen Ranpos kleines Theaterstück, aber entweder kann die schöne Unbekannte sich zusätzlich unsichtbar machen oder sich teleportieren, sodass sie sich an ihr Ziel dranhängen kann ohne bemerkt zu werden. Bei Ersterem wäre sie zu Fuß einem fahrenden Auto den ganzen Weg nach Tobe gefolgt, was bemerkenswert wäre, aber unwahrscheinlich ist. Bei Letzterem bleibt eine entscheidende Frage offen.“

„Und welche?“ Atsushi schaute ihn mit immer größer werdenden Augen an.

Ein dunkles Lächeln erschien auf Dazais Gesicht. „Die entscheidende Frage ist: Warum ist Kunikida unverletzt?“

„... Was?“

„Warum ist sie so plötzlich verschwunden statt auf mich zu schießen?“, übersetzte der Erwähnte, dem die Zusammenhänge allmählich klar wurden. „Sie hätte einfach wie zuvor auch hinter mir wieder auftauchen und schießen können. Aber sie kam nicht wieder.“

„Weil sie zurückgerufen wurde“, schloss Ranpo mit wachsender Frustration in der Stimme. „Sie wollte schießen. Sie war fest entschlossen zu schießen. Und wurde gegen ihren Willen zurückbeordert. Von ihrem Anwender.“

Betroffen schüttelte Joyce den Kopf. „Sie wirkte wie ein Mensch, als wir mit ihr sprachen. Ich kann kaum glauben, dass dem nicht so sein soll. Allerdings ...“ Er stockte, bevor er mit bitterer Miene zu den anderen sah. „Allerdings weiß ich aus erster Hand, dass es Fähigkeiten gibt, die Lebensformen erschaffen.“

„Ja, die von Barrie wäre ein Beispiel“, bestätigte Dazai ihm gefasst, „die von Mori ein weiteres. Und auch Weißer Dämonenschnee fällt in diese Kategorie.“

„Das heißt ...“ Atsushi schluckte von neuem. Das war nicht gut. Gar nicht gut. Sie hatten es mit einer solch entsetzlich starken Fähigkeit zu tun? Mit Grauen dachte er zurück an die Fähigkeit Barries, die gestorbene Kinder zu einer mächtigen Armee von Untoten gemacht hatte. Alles an dieser Fähigkeit war grausam gewesen und sie hatten ihr nichts entgegensetzen können.

„Es ist noch viel schlimmer, Atsushi.“ Dazai las erneut seine Gedanken. „Diese Lebensform-Fähigkeit weiß anscheinend immer, wo wir sind. Sie kann jederzeit überall auftauchen.“

„DANN MÜSSEN WIR DOCH UMGEHEND DIE ANDEREN WARNEN!“ Der Junge vergaß vor Panik beinahe zu atmen.

„Argh.“ Ranpo hielt sich missmutig die Ohren zu. „Rumschreien ist sicher keine Lösung. Glaubst du ernsthaft, sie sind noch nicht gewarnt? Dass Tanizaki angeschossen wurde, hat uns automatisch alle in Alarmbereitschaft versetzt. Aber ich habe dem Chef natürlich auch längst alles durchgegeben.“

„Das ist meine Schuld“, äußerte Joyce unvermittelt. „Herr Tanizaki schwebt jetzt nur in Lebensgefahr, weil ich in diese Falle getappt bin. Bevor noch jemandem etwas zustößt, ziehe ich meinen Auftrag an Sie lieber zurück.“

„Hm?“ Dazai legte den Kopf schief. „So viel Edelmut auf einmal ist ja fast unerträglich. Und vollkommen unsinnig.“

„Bitte?“

„Dazai hat Recht“, bekräftigte Ranpo ihn. „Wir sind alle darauf reingefallen und daher stecken wir nun auch alle da mit drin. Selbst wenn Sie den Auftrag an uns zurücknehmen, werden diese Leute uns nicht mehr in Ruhe lassen. Ihr Plan hatte von Anfang an die Detektei beinhaltet. An Ihrer Stelle würde ich mir lieber noch mehr Sorgen um Ihren Partner machen. Denn hinter dem, was mit ihm geschehen ist, stecken mit absoluter Sicherheit diese Leute.“

Geknickt ließ Joyce den Kopf hängen. „Ich verstehe überhaupt nicht, was hier los ist. Wer sind diese mysteriösen Gestalten? Was wollen sie? Und was in aller Welt haben sie mit Wilde zu schaffen?“

„Wer auch immer sie sind“, Kunikida stand auf, „der Chef hat die Order gegeben, den Fall weiter zu verfolgen und sie dingfest zu machen. Wir müssen unter allen Umständen den Anwender dieser Fähigkeit finden und ihn aufhalten.“

Trotz seiner offensichtlichen Angst nickte Atsushi entschlossen. Sie konnten niemanden entkommen lassen, der einen der ihren schwer verletzt hatte. Doch gleichzeitig breitete sich auch einer immer stärker und stärker werdendes, unheilvolles Gefühl in ihm aus. Sie hatten noch keinen Überblick, um was es hier tatsächlich ging und einer der Sätze der Frau, die er über das Telefon mit angehört hatte, beunruhigte ihn zutiefst.

„Was … was meinte die Fähigkeit mit: 'Wir brauchen nur-“

„WO?? WO IST ER??“

Er schreckte zusammen, als eine verzweifelte Stimme durch den Gang hallte und ihn unterbrach. Atsushi traute sich kaum, sich umzudrehen, denn er ahnte, was er dort sehen würde. Er tat es dennoch.

Tränenüberströmt und am ganzen Körper zitternd, blieb Naomi vor ihm stehen.

„Was ist mit ihm?? Wisst ihr etwas?? Wer hat ihm das angetan??“ Die Schülerin krallte ihre Hände in Atsushis Schultern und für einen Augenblick hatte er Sorge, sie würde umkippen, sodass er sie festhielt.

„Tut mir leid, wir wissen noch nichts Genaues.“ Seine Stimme begann bei ihren lautstarken Tränen zu zittern. Naomi war mental unglaublich stark, aber gerade schien sie vor seinen Augen wie ein Kartenhaus im Wind zu zerfallen. Wenn der Satz, der ihn beunruhigte, das bedeutete, was er befürchtete, dann würde der Albtraum vielleicht von vorne losgehen.

Wie sollte er das verhindern?

Konnte er das überhaupt verhindern?

„Mach nicht so ein Gesicht, Atsushi!“

Er blickte auf und sah Yosano zusammen mit Kenji an ihm vorbeisprinten. Im Laufen drehte sie ihm ihren Kopf zu und lächelte beherzt.

„Noch ist niemand tot! Und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit das so bleibt!“

„Mach dir keine Sorgen!“, ergänzte Kenji, ungetrübt wie eh und je. „Tanizaki ist super stark! Er schafft das! Und wir müssen uns auch ganz doll Mühe geben!“

Yosano wechselte ein paar Worte mit jemandem vom Personal, bevor sie beide in den öffentlich nicht zugänglichen Bereich durchgelassen wurden.

Unbewusst seufzte Atsushi, während er ihnen nachschaute. Er war nicht allein mit diesem Problem. Die anderen waren da. Es musste nicht wieder in einer Katastrophe enden. Er spürte ein Paar Augen auf sich und sah neben sich.

„Der Chef sagte, wir sollen wieder nur in Gruppen unterwegs sein und nichts alleine unternehmen.“ Nach außen hin war Kyoka die Ruhe selbst, doch Atsushi bemerkte das lodernde Feuer in ihren Augen. Jeder Angriff auf einen bewaffneten Detektiv war für Kyoka ein Angriff zu viel. Es war seltsam, aber es beruhigte ihn ungemein.

Haruno kam hinzu und nahm die weinende Naomi in ihre Arme. Dabei wirkte sie sehr angespannt und ängstlich. „Ich wünschte nur, der Chef würde sich auch an das halten, was er sagt.“

Angesichts dieser Aussage stutzte Atsushi, als Ranpo bereits einen Tobsuchtsanfall bekam.

„Das kann nicht sein Ernst sein!“

Atsushi zählte die Anwesenden durch und erschrak.

„Schrecklich, dieser ganze Edelmut.“ Dazai seufzte kopfschüttelnd.

 

Die ungewohnte Stille im Büro der bewaffneten Detektive hatte etwas Unheimliches an sich. Normalerweise konnte Fukuzawa in seinem Büro immer etwas von dem Krach der anderen hören, wenn auch nur gedämpft, aber ihre Stimmen und Geräusche waren zu einer Art Hintergrundmusik geworden, an die er sich im Laufe der Jahre gewöhnt hatte. Daher war es zutiefst beklemmend keinen einzigen Mucks in der gesamten Umgebung zu hören. Der Chef saß auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer und blickte mit tief in Falten gelegter Stirn finster die Tür an. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden und obwohl er das Licht in seinem Büro anhatte, kam es ihm so vor, als würde die Dunkelheit von draußen versuchen, nach drinnen einzudringen. Möglicherweise war es die Sorge um Tanizaki oder die Erinnerung an Naomis erschüttertes Gesicht, als er ihr sagte, was vorgefallen war – oder es war dieses unheilvolle Gefühl, weil jemand es erneut auf sie abgesehen hatte und sie weder wussten, mit wem sie es zu tun hatten noch was sie unternehmen sollten.

Ranpos schnell schaltendes Gehirn hatte unverzüglich ein paar Theorien aufgestellt. Keine von ihnen trug irgendetwas dazu bei, Fukuzawas Sorgen einzudämmen. Sollte Ranpo mit allem Recht haben, wäre das ein Problem. Eine Fähigkeit, die wie eine eigenständige Lebensform agierte? Er grummelte bei diesem Gedanken innerlich. Mit Moris Elise hatte er schon unzählige unwillkommene Begegnungen gehabt, doch bei ihr war es so, dass Mori immer in ihrer Nähe sein musste. Auch wenn Elise eigenwillig war, sie konnte nicht von sich aus plötzlich irgendwo auftauchen. Dass er jetzt alleine in der Detektei zurückgeblieben war, sollte aber in erster Linie Ranpos zweite Theorie widerlegen. Es würde Fukuzawa eigentlich ein Stück weit beruhigen, wenn die Theorie des Meisterdetektivs sich als wahr herausstellte, doch in diesem einen, außergewöhnlichen Fall wollte Ranpo nicht Recht haben. Und das wiederum rührte Fukuzawa.

Tauchte die Lebensform hier auf und griff ihn an, bestätigte dies Ranpos These, wer „der Eine“ sein mochte, den die unbekannten Angreifer brauchten. Fukuzawa war nicht lebensmüde. Er wusste, dass seine Aktion gefährlich war, aber seine Erfahrungen mit gefährlichen Situationen hatten ihn viel gelehrt und sagten ihm nun, dass er diesen Schritt wagen musste, um an Informationen zu gelangen.

Besser er als einer der anderen.

Solange sie so wenige Informationen hatten, war das Zurechtlegen einer Strategie selbst für die gebündelten Kräfte von Ranpo und Dazai kaum machbar. Sie wussten bisher nicht einmal, ob Dazais Fähigkeit gegen diese Lebensform-Fähigkeit wirken würde. Es war wahrscheinlicher, dass er den Anwender berühren musste, um sie aufzuheben. Vielleicht, so hoffte Fukuzawa es inständig, vielleicht konnte er selbst etwas über den Anwender herausfinden, wenn er den Lockvogel spielte und auf sie traf.

Das Geräusch von Schritten ließ ihn aufhorchen.

Sie hallten in der komplett verwaisten Detektei wider und näherten sich ihm bedächtig. Es waren keine Schritte, die ihm bekannt vorkamen. Doch die Fähigkeit konnte es ebenso wenig sein. Sie tauchte aus dem Nichts auf und würde keinen Weg zu Fuß zurücklegen. Wer war dann-

Es klopfte an seiner Tür.

„Ja?“ Seine Erfahrung war es auch, die ihn trotz seiner enormen Anspannung ganz ruhig klingen ließ. Dennoch hielt er fast den Atem an, als die Tür sich daraufhin öffnete.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Sind Sie Yukichi Fukuzawa?“ Eine junge Frau stand dort. Sie hatte rostbraune Haare und trug ein langes, rotes Kleid mit einem dazu passendem Schulterumhang. Sie lächelte höflich und trotzdem konnte Fukuzawa spüren, dass sie genauso in Alarmbereitschaft versetzt war wie er.

„Der bin ich. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Sehr gut.“ Das unterkühlte Lächeln der Frau wurde ein wenig wärmer. „Ich würde mich gerne mit Ihnen über eine äußerst wichtige Angelegenheit unterhalten. Eliza sagte mir, dass Sie gerade allein wären, daher würde ich die Gelegenheit nur sehr ungern ungenutzt verstreichen lassen.“

Ohne dass er es sich selbst erklären konnte, nahm die Anspannung des Chefs bei ihren Worten schlagartig zu. „Eliza?“

„Einige Ihrer Mitarbeiter haben vor kurzem Bekanntschaft mit ihr gemacht. Lassen Sie mich bitte sagen, dass ich nicht durchweg damit einverstanden bin, wie dies gelaufen ist.“

Der Blick des Chefs verfinsterte sich drastisch. „Sie meinen diese Fähigkeit? Ihr Name ist also Eliza?“

„Oh?“ Die Frau gab sich unbeeindruckt von seinem Blick. „Das wissen Sie also schon? Nicht dass wir uns falsch verstehen: Eliza ist nicht meine Fähigkeit. Zum Glück nicht. Sie kann nämlich ziemlich anstrengend sein.“

„Aber Sie wissen, wer sie kontrolliert?“

Ein Lachen unterdrückend, winkte sie ab. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Antworten für Antworten. Ich sage Ihnen zuerst, was ich möchte und dann erhalten Sie ein paar Hinweise. Klingt das nicht fair? Wir können uns sicher ohne Blutvergießen zivilisiert unterhalten, nicht wahr?“

Wer auch immer die Besucherin war, sie konnte ihm vielleicht tatsächlich Antworten liefern. Auf jeden Fall gehörte sie zu den Leuten, die Joyce mit diesem rätselhaften Brief nach Yokohama gelotst hatten. Das Komische war jedoch … er konnte keine bösartige Aura, keine Tötungsabsicht, keine Hinterlistigkeit bei ihr ausmachen. Wer war sie und was wollte sie? Fukuzawa spürte in seinem Rücken die Scheide des Schwertes, das er hinter den Sofakissen versteckt hatte und deutete auf den Platz ihm gegenüber.

„Bitte.“

„Vielen Dank.“ Sie setzte sich und legte die Handtasche, die sie umhängen gehabt hatte, auf ihren Schoß. „Lassen Sie mich bitte mich vorstellen. Mein Name ist Katherine Mansfield. Ich bin auf der Suche nach jemandem und hoffe sehr, dass Sie mir dabei helfen können.“

Fukuzawa stutzte. „Sie wollen das Büro der bewaffneten Detektive engagieren?“

Sie lachte. „Nein, das ist nicht nötig. Ich brauche zwar Ihre Detektei, aber aus dem Grund, dass ich meine Zielperson bereits gefunden habe.“

Das ergab keinen Sinn. Was sollte dieser Satz heißen? Fukuzawa behielt die Frau fest im Blick. Sie brauchte die Detektei, um jemanden zu finden, den sie bereits gefunden hatte? Oder meinte sie etwa, dass sie denjenigen in der … nein. Das konnte sie nicht meinen. Oder doch?

„Bitte lassen Sie mich das erklären“, begann sie zuvorkommend, doch mit einem plötzlichen, sehr deutlichen Hauch von Kummer. „Ich habe einen Teil meiner Kindheit in dieser Stadt verbracht. Meine Eltern waren wegen ihrer Arbeit hierher gezogen und selbst nachdem der Krieg ausgebrochen war, konnten sie wegen ihrer neuseeländischen Pässe hier bleiben. Die britischen hatten sie verschwinden lassen, sodass wir relativ unbehelligt geblieben sind. Aber eines schrecklichen Tages wurde mein gerade mal erst zwei Jahre alter Bruder entführt.“ Sie schluckte schwer und hielt mit Mühe ihre Tränen zurück, ehe sie weiter erzählte. „Da der Krieg allerorten die Anzahl der Straftaten in die Höhe getrieben hatte, war dem Fall meines verschwundenen Bruders nie wirklich Beachtung geschenkt worden. Nach Kriegsende verließen wir Japan, doch meine Eltern konnten sich nie verzeihen, ihren Sohn irgendwo hier zurückgelassen zu haben. Deswegen brachen sie vor ein paar Jahren auf, um ihn auf eigene Faust zu suchen.“

Sie pausierte von neuem, um die Tränen in ihren Augen zurückzudrängen. Ein zunehmend ungutes Gefühl breitete sich in Fukuzawa aus. Irgendetwas sagte ihm, dass diese Geschichte nicht nur kein gutes Ende nahm, sondern noch weitaus dramatischer würde.

„Sie kehrten nie zurück.“ Mansfield entwich gegen ihren Willen ein Schluchzen.

„Das tut mir leid. Ist ihnen etwas zugestoßen?“

Rasch ihre Contenance zurückerzwingend, nickte sie. „Ich weiß nicht, was im Detail passiert ist, aber mir wurden Informationen zugespielt, aus denen hervorgeht, dass sie hier in Yokohama ermordet wurden.“

Fukuzawa schreckte kaum merklich zusammen. Innerlich brodelte es jedoch in ihm. „Ermordet?“

„Anscheinend waren sie einer Spur meines verschwundenen Bruders gefolgt und ihr Mörder wollte nicht, dass sie herausfanden, was mit ihrem Sohn geschehen war. Vermutlich hat er ihn auch auf dem Gewissen. Und damit nichts davon das Licht des Tages erblickte, brachte er meine Eltern auf brutalste Weise um. Im beigefügten Polizeibericht war die Rede von einem regelrechten Blutbad, von der Tat eines Wahnsinnigen.“ In Mansfields Mimik mischte sich eine eiskalte Entschlossenheit. „Ich bin hier, um den Mörder meiner Eltern zur Rechenschaft zu ziehen.“

Wortlos starrte Fukuzawa sie an. Es war ihm schmerzlich bewusst, wie unsinnig es wäre, etwas zu denken wie: 'Das kann nicht sein', denn er wusste, dass es sehr wohl sein konnte. Dass es mitunter vielleicht sogar wahrscheinlich war, dass es genau so war. Es tat ihm selbst weh, so über ihn zu denken, aber die Vergangenheit ließ sich nicht auslöschen, Geschehenes nicht ungeschehen machen.

„Denken Sie, Ihre Eltern würden wollen, dass Sie das tun?“, fragte er und war selbst ein wenig überrascht, wie ruhig er klang.

Mit einem gequälten Lächeln schüttelte sie den Kopf. „Die Dinge sind, wie sie sind, Herr Fukuzawa. Doch ich kann eine Welt nicht akzeptieren, in der der Mörder meiner Eltern sich des Lebens freut, während ich allein zurückgelassen wurde. Er muss mir sagen, was mit meinem Bruder passiert ist und dann muss er sterben.“

„Wir könnten den Fall untersuchen und zur Anklage bringen.“

„Hah!“ Mansfield lachte spöttisch. „Auf die Militärpolizei war ja von Anfang an so schrecklich viel Verlass gewesen, nicht wahr? Ich wurde davor gewarnt, dass Sie so etwas versuchen würden. Sie haben Verbindungen nach ganz oben, es wäre wahrscheinlich eine Leichtigkeit für Sie, ihn freisprechen zu lassen. Nein, nein, Herr Fukuzawa, so läuft das nicht. Sie überlassen ihn mir und ich sorge dafür, dass Ihre restlichen Mitarbeiter möglichst wenig Schaden nehmen.“

Fukuzawas Blick wurde harsch. „Das ist keine Option“, sagte er in einem gleichermaßen groben Tonfall. „Sie können ihn nach dem Verbleib Ihres Bruders fragen, aber ich werde nicht zulassen, dass Sie ihn töten.“

Mansfields Hände krallten sich in die Handtasche, die auf ihrem Schoß stand. „Das ist … bedauerlich. Ich hatte angenommen, Sie wären vernünftiger.“ Sie biss sich kurz auf ihre Unterlippe. „Vielleicht werden Sie ja doch noch einsichtiger, wenn die beiden anderen so weitermachen wie bisher.“

„Wer arbeitet mit Ihnen zusammen und was haben Wilde und Joyce damit zu tun?“ Er hatte Mühe, die Frau nicht anzuschreien.

„Ich hatte es Ihnen ja versprochen und ich bin ein ehrlicher Mensch. Elizas Anwender ist ein ziemlich … launischer Ire namens George Bernard Shaw. Er möchte sich irgendeinen Apparat zusammenbasteln, der wohl praktisch unsterblich machen soll. Der Erfinder ist ein Freund von diesem Wilde. Er war ein Entwickler für Fähigkeiten-Waffen, hat dieses Ding aber vernichtet und die einzelnen Teile in der Welt verstreut. Tja, eins fehlt noch. Ich helfe ihm mit diesem Quatsch, weil er mir die Informationen über meine Eltern zugespielt hat. Ich glaube, mehr sollte ich Ihnen nicht verraten. Außer Sie-“

„Ich werden Ihnen Dazai nicht ausliefern!“ Fukuzawas Ausruf grollte durch die stille Detektei, doch Mansfield zuckte lediglich mit den Schultern.

„Ich hoffe, Sie werden Ihre Entscheidung nicht irgendwann bereuen. Reue ist etwas Schreckliches.“ Zu Fukuzawas Unglauben stand sie seelenruhig auf.

Was machte sie so sicher, dass er sie einfach gehen ließ?

Er seufzte innerlich. Es konnte nur einen Grund dafür geben:

Sie war eine Befähigte.

„Wenn Sie jetzt aufgeben und sich stellen“, schlug er vor, „wird dieses Gespräch auch zivilisiert enden.“

Sie blinzelte ihn verwundert an. „Ich dachte, ich hätte deutlich gemacht, weswegen ich hier bin. Wissen Sie, wir hatten zu Hause immer einen Leitsatz: 'Aber etwas lieben, das muss man.'“ Ihr Blick und ihre Stimme wurden wehmütig. „Ich kann nichts mehr lieben außer dem Gedanken, mich an Osamu Dazai zu rächen. Und dafür bin ich bereit alles zu tun.“ Sie zog einen Revolver aus ihrer Handtasche, entsicherte ihn und richtete ihn auf den Chef. Ohne eine Miene zu verziehen, sah Fukuzawa in den Lauf der Waffe.

„In diesem Fall lassen Sie mir keine andere Wahl.“ Er schloss kurz die Augen, atmete aus und hatte im Handumdrehen bereits das versteckte Schwert gezogen – was Mansfield nicht beeindruckte.

„Fähigkeit“, sagte die Frau gelassen, „Sixpence.“ Mit ihrer freien Hand warf sie eine Münze, die gegen Fukuzawas Klinge prallte.

Im nächsten Augenblick stand er ohne seine Waffe da.

Irritiert starrte er auf seine leeren Hände. Sie schmerzten etwas, als hätte er etwas Heißes darin gehalten und sich verbrannt. Und tatsächlich roch es so, als wäre etwas explodiert. Sein Blick schnellte zu Mansfield zurück. Auch sie hielt keinen Revolver mehr in der Hand. Dafür klimperte sie mit den Münzen in ihrer anderen Hand.

„Zwingen Sie mich nicht, das mit Ihrem ganzen Büro oder gar mit Ihnen selbst zu tun. Sie wollen den anderen doch sicher noch mitteilen, was Sie in Erfahrung gebracht haben.“

Sich selbst für seine Hilflosigkeit verfluchend, blickte Fukuzawa Mansfield mit nur äußerlich stoischem Blick hinterher.

 

Mit staunenden Augen sah Kenji sichtlich beeindruckt zwischen Yosano und der Ärztin hin und her, die sie gerade in dem kleinen Raum vor dem OP-Saal über Tanizakis Zustand aufklärte. Die Ärztin aus dem Krankenhaus sagte irgendeinen Wert und Yosano fragte daraufhin irgendeinen anderen Wert ab; die jeweils andere nickte stets als Antwort und so ging es hin und her und hin und her – und das rasend schnell. Vermutlich hätte Kenji auch dann nichts von diesem Gespräch verstanden, wenn sie bedeutend langsamer gesprochen hätten, aber das kümmerte ihn nicht so sehr. Von Natur aus war er es gewohnt, sich auf das Wichtigste zu beschränken.

„Geht es Tanizaki gut?“, fragte er, als die Medizinerin des Krankenhauses in den OP zurückgekehrt war.

Yosano stutzte kurz, bevor sie durchatmete und ein erleichtertes Lächeln sich auf ihrem Gesicht bildete. „Es sieht gut aus. Auch wenn ich ein bisschen angefressen bin, dass er sich eine Kugel einfängt und ich sie nicht herausholen darf. Die Ärzte hier sind aber mehr als kompetent. Ich bleibe trotzdem lieber mal in der Nähe. Bei ihm weiß man nie.“

Kenji strahlte bei ihrer Antwort. Wenn Yosano so zuversichtlich war, dann musste er sich keine Sorgen um Tanizaki machen. „Manchmal wünschte ich, ich könnte ihm etwas von meiner Fähigkeit abgeben.“

„Wieso das?“

„Weil Tanizaki so oft verletzt wird. Es wäre viel schöner, wenn er das nicht würde.“

Yosano sah in Kenjis ehrliches und munteres Gesicht und schüttelte amüsiert den Kopf. Der Junge hatte keine Ahnung, wie süß er manchmal sein konnte. Es stimmte schon, Tanizaki war der reinste Magnet für Verletzungen – oder kam ihnen beiden das nur so vor, weil sie physisch robuster waren?

Plötzlich hielt Yosano alarmiert inne. Wo kam dieser Hauch von Eiseskälte mit einem Mal her?

„Was -?!“

Vor ihren Augen materialisierte sich aus dem Nichts eine Frau. Ihr Blick war durchdrungen von Zorn und Irrsinn und in einer ihrer Hände hielt sie eine Pistole. War sie das? Die, vor der Ranpo sie gewarnt hatte?

Schützend stellte Yosano sich vor Kenji.

„Du hast auf Tanizaki geschossen, nicht wahr? Das war ein Fehler. Niemand außer mir darf ihm wehtun.“ Ein nicht weniger irres Grinsen erschien auf dem Gesicht der Ärztin.

„Ihr seid Störfaktoren!“, schrie die Fähigkeit den Detektiven wie im Wahn entgegen. „Wenn ihr George stört, war alles umsonst! Wir brauchen nur einen von euch! Der Rest von euch kann weg!“

„Und wen von uns braucht ihr so dringend? Und wofür?“ Yosano versuchte, ihre eigene Wut im Zaum zu halten. Normalerweise wäre sie auf so eine Verrückte, die es gewagt hatte, auf einen der ihren zu schießen, längst mit ihrer Machete losgegangen, jedoch – das da vor ihr war eine Fähigkeit. Sie wusste, dass man Elise oder auch Weißer Dämonenschnee zwar angreifen, aber nicht töten konnte. Der einzige Vorteil, den sie gerade hatten, war, dass die durchgeknallte Fähigkeit vor genau den beiden Richtigen aus der Detektei erschienen war.

„Nicht euch! Ihr seid unnütz!“, brüllte die übernatürliche Frau hysterisch und gab mehrere Schüsse auf Yosano ab. Noch während die Getroffene mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden fiel, feuerte Eliza weiter und traf Kenji … mehr oder weniger.

„Hey!“, empörte sich der Junge und schüttelte sich, nachdem die Kugeln an ihm abgeprallt und zu Boden gefallen waren. „Hör auf damit! Das gehört sich doch nicht! Ich kann das nicht ignorieren, wenn du uns einfach angreifst.“

Elizas Wahnsinn wich für den Moment einer tiefen Verwirrung, als Kenji bereits auf sie zustürmte und ihr einen Schlag in den Magen verpasste.

„Urgh!“ Luft entwich ihren Lungen, als sie getroffen zurücktaumelte. Sie riss entsetzt die Augen auf, als sie bemerkte, wie Yosano wieder aufstand und eindeutig nicht mehr verletzt war. „Was-was seid ihr für Monster?!“

„Ist das jetzt dein Ernst?“ Yosano zog eine Augenbraue nach oben. „Du hältst uns für die Monster?“

„Menschen sind doch sterblich!“ Eliza stapfte wütend mit einem Fuß auf. Als hätte die Unverwundbarkeit ihrer beiden Gegner sie beleidigt, löste sie sich in Luft auf, um im nächsten Augenblick hinter Yosano zu erscheinen und ihr ein Kurzschwert in den Rücken zu rammen. Die Detektivin schrie vor Schmerzen auf und fiel wieder auf die Knie, nachdem die Fähigkeit die Klinge gezogen hatte.

„Yosano!“, rief Kenji entsetzt aus, bevor er von neuem auf Eliza losging. Sie parierte seinen Schlag mit dem Schwert und machte abermals große Augen, als das Schwert beim Aufeinandertreffen mit Kenjis Faust zersplitterte. Sein nachfolgender Schlag beförderte sie mit voller Wucht gegen die nächste Wand.

„Vorsicht, Kenji“, mahnte die erneut wiederhergestellte Yosano. „Tanizaki wird noch operiert, wir dürfen hier nichts kaputt machen.“

„Alles klar!“

Angesichts ihrer unverwüstlichen Kontrahenten verlor Eliza mehr und mehr die Geduld. „Das akzeptiere ich nicht!! Damit George glücklich wird, dürft ihr ihm nicht in die Quere kommen! Ihr müsst weg! Ich werde zuerst euch und dann Mori töten!! Dann wird George glücklich werden!“

„Mori?“ Bei diesem Namen hielt Yosano inne. Was hatte der mit allem zu tun?

Ein lauter, jähzorniger Urschrei entfuhr Eliza, als sich in ihrer Hand eine runde Kugel materialisierte. Sie schmiss diese auf den Fußboden, wo sie zersprang und ihr ein lilafarbenes Gas entwich, das den kleinen Raum in Nullkommanichts einhüllte. Geistesgegenwärtig hielt Yosano sich eine Hand vor Nase und Mund und nutzte die andere, um das Gleiche bei ihrem jüngeren Kollegen zu tun. War das irgendein Giftgas? Aber die Fähigkeit stand am nächsten dran, sie würde es ebenso einatmen. Oder hieß das, der Fähigkeit machte nicht einmal das etwa-?

Yosano spürte, wie ihr ganzer Körper sich plötzlich wie gelähmt anfühlte. Sie verlor die Kontrolle über ihre Muskeln und stürzte wie Kenji zu Boden. Alles verschwamm vor ihren Augen und sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

Wie durch einen Schleier beobachtete sie, wie ihre übernatürliche Angreiferin abrupt erschrocken zusammenzuckte und sich auflöste. Dann wurde die Tür zum Flur aufgerissen und sie hörte aufgeregte Schreie.

„Yosano! Kenji! Was ist passiert?!“

„Zurück, Atsushi! Da ist irgendein Gas!“ Dazai zog den Jüngeren mit Gewalt nach hinten zurück, während er gleichzeitig Kunikida daran hinderte, in das Zimmer zu laufen. „Kyoka!“

„Verstanden! Fähigkeit: Weißer Dämonenschnee!“

Kyokas Fähigkeit erschien und raste in den Raum, um die beiden darin Liegenden herauszuziehen.

„Das Gas verteilt sich im Flur!“, rief Ranpo und staunte, als Joyce sich an die Spitze der anderen setzte und etwas aus seiner Hosentasche in den Gang hineinwarf.

„Fähigkeit: Clay!“

Es rumpelte und schepperte, als eine große, dicke Mauer aus Lehm sich zwischen dem gefährlichen Gas und den Detektiven erhob und den Flur zusammenschrumpfen ließ.

Atemlos blickten sie auf die Wand, die sie nun gegen das Gas abschirmte, als Weißer Dämonenschnee in der Luft schwankte und sich auflöste. Die beiden, die die Fähigkeit im Schlepptau gehabt hatte, fielen hinab und blitzschnell fing Atsushi Kenji auf, während Yosano in Dazais Arme fiel. Der silberhaarige Junge legte seinen bewusstlosen Kameraden vorsichtig auf dem Boden ab, doch Dazai beeilte sich, Yosano geschwind loszulassen. Er konnte nicht einschätzen, was mit ihr war und wollte daher rasch von ihr wegrücken. Kaum noch bei Bewusstsein und mit deutlichen Schwierigkeiten zu atmen, suchten Yosanos glasige Augen die seinen.

„Mori“, raunte sie fast unhörbar und ließ ihn stutzen. „Sie will … Mori … töten ...“

I got a body to hide, I got a body on show

I got a body to hide, I got a body on show“

 

Placebo, „Scene of the crime“

 

Fukuzawa seufzte innerlich.

Obwohl die Detektei nun voller Menschen war, war es trotzdem totenstill darin. Er ließ seinen Blick über alle schweifen, als sie mutlos und schwermütig durch die Tür kamen und zu ihren Plätzen zurückkehrten. Sein Blick traf den Dazais und er hoffte inständig, dass er ihm nicht ansah, was genau in der Zwischenzeit in der Detektei vorgefallen war. Oder vielmehr: Er hoffte, dass Dazai ihm nicht ansah, was er dachte, nachdem Mansfield ihm ihre Geschichte erzählt hatte. Bis jetzt hatte er den anderen verschwiegen, weswegen Mansfield hier gewesen war. Es war falsch, Dazai sofort für schuldig zu erklären, denn vielleicht entsprach die Geschichte der Frau nicht der Wahrheit. Aber nichtsdestotrotz würde Fukuzawa dies mit ihm besprechen müssen – und davor graute ihm.

Der Chef stutzte, als Dazai seinen Blick erwiderte und dabei umgehend seine Gedanken zu lesen schien. Die Miene des Brünetten wurde für einen flüchtigen Moment fragend und dann fast ein wenig resigniert. Als einziger kehrte er nicht zu seinem Schreibtisch zurück, sondern blieb auf Höhe des Separees neben Joyce stehen. Fukuzawa riss seinen Blick von ihm los und wandte sich den anderen zu. Haruno hatte Yosanos leeren Stuhl neben Naomi gerollt, um der nach wie vor schluchzenden Schülerin Beistand zu leisten. Atsushis erschütterte Miene landete erst auf ihr, dann auf den unbesetzten Plätzen von Kenji und Tanizaki. Kyoka hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und starrte wütend Löcher in die Luft, während Kunikida mit hängendem Kopf den Fußboden fixierte. Ranpo saß mit nachdenklichem Blick mucksmäuschenstill an seinem Platz und sah an den anderen vorbei zum Eingang. Fukuzawa hatte sie alle zurückbeordert, damit die Lebensform-Fähigkeit nicht erneut an einem Ort angriff, an dem auch Unbeteiligte in Gefahr geraten konnten.

Die Auseinandersetzung mit Eliza hatte zumindest Tanizaki nicht weiter gefährdet, doch Yosano und Kenji, die das unbekannte Gas eingeatmet hatten, waren nun beide in einem Koma. Was auch immer der Feind dort freigesetzt hatte, wirkte wie ein Nervengift, durch das die zwei nicht einmal mehr in der Lage waren, selbstständig zu atmen. Hätte Dazai – der Entfernung zum Trotz - nicht den Schrei der Fähigkeit gehört und wäre ihnen nicht mit den anderen zu Hilfe gekommen, Yosano und Kenji wären an Ort und Stelle einen qualvollen Tod gestorben. Was sollten sie jetzt tun? Wie sollten sie sie aufhalten? Eliza wollte sie alle, bis auf einen, töten und sie konnte jederzeit überall auftauchen. Fukuzawa fühlte sich erbärmlich und hilflos. Die Lage schien hoffnungslos und doch durfte er dies weder sagen noch zeigen.

„Diese Eliza ist offensichtlich außer Kontrolle“, äußerte Dazai unvermittelt in die bedrückende Stille hinein. „Ihr Anwender kann sie zwar zurückpfeifen, aber das scheint sie nicht davon abzuhalten, von neuem auf uns loszugehen.“

„Ich will nur noch einmal sichergehen, dass ich dies richtig verstanden habe“, sagte Joyce und rieb sich angestrengt mit einer Hand über die Schläfen. „Dieser Shaw sucht ein Teil, das zu einem Apparat gehört, mit dem man sich praktisch unsterblich machen kann – was auch immer das heißen mag - und der von einem Freund von Wilde erfunden worden sein soll?“

Fukuzawa nickte. „Frau Mansfield hatte keinen Grund mich in dieser Sache anzulügen, also können wir davon ausgehen, dass dies der Wahrheit entspricht.“

„Ich verstehe die Welt nicht mehr. Woher sollte Wilde diesen Kerl kennen und wenn es einen Apparat gäbe, der dies tatsächlich könnte, wieso hören wir dann zum ersten Mal davon?“ Joyce' Hand war dazu übergegangen, sich seine Haare zu raufen, woraufhin Kyoka aufstand und ihm ihren Stuhl anbot. Er hielt in seinen Bewegungen inne und wirkte ein wenig gerührt, als er das Angebot annahm. „Danke.“

Kyoka nickte ihm bekräftigend zu.

„Solche Erfindungen, die von befähigten Entwicklern stammen“, begann Atsushi zaghaft, „sie … sie können großen Schaden anrichten, wenn sie in die falschen Hände geraten.“ Er schluckte schwer bei der Erinnerung an die Geschehnisse auf Standard Island.

„Die falschen Hände wären in diesem Fall ganz sicher die von diesem Shaw.“ Kunikida blickte auf. „Wer auch immer dieses Ding erfunden hat, war sich dessen bewusst, was Atsushi gerade eingewandt hat und hat es vermutlich deswegen zerstört.“

„Wenn es in seine Einzelteile zerlegt und an verschiedenen Orten verteilt wurde“, warf Kyoka ein, „dann können nur Leute, die von dem Erfinder eingeweiht wurden, überhaupt von seiner Existenz und seiner Funktionsweise wissen, oder?“

Joyce stutzte merklich, als er dies hörte. „Das hieße ja dann ...“

Dazai lächelte selbstgefällig. „Ich will wirklich nicht schon wieder der Überbringer schlechter Nachrichten sein, aber, ja, genau das hieße das. Der mysteriöse Erfinder, Wilde und Shaw kennen sich demnach wahrscheinlich.“

Der Ire schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Wilde je mit jemandem zu tun gehabt haben soll, der einen solch wahnsinnigen Plan verfolgt.“

„Chef“, meldete Naomi sich mit wieder energischerer Stimme aus dem Hintergrund zu Wort. Ihre Augen waren noch gerötet, aber ihre Tränen versiegt. Stattdessen konnte man nun eine überwältigende Entschlossenheit in ihrem Gesicht ausmachen. Gemeinsam mit Haruno hatte sie in der Zwischenzeit eifrig Eingaben in den Computer gemacht – und mit den besonderen Zugriffserlaubnissen, die die Detektei sich im Laufe der Jahre erkämpft hatte, offensichtlich einen Treffer gelandet. „In der Datenbank der Regierung gibt es einen Eintrag zu diesem Shaw. Er war während des Kriegs wohl in Yokohama als Spion und Kriegsverbrecher festgenommen worden und hat mehrere Jahre in Kriegsgefangenschaft verbracht. Aus dieser ist er jedoch geflohen.“

Ein Raunen ging durch das gesamte Büro, als alle Anwesenden aufmerksam zu den beiden Bürokräften blickten.

„Gibt es noch weitere Informationen über ihn?“, hakte Fukuzawa nach und Haruno nickte.

„Er hat damals ausgesagt, dass er zu einer Gruppe gehörte, die in verschiedenen Ländern Sabotageakte durchgeführt hat. Teile der Akte sind geschwärzt, doch ein paar Namen der Mitglieder dieser Truppe sind noch einsehbar.“

Joyce krallte seine Finger mittlerweile in den Stoff seiner Hose. „Welche Namen?“

„Ein Engländer namens Basil Hallward, ein weiterer namens Henry Wotton und noch ein Mann namens … oh.“ Verunsichert hielt Haruno inne, sodass Naomi übernahm.

„Dorian Gray.“

„Dorian Gray??“, entfuhr es Atsushi. „Aber das ist doch …!“

„Der Name, der in der Akte geschwärzt wurde, ist dann wahrscheinlich ...“ Kyoka brach ab und schaute zu Joyce, der aussah, als wäre er den Tränen nahe.

„Spione?“, hauchte Joyce tonlos. „Saboteure? Kriegsverbrecher?“

„Steht da etwas über diese Männer?“, sagte Fukuzawa schnell und doch beherrscht.

„Hm“, machte Naomi unzufrieden. „Nichts, was wirklich hilfreich erscheint. Dieser Henry Wotton ist während des Krieges bei einer Mission getötet worden und der andere ist vor mehreren Monaten gestorben. Wohl keines natürlichen Todes, aber mehr steht da nicht.“

„Und Gray vor kurzem“, ergänzte Kunikida missmutig. „Das hilft uns wirklich nicht weiter.“

„Tsk, tsk, tsk.“ Dazai wackelte widersprechend mit einem Finger. „Zieht eure Köpfe aus dem Sand. Wir haben unseren befähigten Entwickler.“

„H-haben wir?“ Atsushi dachte fieberhaft nach, doch er konnte nicht nachvollziehen, wie Dazai darauf gekommen sein sollte.

„Basil Hallward. Und es ist gar nicht schwer, das zu schlussfolgern. Gibst du mir da Recht, Ranpo?“

Alle Augen wanderten zu dem bisher merkwürdig schweigsamen Meisterdetektiv, der immer noch die Eingangstür anstarrte. „Ja ja, der ist es“, entgegnete er beiläufig und beinahe ungeduldig. „Vereinfacht gesagt: kein natürlicher Tod. Jemand hat ihn umgebracht. Jemand, der hinter dieser Erfindung her ist. Hallward ist also derjenige mit einer Verbindung nach Yokohama.“

„Aber ...“, angesichts Ranpos Laune traute Atsushi sich kaum, etwas nachzuhaken, „welche?“

„Darauf warte ich noch.“

„Äh, o-okay?“ Der silberhaarige Junge blickte überfordert zu den anderen.

„Du hast eine Spur?“, deutete Fukuzawa das rätselhafte Gerede seines Schützlings.

„Das, was Dazai mir über die Plakate des Kunstmuseums erzählt hat.“

Fukuzawa nickte. „Dann sage uns bitte Bescheid, sobald du mehr weißt.“

„Ah!“ Atsushi hatte plötzlich eine Eingebung und wandte sich aufgeregt an Joyce. „Vielleicht wurde Wildes Name aus der Akte entfernt, weil er doch nichts mit dieser Truppe zu tun hatte und unschuldig war!“

„Tut mir leid“, bremste Kunikida seinen Enthusiasmus sogleich, „dann gäbe es dazu einen Vermerk. Eine Schwärzung heißt, dass jemand irgendwie Einfluss auf diese Akte genommen hat.“

Atsushis Schultern sackten niedergeschlagen herab. „Oh.“

Sacht schüttelte Joyce den Kopf. „Trotzdem danke für den Versuch, Junge.“

„Ich sagte doch, das wird unschön.“ Dazai zuckte mit den Achseln. „Apropos“, er wandte sich dem Chef zu, „weswegen war Mansfield in Wahrheit hier?“

Dem Angesprochenen entglitten für den Bruchteil einer Sekunde die Gesichtszüge. „Du weißt es?“

Dazai lächelte süffisant. „Nicht im Detail. Sie sagten, dass sie einen Deal mit Ihnen hatte machen wollen. Sie will also irgendetwas - oder eher: irgendjemanden, nicht wahr?“

Atsushi wurde hellhörig. „Die Fähigkeit sprach doch davon, dass sie einen von uns brauchen.“

„Ja, das auch, aber Eliza und Shaw wollen Ranpo, Mansfield allerdings verfolgt andere Pläne, sonst wäre sie nicht hier aufgetaucht“, gab Dazai zurück.

„R-ranpo?“ Der junge Detektiv blickte erschrocken zu dem Erwähnten, der daraufhin nur grummelte.

Kunikida, der genauso entsetzt zu ihm starrte, begriff es zügiger. „Um das Rätsel aus dem Brief zu lösen.“

Ranpo machte ein langes Gesicht. „In diesem Fall wäre es mir lieber, mein guter Ruf würde mir nicht vorauseilen.“

„Chef?“, forderte Dazai seinen Vorgesetzten erneut auf.

„Sie sucht den Mörder ihrer Eltern“, antwortete Fukuzawa widerwillig. „Und ihren verschwundenen Bruder.“

„Ah~, ich verstehe.“ Dazais Lächeln fror für eine Sekunde ein und wurde dann schlagartig gekünstelter. „Chef, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen: Sie sind nicht gut darin, aus Fehlern zu lernen.“

„Ich bin mir keines Fehlers bewusst“, erwiderte Fukuzawa trocken.

Bei den anderen (mit Ausnahme von Ranpo) hatten sich, während sie der Unterhaltung gelauscht hatten, mehr und mehr Fragezeichen über ihren Köpfen gebildet. Ohne dass er es sich erklären konnte, ergriff ein kaltes Gefühl Besitz von Atsushi. Wie ein Schauer, der aus seinem Inneren kam. Was hatte das zu bedeuten? Nervös legte er eine Hand auf sein plötzlich rasendes Herz. Warum sah Kyoka nun mit aufgerissenen Augen zu Dazai? Was beunruhigte sie? Auch Joyce sah aus dem Augenwinkel zu Dazai und schüttelte dabei angewidert den Kopf. Letztlich bemerkte er, wie Kunikidas Miene allmählich zornig wurde.

„Warst du es?“, fragte der Idealist in Dazais Richtung.

War er … was?

„Keine Ahnung. Gut möglich. Wenn Mansfield meinen Kopf will, wird sie wohl Beweise dafür haben.“

Beweise? Wofür?

Atsushis Augen verrieten seine innere Unruhe, deren Grund er selbst nicht wahrhaben wollte.

„Deswegen hat Shaw sie für seine Sache gewinnen können?“ Dazai wandte sich wieder an Fukuzawa.

„So hat sie es dargestellt.“

„Ha“, der Brünette lachte, ohne dass es wie ein Lachen klang. „Das ist interessant.“

Darüber reden wir später.“ Kunikida löste seinen erbosten Blick von seinem Partner und richtete das Wort an den Chef. „Wir sollten zuerst Shaw finden, damit Eliza uns nicht mehr gefährlich werden kann.“

Obwohl Atsushi genauso sehr wusste, dass dies Priorität hatte, konnte er nicht anders als unverhohlen zu Dazai zu blicken. Sein Mentor schaute zu den anderen, doch Atsushi hatte das Gefühl, dass er vielmehr durch sie hindurch sah. Sein krampfhaftes Lächeln wich langsam einer ausdruckslosen Miene und erneut ergriff ein Gefühl von Angst und böser Vorahnung Besitz von dem Jungen. Die Situation glich erschreckend genau dem Vorfall damals, als Barrie und Huxley hinter Dazai her gewesen waren und das Detektivbüro erst in Frieden hatten lassen wollten, wenn sie ihnen Dazai ausgeliefert hätten. Würde Mansfield sie auch angreifen? Sie machte gemeinsame Sache mit Shaw, nur um sich an Dazai rächen zu können?

Atsushis Magen drehte sich.

Alles Leugnen half nichts mehr.

Und doch wollte er nicht akzeptieren, dass sein Mentor auch diese Leute ermordet hatte. Atsushi kam sich erbärmlich vor. Fiel es ihm etwa immer noch schwer zu akzeptieren, dass sich die Vergangenheit nicht ändern ließ? Er stockte bei diesem Gedanken. Nein. Das war gar nicht das Problem. Das Problem war, dass er sich in dieser Situation so hilflos vorkam. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, um den jetzigen Dazai und all seine Kollegen vor den Konsequenzen des Taten des früheren Dazais zu schützen.

Er schreckte zusammen, als Dazais Blick seinen eigenen traf. Seine Miene war zunächst fragend, ehe ein weitaus weniger gezwungenes Lächeln sich auf dem Gesicht des Brünetten bildete – beinahe, als wollte er sagen: Mach dir keine Sorgen, Atsushi.

Der Junge nickte und ballte unter seinem Tisch seine Hände zu Fäusten. Er hatte Dazai so viel zu verdanken und er würde noch sehr lange brauchen, um ihm auch nur einen Bruchteil von dem zurückzuzahlen, was der Ältere ihm gegeben hatte. Atsushi drängte die Erinnerung an das, was er damals in dem Garten des verfallenen Anwesens der Familie Barrie hatte mitansehen müssen, mit schierer Willenskraft zurück. Dieses Mal würde es anders laufen. Dieses Mal würde es nicht so weit kommen.

Inmitten seines Schwurs und der Strategiebesprechung der anderen zuckte Ranpo kaum merklich zusammen.

„Na endlich!“, plärrte er die Eingangstür an. „Wieso hat das denn so lange gedauert?!“

Verdattert guckten alle zur Tür, die sich vorsichtig öffnete und durch die jemand hineinkam. Jemand mit einem Waschbären auf der Schulter.

„Entschuldige, Ranpo“, trat Poe scheu ein, „es war nicht so leicht, dem Museum zu erklären, was ich von ihnen wollte und deine Nachricht war ja auch recht knapp formuliert gewesen.“

„Ja ja“, Ranpo winkte ihn ungeduldig heran, „ich hoffe sehr, du enttäuschst mich nicht.“

„Ich darf doch sehr bitten“, gab Poe umgehend in seinem Stolz gekränkt zurück. „Was denkst du denn von mir?“

„Du hast Poe um Hilfe gebeten?“ Fukuzawas Tonfall verriet, dass er nicht glücklich mit Ranpos eigenmächtiger Aktion war. Sie durften nicht noch mehr Menschen in diese Sache hineinziehen und damit in Gefahr bringen.

„Die verrückte Fähigkeit würde uns auflauern, sobald wir eine Spur verfolgen“, erwiderte der Meisterdetektiv, „aber sie interessiert sich mit Sicherheit nicht für unseren amerikanischen Freund hier.“

Bei den Worten des Schwarzhaarigen stand Poe plötzlich ein wenig aufrechter und begann, glückselig zu grinsen – bis Ranpo nüchtern hinzufügte:

„Was mehr als verständlich ist.“

„Ist das ein Mitarbeiter der Detektei?“, fragte Joyce Kunikida und dieser überlegte kurz, bis er den Kopf schüttelte.

„Es ist schwer zu erklären, was er ist.“

„Also, Assistent!“, ergriff Ranpo energisch das Wort. „Was hast du herausgefunden?“

„A-assistent?“ Poe blinzelte mit seinem sichtbaren Auge Ranpo kurz überrumpelt an (und die anderen hätten schwören können, dass Karl der Waschbär mit den Schultern gezuckt hatte), bevor er einen Notizblock aufschlug und daraus vorlas. „Meine Recherche hat ergeben, dass die Plakate, die letztes Jahr an der besagten Stelle aufgehangen waren, eine Ausstellung über Werke zu einem alten Bühnenstück bewarben. Eine tragische Liebesgeschichte, um genau zu sein.“ Als er wieder hochblickte, konnte man ihm ansehen, dass er hoffte, für seine Ergebnisse eine positive Rückmeldung von Ranpo zu erhalten, doch dieser verzog schmollend den Mund.

„Eine tragische Liebesgeschichte? Mehr hast du nicht?“

„Äh, na ja, der Kurator sagte mir noch, dass dieses Stück bis vor einigen Jahren zum regulären Spielplan eines Theaters in der Stadt gehört hatte, aber jetzt schon seit längerer Zeit ausgesetzt würde.“

„Weswegen?“

„Das konnte er mir nicht sagen.“

„Hm.“ Ranpo kreuzte nachdenklich die Arme vor der Brust.

„Tut mir leid, Ranpo“, entschuldigte Poe sich, „hilft dir das nicht weiter?“

„Shht! Ich denke nach!“

Die Augen der anderen klebten förmlich auf der grübelnden Gestalt des Meisterdetektivs … dessen grüne Augen plötzlich aufleuchteten.

„Chef, ich würde mir gerne dieses Theater ansehen und Atsushi und Kyoka mitnehmen. Wenn die durchgeknallte Fähigkeit auftaucht, kann ich sie vielleicht davon überzeugen, dass ich die beiden brauche, um das fehlende Teil zu finden. Der Rest sollte sich ebenso in Bewegung setzen und vortäuschen, dieses Ding zu suchen. Eliza ist zwar stark, aber sie scheint nicht unbedingt die hellste Kerze auf der Torte zu sein.“

Fukuzawa wirkte nicht allzu erfreut über diesen Plan. „Sobald du tatsächlich etwas findest, bist auch du wahrscheinlich nicht mehr vor ihr sicher.“

Ranpo stand auf und setzte sich seine Mütze auf. „Das ist mir bewusst. Aber ...“ Sein Blick wurde ungewohnt ernst und bitter. „Aber das ist das einzige, was ich tun kann. Deswegen frage ich Sie auch nicht um Erlaubnis, ich setze Sie nur in Kenntnis. Bevor noch jemand verletzt oder sogar getötet wird, müssen wir Shaw finden und aufhalten.“

Fukuzawa atmete kurz durch. „In Ordnung. Wenn du einen Plan hast, Ranpo, dann werden wir dir vertrauen.“

Ranpo stutzte verwundert, dann lächelte er flüchtig, ehe … seine sauertöpfische Miene zurückkehrte. „Ich gebe euch natürlich noch die Details meines Plans durch, aber ich bin mir nicht sicher, was das angeht, das er vorhat.“

Er?

Die Detektive blinzelten sich untereinander an, bevor Atsushi instinktiv zu der Stelle schaute, an der Dazai bis eben gestanden hatte.

Dazai war auf und davon.

 

„CHUU~YA~!“

„WAS ZUR HÖLLE?!“

Der Mond schien strahlend hell vom Nachthimmel über den alten Lagerhäusern in diesem abgelegenen Teil der Speicherstadt auf die zwei Männer, die sich hier fernab des Hafens alles andere als zufällig begegnet waren. Das war Chuuya Nakahara umgehend klar und umso mehr brachte es sein Blut zum Kochen. Das konnte nichts Gutes zu bedeuten haben, dass er ausgerechnet hier und jetzt der schlimmsten Person über den Weg lief, der man nur über den Weg laufen konnte.

„Was willst du, Dazai?“

„Du klingst aber feindselig für jemanden, der gerade einem teuren, alten Freund begegnet.“

„WO SOLL SO JEMAND SEIN?! ICH SEH HIER NUR EINEN NERVTÖTENDEN, GESTÖRTEN SPINNER, DER TODESSEHNSUCHT HAT!!“

„Ha ha“, Dazai hatte den Nerv, über das ganze Gesicht zu grinsen, „du bist witzig wie eh und je, Chuuya.“

Das hatte keinen Sinn. Er konnte ihn anschreien, so viel er wollte. Bei dem Wirrkopf ging sowieso alles zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Und dazwischen passierten die Schreie eine gähnende Leere.

„Hast du nichts Besseres zu tun?“ Chuuya senkte seine Stimme, aber blickte nach wie vor vollkommen entnervt drein. „Ich habe gehört, ihr hattet heute ziemlich viel Ärger im Paradies.“

„Hm?“ Dazai gab sich völlig gleichgültig. „Oh, ja, das. Sehr unerfreulich. Es überrascht mich nicht, dass die Hafen-Mafia mal wieder ganz im Bilde ist.“

Der kleinere der beiden Männer lächelte überheblich. „Dem Boss ist es lieber, stets zu wissen, was unsere Todfeinde so machen.“

„Apropos“, flötete der Braunschopf nun enthusiastisch, „weiß Mori denn schon, wer letztens seine Leute am Hafen in die Luft gejagt hat?“

Chuuyas Lächeln gefror augenblicklich und ein heftiges Stirnrunzeln trat an seine Stelle. „Woher weißt du nun schon wieder davon?“

Ein arrogantes und boshaftes Grinsen formte sich auf Dazais Gesicht. „Deswegen bist du doch hier, nicht wahr? Und Akutagawa streunt ein paar Straßen weiter herum. Man muss euch schon lassen, dass ihr gut darin seid, eure Feinde aufzuspüren, aber … wir waren ein bisschen schneller.“

„Häh?“

„Eine übernatürliche junge Dame namens Eliza möchte Mori ans Leder.“ Dazai nahm eine seiner Hände aus seinen Manteltaschen und deutete mit ihr das Aufschlitzen seines Halses an. „Ihr seid doch auf der Suche nach ihr und ihrem Anwender. Frag Mori doch einmal nach einem alten Weggefährten, der auf den Namen 'Shaw' hört. Ich bin mir sicher, seine Reaktion wird höchst amüsant ausfallen.“

Skeptisch hob Chuuya eine Augenbraue. „Warte, was ist los? Eine übernatürliche junge Dame? Und wer will Mori ans Leder?“

„Du musst besser aufpassen, Chuuya“, tadelte Dazai ihn. „Kein Wunder, dass du in deiner Klasse nicht der Primus bist.“

„WIESO BIN ICH PLÖTZLICH EIN SCHULJUNGE?!“ Der Rothaarige schnaufte durch. Ganz ruhig. Er musste ruhig bleiben, sonst würde er nur wieder zum Spielball für die Launen dieses Verrückten werden. „Warum willst ausgerechnet du Mori warnen?“

„Huh?“ Sein Gegenüber lachte laut. „Warnen? Oh nein, nein, das verstehst du ganz falsch.“ Mit einem Mal schimmerte deutlicher Wahnsinn auf Dazais Miene durch. „Ich will, dass du ihn auf einen grausamen Tod vorbereitest. Denn genau den wird er sterben.“

Achtsam machte der Mafioso einen Schritt zurück. Von seinem ehemaligen Partner ging plötzlich eine Kälte aus, die selbst ihm zu unheimlich war. „Du weißt selbst, dass man den Boss der Hafen-Mafia nicht so einfach töten kann.“

„Mit ein bisschen Hilfe würde die gute Eliza das bestimmt schaffen.“ Dazai klang, als würde ihn allein der Gedanke an Moris Ableben berauschen. „Und ich würde ihr zu gerne dabei helfen. Das ist eine Chance, die ich so wahrscheinlich nur ein einziges Mal bekommen werde.“

„Drehst du jetzt endgültig durch?“

Dazai grinste befremdlich. „Vielleicht. Wer kann das schon so genau sagen?“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Freunde aus der Detektei damit einverstanden sind.“

„Die müssen nicht über alles, was ich tue, Bescheid wissen. Nein, es ist sogar besser, wenn sie nicht alles wissen. Der Chef würde es nicht gutheißen, wenn er wüsste, dass ich davon träume, Mori die Eingeweide einzeln herrauszureißen.“

Beunruhigt und doch um Ruhe bemüht, schüttelte Chuuya den Kopf. „Ich dachte, du wärst an dem Gleichgewicht in der Stadt interessiert. Wenn Mori sterben sollte, ist niemand mehr da, der die Hafen-Mafia vor dem Zusammenbruch bewahrt. Hast du daran etwa nicht gedacht?“ Es trieb ihm tiefe Sorgenfalten ins Gesicht, als Dazais Mimik jäh berechnend und eiskalt wurde.

„Niemand mehr? So einen kleinen Familienbetrieb wie die Hafen-Mafia könnte ich ohne Probleme nebenbei führen. Findest du nicht auch, dass ich praktisch dafür geboren bin?“

„Du bist endgültig durchgedreht.“

„Keine Sorge, ich würde dich nicht feuern“, schwadronierte Dazai unbeeindruckt weiter, „du wirst mein Assistent. Ja, das klingt gut. Assistent Chuuya Nakahara. Wenn du dir Mühe gibst, kannst du vielleicht zum leitenden Assistenten aufsteigen.“

Chuuya starrte ihn einfach nur noch mit ungläubiger und fast entsetzter Miene an. Es war lange her, seit er Dazai das letzte Mal so wirr hatte reden hören. War noch etwas in dem dämlichen Detektivbüro vorgefallen, das dazu geführt hatte, dass Dazai geistig so abdriftete? Wussten die anderen Detektive, dass er hier herumlief und davon fantasierte Mori zu töten?

Irgendetwas sagte ihm, dass das unwahrscheinlich war.

„Wie wäre es, wenn ich dich hier und jetzt töte, damit du deine Träume von der Übernahme der Hafen-Mafia begraben kannst?“

„Das wäre dumm, Chuuya, äußerst dumm.“ Ein finsteres Grinsen huschte erneut über Dazais Gesicht. „Denn die gute Eliza ist ja immer noch da. Und Mori hat irgendetwas getan, was sie sehr verstimmt hat. An deiner Stelle würde ich loslaufen und ihn tatsächlich warnen. Er sollte sich ganz schnell in irgendein dunkles Loch verkriechen, sonst war es das für ihn.“

Der Mafioso knarzte mit den Zähnen. Es stimmte, dass Mori seit dem Auftauchen der Unbekannten seltsam nervös wirkte. Als würde er in der Tat fürchten, dass sie hinter ihm her waren. Und wenn es der Wahrheit entsprach, dass die Frau von dem Vorfall am Hafen eine übernatürliche Fähigkeit war, dann würde das nicht nur viel erklären, sondern auch weitaus größere Probleme nach sich ziehen. Er hatte keine Erklärung für Dazais widersprüchliches Verhalten, aber vielleicht war das nun gar nicht so wichtig. Vielleicht war es wirklich wichtiger Mori zu warnen.

„Mistkerl“, zischte Chuuya, bevor er losrannte und im Laufen sein Handy herausholte.

Mit einem ominösen Lächeln im Gesicht sah Dazai ihm hinterher – und verzog auch keine Miene, als er hinter sich plötzlich einen eiskalten Hauch spürte.

„Willst du Mori auch töten?“, ertönte Elizas Stimme zögerlich.

Der Detektiv drehte sich zu ihr um und erblickte sie zum ersten Mal persönlich. Was er sah, unterschied sich von den Beschreibungen, die Joyce und Ranpo ihm gegeben hatten. Keine edle Dame stand dort, sondern eine junge Frau mit matten Haaren und abgetragener, teils unsauberer Kleidung. Trotzdem gab es keinen Zweifel, dass sie es war.

„Oh ja“, erwiderte Dazai genüsslich, „sehr gerne sogar.“

„Aber du bist einer der Detektive“, wandte sie ein und Dazai war überrascht, wie friedlich sie wirkte und klang. Ganz anders als die Furie, die er über das Telefon gehört hatte.

„Ich bin sehr viel.“

Man konnte ihr ansehen, dass sie mit dieser Aussage überfordert war. Merklich mit sich hadernd, beäugte sie ihn und kaute auf ihrer Lippe herum.

„Darf ich dich etwas fragen?“, fuhr er höflich fort und verwirrte sie damit noch mehr.

„Was?“

„Warum hast du uns schon mehrmals angegriffen, aber Mori noch gar nicht?“

Eliza blickte beschämt zur Seite. „Weil das nicht so einfach geht.“

„Woran hakt es denn?“

„Ich weiß nicht, wie er aussieht und George kann sich nicht an sein Gesicht erinnern.“ Sie klang beinahe traurig, als sie dies sagte.

„Ah, ich verstehe. Du musst also wissen, wie jemand aussieht, damit du vor dieser Person erscheinen kannst?“

Die Fähigkeit verschränkte bockig ihre Arme vor der Brust. „Dazu sage ich nichts.“

„Eine so hübsche junge Dame würde ich auch zu nichts zwingen.“ Dazais Lächeln war gänzlich unlesbar geworden. „Auch wenn es mich interessieren würde, woher sie mich und die anderen Detektive überhaupt kennt.“

„Von den Infos“, gab sie knapp zurück.

Dazai ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe er weitersprach: „Ich weiß, wie Mori aussieht.“

Eliza riss hoffnungsvoll ihre Augen auf. „Wie? Wie sieht er aus??“

„Das verrate ich dir, wenn du mich mit Shaw reden lässt.“

„Ist das eine Falle?“

„Wo denkst du hin?“ Dazai legte den Kopf in den Nacken und sah mit verträumten Blick in den Nachthimmel hinauf. „Es ist ein Deal. Lebend bin ich euch nämlich viel nützlicher als tot. Sag ihm einfach, dass ich mich sehr für diese Erfindung von Hallward interessiere.“

Die übernatürliche Frau musterte ihn noch einen Moment lang grübelnd, bevor sie ins Nichts verschwand.

 

„Wieso … wieso ist er weg? Wo ist er hin??“ Atsushi war aufgesprungen und wie getrieben bis in den Flur gelaufen. Doch Dazai war längst über alle Berge.

„Dieser Idiot muss sich rausgeschlichen haben, während wir Ranpo zugehört haben“, hörte er Kunikida zähneknirschend sagen, als er wieder hereinkam.

„Verfolgt er einen eigenen Plan?“, fragte Joyce deutlich sorgenvoll „So wie damals? Als er auch alleine losgezogen ist?“

„Es ist bei ihm niemals so leicht zu sagen, was in seinem Kopf vorgeht“, entgegnete Kunikida erbost.

„Das ist unsinnig.“ Joyce schüttelte den Kopf. „Wenn er wirklich so klug wäre, müsste ihm doch klar sein, dass es schlauer wäre, Herrn Edogawas Plan zu verfolgen und nicht irgendwelche Alleingänge zu starten. Außer ...“ Er atmete aus. „Außer es geht ihm um diese Sache mit Mansfield.“

Atsushi zuckte zusammen, als er dies hörte und während er Dazais Nummer auf seinem Handy wählte. Wie wollte sein Mentor die Angelegenheit mit Mansfield klären? Sie war offensichtlich davon besessen, Rache für ihre getötete Familie zu nehmen; er würde sie bestimmt nicht dazu überreden können, davon abzulassen. Atsushi schluckte. Würde Dazai sich ihr ausliefern? Oder würde er auch Mansfield … nein. Oder? Nein. Aber …. Der Junge wusste nicht mehr, was er denken sollte. Zu allem Überfluss fischte Kyoka Dazais klingelndes Handy aus einem der Papierkörbe.

„Er will nicht, dass wir ihn finden.“

„Mist!“, entfuhr es Atsushi wütend.

Ja, das war das einzige, dessen er sich noch sicher war. Er war sauer auf Dazai. Stinksauer. Und damit war er nicht allein.

„Wir haben keine Zeit für ihn“, warf Kunikida mit einem gleichermaßen enttäuschten wie zornigen Unterton ein. „Inzwischen ist es mir egal, was er tut oder getan hat oder noch tun wird. Wenn er jetzt eine falsche Entscheidung trifft, werden wir ihm nicht mehr helfen. Wir haben genug eigene Probleme.“

Kunikidas harte Worte überraschten Atsushi dann doch. Er sprach ja fast so, als würde er Dazai nicht mehr als einen Teil der Detektei betrachten.

Fukuzawa war derweil in sich gegangen. Er hatte mit dem gleichen Entsetzen wie die anderen Dazais Fehlen bemerkt und musste sich nun zusammennehmen, nicht lauthals über sein Sorgenkind zu schimpfen.

Es war nicht einmal mehr wichtig, welchen Plan Dazai wohl verfolgte. Warum konnte er ihnen seine Überlegungen nicht mitteilen? Verheimlichte er noch mehr? Verfolgte er etwas ganz anderes?

Wie auch immer es war, eins stand fest:

Dazai war zu weit gegangen.

„Wir halten uns an Ranpos Plan“, verkündete der Chef mit fester Stimme. „Teilen wir uns auf.“

When I return a better me, you'll see that sorrow can set you free

When I return

A better me

You'll see that sorrow

Can set you free“

 

Placebo, „The Prodigal“

 

Chuuya Nakahara war alles andere als glücklich. Seit nunmehr zwei Wochen war sein Partner Osamu Dazai wie vom Erdboden verschluckt. Nun durfte man ihn an dieser Stelle auf gar keinen Fall falsch verstehen. Dass Dazai weg war, war bei weitem nichts Schlechtes, nein, im Gegenteil! DAS war etwas Gutes.

Zumindest in der Theorie.

Seit zwei Wochen hatte Chuuya jetzt Ruhe vor ihm, seinen Launen und seiner arroganten, überheblichen, spöttischen, gehässigen, gemeinen, durch und durch fiesen Art gehabt. Zwei Wochen, die für Chuuya das Paradies hätten sein können.

Zumindest in der Theorie.

Denn das Schicksal war so grausam gewesen, seines mit dem dieses durchgeknallten, verrückten, bescheuerten Spinners zu verweben und sie beide zu Partnern zu machen. Und als sein unfreiwilliger, notgedrungener Partner gehörte es zu Chuuyas Aufgaben, Dazai wiederzufinden. Auch - oder vor allem weil – der Boss der Hafen-Mafia es befohlen hatte.

Dazai war des Öfteren schon mal für einige Tage verschwunden gewesen, daran hatte sich nie jemand großartig gestört. Irgendwann war er immer wieder aufgetaucht und weiter seinen Aufgaben nachgekommen. So waren sie es gewohnt gewesen. Mori hatte deswegen auch noch nie einen Aufriss gemacht. Mehr als ein „Es wäre aber ärgerlich, wenn er nicht zurückkehren würde“ war ihm in dieser Hinsicht noch nie über die emotionslosen Lippen gekommen. Doch dieses Mal war Chuuya nach einiger Zeit in das Büro des Bosses beordert worden und zuerst danach gefragt worden, ob er etwas von Dazai gehört hätte und wüsste, wo dieser sich herumtrieb.

Mit einem mulmigen Gefühl im Innern hatte Chuuya dies alles verneint. Und dann war alles noch merkwürdiger gekommen.

Mori hatte ihn tatsächlich damit beauftragt, Dazai zu finden und wieder herzuschleifen. Möglichst zügig.

Ihn wieder herzuschleifen? Möglichst zügig?

Dem Rothaarigen war das mehr als seltsam vorgekommen.

„Warum?“

„Es ist wichtig. Man kann bei Dazai nie wissen, was er anstellt, wenn er nicht beaufsichtigt wird.“

„Machen Sie sich Sorgen um ihn?“

„Sorgen? Nein, nein, zumindest nicht um ihn.

Was für eine eigenartige Aussage war denn das gewesen? Chuuya hatte sich bereits dem Ausgang zugewandt, als ein plötzliches Gefühl ihn hatte stoppen und kehrtmachen lassen.

„Ist etwas vorgefallen?“

Er konnte sich bis heute an den Hauch von Überraschung im Gesicht des Bosses erinnern.

„Nun ja … etwas, das wohl viel gravierender gewesen sein könnte, als ich anfangs gedacht hatte.“ Mori hatte achselzuckend gelächelt und Chuuya mit keinen weiteren Informationen auf die Suche nach Dazai geschickt.

Ein paar Informanten und Mafiamitglieder später (dieser Akutagawa wurde erstaunlich redselig und aktiv, wenn er nur den Namen „Dazai“ hörte), hatte Chuuya eine erste Spur gefunden. Oder vielmehr: Er hatte die Antwort auf eine Frage, die er gar nicht gestellt hatte.

Sakunosuke Oda.

Dieser Oda war ein kleines Licht in der riesigen Organisation, ein klitzekleines Rädchen im Getriebe. Chuuya kannte ihn nicht näher, mit den untersten Lakaien hatte er praktisch nie zu tun. Aber er wusste, dass Dazai mit ihm befreundet war – was ihm aus zwei Gründen stets unerklärlich gewesen war. Erstens, weil er nicht verstehen konnte, was ein hochrangiges Führungsmitglied wohl mit so einem untergeordneten Laufburschen wollte, und zweitens – was viel schwerwiegender und schleierhafter war – wie jemand mit Dazai befreundet sein konnte. Dazai war vieles, aber sicher niemand, dem man irgendeine Eigenschaft zuschreiben konnte, die nötig war, um die Mindestkriterien für das Wort „Freund“ zu erfüllen. Mitfühlend? Ha ha, Chuuya lachte schon bei dem Gedanken. Ermutigend? Dazai lag meist selbst wie ein Schluck Wasser in der Kurve herum. Freundlich? Wenn er irgendetwas wollte, ja, dann konnte er meisterlich Freundlichkeit vorspielen. Loyal? Chuuya war sich sehr sicher, dass Dazai sie alle sofort verraten würde, wenn ihm danach wäre. Warum sollte jemand mit so einem Kerl befreundet sein? Und das auch noch freiwillig?

Soweit er das gehört hatte, hatte dieser Oda keinerlei Ambitionen, innerhalb der Mafia aufzusteigen. Er hatte sich also nicht an Dazai rangeschmissen, um daraus einen Nutzen zu ziehen. Sowieso schien es eh genau anders herum zu sein: Dazai war derjenige, der geradezu verrückt nach diesem Oda war. Er redete von ihm, als wäre er eine Art Übermensch, er hatte immer die beste Laune, wenn er sich darauf freute, ihn später noch treffen zu können. Es war beinahe ein wenig nervig geworden, die Geschichten über ihn hören. Man musste sich fast fragen, ob Dazai in eine Art Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Kerl geraten war.

Aber auch das war wieder seltsam.

Chuuya hatte das Gefühl, dass Dazai wie ausgewechselt war, wenn er von ihm sprach. Keine Kälte, keine Grausamkeit, keine Verlorenheit mehr. Sie waren alle wie weggeblasen, wenn die Rede von ihm war. Als hätte dieser Oda die Macht, Dazai menschlicher wirken zu lassen.

Zumindest teilweise und nur sehr, sehr kurzfristig.

Doch … trotzdem. Irgendetwas war da, was Chuuya sich nicht erklären konnte. Es hatte ihn bis jetzt auch nicht weiter interessiert. Bis jetzt. Denn jetzt war genau dieser Oda tot und Dazai verschwunden.

War Dazais sowieso fragile Psyche durch seinen Verlust endgültig zusammengebrochen? Hatte Dazai sich vielleicht wahrhaftig nach so vielen gescheiterten Versuchen das Leben genommen? Der rothaarige Mafioso musste bei diesem Gedanken immer und immer wieder schlucken. Wo steckte dieser hinterhältige, arglistige, heimtückische Dreckskerl? Und … war er am Leben?

Er hatte keinen Anhaltspunkt finden können, wo sein Partner hin verschwunden war. Nebenbei musste er natürlich auch noch die üblichen Aufgaben des Mafiageschäfts erledigen und fühlte sich von Tag zu Tag ausgelaugter. Würde Dazai ohne ein Wort des Abschieds gehen? Würde er einfach von der Erdoberfläche verschwinden, ohne dass er jemals erfahren würde, was aus ihm geworden war?

Chuuya fächerte sich mit seinem Hut erschöpft Luft zu, während er das mafiaeigene, kleine alte Lagerhaus betrat, in dem er sich um einige der Schmuggelaktivitäten der Organisation kümmerte. Er musste noch ein paar neue Zwischenhändler rekrutieren und dann auch noch die Bestellungen für das nächste Quartal überprü-

Abrupt blieb er im Eingang stehen und starrte zu dem Schreibtisch, an den er sich eigentlich hatte setzen wollen.

„Was zur …?“ Er wirkte, als hätte er einen Geist gesehen.

„Das sieht schrecklich langweilig aus, Chuuya, schrecklich langweilig. Wie kannst du dich nur mit so etwas beschäftigen?“ Dazai lümmelte auf seinem Stuhl herum und warf die vormals fein säuberlich sortierten Dokumente in die Luft.

Vollkommen entgeistert sah Chuuya ihnen dabei zu, wie sie zu Boden segelten.

„WO ZUR HÖLLE HAST DU GESTECKT?!“, entfuhr es ihm eine Sekunde später.

„Mal hier, mal da.“ Dazai drehte sich zu ihm und grinste süffisant.

„Was soll das für eine Antwort sein?!“ Der Rothaarige tobte vor Wut – ehe er von neuem innehielt. Konnte er da gerade in beide Augen dieses Schreckgespenstes sehen? Er kannte ihn nur mit dem Wickel um das rechte Auge. Das … das war ein wirklich ungewohnter Anblick.

„Ernsthaft, Dazai, wo warst du? Mori ist mittlerweile schon richtig angefressen, weil du so lange abgetaucht bist.“

Statt einer Antwort erhielt er ein glucksendes Lachen.

„Und was ist jetzt so lustig?“ Chuuya spürte, wie seine Nerven umgehend wieder angesägt wurden.

„Mori ist angefressen, ja?“ Dazai lachte weiter und es klang mit jeder Sekunde unheimlicher. „Der arme Mann! Vielleicht sollte ich ihn von seinem Leid erlösen? Was meinst du? Sollte ich?“

Mit skeptischem Blick trat Chuuya achtsam näher. Er kannte Dazai schon so lange, es war ihm ein Leichtes zu merken, wenn etwas mit ihm nicht stimmte.

„Bist du betrunken?“

Seine Frage schien den Brünetten noch mehr zu amüsieren, denn er lachte noch lauter. „Vielleicht. Ich weiß es nicht so genau.“

Beunruhigt musterte Chuuya ihn. „Was ist passiert?“

Dazai stellte das Lachen jäh ab und starrte mit leerem Blick zu seinem Partner. „Zu viel. Und zu wenig.“

Dieser Anblick ließ Chuuya schwer schlucken. Natürlich war es ihm egal, was mit diesem Trottel war oder wie es ihm ging (war doch nicht sein Problem!) und doch fühlte er sich mit einem Mal schrecklich hilflos. Was war mit Dazai? Was sollte er tun?

„Ist es wegen diesem O-“

„Das ist langweilig, Chuuya!“, plärrte Dazai ihm plötzlich euphorisch dazwischen. „Lass uns etwas Lustiges machen!“

„Häh? Was?“

„Oh, weißt du, was lustig wäre?“ Dazai war aufgesprungen und wibbelte wie ein kleines Kind aufgeregt hin und her.

So einen krassen Stimmungswechsel hatte er noch nie erlebt. Das war nicht gut. Nichts daran war gut. Dazai hatte entweder den Verstand verloren oder war auf irgendwelchen harten Drogen. Oder beides. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in Chuuyas Innerem aus.

„Zu Mori zu gehen und ihn zu fragen, ob er dich mal durchchecken kann? Du musst doch selbst merken, dass du noch mehr daneben bist als sonst, oder?“

„Huh? Nein.“ Dazai schüttelte entrüstet den Kopf. „Obwohl du nicht ganz falsch liegst. Zu Mori zu gehen, ist richtig.“

„Um dann was zu tun?“

„Ihn zu töten!“

Der Mafioso spürte seine Kinnlade nach unten schnellen. Hatte Dazai das gerade wirklich gesagt? Nein, unmöglich. Dazai war Moris rechte Hand. Warum sollte er so etwas sagen? Das war selbst für einen Scherz von Dazai zu makaber.

„Hörst du, was du da von dir gibst, du Spatzenhirn? Komm lieber wieder schnell zu dir, sonst nimmt noch jemand ernst, was du da sagst.“

Erneut wurde Dazai schlagartig ganz ruhig, als hätte ihn plötzlich etwas in seinen Grundfesten erschüttert. „Die Lage ist ernst, Chuuya. Die Lage ist schrecklich, schrecklich ernst.“

„Was … hey!“ Chuuya sah ihm dabei zu, wie er an ihm vorbeiging und das Lagerhaus verließ. Noch Jahre später würde der Rothaarige sich fragen, ob es klüger gewesen wäre, ihn an dieser Stelle aufzuhalten und ihm eine reinzuhauen.

 

Dazais letzte Tage bei der Hafen-Mafia wurden für die stolze Organisation zu einem reinen Höllentrip. Chuuya hatte Dazais Fantastereien bezüglich der Ermordung Moris zunächst nicht gemeldet, doch er bereute seine Entscheidung bald. Erst hatte es so geschienen, als wäre Dazai ganz normal in den Dienst zurückkehrt. Er hatte sich zu irgendwelchen Operationen auf den neusten Stand bringen lassen, Befehle erteilt und kein Wort mehr darüber verloren, den Boss töten zu wollen.

Aber dann endete jede von ihm geplante Operation in einer Katastrophe, sämtliche Befehle stellten sich als widersprüchlich heraus und während alles den Bach hinunterging, war Dazai stets nicht zu erreichen.

Mori ließ den brünetten Wirrkopf zu sich kommen und das unheilvolle Wort „Befehlsverweigerung“ waberte durch die Hallen der schwarzen Türme. Dazai wusste doch, welche Strafe darauf stand. Wollte er das wirklich riskieren? Chuuya selbst war bei dem Gespräch zwischen seinem Partner und dem Boss nicht dabei gewesen, doch Hirotsu erzählte ihm später, während er sich angestrengt die Schläfen rieb, dass sie gewiss bald ein großes Problem bekommen würden.

„Ihr kennt euch schon lange“, hatte Hirotsu mit bleischwerer Stimme gesagt. „Wenn es zum schlimmsten kommt, wärst du bereit, ihn auszuschalten?“

„Wir sind keine Freunde, falls du das denkst, alter Mann“, war Chuuyas einzige und ziemlich verbitterte Antwort gewesen.

Als würde Dazai die Hafen-Mafia verraten! Er spann im Moment noch mehr als sonst, das stimmte schon, aber Dazai war die Personifizierung der Mafia. Er war gefühllos, eiskalt, berechnend, brutal, mitunter wahnsinnig und durch und durch von einer boshaften Finsternis ausgefüllt. Wo sollte so jemand sonst hin? Er hatte niemanden außerhalb dieser Mauern; es würde niemand kommen, um ihm zu helfen. Nein, Chuuya konnte sich nicht vorstellen, dass es so enden würde. Aber wenn doch, dann wüsste er, wem seine Loyalität galt und wem nicht. Dazai hatte ihm nichts als Verderben gebracht, Mori und die Hafen-Mafia waren sein Weg aus dem Verderben.

Auf dem Weg zu seinem Wagen fing Chuuya an zu grübeln.

Dazai hatte auch andere Seiten, welche, die er nicht verstand und die den eigenwilligen Selbstmordfanatiker wie einen völlig anderen Menschen erschienen ließen. Der Rotschopf erinnerte sich an seine letzte Begegnung mit ihm in dem kleinen Lagerhaus. Dazai hatte irgendwie so … so … verletzlich gewirkt. Als würde er leiden. Ja, oft schon war dieser Gedanke Chuuya in den Sinn gekommen. Dazai litt.

Er hielt kurz inne, bevor er die Wagentür öffnete.

Was interessierte ihn das denn?! Wegen Dazai war sein Leben die reinste Hölle, es konnte ihm doch wirklich egal sein, was in den düsteren, verwinkelten Gängen im Hirn dieses Mistkerls vorging!

Chuuya stieg in den Wagen und schlug erbost die Tür zu.

Dazai würde ihm sowieso nicht verraten, was wahrhaftig in ihm vorging. Er würde ihm wahrscheinlich dreist ins Gesicht lügen oder irgendeinen Vorteil daraus zu ziehen versuchen. Aber vielleicht sollte er trotzdem einmal … hm?

Was war das für ein Geräusch?

Ein Ticken?

Wie seltsam. Was sollte denn im Innern seines Autos ticke-

Chuuya riss erschrocken die Augen auf und gleich darauf die Tür. Mit einem hastigen Satz sprang er aus dem Wagen und stieß sich so schnell und so weit wie möglich von dem Fahrzeug weg – das nur eine Sekunde später mit einem ohrenbetäubenden Knall in Flammen aufging.

War da gerade wirklich sein verdammter Wagen explodiert?!

 

Als Chuuya Nakahara eine gefühlte Ewigkeit später davon erfuhr, dass Dazai nun zu den bewaffneten Detektiven gehörte, hielt er das zunächst für einen schlechten Scherz.

Einen sehr schlechten.

Die bewaffneten Detektive waren eine lästige Ansammlung von Spinnern, die sich dazu berufen fühlten, für Recht und Ordnung zu sorgen. Den Menschen zu helfen. Das wäre Chuuya ja alles recht egal, wenn sie dadurch nicht immer wieder den Aktivitäten der Hafen-Mafia in die Quere kämen. Dieser Fukuzawa war mehr oder weniger der erklärte Todfeind des Bosses und diesem selbsternannten Meisterdetektiv hätte Chuuya schon bereits mehrmals am liebsten höchstpersönlich den Hals umgedreht. Von dem Typen, der immer mit einem Buch herumlief, auf dem ernsthaft das Wort „Ideale“ stand und der durchgeknallten Ärztin, die Mori lieber bei sich behalten hätte, fing er lieber erst gar nicht an. Und dann tauchte Dazai, ausgerechnet Dazai, nach so langer Zeit wieder auf und gesellte sich zu diesen bekloppten Weltverbesserern.

Ausgerechnet Dazai.

Wie in aller Welt war der da gelandet?

Was in aller Welt machte der da?

Es war dem Mafioso ein Rätsel, dass die bewaffneten Detektive Dazai überhaupt aufgenommen hatten. Und es war ihm ein noch größeres Rätsel, dass sie ihn noch nicht wieder vor die Tür gesetzt hatten. Dazai war trickreich. Vielleicht spielte er ihnen sehr überzeugend etwas vor. Oder dieser Fukuzawa erhoffte sich von ihm irgendeinen Vorteil im Kampf gegen die Hafen-Mafia. Aber würde er es dafür riskieren, einem gemeingefährlichen Schwerverbrecher Unterschlupf zu gewähren? Es gab doch keine Garantie dafür, dass Dazai nicht so weitermachen würde, wie er es bei der Hafen-Mafia getan hatte. Es machte für Chuuya alles nicht so recht Sinn.

Von da an schlichen sich bei jeder Begegnung mit Dazai Zweifel an sich und seiner Wahrnehmung bei ihm ein.

Wer war dieser Kerl, der ihm da gegenüberstand? Das war doch nicht Dazai. Das war nicht der Dazai, den er kennengelernt hatte. Wer auch immer dieser Mensch war, er wirkte gelöster und mehr mit sich im Reinen als Dazai es all die Jahre bei der Hafen-Mafia getan hatte.

Es verwunderte Chuuya zutiefst – und machte ihn stinkwütend.

Er konnte nicht nicht einmal mehr sagen, was er mehr wollte: Zu wissen, wer Dazai in Wahrheit war oder diesen gestörten, hirnverbrannten, völlig abgedrehten Verräter einen Kopf kürzer zu machen.

Andererseits, fand Chuuya für sich die perfekte Lösung, musste es ja kein Oder geben.

Nein, eines schönen Tages würde er erst aus ihm herausprügeln, was zur Hölle in seinem irren Kopf vorging und dann würde er ihn kaltmachen. Und das dämliche Büro der bewaffneten Detektive gleich mit. Was für Idioten! Mit denen hatte man am besten so wenig wie möglich zu tun. Ja! Das war ein zufriedenstellender Plan.

Zumindest in der Theorie.

There is no running that can hide you

There is no running that can hide you“

 

Placebo, „Infra-red“

 

Shaw wartete mit nervösem Blick und ebenso nervösem Gehabe in einer dunklen, schmalen Gasse zwischen zwei heruntergekommenen Lagerhäusern. Es war nicht mehr lange, bis die Sonne aufging und er hatte keine Lust im Hellen hier gesehen zu werden. Egal von wem. Während Eliza Dazai zu ihm führte, warf sie dem Detektiv ununterbrochen garstige Blicke zu und achtete penibel darauf, ihm nicht zu nahe zu kommen.

„Ich sagte doch, es war ein Versehen.“ Ungeniert und unbekümmert schritt Dazai hinter der angesäuerten Fähigkeit her.

„Wenn du mich noch einmal berührst, hole ich auf der Stelle Katherine her!“

Was so frivol klang, hatte einen eigentlich harmlosen Hintergrund. Als Eliza wieder vor dem Detektiv aufgetaucht war, um ihn zu Shaw zu geleiten, hatte Dazai ihr dankend auf die Schulter geklopft – wodurch sie sich in Luft aufgelöst hatte. Sie war im Handumdrehen zwar wieder aufgetaucht, doch seitdem nicht allzu gut auf ihn zu sprechen.

„Herr Shaw nehme ich an?“, begrüßte Dazai den übellaunig dreinblickenden Iren überschwänglich. „Vielen Dank, dass Sie mich empfangen.“

„Was wollen Sie?“, gab dieser sofort barsch zurück. „Und bleiben Sie da stehen. Ich kenne Ihre Fähigkeit. Wenn Sie auch nur einen Zentimeter näher kommen, ist das Gespräch beendet.“

Dazai hielt an, lächelte entschuldigend und hob kurz seine Hände aus seinen Taschen, um seinem Gegenüber zu zeigen, dass er nichts Hinterlistiges vorhatte.

„Ich dachte, Eliza hätte Ihnen-“

„Ja ja, sie hat mir gesagt, Sie wären an Hallwards Erfindung und an einer Zusammenarbeit mit mir interessiert? Das ist jawohl lächerlich. Soll das eine Falle sein?“

Der Braunschopf stutzte und schüttelte den Kopf. „Keinesfalls! Aber da Ihre Kollegin Mansfield hinter mir her ist – und leider nicht so, wie es mir bei Frauen am liebsten ist – muss ich … umdisponieren. Außerdem bin ich von Natur aus sehr neugierig und ein solcher Apparat weckt daher unweigerlich mein Interesse.“

Shaws analytischer Blick musterte ihn von oben bis unten. Erzählte der Detektiv die Wahrheit? Er hatte sich eigentlich überhaupt nicht auf dieses Treffen einlassen wollen, aber ein Kommentar von Wilde hatte ihn zum Umdenken gebracht.

Osamu Dazai hat Interesse an Basils Erfindung?“

„Scheinbar. Das könnte aber auch eine List des Büros sein.“

Eine List? Oh Georgie, weiß du denn nicht, wer Osamu Dazai ist?“

„Einer der Detektive.“

„Hah! Das ist ja nicht einmal ein Viertel der Wahrheit. Dieser Mistkerl hat zwei meiner Freunde auf dem Gewissen. Und nicht nur die! Seine Zugehörigkeit zu den bewaffneten Detektiven ist mehr Schein als Sein. Mehr eine Farce, wenn du mich fragst. Er ist ein kluger, aber boshafter Kopf. Er schenkt sein Können immer demjenigen, der ihm gerade von Vorteil ist. Wenn ich so darüber nachdenke, hat er sehr viel mit Henry gemein.“

„Sie wollen also Ihren Kopf retten, indem Sie uns Ihre Dienste anbieten?“

„Das bringt es auf den Punkt, ja.“ Hinter Dazais Lächeln verbarg sich etwas Düsteres. „Kommen wir ins Geschäft?“

Shaw zögerte. „Das kann ich nicht allein entscheiden.“

„Um Frau Mansfield kann ich mich kümmern, wenn das das Problem ist.“

Eliza und ihr Anwender waren über diesen beiläufigen Vorschlag sichtlich schockiert.

„Du willst sie töten?“, fragte die Fähigkeit irritiert.

Dazai zuckte mit den Schultern. „Ich denke, ich wäre ein mehr als adäquater Ersatz für sie. Nach dem, was ich gehört habe, kann ihre Fähigkeit mithilfe spezieller Münzen und im Austausch für etwas anderes Dinge auslöschen? Ich will das Talent Ihrer Gehilfin nicht kleinreden, aber ich glaube, ich bin trotzdem wertvoller für Sie. Die Detektive wissen nicht, dass ich mit Ihnen rede. Es wäre also ein Leichtes für mich, an dieses fehlende Teil zu kommen, wenn meine lieben Kollegen es erst einmal gefunden haben.“

„Das kann ich auch!“, tönte Eliza patzig.

Merklich in Gedanken versunken, ließ Shaw sich Dazais Vorschlag durch den Kopf gehen. „Es könnte wirklich von Vorteil sein, Sie dabei zu haben.“

„Meine Rede!“, frohlockte Dazai überschäumend.

„Auf diese Weise könnte man weiteres Blutvergießen verhindern. Und auch Frau Mansfield muss nicht unbedingt den Tod finden. Ich würde mir da eine andere Lösung überlegen.“

„Dann sind wir endlich im Geschäft?“

Zu Dazais Verwunderung stimmte Shaw ihm nicht zu.

„Es … wie gesagt, ich muss das noch abklären. Warten Sie hier. Eliza, pass auf ihn auf.“

Die übernatürliche Frau nickte energisch und beide sahen zu, wie Shaw in der nächsten Gasse verschwand.

„Wo will er denn hin?“, fragte Dazai Eliza und sie antwortete unbedarft.

„Telefonieren.“

„Mansfield hätte er doch ruhig in meinem Beisein anrufen können.“

„Sie schon, aber ihn nicht.“

„Ihn?“

Eliza schreckte zusammen. Zornig funkelte sie ihn an. „Das musst du nicht wissen. Aber ich will endlich wissen, wie Mori aussieht. Du hast es mir versprochen!“

Dazai lächelte amüsiert. „Als könnte ich einer so schönen Frau etwas abschlagen.“

 

„Dazai ist doch immer wieder für eine Überraschung gut.“ Koyo wandte sich kichernd Mori zu. „Wer hätte gedacht, dass er solche Ambitionen hat?“

Gefasst lächelnd erwiderte der Boss der Hafen-Mafia den Blick der Frau. „Mit ihm wird es nie langweilig, das ist wohl wahr.“

Umgeben von seinen treusten Untergebenen, hielt sich Mori an einem streng geheimen Ort auf. Koyo, Kajii, Chuuya, Akutagawa, Higuchi und die Schwarze Echse hatten ihn in diesen unterirdischen Sicherheitsraum begleitet. Obwohl draußen bald die Sonne aufging und einen neuen hochsommerlichen Tag versprach, war es hier unten, abgeschottet von der Außenwelt, düster und kühl.

„Denken Sie wirklich, er wird sich mit diesen Fremden zusammentun, um Sie zu töten?“ Man konnte Higuchis Stimme anmerken, dass ihr das weit hergeholt vorkam.

„Deswegen sind wir in diesem Raum“, antwortete Chuuya an Moris Stelle, „diesen Neubau kennt Dazai nicht.“

„Und jetzt verstecken wir den Boss, bis die aufgeben, oder wie?“ Tachihara schien nicht überzeugt von diesem Plan zu sein.

„Verstecken ist so ein unschönes Wort“, antwortete Mori. „Wir warten erst einmal ab, bis wir Neuigkeiten von der Vorhut erhalten.“

„Häh, welche Vorhut?“

Koyo lachte hinter vorgehaltener Hand. „Naivität ist nicht immer liebreizend, Tachihara. Ist es nicht offensichtlich, wer die Feinde dezimieren soll?“

„Die bewaffneten Detektive“, brummte Akutagawa und sah aus dem Augenwinkel zu Kajii, der mit einem selbstgebastelten, abhörsicheren Funkgerät den Kontakt zur Außenwelt hielt. Das Ding sah aus wie aus einem schlechten, unterfinanzierten Science-Fiction-Film.

„Sollten unsere Versuchsobjekte von der Detektei erneut angegriffen werden, werden wir durch das Wunder der Wissenschaft und seinen menschlichen Gehilfen davon in Kenntnis gesetzt und auf dem Laufenden gehalten. Niemand kann uns aufspüren, doch wir spüren alle Geheimnisse der Welt auf! Und sollte sich jemand diesem Raum nähern, dann werden wunderschöne, umwerfende Explosionen uns vorwarnen und die Eindringlinge-“

„Ja! Ja! Wir haben es verstanden!“ Chuuyas Laune war genauso unterirdisch wie ihr Standort. „Du hast ein kompliziertes Funkgerät gebastelt und draußen Bomben angebracht! Wie du es auch solltest! Halt jetzt endlich den Mund!“

Sichtlich bedröppelt streichelte Kajii nun stillschweigend sein Funkgerät.

„Wir hoffen also darauf, dass das Detektivbüro die Angelegenheit für uns klärt?“ Higuchi sah enttäuscht aus.

„Ich bitte dich, wo bliebe da unser Stolz?“ Mori deutete ein Kopfschütteln an. „Wofür sind sie denn schließlich Detektive? Es gehört zu ihrer Arbeit Informationen zu sammeln. Wenn diese am Ende uns nützen, tut ihnen das auch nicht weh.“

„Hat noch jemand das Gefühl, da fehlte ein 'leider' am Schluss?“, raunte Tachihara der achselzuckenden Gin zu.

„Wenn ich so frei sein dürfte, dies zu fragen, Boss“, begann Hirotsu ernst, „wer ist dieser Shaw, den Dazai Chuuya gegenüber erwähnt hat?“

Moris sowieso kaltes Lächeln wurde noch unterkühlter. Selbst wenn er nervös war, was Hirotsu die ganze Zeit bereits vermutete, ließ er sich dies dennoch nicht weiter anmerken. Die Fassung formvollendet bewahrend, schmunzelte er bitterböse.

„George Bernard Shaw“, erzählte er dann mit genau diesem Schmunzeln im Gesicht, „war ein ausländischer Spion, der vom japanischen Militär aufgegriffen worden war. Nun ja, er selbst stritt natürlich ab, ein Spion zu sein, aber während des Krieges sahen die Befehlshaber das anders – und so kam er in meine … Obhut.“ Mori machte eine kurze Pause, in der er in die Runde blickte, um zu sehen, ob jeder ihm folgen konnte. Ihre teils entgeisterten Mienen (Higuchi und Tachihara lief sichtlich ein Schauer über den Rücken) bestätigten ihm, dass sie dies konnten.

„Da er Ire war“, fuhr Mori fort, „und Irland damals gezwungenermaßen mit Großbritannien kollaborierte, erhofften sie sich wohl irgendwelche brauchbaren Informationen von ihm. Er war ein interessanter Mann. Obwohl er eindeutig keine militärische Ausbildung oder sonst etwas in dieser Richtung genossen hatte, hat er erstaunlich lange durchgehalten.“ Der Boss blickte amüsiert drein, als er sich erinnerte. „Als er dann doch irgendwann zerbrach, bot er in seiner Verzweiflung seine Dienste der Dechiffrierabteilung an. Ein unglaublich gebildeter Mann. Er konnte sogar Handschriften aufs Genaueste kopieren. Irgendwann bin ich leider von diesem Fall abgezogen worden, aber ich hörte, er hätte seine Kameraden später wohl doch noch verraten. Ein Jammer, dass ich das verpasst habe.“

„Wurde er daraufhin freigelassen?“, hakte Koyo nach. Sie und Hirotsu kannten Mori als einzige schon so lange, dass sie nichts mehr schocken konnte. Der Rest der Hafen-Mafia starrte entweder mit großen Augen oder mit noch ernsterer Miene als sonst zu ihrem Anführer.

Mori schüttelte sacht den Kopf. „Nein. Und dank Dazai weiß ich nun endlich, wie er damals entkommen ist. Fähigkeiten sind doch etwas Erstaunliches. Sie muss erwacht sein, während er in Gefangenschaft war. Diese Eliza hat damals also die Wachen niedergemetzelt. Eine Fähigkeit, die meinem bezaubernden Elisechen ähnelt. Diese Ironie hat etwas Belustigendes, oder?“

„Hat sie?“ Tachihara zog kritisch eine Augenbraue nach oben. „Wir hatten gedacht, wir hätten sie mit Hirotsus Angriff gekillt, aber die Alte lebt noch, weil sie eine verdammte Fähigkeit ist. Wie killen wir eine Fähigkeit?“

„Fähigkeiten lassen sich nicht töten“, stellte Akutagawa unumwunden fest, „nur die Befähigten, die sie kontrollieren.“

„Das heißt, wir müssen diesen Shaw töten“, schlussfolgerte Higuchi. „Aber der würde dann seine Fähigkeit einsetzen, um uns davon abzuhalten.“

„Deswegen ist es von Vorteil, dass die Detektive involviert sind“, sagte Mori. „Ich habe keine Ahnung, warum Shaw auch hinter unseren alten Freunden her ist, aber es könnte uns von Nutzen sein.“

Chuuya knirschte mit den Zähnen. „Diese Iren von damals sind auch irgendwie daran beteiligt. Zumindest der eine Typ mit seinem dämlichen Lehm ist von unseren Leuten bei ihnen gesehen worden.“

Zum Glück nicht der andere“, schoben er und Akutagawa unisono nuschelnd hinterher.

Ohne dies nach außen zu zeigen, grübelte Mori innerlich. War Shaw heimlich nach Yokohama gekommen, nur um ihn zu töten? Das erschien ihm unwahrscheinlich. Denn warum griff Eliza die bewaffneten Detektive an? Er konnte sich nicht vorstellen, dass Fukuzawa damals mit Shaw zu tun gehabt hatte. Fukuzawa war ein schnöder (wenn auch erstklassiger) Auftragskiller gewesen und war wahrscheinlich selbst damals schon zu tugendhaft gewesen, um mit der Folterabteilung (Befragungsabteilung, korrigierte er in Gedanken schmunzelnd) in Berührung zu kommen. Mori selbst war nur in Härtefällen dahin abkommandiert worden. Was ging hier also in Wahrheit vor sich? Die Iren … ob da der Schlüssel zum Verständnis lag? Die Detektei wusste mehr über diese beiden komischen Gestalten als sie es taten.

Gin zuckte plötzlich zusammen und alarmierte damit alle.

„Ein eisiger Lufthauch“, sagte Akutagawa in die aufgeschreckte Stille hinein.

„Das kann nicht sein“, widersprach Kajii, „die Temperatur in diesem Raum bleibt immer glei-“

Er brach ab, als vor ihm mit einem Mal eine Frau mit mattbraunen Haaren stand. Ihr verwunderter Blick wanderte von einem Mafioso zum nächsten und verfinsterte sich, als sie die Schwarze Echse wiedererkannte. Dann fiel ihr Blick auf Mori – und glich schlagartig dem einer Wahnsinnigen.

„Du! Du bist Ogai Mori!“

„Boss, das ist sie!“, rief Tachihara, seine Waffen ziehend, doch im nächsten Augenblick feuerte Eliza mit einem ebenso aus dem Nichts gekommenen Revolver bereits auf ihn und traf ihn in die Schulter. Schreiend stürzte er zu Boden, während Gin ihre Messer zückte und Rashomon die übernatürliche Frau festhielt. Kurz davon irritiert, fluchte Eliza und löste sich in Luft auf, noch bevor Gin sie erreichen konnte.

„Ist sie wieder verschwunden?“ Koyo suchte mit den Augen den Raum ab, während Higuchi ein Taschentuch auf Tachiharas blutende Wunde drückte.

„Was soll die Scheiße?!“, zeterte Chuuya. „Wo ist ihr Anwender?!“

Hektisch drehte Kajii an irgendwelchen Knöpfen seines Apparates. „Das ist unmöglich. Die Sensoren erfassen in der gesamten Umgebung keinen einzigen Menschen.“

„Das kann aber doch nicht sei-“ Chuuya stoppte, als Eliza plötzlich vor ihm stand und ohne Umschweife ihre Waffe von neuem abfeuerte. Der Rotschopf hatte dank seiner Fähigkeit keine Probleme die Kugeln abzufangen, was den Eindringling abermals fuchsteufelswild machte.

„Argh! Was soll das?! Ich will doch nur Mori töten!!“

„Da haben wir etwas dagegen, meine Liebe.“ Koyos Goldfarbiger Dämon erschien ebenso plötzlich und traf die überraschte Eliza fatal mit seinem Schwerthieb. Sie löste sich auf und tauchte nur wenige Sekunden später unversehrt hinter Koyo auf und eröffnete einen Kugelhagel auf diese. Goldfarbiger Dämon ging dazwischen und musste daraufhin den Rückzug antreten. Akutagawa ließ ein Schild mit Rashomon entstehen, sodass Koyo nicht getroffen wurde.

„Hört auf damit!!“, wütete Eliza. „Warum macht ihr es mir so schwer?! Ich habe endlich Mori gefunden! Ich muss ihn töten, bevor George mich zurückruft!“ Sich abermals auflösend, erschien sie nun vor Higuchi und schoss auf sie. Geistesgegenwärtig sprang die Mafiafrau zur Seite, doch die Kugel erwischte sie trotzdem am Oberarm. Rashomons Bänder schossen aus der Entfernung auf die Angreiferin zu, während Gin von der anderen Seite erneut versuchte, sie zu erreichen. Eliza verschwand und Akutagawa brach seinen Angriff panisch ab, da er beinahe seine Schwester damit getroffen hätte.

Dieses Mal materialisierte Eliza sich direkt vor Mori, aber ihre Freude darüber wurde blitzschnell von einer Attacke Hirotsus getrübt. Seine Fähigkeit schleuderte sie mit voller Kraft durch den Raum, sodass sie ungebremst in eine der Wände hineindonnerte und zu Boden fiel.

Sie raffte sich wieder auf und schüttelte sich, so als wäre sie nur gestolpert.

„Nimmt das kein Ende?“ Ratlos sah Chuuya von der Fähigkeit zu seinem Boss. „Physische Angriffe machen ihr nichts aus.“

Zu seinem Entsetzen antwortete Mori lediglich mit einem nachdenklichen „Hm.“

„Wenn ich euch alle töten muss, um Mori zu töten, dann ist das wohl so. Das wird George sicher verstehen, nicht wahr?“ Eliza löste sich wieder in Luft auf. Für eine paar endlos lange Sekunden passierte gar nichts und die noch stehenden Mafiamitglieder ließen rastlos ihre Augen durch den Raum schnellen.

Dann ging es ganz schnell.

Zuerst rammte Eliza Hirotsu hinterrücks ein Kurzschwert in den Körper, dann erschien sie hinter Gin und feuerte auf sie. Hätte die Dunkelhaarige aufgrund ihrer Tätigkeit als Assassine nicht einen siebten Sinn, sie wäre wie Tanizaki in den Rücken getroffen worden. Doch so konnte sie knapp ausweichen und wurde lediglich am Oberschenkel erwischt. Kajii bekam eine Kugel in den Bauch ab. Mit jedem Mal schien Eliza schneller und treffsicherer zu werden.

Chuuya, Akutagawa und Koyo stellten sich zügig um Mori auf, dessen Mimik nicht mehr teilnahmslos wirkte. Er war berechnend und kaltherzig, ja, aber dass sie all seine Leute vor seinen Augen verwundete, ging auch an ihm nicht spurlos vorüber. Rashomon, Goldfarbiger Dämon und die Aura von Chuuyas Gravitationsveränderung waberten bedrohlich zwischen Eliza und den verbliebenen Mafiosi. Die Fähigkeit hatte gemerkt, dass an ihnen kein leichtes Vorbeikommen war und biss sich verärgert auf die Lippe.

„Ich mag es gar nicht gerne, wenn jemand meinem Rintaro zu nahe kommt.“

Die Stimme eines kleinen Mädchens ließ Eliza aufgeschreckt zur Seite blicken.

Elise stand dort, die Arme vor der Brust verschränkt und ein schmollendes Gesicht ziehend.

„Kannst du mir mal verraten, wie lange du hier noch herumballern willst?“ Elise klang sauer. „Rintaro hat so ja überhaupt keine Zeit für mich. Ist dein Magazin nicht bald mal leer?“

„Leer?“ Eliza schüttelte den Kopf. „Es geht niemals leer. Ich habe diese Waffen, seit George sie mir damals gegeben hat. Und Waffen, die George mir einmal gegeben hat, kann ich immer wieder benutzen.“

„Ach ja?“ Das kleine Mädchen gab sich unbeeindruckt. „Das heißt, du hast nur irgendeinen uralten Kram bei dir?“

„Das ist kein uralter Kram!“, wetterte Eliza empört. „Diesen Revolver hier habe ich damals einem der Wachen abgenommen, nachdem George sich gewünscht hatte, er könnte die schreckliche Zelle endlich verlassen. Und dann habe ich alle Wachen damit getötet.“ Eliza erzählte dies, als wäre es eine schöne, wertvolle Erinnerung.

„Rintaro hat immer gesagt, die Zellen könnten noch viel schlimmer sein. Dein George hat sich wahrscheinlich einfach nur angestellt.“

„Nein! George war furchtbar traurig und einsam so ganz allein in diesem dunklen Loch! Deswegen hat er sich auch so gefreut, als ich aufgetaucht bin und ihm Gesellschaft geleistet habe. Er hat mir gesagt, dass das der schönste Tag in seinem Leben gewesen ist!“

„Und warum tauchst du dann erst jetzt auf, um Rintaro zu töten?“

„Weil ich ihm doch nie begegnet bin und nicht wusste, wie er aussieht! Und George konnte sich nicht an sein Gesicht erinnern. Ich habe ihn irgendwann auch nicht mehr fragen wollen, weil es ihm so weh getan hat, sich daran zu erinnern.“

„Dazai“, zischte Chuuya erbost in das Streitgespräch der beiden Damen rein, „der Mistkerl hat uns ernsthaft an diese Irre verraten.“

Nach Chuuyas Feststellung drehte Eliza sich ihnen wieder zu. „Jetzt lasst mich endlich durch!“ Sie hob beide Hände, in denen sich nun je eine Pistole befand und richtete sie auf die Gruppe vor sich. Die drei, die den Boss beschützten, hielten vor Anspannung den Atem an und auch Elise schien sich vorzubereiten.

Dann, plötzlich -

zuckte Eliza erschrocken zusammen und löste sich in Luft auf.

Für einige Sekunden verharrten alle in ihrer Position, bis sie sich sicher waren, dass die Fähigkeit dieses Mal nicht zurückkehrte.

Mori atmete aus. „Holt Verstärkung, die Verletzten müssen versorgt werden.“

Akutagawa und Koyo verließen auf den Befehl hin rasch das Versteck, während der Boss selbst die Wunden musterte. Keiner war in akuter Lebensgefahr, aber eine einzelne Fähigkeit hatte seine Topleute so schnell und einfach dezimiert.

„Diese Eliza“, sagte Mori und klang dabei fast ein wenig bewundernd, „ist wie eine allmächtige Version von Elise. Sie handelt eigenständig. Shaw muss nicht einmal in der Nähe sein.“

„Soll das heißen, ich hätte einen Makel?“ Das Mädchen schmollte noch mehr als zuvor, was ihren Anwender lachend den Kopf schütteln ließ.

„Oh nein, gewiss nicht. Du hast deine Arbeit tadellos erledigt, mein wundervolles Elisechen. Du hast sie perfekt hingehalten und ihr Informationen entlockt.“

„Sie wird wiederkommen“, mahnte Chuuya ernst an.

„Ich weiß.“ Mori seufzte. „Es hilft nichts. Uns bleibt nur ein Ausweg. Ein sehr leidiger, wenn du mich fragst.“

Der Rotschopf schaute fragend zu seinem Vorgesetzten, der sein Handy zückte und eine Nummer wählte. Am anderen Ende der Leitung wurde scheinbar abgenommen.

„Ich weiß, dass es gerade nicht passt, alter Freund. Aber wir haben ein sehr ähnliches Problem und wir haben doch beide ein großes Interesse daran, keinen unserer Mitarbeiter an diese Fähigkeit zu verlieren, nicht wahr?“

Chuuya hörte dem Gespräch stutzend zu. Mit wem redete der Boss da? Wieso bekam er so ein komisches Gefühl in der Magengegend?

„Wir sollten ein paar Informationen austauschen“, fuhr Mori nicht weniger kryptisch fort. „Mein Liebling hat ein paar Dinge herausgefunden, die Ihrem Liebling sicher helfen würden.“

Häh?

Chuuya konnte sich seine plötzlich einsetzenden Magenschmerzen nicht erklären.

 

Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, als Ranpo anfing, den Besitzer des Theaters anzumeckern.

„Na endlich! Was hat denn da so lange gedauert? Welchen Teil von 'dringend' verstehen Sie nicht? 'Dring' oder 'end'?“

„Äh, Ranpo“, warf Poe verlegen von der Seite ein, „ich weiß nicht, ob uns das hilft, wenn du den Mann beleidigst ...“

„Tut es mit Sicherheit nicht.“ Atsushi seufzte. Irgendwie war er die Launen des Meisterdetektivs schon mehr als gewohnt. Es hatte wohl auch nicht geholfen, dass Poe sie hergefahren hatte und der scheue Amerikaner einen eher gemächlichen (er nannte es „vorausschauenden“) Fahrstil bevorzugte. Ranpos motziges „Auf dem Rückweg fährt Kyoka!!“ hallte immer noch in seinen Ohren nach.

Er konnte ihn ja irgendwie verstehen. Ihr Plan war nicht ungefährlich, ach was, ihre ganze Lage war höchst gefährlich und der, den sie am nötigsten brauchten, war unauffindbar. Wenn sie Shaw fanden und Dazai bis dahin nicht wieder aufgetaucht war, müssten sie zu rabiateren Methoden greifen, um den Iren aufzuhalten. Atsushi konnte nicht verstehen, was in seinem Mentor vorging. Wie konnte er sie ausgerechnet jetzt alleine lassen? War ihm nicht klar, dass sie ihn brauchten? Irgendetwas stimmte nicht. Dazai würde sie nicht alleine lassen … oder? Nein, sicher nicht. Aber wo in aller Welt war er dann jetzt? Warum schlich er sich heimlich davon? Dem jungen Detektiv war vor Ratlosigkeit nach Schreien zumute.

„Kunikida hat gesagt, wir sollen keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden“, sagte Kyoka plötzlich zu ihm und ließ ihn damit stutzen. Seine Gedanken waren vermutlich wirklich einfach zu lesen.

Der Besitzer des Theaters ging derweil hektisch die Schlüssel an seinem dicken Schlüsselbund durch. „Entschuldigung, Entschuldigung. Konnte ja nicht ahnen, dass ich mitten in der Nacht angerufen werde, weil mein Theater etwas mit einem Fall zu tun haben soll, bei dem es um Leben und Tod geht.“

„Geht es im Theater nicht eigentlich fast immer um Leben und Tod?“ Ranpo tippelte quengelig mit einem Fuß auf und ab, während er den Mann beobachtete.

„Schon, aber doch meistens nur auf der Bühne.“ Endlich hatte er den richtigen Schlüssel, schloss auf und ließ die Detektive rein. Noch im Hineingehen zog Ranpo seine Brille auf. So aufgekratzt hatte ihn zuvor noch keiner erlebt. Atsushi machte sich Sorgen, weil aus unerklärlichen Gründen er selbst und Poe von den Details der Strategiebesprechung ausgeladen worden waren. Sagte ihm nun keiner mehr etwas?

Kaum gingen die Lichter im Foyer an, stürmte Ranpo auf die gerahmten Poster zu, die dort an den Wänden hingen und über vergangene Aufführungen informierten.

„Aha! Dieses Stück hier!“ Er zeigte auf ein Plakat, auf dem ein Stück mit den Worten 'Die tragischste Liebesgeschichte aller Zeiten' beworben wurde.

Der Besitzer zuckte leicht zusammen – und anscheinend nicht nur wegen Ranpos Lautstärke. „Was ist damit?“

„Es wurde vor ein paar Jahren aus Ihrem Programm genommen. Warum?“

„Das Programm ändert sich nun mal halt von Zeit zu Zeit-“

„Sie sollten mich nicht anlügen!“ Ranpo wurde noch eine Stufe lauter. „Weder mein Assistent, noch die Mitarbeiterinnen der Detektei konnten Informationen dazu finden, wieso dieses Stück so plötzlich gestrichen wurde.“ Sein scharfer Blick bohrte sich geradezu in den Inhaber des Theaters, der eingeschüchtert einen Schritt zurück machte. „Etwas ist vorgefallen, etwas, dass Sie vertuschen wollen!“

„V-vertuschen?“ Dem Mann stand plötzlich der Schweiß auf der Stirn. „U-unsinn, was sollte ich denn-“

„Ich möchte mit der Besetzung sprechen! Der gesamten und zwar schnell! Das Wort kennen Sie doch wenigstens, oder?“

„Als könnte ich ad hoc die gesamte Besetzung von damals zusammentrommeln!“, wehrte der Besitzer sich empört. „Und das, weil Sie irgendwelche an den Haaren herbeigezogene Anschuldigungen-“

„Hmm“, fiel der Meisterdetektiv ihm erneut ins Wort; dieses Mal deutlich leiser. „Wenn ich mich hier so umsehe … das Gebäude ist schon ein wenig in die Jahre gekommen, nicht wahr?“ Ein listiges Grinsen, das Dazai alle Ehre machen würde, formte sich auf seinem Gesicht. „Mein Chef kennt den obersten Beamten der Bauaufsichtsbehörde. Na so was. Man kann ja förmlich mitansehen, wie die Statik von Sekunde zu Sekunde schlechter wird.“

„Das würden Sie nicht ...“ Der Mann wurde leichenblass.

„Es treiben sich ja sogar wilde Tiere im Foyer herum. Ah, den Leiter des Gesundheitsamtes kennt er übrigens auch.“

„Was für wilde-“

Ranpo zeigte auf Poe's Waschbären.

„Aber den haben Sie doch mitgebracht!!“

„Was für eine lahme Ausrede. Die wird Ihnen wohl keiner abnehmen. Atsushi, ruf doch schon mal den Chef an.“

Atsushi, Kyoka und Poe hatten den Schlagabtausch erstaunt und zunehmend irritiert verfolgt. Ranpo durfte man sich wirklich nicht zum Feind machen. Der silberhaarige Junge spürte einen leichten Stupser seitens Kyoka in seine Rippen und begriff, dass er mitspielen musste. Mit einer demonstrativ ausladenden Geste holte er sein Handy hervor. Der arme Inhaber riss erschrocken die Augen auf, als er dies bemerkte.

„Na schön, na schön. Bitte, keine Behörden“, lenkte er geschlagen ein, „allerdings können Sie nicht mit allen Schauspielern sprechen.“

„Weil?“

Sein Gegenüber seufzte schwer. „Die Schauspielerin, die jahrelang die weibliche Hauptrolle gespielt hat, sie ist ...“ Mimik und Stimme des Mannes wurden schrecklich betrübt. „Sie ist tot.“

Die drei Beobachter des Gesprächs zuckten kurz zusammen. Nur Ranpo nickte bedächtig, als hätte er etwas in dieser Richtung kommen sehen.

„Sie ist keines natürlichen Todes gestorben“, kam es Kyoka mit einem Mal in den Sinn. „Wäre das der Fall, gäbe es keinen Grund, ein Geheimnis daraus zu machen.“

„Wurde sie auch ermordet?“ Atsushi schreckte zusammen.

„Nein“, antwortete Ranpo, „wurde sie nicht. Zumindest nicht von einer anderen Person, nicht wahr?“

Der Inhaber starrte ihn entgeistert an. „Woher-?“ Er schüttelte den Kopf. „Es bringt nichts mehr, irgendetwas leugnen zu wollen, oder? Ich habe das Gefühl, Sie können durch mich durch sehen.“

„Ich sehe durch jede Lüge hindurch“, entgegnete Ranpo, „aber wie gesagt: Es ist dringend. Erzählen Sie uns, was vorgefallen ist. Bevor noch mehr Leute den Tod finden.“

Von diesen drastischen Worten sichtlich erschüttert, holte der Besitzer Luft und nickte. „Sibyl … sie war schon immer ein sehr … fragiler Mensch gewesen. Doch auf der Bühne war sie eine Offenbarung. Ich habe nie jemanden erlebt, der diese schwere Rolle so überwältigend spielen konnte wie sie. Sie war unglaublich. So talentiert, so wunderschön, so zerbrechlich.“ Er senkte seinen Blick und seine brüchig werdende Stimme. „Und eines Tages, nach einem Auftritt, fand ich sie. Sie … sie hatte irgendein herumstehendes Schädlingsbekämpfungsmittel getrunken.“

Aufgewühlt versuchte Atsushi, seine Tränen zurückzuhalten, während er Poe neben sich schniefen hörte. Selbst Kyoka blickte tieftraurig drein.

„Sie hatten Angst, man würde schlussfolgern, diese deprimierende Rolle hätte eine sowieso bereits depressive Frau in den Tod getrieben“, schloss Ranpo behutsam, „und dass das ein schlechtes Licht auf das Theater, das Sie so sehr lieben, werfen würde. Also verschwand die arme Frau einfach von der Bildfläche und irgendwann fragte niemand mehr nach ihr. Das ist wahrhaftig eine tragische Liebesgeschichte.“ Er sah zu dem mittlerweile weinenden Inhaber. „Sie kam aus dem Ausland, ja?“

Der Mann nickte und wischte sich seine Tränen weg. „Aus England.“

England? Atsushi zog hörbar die Luft ein, als er zu Ranpo blickte.

„Was haben Sie mit ihren Habseligkeiten gemacht?“, fragte der Meisterdetektiv.

„Einen Teil habe ich weggeworfen und einen anderen Teil … habe ich aufbewahrt. In ihrem Spind war eine Kiste gewesen, auf der 'wertvollste Dinge' stand. Die habe ich in den Bühnenboden eingelassen. Ich dachte, so bleibt sie an dem Ort, den sie doch eigentlich liebte.“

„Zeigen Sie uns, wo.“

Der Theaterbesitzer führte sie zu der Stelle auf der Bühne, unter der er die Sachen der Schauspielerin versteckt hatte. Er wich erschrocken zurück, als Atsushi seine Arme in die Gliedmaße eines Tigers verwandelte und die festgenagelten Bretter aus dem Boden riss. Kyoka beugte sich in das entstandene Loch hinunter und förderte ein kleines Kästchen zutage. Sie setzte es auf der Bühne ab und öffnete es vorsichtig.

„Das sind Briefe. Sehr viele Briefe.“ Sie nahm die Papiere heraus und ging sie achtsam durch. „Sie sind auf Englisch“, stellte sie enttäuscht fest.

„Oho, vielleicht kann ich aushelfen.“ Poe kniete sich zu ihr hinunter und überflog die vollgeschriebenen Seiten. „Allem Anschein nach hatte sie Kontakt zu einem Herrn aus England und sie haben sich gegenseitig ihr Leid geklagt. Ah, hm, ja, sehr große Traurigkeit … verlorene Freunde … 'sind wir wohl beide von jeglichem Glück verlassen worden' ...“

„WAS?!“

Poe erschrak, als die drei Detektive ihm einhellig und lautstark ins Wort fielen.

„Ranpo“, hakte Atsushi atemlos nach, „kann das der Hinweis aus dem Brief sein??“

„Wahrscheinlich. Gibt es keinen Absender? Wie sind sie unterschrieben?“ Ranpo lehnte sich über Poes Schulter.

„Nur mit … 'B.'“, antwortete der Amerikaner.

„Basil Hallward.“ Ranpo riss die Augen auf und sah selbst in die Kiste. Ein einziger, unbeschriebener Umschlag lag dort zuunterst drin. Und er enthielt keinen Brief.

Die Detektive und Poe blickten fragend auf das kleine schwarze Teil, das Ranpo aus dem Umschlag in seine Hand geschüttet hatte. Es hatte entfernt Ähnlichkeit mit einem Computerchip und auf der Oberseite war eine Art Display, das jedoch nichts anzeigte.

„Bewahre es gut auf“, las Poe aus dem letzten Brief vor, „gib es niemals jemandem außer mir oder Oscar. Nicht einmal Dorian. Er ist kein schlechter Mensch, aber er ist zu leicht zu beeinflussen. Mit diesen Worten verabschiede ich mich von dir, treue Freundin, denn unser Kontakt dauert schon zu lange an und selbst wenn ich einen falschen Absender benutze, ist es zu gefährlich. Ich will nicht, dass du meinetwegen Probleme bekommst. Selbst wenn keiner von uns dreien dich je wieder auf der Bühne sehen kann, so wäre es eine Schande, dein Talent anderen vorzuenthalten.“

Stillschweigend sahen sie sich untereinander an.

Das fehlende Teil. Sie hatten es gefunden.

I've untold all of my lies

I've untold all of my lies“

 

Placebo, „The Prodigal“

 

Gespannt wartete Dazai vor der verschlossenen Türe in dem alten Lagerhaus.

Aus dem Inneren hatte er eine Frau wutentbrannt schreien hören, bevor es sehr viel ruhiger geworden war. Jetzt redeten sie so leise, dass selbst er sie nicht verstehen konnte.

Wie gemein. Das zeugte nicht gerade von ihrem Vertrauen ihm gegenüber.

Dazai machte einen Schritt zurück, als die Tür aufging.

„Bitte“, sagte Shaw knapp und der Detektiv trat an ihm vorbei in den kleinen Raum ein. Eine Frau mit rostbraunen Haaren, einem roten Kleid und einem gerade ebenso roten Kopf fixierte ihn zornig. Sie schnaubte regelrecht vor Wut.

Das war also Katherine Mansfield.

Zur ihrer Rechten stand Eliza und guckte wie die Unschuld vom Lande. Und zu ihrer Linken – Dazai konnte nicht leugnen, dass er in diesem Moment wohl ziemlich verdattert dreinschaute – stand niemand Geringeres als Oscar Wilde. Er sah deutlich mitgenommen aus. Offensichtlich war er mehrmals ins Gesicht geschlagen worden; getrocknetes Blut klebte auf seiner Haut und auf seinem Hemd. Und autsch! Drei Finger seiner linken Hand schienen gebrochen zu sein. Freiwillig war er wohl nicht hier.

„Ich muss zugeben, ich bin enttäuscht“, sagte Wilde pikiert, „aber nicht überrascht. Sie haben sich nicht verändert, so wie ich das sehe.“

Dazai lächelte süffisant. „Dafür bin ich überrascht und alles andere als enttäuscht. Ist das nicht schön, wie wir uns gegenseitig ausgleichen?“

Wilde schüttelte spöttisch den Kopf. „Frau Mansfield war nicht die einzige, die überredet werden musste, Ihnen nicht an die Gurgel zu gehen. Sie sind wirklich ein hassenswerter Abschaum. Und das obwohl Sie so ein hübsches Gesicht haben.“

„Oh? Vielen Dank.“

„Genug jetzt.“ Mit spürbarem Unbehagen hatte Shaw ihre Diskussion verfolgt und unterbrach sie nun. „Ich habe Frau Mansfield überreden können, Sie erst einmal nicht umzubringen. Sie werden ihr aber umgehend erzählen, was Sie über den Verbleib ihres Bruders wissen.“

Lustlos zuckte der Detektiv mit den Schultern. „So gut ist mein Gedächtnis auch wieder nicht.“ Er schaute Mansfield direkt und intensiv an. Man konnte fast meinen, sein Blick würde sie durchleuchten. „Aber … doch, ich bin mir ziemlich sicher, Ihr Bruder ist tot.“

Die Frau war drauf und dran, auf ihn loszugehen, als Eliza sie festhielt und sie sich wieder abregte.

„Ich habe euch gesagt, wie er drauf ist“, wandte Wilde abschätzig ein, „daher möchte ich auch noch einmal klarstellen, dass ich nur gemeinsame Sache mit Georgie mache und nicht mit ihm.“

Eliza ließ die andere Frau los, die sich unverzüglich ihre Kleidung richtete. „Ich bin auch nach wie vor nur einverstanden, weil ich inzwischen fürchte, dass Eliza völlig außer Kontrolle gerät.“ Sie warf Shaw einen abwertenden Blick zu. „Gucken Sie nicht so böse. Es ist offensichtlich, dass sie mittlerweile nicht einmal mehr sofort zurückkommt, wenn Sie sie rufen.“

„Frechheit!“, schimpfte Shaw gereizt. „Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram!“

„Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte“, warf Dazai gut gelaunt ein. „Lassen Sie mich überprüfen, wie weit meine Kollegen mit der Suche sind. Dann müssen Sie nicht Eliza schicken und Angst haben, dass sie unterwegs ein paar Leute niedermetzelt.“

„Klingt vernünftig“, bestätigte Wilde.

Unentschlossen schnellten Shaws Augen hin und her, während er nachdachte. „Einverstanden“, sagte er schließlich. „Aber ein falsches Wort und Sie sind Geschichte.“

„Oh, das wäre ja das Gegenteil von dem, was ich will“, flötete Dazai. „Wo wir beim Thema sind: Komme ich eigentlich auch in den Genuss dieses geheimnisvollen Apparates?“

Zu seiner Verwunderung tauschte Shaw an dieser Stelle einen Blick mit Wilde aus – und Wildes Miene las sich wie ein „Habe es dir doch gesagt.“

Shaw räusperte sich. „Das ließe sich arrangieren.“

Ein vorfreudiges, verträumtes Lächeln bildete sich auf Dazais Gesicht. „Dieser Apparat …. Im Prinzip macht er unsterblich, ja?“

„Im Prinzip. Die Details brauchen Sie nicht zu wissen.“

„Details können auch furchtbar langweilig sein! Wenn mir jemand ein Handy borgen könnte …? Ich habe meins logischerweise nicht mitgenommen.“ Dazai sah aufgeregt in die Runde und nahm ein Wegwerfhandy von Shaw entgegen. Sein Lächeln hatte eine finstere Färbung angenommen.

„Also dann.“

 

Nachdenklich wanderte Joyce' Blick über die alten Lagerhäuser in diesem abgelegenen Teil der Speicherstadt, fernab vom Hafen. Hatte er zuvor schon erschöpft ausgesehen, so wirkte er nun als würde er jeden Augenblick zusammenklappen. Sein Kopf tat weh und schwirrte und wollte trotzdem das Gedankenkarussell nicht abstellen. Es ergab keinen Sinn. Nichts davon ergab irgendeinen Sinn. Hatte Wilde wirklich zu dieser Gruppe gehört? Was für Verbrechen hatten sie wohl begangen? Die Detektei konnte nicht auf weitere Informationen aus der Datenbank zugreifen und der Ire war sich nicht sicher, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Ohne Gewissheit darüber zu haben, malte sich sein Verstand pausenlos die schlimmsten Dinge aus. Aber ob die Wahrheit viel besser war?

Kriegsverbrecher und Landesverräter.

Konnte das sein? Konnte das wirklich sein?

Er dachte an seinen chaotischen, arbeitsscheuen und seine Nerven überstrapazierenden Partner und konnte diese Begriffe nicht mit ihm in Einklang bringen. Und doch …

Joyce atmete durch und dachte an die Worte, die Atsushi ihm mit auf den Weg gegeben hatte, bevor sie sich in alle Himmelsrichtungen verstreut hatten:

Wichtig ist nur, was Sie jetzt in ihm sehen. Nicht, was er vielleicht einmal war.“

Es war ihrem Zwiespalt von damals nicht unähnlich, überlegte er, während er die Lagerhäuser betrachtete, die ihn an die erinnerten, zwischen denen er und Wilde seinerzeit den Mitgliedern der Hafen-Mafia aufgelauert hatten. Sie hatten zuerst nur von einem Osamu Dazai erfahren, der ein blutrünstiger Mörder gewesen sein sollte, doch dann herausgefunden, dass er inzwischen ein anderer Mensch geworden war. Und gerade weil sich kein eindeutiges Bild ergeben hatte, hatten sie nicht gegen ihn vorgehen wollen.

Ein eindeutiges Bild.

Er seufzte innerlich. Dazai hatte etwas in dieser Richtung gesagt. Es wäre unmöglich einen Menschen je wirklich zu kennen. Sollte etwa ausgerechnet dieser Kerl Recht behalten?

„Das hier ist nicht mehr das Gebiet der Hafen-Mafia“, äußerte Kunikida in seine Gedanken hinein. Die Stirn des bemitleidenswerten Mannes durchzogen noch tiefere Falten als sonst. Fukuzawa hatte sie zu diesem Ort geschickt, ohne zu erklären, warum. Sie sollten sich hier umsehen. Die Sonne brannte vom Himmel und offenbarte ihnen dennoch keinen einzigen Hinweis.

„Nach was sollen wir uns umsehen?“, hatte Kunikida nachgefragt, aber keine brauchbare Antwort erhalten.

„Ich weiß es nicht. Mori nannte diesen Ort“, war alles, was der Chef ihnen dazu gesagt hatte. Joyce konnte es sich nicht erklären, aber er hatte das Gefühl, Fukuzawa hatte ihnen nur die halbe Wahrheit über das Telefonat mit dem Boss der Hafen-Mafia verraten.

„Ist das üblich, dass Sie Hinweisen nachgehen, die von der Hafen-Mafia kommen?“, fragte Joyce mit skeptischem Ton seinen Begleiter.

Kunikida stöhnte leise. „Ich weiß nicht, wie man unser kompliziertes Verhältnis zufriedenstellend beschreiben soll. Mir ist es jedes Mal zuwider, wenn wir mit der Hafen-Mafia zusammenarbeiten müssen, allerdings ...“

„Muss es manchmal sein?“, schloss Joyce und sein Gegenüber nickte schwerfällig. „Wenn ich an das letzte Mal denke, scheinen manche Mitglieder der Mafia sowieso eine interessante Beziehung zu Herrn Dazai zu pflegen. Der Herr, dem der Hut nur bei Erwähnung seines Namens schon hochging, kam zu seiner Rettung, obwohl er gleichzeitig davon sprach, ihn am liebsten tot sehen zu wollen.“

„Den letzten Teil kann ich nachvollziehen“, ächzte der Idealist griesgrämig.

„Es gibt noch eine Sache, die ich nicht verstehe: Warum bestand Herr Edogawa darauf, den Jungen und den Laufburschen mit dem Waschbären bei der Strategiebesprechung hinauszuschicken?“

Kunikida zuckte geschlagen mit den Schultern. „Das ist das Unglück mit Leuten wie Dazai oder Ranpo. Wir Normalsterblichen können ihre Gedankengänge nicht einmal ansatzweise nachempfinden. Aber ich weiß mit absoluter Gewissheit, dass Ranpo sich etwas dabei gedacht hat.“

„Er hat sich etwas dabei gedacht, ja?“ Grübelnd sah Joyce zum strahlend blauen Himmel. Es war nicht nur die Hitze, die sein Herz plötzlich einen Sprung machen ließ. Huxley. Huxley musste sich etwas dabei gedacht haben, Wilde aufzunehmen. Es war geradezu undenkbar, dass er nicht gewusst hatte, wen er sich da in seine Organisation geholt hatte.

„Geht es Ihnen gut?“

Kunikidas Frage holte Joyce ins Hier und Jetzt zurück.

„Mir kam gerade nur ein Gedanke. Ist nun aber nicht weiter wichtig.“

Der Detektiv nickte verständnisvoll. „Wir kommen so nicht weiter. Vielleicht sollten wir bei Ranpo nachfragen, wonach wir eigentlich suchen sollen.“

 

Mit deutlichem Trübsinn hatten die Detektive und Poe das Theater wieder verlassen. Ranpo hatte dem Besitzer nahegelegt, mit seiner Geschichte zur Polizei zu gehen. Eventuell hatte die verstorbene Schauspielerin irgendwo im Ausland noch Angehörige, die bestimmt wissen wollten, was mit ihr geschehen war. Der am Boden zerstörte Inhaber hatte ihm unter Tränen Recht gegeben. Man merkte ihm an, wie sehr es ihn belastet haben musste, dieses Geheimnis all die Jahre mit sich herumzutragen.

„Und jetzt?“, fragte Atsushi betrübt, als sie draußen in der Mittagssonne standen.

„Wir könnten darauf warten, dass Eliza auftaucht“, antwortete Ranpo, „ich vermute, wenn sie nicht damit beschäftigt ist, Mori zu jagen, wird sie mal wieder bei uns vorbeischauen.“

„Warum hat Dazai Mori an die Fähigkeit verraten? Das ist seltsam.“ Kyoka war irritiert. Alles, was sie von dem Telefonat zwischen dem Chef und Mori wussten, war, dass Eliza bei der Hafen-Mafia aufgetaucht war und dass dies wohl auf Dazais Initiative zurückging. „Will Dazai, dass Mori stirbt?“

„Das würde er nicht wollen … oder?“ Atsushi wusste selbst nicht mehr, was er glauben sollte und blickte überfragt zu Ranpo.

„Dazai ist unmöglich“, beschwerte der Meisterdetektiv sich übellaunig und ohne dem Jüngeren damit eine vernünftige Antwort zu geben.

„Uhm, wenn ich kurz etwas nachhaken dürfte“, warf Poe zaudernd ein. „Diese Eliza ist also eine Fähigkeit, die skrupellos jeden umbringt, den sie nicht für ihre Zwecke brauchen kann. Ist das richtig?“

Ranpo nickte.

„Und es gibt keine Möglichkeit, sie zu töten?“

Ranpo nickte.

„Und was genau machen wir, wenn sie auftaucht und uns das Teil wegnimmt?“

„Hoffen, dass sie uns nicht um die Ecke bringt.“

„Ist das dein Plan??“

Ranpo nickte – und Poe stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.

„Das ist ein furchtbarer Plan!! Wir werden alle sterben!!“

Der Meisterdetektiv winkte ab. „Wenn sie auftaucht, verwickele ich sie in ein Gespräch, sodass Kyoka und Atsushi abhauen können. Es macht nicht viel Sinn, sie zu verfolgen, wenn die Fähigkeit hat, was sie will. Solange ich das Teil habe, wird sie mir nichts tun.“

„O-okay, also du wärst dann vor ihr sicher und Kyoka und Atsushi sollen fliehen und ähm, vielleicht fehlt da noch jemand?“ Mit einem zitternden Finger zeigte Poe auf sich.

„Wer denn?“ Ranpo blinzelte ihn an. „Ach, du wirst mir doch sicher beistehen, nicht wahr?“ Gut gelaunt schlug er ihm auf den Rücken.

Mit zuckenden Augen beobachtete Atsushi das Geplänkel der beiden. Poe hatte Recht. Ranpos Plan war furchtbar. Man konnte das kaum einen Plan nennen! Irgendetwas daran störte ihn. Der dienstälteste Detektiv hatte doch sonst immer sehr viel cleverere Strategien parat.

„Ich vertraue ihm.“ Kyoka sah von Ranpo zu Atsushi und nickte entschlossen, worauf ein schwaches Lächeln sich auf sein Gesicht stahl. Auch wenn alles andere gerade unsicher war, sie konnten Ranpo vertrauen. Der Junge erschrak, als plötzlich sein Handy klingelte. War das einer der anderen? Waren sie angegriffen worden? Hatten sie etwas herausgefunden? Atsushi bebte am ganzen Körper, als er das Mobiltelefon hervorholte.

„Eine unbekannte Nummer?“ Stutzend blickte er von dem Display zu Ranpo.

„Geh ran“, entgegnete dieser und er kam unverzüglich der Aufforderung nach.

„Ja?“

„Atsushi!“

Eine überschwänglich fröhliche Stimme tönte aus dem Hörer und ließ den Silberhaarigen noch mehr stutzen als zuvor.

„Dazai??“ Die anderen horchten auf. „Wo zum Teufel steckst du? Wieso bist du einfach verschwunden? Eliza hat in der Zwischenzeit Mori angegriffen.“

„Hat sie? Sehr schön, sehr schön.“ Er klang euphorisch – merkwürdig euphorisch. „Etwas anderes, Atsushi: Wie weit seid ihr mit der Suche nach dem fehlenden Teil?“

„Was? Moment, verrate mir erst einmal, wo du bist.“

„Wo ich bin?“ Er machte eine eigenartige Pause. „Das sage ich dir später. Die Zeit drängt. Habt ihr Fortschritte gemacht oder nicht?“

Ein flaues Gefühl machte sich in Atsushis Magen breit. Dieses Verhalten war selbst für Dazais Verhältnisse seltsam.

„Ob wir das fehlende Teil haben?“ Atsushi blickte zu Ranpo, der nickte. „Ja, wir haben es eben gefunden.“

„Ihr habt es? Großartig! Großartig! Auf das Büro der bewaffneten Detektive ist doch wahrlich Verlass, nicht wahr? Ich nehme an, Ranpo hat das Rätsel gelöst?“

„Ja, hat er. Er hat jetzt das Teil.“

„Richte Ranpo meine Anerkennung aus. Er ist wirklich das klügste Kerlchen, das ich kenne! Ich bin erleichtert. Ja, so erleichtert war ich nicht mehr, seit ich damals diese hässliche Schwarzhaarige abserviert habe, als ich aus der Mafia raus bin. Die war noch schlimmer als die hübsche Ausländerin von neulich.“

Was redete Dazai da? Atsushis Miene wurde mit jedem Wort seines Mentors perplexer.

„Wie dem auch sei, Atsushi“, fuhr er ungebrochen enthusiastisch fort, „könnt ihr euch schon mal auf den Weg machen, um mich zu treffen? Ich weiß, wo wir Shaw finden können.“

„Du hast Shaw gefunden?“

„Die Zeit drängt. Ich melde mich gleich noch einmal mit den Details.“

„Verstanden, dann machen wir uns auf den Weg.“

Dazai legte auf und der Junge sah verwirrt auf sein Handy. Was in aller Welt war denn das gerade gewesen? Das vorangegangene Gespräch ließ ihn mit einem starken Gefühl von tiefem Unbehagen zurück.

„Was hat er gesagt?“, fragte Ranpo ungewohnt ernst.

„Er weiß angeblich, wo Shaw ist und wir sollen ihn treffen. Ich soll dir seine Anerkennung ausrichten, weil du so ein 'kluges Kerlchen' wärst. Außerdem redete er irgendetwas von einer hässlichen Schwarzhaarigen, die er abserviert hätte, als er die Mafia verließ und die schlimmer gewesen sein soll als die hübsche Ausländerin von neulich.“ Man konnte die Fragezeichen um Atsushis Kopf herumtanzen sehen.

„Hm“, machte Ranpo daraufhin nur und begann zu grübeln – bis sein Handy klingelte. „Wer stört?! … Ich hoffe, es ist wichtig, Kunikida! ... Hmm? Wo genau seid ihr denn? … Außerhalb des Gebietes der Hafen-Mafia?“ Zu Atsushis zunehmender Verwirrung grinste Ranpo mit einem Mal beglückt. „Alles klar! Macht euch auf den Rückweg und sammelt unterwegs Atsushi und Kyoka ein. Und Kunikida? Passt auf euch auf, ab jetzt wird es brandgefährlich und ich werde eine Weile nicht erreichbar sein.“

Er legte auf, tippte eilig etwas in sein Handy und steckte es weg, als er fertig war.

„So, das wäre erledigt“, sagte er zufrieden, trat ganz nah an den baffen Atsushi heran und klopfte ihm mit einer Hand übertrieben heftig auf die Schulter. „Ihr geht mit Kunikida und Joyce und trefft Dazai. Wir bringen das Teil erst einmal in Sicherheit.“

„In Sicherheit?“ Der junge Detektiv japste, als er begriff, was der Andere andeutete.

„Das heißt, nicht zu Dazai“, folgerte Kyoka nüchtern.

„Und jetzt auf, auf!“ Ranpo wedelte mit den Händen, als wollte er sie davonscheuchen. „Soll diese Eliza nur kommen und versuchen, MIR das Teil wegzunehmen! Dafür muss sie erst einmal an meinem Assistenten vorbei!“

„HUH?!“ Besagter Assistent wirkte nicht glücklich, ganz und gar nicht glücklich, als er dies hörte.

Ernst und sichtlich besorgt richtete Atsushi noch einmal das Wort an Ranpo. „Bitte passt auch auf euch auf.“

Dann liefen er und Kyoka los.

„Ranpo“, begann Poe wirklich, wirklich mitleiderregend, nachdem die beiden außer Sichtweite waren, „wir müssen mal darüber sprechen, dass du mich ständig als deinen Assistenten bezeichnest.“

„Wieso?“, entgegnete sein kindisches Gegenüber unschuldig.

„Weil ich dein Rivale bin, nicht dein Assistent.“

„Wortklauberei.“ Er winkte mitleidslos ab und setzte sich zügig in Bewegung, sodass Poe ihm gleichermaßen geschwind hinterherdackelte.

„Und was soll ich deiner Meinung nach tun, wenn diese Fähigkeit angreift?“

„Du bist doch selber ein Befähigter, oder etwa nicht?“

„Aber wie soll das denn-“

„ICH habe jedenfalls jetzt dieses Teil! Und so leicht lasse ich es MIR bestimmt nicht wegnehmen!“

„V-vielleicht solltest du das nicht so laut herausposaunen“, mahnte Poe nervös an. „Wir müssen sie ja nicht herbeibeschwören.“

„Na und? Diese Eliza kommt doch nicht gegen meinen Verstand an! Ich bin außerdem ehrlich enttäuscht, dass Ihr MICH nicht viel mehr gelobt habt, als ICH dieses Teil gefunden habe!“

„Ranpo, bitte, mich überkommt ein ganz ungutes Gefühl, wenn du so herumschreist …. Sie wird uns ganz sicher töten, sobald sie das Teil hat.“

„Bei MIR ist dieses Teil am besten aufgehoben, findest du nicht?“

Poe legte eine Hand auf sein rasendes Herz. „Hörst du mir überhaupt zu?! Du musst ihr ja nicht gleich verraten, dass du es hast!“

„Wieso nicht? ALLE WELT SOLL WISSEN, DASS ICH DAS FEHLENDE TEIL BEI MIR HABE!“

Karl klammerte sich vor Angst an Poes Schulter fest. Selbst ihm war das alles nicht geheuer. Der Amerikaner schluckte. Konnte diese Aktion gut gehe-

Eine Frau mit mattbraunen Haaren materialisierte sich vor ihnen auf der Straße. Sie wirkte aufgeregt und getrieben.

„Du hast das Teil! Gib es mir! Sofort! Denkt dieser Detektiv, er wäre besser als ich?! Ich werde das Teil zu George bringen und dann wird George mich loben und nicht diesen Detektiv!“

Poe erstarrte auf der Stelle. „Sag mir nicht, das ist-“

„Eliza.“ Ranpo war die Ruhe selbst.

„Wie kannst du so ruhig bleiben?! Ich habe doch gesagt, dass sie herkommen wird, wenn du so herumbrüllst!“, jammerte der Amerikaner weinerlich.

„Was mich interessieren würde“, der Meisterdetektiv schob gelassen seine Mütze hoch und kratzte sich darunter am Kopf, „lässt du uns am Leben, wenn wir dir das Teil geben?“

Eliza dachte einen Moment über seine Frage nach. „Nein“, erwiderte sie schließlich, „du bist hinterlistig. Du könntest George in die Quere kommen.“

„Oh, hm, verstehe.“

Poes Kinnlade hatte derweil Bekanntschaft mit dem Boden gemacht. Wie konnte Ranpo nur so entspannt bleiben? Konnte ihn gar nichts erschüttern? Das war beeindruckend. Poes Herz raste nun aus einem weiteren Grund. Seine Bewunderung für ihn wurde jedoch jäh von Eliza gestört.

In der rechten Hand der übernatürlichen Frau erschien eine Pistole. Die sich in der Nähe befindlichen Passanten bemerkten dies und schrien laut und ängstlich durcheinander, ehe sie flohen. Umgehend zielte Eliza mit der Waffe auf Ranpos Kopf. Poe vergaß zu atmen, während er dies beobachtete. Was sollten sie gegen einen bewaffneten Gegner ausrichten? Keiner von ihnen war ein Kämpfer. War das etwa tatsächlich ihr Ende?

Huh?

Ranpo drehte seinen Kopf zu ihm und grinste spitzbübisch. „Buch, bitte.“

Eliza drückte ab und erschrak, als ein grelles Licht aufblitzte und plötzlich niemand mehr vor ihr stand. Mit verdatterter Miene sah sie zu, wie ein Buch auf die Erde fiel. Was war denn nun passiert?! Wo waren diese zwei Menschen hin? Sie konnten sich doch nicht in Luft auflösen! Nein, Menschen konnten das nicht! Sie existierten, ohne dass jemand sie rufen oder verschwinden lassen konnte! Was fiel diesen beiden also ein, gegen diese elementare Regel zu verstoßen?!

Erbost stapfte sie auf das Buch zu und wollte es vom Boden aufheben, als jemand mit einem lauten Krachen davor landete und ihr zuvorkam.

„Ich nehme das mal an mich, du durchgeknallte Furie.“

Die Fähigkeit zog scharf die Luft ein, als sie den Mann erkannte, der nun das Buch in der Hand hielt. Diese roten Haare, dieser schwarze Hut … er gehörte zur Hafen-Mafia!

„Ob du es glaubst oder nicht“, sagte Chuuya souverän, „du bist nur die zweitverrückteste Person, die ich kenne. Dein George wird sicher furchtbar enttäuscht sein, wenn er erfährt, dass du dir dieses Ding für das andere Ding durch die Lappen hast gehen lassen. Ich kann nicht fassen, dass ich das hier wirklich tue, aber … fang mich doch, wenn du kannst.“

Zornesfalten zogen sich durch Elizas Gesicht, als sie dies hörte. „Sag seinen Namen nicht so abschätzig!“

Chuuya rannte los und wurde ohne Umschweife von einer ihn unaufhörlich attackierenden Fähigkeit verfolgt.

 

Fukuzawas Blick sah noch verkniffener aus als sonst, als er die eingegangene Textnachricht las. Seine Miene kam nicht daher, dass das Licht in der verlassenen Fabrikhalle, in der er sich gerade befand, so schlecht war. Nein, die ganze Situation bereitete ihm Magen-und Kopfschmerzen. Er hatte Haruno und Naomi in einem Park nahe des Krankenhauses, in dem Tanizaki, Yosano und Kenji behandelt wurden, abgesetzt. Es war bitter zu wissen, dass sie nirgends wirklich in Sicherheit waren. Eliza konnte überall auftauchen und wenn sie vor den beiden Bürokräften auftauchte, dann sollten sie irgendwo sein, wo nicht viele andere Menschen waren und wo sie trotzdem schnell Hilfe bekommen konnten. Es war die einzige Lösung, die Ranpo und ihm auf die Schnelle eingefallen war.

„Warum so ernst, alter Freund?“

Die Stimme, die neben ihm ertönte, verschlechterte seine Laune noch einmal um einiges. Fukuzawa hielt dem schwarzhaarigen Mann, der neben ihm saß, wortlos die Textnachricht hin. Dieser studierte sie rasch.

„Ist das machbar?“, fragte der Chef in dem neutralsten Ton, den er bewerkstelligen konnte.

„Aber natürlich“, antwortete Mori erheitert. „Sie wollen doch nicht andeuten, dass Sie meine Leute für inkompetent halten?“

„Ich ziehe es vor, nicht offen zu sagen, was ich über Ihre Leute denke.“

Mori lachte, während er selbst eine Nachricht tippte. „Es ist immer wieder eine Freude, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“

„Ist es das?“

„Auf gewisse Weise schon. Wenn das hier vorbei ist, sollten wir auch einmal darüber reden, wie Sie wiedergutmachen wollen, dass einer Ihrer Leute mir diese übernatürliche junge Dame auf den Hals gehetzt hat. Mein Vorschlag wäre, Sie geben mir die gute Yosa-“ Mori verstummte, als Fukuzawa ihm einen tödlichen Blick zuwarf.

„Immer so humorlos.“ Der Boss der Hafen-Mafia schüttelte belustigt den Kopf. „Sie haben eindeutig zu viel Stress. Lassen Sie mich Ihnen als Arzt sagen, dass das nicht gut für Ihre Gesundheit ist.“

„Sie reden zu viel. Das ist nicht gut für Ihre Gesundheit.“

„Oh?“ Mori horchte auf und erhob sich von den alten Kisten, auf denen sie Platz genommen hatten. „Schade. Wir müssen die Unterhaltung ein anderes Mal fortsetzen. Dieses cholerische Dröhnen, was da an unsere Ohren dringt, erkenne ich von weitem.“

Fukuzawa stand ebenso auf. „Dieses Mal keine Tricks“, ermahnte er den Anderen wie einen kleinen Schuljungen.

„Es ist in meinem eigenen Interesse, dass Sie mir hier nicht zu früh wegsterben.“

'Krach!'

Die große Eingangstür wurde mit einem wütenden Schrei eingetreten. Hinein flog ein vor Wut und Anstrengung schnaufender Chuuya Nakahara – auf den ein Dauerfeuerkugelhagel niederging. Mit gezogenen Pistolen betrat Eliza die halbdunkle Halle und blieb fassungslos stehen.

„Mori“, hauchte sie und krallte ihre Hände noch fester um ihre Waffen.

Der Angesprochene schmunzelte gequält. „Chuuya, bring den Herrn Meisterdetektiv und seinen Spielkameraden zu Akutagawa. Wir kümmern uns derweil um diese Angelegenheit. Bist du so weit, mein Elisechen?“

Er rief seine Fähigkeit herbei, die keine Zeit verlor, ihr dunkelhaariges Äquivalent zu provozieren: „Das ist langweilig, Rintaro. Lass es uns schnell hinter uns bringen. Diese alte Schnepfe wird dich schließlich niemals töten können. Nein, sie wird gewiss ihren George weiterhin schrecklich enttäuschen.“

Ein unmenschlicher, ohrenbetäubender Schrei entwich Eliza, als sie in blinder Wut begann, auf ihre Gegner zu feuern. Fukuzawa zog sein Schwert und Mori, der von Elise beschützt wurde, zog ein paar Skalpelle aus dem Ärmel.

Chuuya rettete sich aus dem Gefecht zur Tür hinaus und stöhnte.

„Wann bin ich eigentlich zum Laufburschen degradiert worden??“

Sein wertvolles und ihm zutiefst verhasstes Gepäck in Form von Poes Roman unter dem Arm haltend, lief er von neuem los.

 

„Dann hat Dazai sich noch einmal gemeldet und mir diese Adresse durchgegeben“, berichtete Atsushi Kunikida angespannt und zum wiederholten Mal, während sie zusammen mit Kyoka und Joyce die ellenlangen Treppenstufen eines im Bau befindlichen Hochhauskomplexes erklommen. Von außen war das hohe Gebäude bereits so gut wie fertig, nur im Inneren sah noch alles nach einer Baustelle aus. Die Treppenstufen verfügten noch nicht über ein Geländer, sodass alle möglichst dicht an der Wand entlanggingen. Atsushi schluckte bei dem Gedanken, die unzähligen Stockwerke hinunterzufallen. Der Tiger würde das vielleicht überleben, aber er hatte keine Lust, das überhaupt herausfinden zu wollen. Seinen Blick streng nach vorn zu den vorangehenden Männern gerichtet, fuhr er fort: „Er sagte, er würde auf dem Dach warten. Mehr bekam ich nicht aus ihm heraus.“

„Das gibt immer noch keinen Sinn“, grummelte Kunikida entnervt. Er und Joyce hatten die beiden Jüngeren aufgesammelt, bevor sie zu der Adresse gefahren waren, die Dazai Atsushi genannt hatte. Bereits auf der Fahrt hatte der Junge alles erzählt, was vorgefallen war und Kunikida hatte ihn gebeten, es noch einmal zu wiederholen, weil er hoffte, Dazais Absichten erkennen zu können.

Konnte er nicht.

Ranpo hatte sich nun wahrscheinlich mithilfe von Poes Roman in Sicherheit gebracht, während Mori und der Chef versuchten, Eliza in Schach zu halten, sodass sie nicht weiter wahllos auf die Detektive losgehen konnte. Soweit lief alles nach dem Plan, den Ranpo ihnen in der Detektei genannt hatte. Allerdings gab es nach wie vor einen schwerwiegenden, unbekannten Faktor und dieser ließ den Idealisten mit den Zähnen knirschen.

Es gibt eine Sache, die ich jetzt nicht entscheiden kann“, hatte Ranpo ihnen ernst erklärt, nachdem er Atsushi und Poe herausgeschickt hatte. „Aber ihr werdet meine Entscheidung sehen, wenn es so weit ist.“

„Vielleicht liegt es an der relativ niedrigen Meinung, die ich von Herrn Dazai habe“, sagte Joyce hörbar aus der Puste in ihre Runde hinein, „doch es scheint fast so, als würde er etwas verbergen. Können wir zweifellos ausschließen, dass er nicht nur Mori verraten hat?“

Atsushi rutschte beinahe das Herz in die Hose. „Das würde er nicht. Er würde uns nicht verraten.“ Seine Stimme bibberte so sehr, dass er nicht einmal sich selbst mit seinem Einwand hätte überzeugen können. Er glaubte an Dazai, er vertraute ihm, doch er hatte sich am Telefon so seltsam verhalten. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm und das war es, was Atsushi solche Angst machte. Hinzu kam, dass die anderen ihn anscheinend aufgegeben hatten.

„Ich verstehe ihn nicht“, sagte Kyoka, von allen noch am besten bei Atem, offen und ehrlich heraus. „Aber ich glaube, dass er sehr oft gefährliche Gedanken hat.“

Bei ihren Worten ließ Atsushi seinen Kopf noch etwas tiefer hängen. Sogar Kyoka misstraute Dazai nun?

„Man kann einen Menschen nur dann besser verstehen, wenn man es auch wirklich will und versucht“, fuhr sie zu seiner Verblüffung fort. „Vielleicht ist es unmöglich, jemanden vollkommen zu verstehen, aber man kann sich demjenigen dennoch annähern und so möglichst viele seiner Facetten kennenlernen. Ich glaube auch, dass niemand sich selbst vollkommen versteht. Wie soll das dann ein anderer tun?“

Joyce hielt auf der obersten Etage an und drehte sich zu ihr um. Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Wie niederschmetternd. Dieses kleine Mädchen ist so viel lebenskluger, als wir es sind.“

Kunikida brummte lediglich. „Sagt mir Bescheid, wenn ihr eine Facette an Dazai gefunden habt, die nicht unerträglich ist.“ Er öffnete die Tür, die zum Dach führte und ging hinaus -

wo er abrupt stehenblieb.

„Was zur-?! Was hat das denn jetzt zu bedeuten?!“

Die anderen beeilten sich, auf das Dach zu kommen.

Entsetzt blickte Atsushi auf die drei Männer, die dort bereits standen.

Ein ominöses Lächeln im Gesicht, das ihm einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagte, begrüßte Dazai seine Kollegen.

„Endlich seid ihr da! Das hat aber gedauert.“

Links von ihm stand ein griesgrämig und nervös dreinblickender blonder Mann. Das musste Shaw sein. Doch rechts von Dazai stand – mit einem genüsslichen Lächeln auf den blutigen und verkrusteten Lippen – Wilde.

„Was-was in drei Teufelsnamen machst du hier??“ Völlig entgeistert starrte Joyce zu seinem Partner.

„Lange Geschichte, Jimmy, lange Geschichte. Und sie ist nicht einmal sonderlich spannend.“

„Ah, ich will das Wiedersehen nicht trüben, aber wir sollten uns erst der Arbeit widmen“, wandte Dazai ein und zum Entsetzen der vier gerade Eingetroffenen zog er eine Pistole, die er auf sie richtete. „Das Teil, bitte.“

Atsushi hörte seinen eigenen Herzschlag in seinen Ohren pulsieren.

And with friends like you, who needs enemies?

And with friends like you

Who needs enemies?“

 

Placebo, „Forever chemicals“

 

„D-dazai?“ Atsushi starrte verstört in den Lauf der Waffe, die Dazai auf sie gerichtet hatte. „Was … was hat das zu bedeuten?“

„Aw, Atsushi, mach nicht so ein Gesicht“, erwiderte der Angesprochene erheitert, „du darfst das nicht gleich persönlich nehmen. Ich habe nichts gegen euch. Ich habe nur etwas Interessanteres gefunden.“

„Etwas Interessanteres?“, wiederholte der Silberhaarige perplex. „Was soll das denn heißen?“

„Das heißt das, was es heißt … tsk, tsk, tsk, Kunikida.“ Dazais Augen wanderten zu seinem Kollegen. „Lass deine Hände schön da, wo ich sie sehen kann. Deine Fähigkeit ist hier sowieso nutzlos. All eure Fähigkeiten sind hier nutzlos.“

„Es ist tatsächlich ein erheblicher Vorteil, ihn dabei zu haben“, raunte Shaw im Hintergrund Wilde zu. „Die Fähigkeiten dieser vier können ihm keinen Schaden zufügen.“

„Ich weiß“, bestätigte Wilde ihm, „er ist das beste Pferd, auf das man setzen kann.“

Kunikida hob seine Hände langsam hoch und warf seinem eigentlichen Partner böse Blicke zu. „Du arbeitest jetzt also für den Feind? Was versprichst du dir davon?“

„Ich bekomme diesen spannenden Apparat zu Gesicht und darf ihn sogar benutzen.“

„Würde der bei dir überhaupt wirken?“, entgegnete Kunikida.

„Aber ja doch!“, frohlockte Dazai. „Er ist schließlich keine Fähigkeit, sondern nur eine Art Fähigkeiten-Waffe. Die kann ich nicht neutralisieren.“

„Er hat leider Recht“, äußerte Kyoka verstimmt, „wir können ihn nicht mit unseren Fähigkeiten angreifen. Und ich kann nicht einschätzen, wie erfolgreich der Versuch eines Nahkampfes gegen ihn wäre.“

„Moment, Stopp!“ Atsushi schüttelte vehement den Kopf. „Wir kämpfen doch nicht gegen Dazai!“ Das war verrückt, einfach nur verrückt. Hatten alle den Verstand verloren?

„Er gehört jetzt zum Feind“, widersprach Kyoka ihm schonungslos. „Es tut mir leid, aber du musst dich nun entscheiden, ob du uns oder ihm hilfst.“

Atsushis Atem ging immer schneller, während ihm schwummrig im Kopf wurde. Das konnte nicht ihr Ernst sein. Er sollte sich zwischen ihnen entscheiden? Er sollte gegen Dazai kämpfen? Dazai gehörte zum Feind? Atsushi hatte das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggerissen worden war.

„Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst, Junge.“ Joyce bebte am ganzen Körper und versuchte dennoch, so ruhig wie irgend möglich zu klingen. „Ein solcher Verrat ist unerträglich. So schlecht ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen.“ Er blickte zu seinem Kompagnon. „Und du? Gehörst du auch zu dieser Verschwörung?“

Sichtlich von diesen Worten getroffen, zwang Wilde sich zu einem Lächeln. „Ich würde es nicht eine Verschwörung nennen. Wir erledigen, was zu erledigen ist, und dann kann jeder seines Weges gehen. Vertrau mir, Jimmy. Alles wird gut werden.“

„Dir vertrauen?“ Joyce schluckte. „Nach alldem, was ich jetzt weiß, ist das leichter gesagt als getan.“

Wilde biss sich auf seine zitternden, gequält lächelnden Lippen. Er sah aus, als würde er jede Sekunde anfangen zu weinen. Und doch tat er es nicht.

„Dann wäre das ja geklärt“, sagte er stattdessen bitter.

Shaw trat aus dem Hintergrund nach vorn. „Übergeben Sie mir jetzt das fehlende Teil. Dann können wir die Angelegenheit möglichst unblutig beenden.“ Er hielt eine Hand auf und blickte abwartend zu den Detektiven und Joyce.

Panisch schnellte Atsushis Blick zu Kunikida, der in der Luft seine Hände zu Fäusten verkrampft hatte.

Was sollten sie nun tun? Selbst, wenn sie wollten, sie konnten ihnen das Teil nicht geben.

„Was ist? Ich warte.“ Shaws Laune verschlechterte sich drastisch. „Haben Sie noch nicht verstanden, dass eine Kooperation Ihre Leben retten würde?“

„Es gibt da vielleicht ein Problem“, erklärte Kunikida angespannt.

„Ein Problem?“ Verärgert hob Shaw eine Augenbraue. „Was zur Hölle meinen Sie?“

„Wir haben es nicht bei uns“, warf Atsushi nervös ein. „Ranpo hat das fehlende Teil.“

„Was?!“ Mit einem Mal kochte Shaw vor Wut. Erzürnt schaute er zu Dazai. Dieser schüttelte seufzend den Kopf. Dann kam er mit gemächlichen Schritten auf Atsushi zu.

„Was soll denn das, Atsushi?“, tadelte er ihn. „Hältst du das für klug, uns etwas vorzumachen? Du warst noch nie ein sonderlich guter Lügner. Noch nicht einmal ein annehmbarer, wenn ich ehrlich bin.“

Die Atmung des Jungen ging in eine Schnappatmung über. „Das ist die Wahrheit, Dazai! Ich lüge nicht! Ranpo hat das Teil bei sich!“

„So?“ Mit ernster Miene blieb Dazai vor ihm stehen und jegliche Farbe entwich Atsushis Gesicht, als sein Mentor den Lauf der Pistole gegen seine Stirn drückte. „Wie ich schon sagte: Du bist ein grausiger Lügner, Atsushi.“ Er langte mit seiner freien Hand in die rechte Hosentasche des Jüngeren und holte dort etwas hinaus. Entgeistert starrte Atsushi auf den kleinen Computerchip-ähnlichen Gegenstand, den Dazai plötzlich in der Hand hielt.

Was …?

Wie …?

Woher …?

Seine Augen weiteten sich, als ihm dämmerte, was passiert sein musste. Ranpo hatte ihm dieses Ding heimlich zugesteckt. Aber warum?

„Das ist es also?“ Dazai hielt das Teil prüfend in die Sonne, doch diese machte ihm einen Strich durch die Rechnung, indem an diesem heißen Tag schlagartig dunkle Wolken am zuvor blauen Himmel aufzogen. Der Braunschopf zuckte mit den Schultern. „Ich hatte irgendwie mehr erwartet.“ Er übergab es Shaw, der es gierig entgegennahm und mit großen Augen anblickte.

Hastig krempelte der Ire den rechten Ärmel seines Sakkos und seines darunterliegenden Hemdes hoch. An seinem Unterarm kam eine merkwürdige Konstruktion zum Vorschein. Sie sah aus wie eine schwarze Armschiene, die mit mehreren Bändern an seinem Arm befestigt war. An der Stelle, unter der seine Pulsadern waren, klaffte ein Loch. Mit zitternden Fingern setzte Shaw das fehlende Teil in das Loch ein. Es passte wie angegossen. Ein blasses, hellgelbes Licht flackerte kurz auf dem Display des Apparates auf.

„Geschafft“, hauchte er entrückt. „Geschafft!“

„Das ist sie?“ Dazai klang enttäuscht. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein winziges Ding eine Fähigkeiten-Waffe sein soll. Sind Sie sich sicher, dass sie funktioniert?“

Zum ersten Mal überhaupt sahen sie Shaw lächeln. „Sie funktioniert! Glauben Sie mir, sie funktioniert! Basil hatte sie für den Einsatz auf dem Schlachtfeld konzipiert, daher ist sie so kompakt. Ja, er war ein wahrer Meister seines Fachs. Nach all den Jahren, nach all den schrecklichen Dingen, die passiert sind, halte ich sein größtes Meisterwerk in Händen. Es hat lange gedauert, aber wir sind endlich am Ziel angekommen!“

Nervös beobachteten die Detektive und Joyce das Geschehen. Sie wussten nicht, wie diese Erfindung arbeitete und was Shaw mit ihr vor hatte.

„Und jetzt?“, hakte Dazai nach. „Muss man irgendeinen Knopf drücken? Oder ein Gedicht aufsagen?“

„Es ist etwas komplizierter als das“, erläuterte Shaw und schritt zu Wilde zurück. „Der Apparat kann nur von einem Befähigten aktiviert werden, der über eine Heilfähigkeit verfügt.“ Er hielt seinem Landsmann den ausgestreckten Arm, mit der Handinnenfläche nach oben, hin und übergab ihm mit der anderen ein kleines Messer. Wilde nahm es entgegen, holte tief Luft, schnitt sich in die brutal zugerichtete linke Hand und legte die Finger seiner rechten Hand auf das Display.

„Fähigkeit: The Happy Prince“, sagte er vollkommen unenthusiastisch.

Das vorher nur schwache Licht leuchte plötzlich grell auf. Das ehemals schwarze Teil, das die Detektive so mühsam gesucht hatten, wechselte die Farbe und erstrahlte nun in goldenem Glanz.

„Perfekt“, Shaw blickte ehrfürchtig auf die Fähigkeiten-Waffe an seinem Arm. „Es fehlt nur noch eine Kleinigkeit.“ Er drehte sich zu Dazai um. Mit auffällig unsicheren Schritten kam der Ire auf ihn zu.

Gespannt sah der Detektiv flüchtig zu Wilde, der seltsam besorgt wirkte, bevor er den Blickkontakt zu seinem neu gewonnenen Verbündeten suchte. Shaw ballte die Hand, über der die Fähigkeiten-Waffe befestigt war, zu einer Faust und entspannte sie wieder, als er vor Dazai zum Stehen kam. Zögerlich streckte er die Hand nach Dazai aus. Es schien, als wollte er nach ihm greifen. Nur wenige Millimeter trennten seine Fingerspitzen noch von dem Brünetten, bevor er ihn berühren konnte-

„George, bitte, langweile mich nicht.“

Die drei Detektive und Joyce schnellten herum, als hinter ihnen diese Stimme ertönte.

Shaw hatte erschrocken inne gehalten, während Wilde vor Schreck erstarrt war.

Aufmerksam drehte auch Dazai sich in die gleiche Richtung.

Ein Mann mit kurzen Haaren, die schwarz wie Ebenholz waren, und einem säuberlich getrimmten Bart kam hinter dem Gebäudeteil hervor, das in das Treppenhaus führte. Er trug ein elegantes, schwarzes Samtjackett und eine teuer aussehende, dunkelgraue Hose. Zudem hatte er einen edel wirkenden Gehstock bei sich.

„Das wolltest du gerade nicht wirklich tun, oder?“ Der Mann schüttelte empört und gleichzeitig überheblich den Kopf. „Du wolltest mich gerade nicht wirklich verraten, oder?“

Eilig machte Shaw einen Schritt von Dazai zurück und tippte das Display an, sodass der Goldschimmer etwas schwächer wurde. „Unsinn. Wie kommst du darauf, Henry?“

„Henry?“ Kunikida und Joyce tauschten einen ebenso aufgeschreckten Blick aus wie Atsushi und Kyoka.

„Noch ein Wiedersehen?“ Dazai drehte sich zum kreidebleichen Wilde um.

Dieser schüttelte ungläubig den Kopf. „Das … das kann nicht ...“

Henry lachte belustigt. „Das ist ja eine Seltenheit, dass du sprachlos bist. Aber unser japanischer Bruder im Geiste hat Recht, nicht wahr? Wir haben uns in der Tat sehr lange nicht gesehen.“

„Nicht, seit wir dachten, du seist bei diesem Auftrag damals gestorben.“ Wilde errang seine Fassung wieder. „Hast du dem Teufel ein Ohr abgekaut und bist zurückgeschickt worden?“

Der Totgeglaubte lachte abermals. „Ah, ja, du fandest schon damals, ich würde zu viel reden. Dein geliebter Dorian hat mir immer mit Freuden zugehört. Deswegen hatte er es wohl auch einfach nicht kommen sehen, als ich ihm einen deiner alten Dolche in den hübschen Körper gerammt habe.“

„Du hast -?!“ Wilde stürmte nach vorne und wurde von Shaw mit der linken Hand aufgehalten.

„Tsk, tsk, tsk.“ Henry wackelte mit einem Finger. „'Oh nein! Wie konntest du nur?'“, ätzte er mit affektierter Theatralik. „Bitte, Oscar, langweile mich nicht mit so etwas. Ich habe so viele Mühen auf mich genommen, um Basils Vermächtnis wiederzufinden. Es ist wahr: Ich bin damals nur sehr knapp mit dem Leben davon gekommen und da dachte ich mir: Warum riskierst du so viel für Basils schwachsinnigen Traum von einer friedlichen Welt? Das Leben ist zu kurz für so einen Unfug. Ich zog eine Weile umher und plötzlich überkam mich eine Eingebung. Das Leben ist zu kurz.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Dann fand ich den guten George in einem wirklich bedauernswerten Zustand vor. Der Arme war wegen eurer schiefgegangenen Pläne durch die Hölle gegangen und floh rastlos von einem Ort zum nächsten. Selbstverständlich musste ich ihm da helfen. Umso bitterer, dass er sich nicht an unsere Absprache hält.“

„Was soll das heißen?“, murrte Kunikida in das selbstverliebte Gefasel des Engländers hinein.

„Von einer Absprache höre ich auch zum ersten Mal“, bemerkte Dazai. „Und von diesem Henry.“

„Na los“, forderte Henry Shaw auf, „erzähl ihnen von der Kleinigkeit, die du vergessen hast zu erwähnen.“

Erzürnt grummelte der Ire und knirschte mit den Zähnen. „Der Apparat benötigt eine weitere Voraussetzung, um ein Leben unsterblich zu machen“, gab er widerwillig zu, „ein Menschenopfer.“

Entsetzt sah Atsushi von Shaw zu Dazai. Hatte er gerade etwa versucht-?

„Oh.“ Dazai blinzelte und zeigte mit seiner freien Hand auf sich. „Ich sollte geopfert werden? Das ist aber nicht nett.“

„Nicht wahr?“ Henry gab ihm gespielt empört Recht. „Nach allem, was ich für dich getan habe, George, fällst du mir so in den Rücken? Ich habe gesagt, ich will den interessanten Japaner behalten und du sollst die Frau dafür benutzen. Wo ist sie überhaupt? Habt ihr sie im Versteck gelassen?“

„Da ich einen Ersatz für Frau Mansfield gefunden hatte, sah ich keine Notwendigkeit, sie mitzunehmen“, erklärte Shaw. „Außerdem traue ich dem Detektiv nicht so sehr wie du.“

„Aber er ist interessant! So viel interessanter als einer von euch es je sein wird“, lamentierte der Engländer. „Was ist daran so schwer zu verstehen?“

„Ich vermute, ich sollte mich geschmeichelt fühlen“, warf Dazai verstörend heiter ein.

„Definitiv!“, antwortete der Schwarzhaarige entzückt. „Es gibt schließlich nur zwei Arten von Menschen auf der Welt, die wahrhaft faszinierend sind: Die, die absolut alles wissen und die, die absolut nichts wissen. Von der letzteren Sorte findet man hier und da einige, aber von der ersteren … oh, viel zu wenige. Viel zu wenige.“

Joyce machte ein verächtliches Geräusch. „Damit ich das richtig verstehe: Sie haben diesen Dorian umgebracht und mich und die Detektive in diese Falle gelockt, nur damit Sie alle länger leben können als andere?“

„Nur?“ Henry wirkte beleidigt. „Nur. Tsk. Verspotten Sie nicht den armen George. Basils Erfindung kann schließlich noch viel mehr. Sie kann Gott spielen und Leben erschaffen, wo vorher keins war!“

„Soll heißen, sie könnte aus einer Lebensform-Fähigkeit einen echten Menschen machen“, übersetzte Dazai. „Ich hatte mir so etwas bereits gedacht.“

„Eliza“, folgerte nun Kyoka. „Mit Dazais oder Mansfields Opfer sollte Eliza zu einem Menschen gemacht werden.“

„Ist so etwas wirklich möglich?“ Atsushi konnte es kaum glauben.

„Ich habe keine Ahnung.“ Mit ratlosem und doch todernstem Blick verfolgte Kunikida die Diskussion.

„Davon weiß ich auch nichts“, sagte Wilde, wieder etwas ruhiger. „Basil hat nie etwas in dieser Richtung erwähnt. Aber George glaubt fest daran. Hast du ihm das eingetrichtert?“

„Warum so feindselig?“, entgegnete Henry pikiert. „Ich bin der einzige, der ihm helfen wollte, nachdem ihr ihm diese schrecklichen Dinge angetan habt. Wieso sollte ich ihn anlügen? Was hätte ich davon? Er hängt an seiner Eliza und wir haben so viel durchgemacht, um den beiden den Traum zu erfüllen, dass sie ein Mensch werden kann. Basil wollte das auch nicht verstehen. Er war so unkooperativ. Und dann wundert er sich, wenn ich ihn töte. Aber er war schon immer ein wenig wunderlich gewesen.“

„Du hast auch Basil auf dem Gewissen?“ Erschüttert und gleichzeitig angewidert trat Wilde von Shaw zurück und fuhr sich mit seiner gesunden Hand verzweifelnd durch die Haare. „Ich konnte dich nie leiden, aber ich dachte, du hättest wenigstens Basil gegenüber so etwas wie Freundschaft oder Verbundenheit verspürt. Lag ich da so falsch? Konntest du ihn einfach kaltblütig ermorden?“

Henry seufzte und rollte mit den Augen. „Kaltblütig. Habe ich etwas von kaltblütig gesagt? Wir hatten uns sehr warmherzig unterhalten, bevor ich ihn abgestochen habe, also … würde ich das nicht als kaltblütig bezeichnen. Außerdem hätte er es mir wirklich nicht so schwermachen sollen. Ich hatte zwar die Liste mit den Orten, an die die Teile geschickt worden waren, schon vor einiger Zeit gestohlen und abgearbeitet, aber er weigerte sich, mir das Geheimnis hinter Yokohama preiszugeben. Wen zur Hölle kannte er denn in Yokohama? Und weißt du, was dann seine letzten Worten waren? 'Du wirst sie nie finden, die Person, die auch von jeglichem Glück verlassen worden ist.' Oh bitte!“ Er schnalzte verächtlich mit der Zunge. „Zuviel Kitsch für meinen Geschmack. Herr Dazai, da geben Sie mir doch Recht, oder?“

„Ich bin auch kein Freund von Gefühlsduseleien“, antwortete Dazai achselzuckend.

Fassungslos blickte Atsushi zwischen seinem Mentor und Henry Wotton hin und her. Ihm wurde schlecht, als er hörte, wie der Engländer beiläufig und ungerührt von der Ermordung eines Menschen sprach. Wie konnte jemand so unmenschlich sein? Es tat weh, es tat ihm körperlich weh. Dazai konnte unmöglich dessen Meinung teilen. So war er nicht … oder? Atsushi wollte vor Kummer und Verzweiflung schreien und tat es dennoch nicht. Stille Tränen formten sich in seinen Augen und fielen genauso geräuschlos seine Wangen herab.

All das hier war ein Albtraum. Und er fand keinen Weg, um daraus zu erwachen.

Unter den achtsamen Augen von Kunikida, Kyoka und Joyce stolzierte Henry an ihnen vorbei und schloss zu Shaw auf.

„George, es tut mir sehr leid, das jetzt tun zu müssen, aber ...“ Er hielt seine rechte Hand auf, während die linke seinen Stock weiterhin umfasste, „... gib mir bitte Basils Erfindung.“

„Was? Warum?“ Irritiert riss Shaw die Augen auf.

„Du kriegst sie ja wieder. Allerdings finde ich es mehr als gerechtfertigt, wenn wir nach deinem Fauxpas die Reihenfolge ändern. Ich darf zuerst und dann darfst du, aus Gründen, die ich niemals verstehen werde, dein geliebtes Weib zu einem Menschen machen. Du hast mein Vertrauen auf eine harte Probe gestellt. Ich will mir nicht weiter Sorgen machen, dass du mich verraten könntest.“

Hadernd wanderte Shaws Blick von seinem Kameraden zu dem Apparat um seinen Unterarm. „Ich wollte dich niemals verraten, Henry.“ Er schaute auf und sah ihn direkt an, während er die Halterungen des Geräts löste. „Aber mein Gewissen lässt nicht zu, dass wir Frau Mansfield opfern. Sie war mit meiner Lösung, ihn zu opfern, einverstanden. Damit wäre uns doch allen geholfen.“

„Oh, George.“ Henry seufzte abermals und zog ihm das Gerät vom Arm. Seinen Gehstock unter einer Achsel einklemmend, schob er einen Ärmel seiner Jacke hoch und band sich die Fähigkeiten-Waffe selbst um. „Und das nachdem ich dir auch noch verraten habe, wo du deinen alten Peiniger finden kannst. Ich hätte ahnen sollen, wie du tickst, als du sagtest, du wolltest kein unnötiges Blutvergießen. Herrje, selbst zu human, um dich an diesem Mori, den du so sehr hasst, zu rächen. Schrecklich.“ Seine Worte trieften vor Verachtung und Spott.

„Ich überlasse ihn gerne dir.“ Sichtlich in seinem Stolz gekränkt, unterdrückte Shaw mit zweifelhaftem Erfolg seinen Zorn.

„Tsk, tsk, tsk“, machte Dazai da von neuem, „Kunikida! Also wirklich, du legst aber heute ein außergewöhnlich schlechtes Verhalten an den Tag. Lass die Hände oben.“ Dazai hielt die Pistole zwar lediglich ziemlich lasch in der Hand, doch er richtete sie im Nu wieder auf und sorgte damit für erneuerte Wachsamkeit bei den Detektiven. „Dein Verhalten färbt schon auf euren Gast ab. Herr Joyce, wenn ich bitten dürfte: Nehmen Sie Ihre Händen von Ihren Taschen weg.“

Mehrere nicht verständliche Flüche murmelnd, hob auch der bebrillte Ire die Hände hoch. „Sind Sie so herzlos, dass Sie nicht verstanden haben, was die zwei gerade besprochen haben?“

„Hmm?“ Der brünette Detektiv legte den Kopf ein wenig schief – was Kunikida stöhnen ließ.

„Doch, er weiß, was die zwei besprochen haben und was das bedeutet. Jede Benutzung des Apparates erfordert ein Opfer. Selbst wenn nur Wotton, Shaw und Dazai ihn verwenden wollen, müssen allein dafür drei Menschen sterben.“

Atsushi japste an dieser Stelle laut und zog so für einen Augenblick die Aufmerksamkeit aller auf sich. Entgegen seines sonst üblichen Verhaltens, richtete der Junge seinen Blick nicht gen Boden, sondern sah mit seinen verheulten Augen seinen Mentor direkt an. „Dazai, komm zu dir!“, wollte er am liebsten schreien oder „Das bist doch nicht du!“, aber außer seines schnell gehenden Atems kam kein Laut über seine Lippen. Das war nicht Dazai, der da vor ihm stand. Er sah aus wie er, doch er war es nicht. Seine Aura war kalt und dunkel. Nichts erinnerte ihn mehr an den Mann, der ihm das Leben gerettet hatte, indem er ihn bei den bewaffneten Detektiven untergebracht hatte. Das war nicht mehr der gleiche Chaot, der ihm Ratschläge gegeben hatte, ihn ermutigt hatte und ihm zur Seite gestanden hatte, als er ihn gebraucht hatte.

Es tat so weh.

„Halte durch“, sagte Kyoka und nahm seine Hand. Sogar durch seine Handschuhe konnte Atsushi spüren, wie kalt ihre eigene Hand war. Hatte selbst Kyoka in diesem Moment Angst?

„Wir nehmen keins von den Kindern, in Ordnung?“ Dazai richtete seine Frage an Henry. „So etwas würden nur die Bösen tun und ich fände es schrecklich langweilig, als einer der Bösen betrachtet zu werden.“

Der Engländer lachte. „Ein interessanter Gedanke! Und du wolltest diesen Prachtkerl opfern, George! Nein, wir haben ja mehr als genug Auswahl. Wir können die Kleinen ignorieren.“

„Und was ist mit meiner Bedingung?“, fragte Wilde, noch blasser als zuvor, aus dem Hintergrund und Joyce stutzte, als Henrys Blick danach auf ihm landete.

Der Schwarzhaarige rollte zum wiederholten Mal mit den Augen. „Himmel, du hängst dich viel zu sehr an andere Leute, Oscar. Aber ja, natürlich, ich kenne deine Bedingung und respektiere sie.“ Er nahm seinen Gehstock in die linke Hand und strich mit der anderen über dessen Griff. „Trotzdem will ich keinen Ärger haben. Es ist immer besser, Ärger zu vermeiden. Darauf können wir uns doch alle einigen?“

Ein finsteres Lächeln umspielte die Lippen des gefühllosen Mannes und Kunikidas Instinkte schlugen Alarm.

Wenn man nach einem Ausschlussverfahren ging, dann war nur er übrig, um als Opfer in Frage zu kommen. Aber das war es nicht, was ihn so sehr beunruhigte. Er war nicht im Stande die Situation völlig zu überblicken und er wusste nicht, was als nächstes passieren würde. Doch er hatte das Gefühl, dass noch irgendetwas Unerwartetes geschehen würde.

Er hatte diesen Gedanken gerade erst zu Ende gedacht, als eine Kappe auf der Spitze des Gehstocks aufsprang und etwas zweimal rasend schnell daraus abgefeuert wurde. Was auch immer es war, flog an Kunikida vorbei und traf nacheinander die neben ihm stehenden Atsushi und Kyoka.

Beide zogen erschrocken die Luft ein und fassten hastig an die Eintrittswunden an ihren Hälsen.

„Was …?“ Atsushi blickte auf seine Hand, doch entgegen seiner Erwartung war dort kein Blut zu sehen, sondern nur ein lilafarbener Hauch. Voller Entsetzen starrte Kunikida zu den Jüngeren, deren Pupillen sich plötzlich nach hinten rollten, bevor sie beide kraftlos zu Boden fielen.

„Äh, ich meinte natürlich, die Kinder sollten überhaupt nicht sterben“, warf Dazai flapsig ein und Henry winkte ab.

„Werden sie auch nicht so schnell. Das ist eine verdünnte Version des Giftes, das ich Eliza ins Krankenhaus mitgegeben hatte. Wenn sie innerhalb der nächsten zwei Stunden Hilfe bekommen, werden sie nicht sterben. Bis dahin dürften wir hier ja fertig sein, will ich hoffen.“ Er ließ den unbrauchbar gewordenen Stock aus der Hand gleiten, sodass dieser ebenso auf die Erde fiel. Dann tippte er von neuem das Display des Apparats an, was daraufhin wieder hell leuchtete.

„So, dann wollen wir mal.“

Blitzschnell streckte er die Hand mit der Fähigkeiten-Waffe nach einem der bei ihm stehenden Männer aus und berührte diesen.

Entgeistert starrte Shaw Henry an, als dieser ihn gegriffen hatte.

„Ach ja“, äußerte der Engländer beiläufig, „da war noch eine Kleinigkeit.“

For all of our youth, we have craved them – Their beauty and their truth

For all of our youth

We have craved them

Their beauty and their truth“

 

Placebo, „Loud like love“

 

Die Sonne hatte hell vom blauen, fast wolkenlosen Himmel geschienen an diesem Septembermorgen vor etlichen, etlichen Jahren. Ein frischer, angenehmer Wind hatte an diesem schönen Tag durch Dublin geweht, als im Haus der Familie Wilde das Telefon geklingelt hatte. Bis heute konnte Oscar Wilde sich an das Gesicht seiner Mutter erinnern, nachdem sie den Hörer abgenommen hatte.

„Verstanden“, hatte sie alarmiert gesagt und dann aufgelegt. Fahrig und doch zielsicher hatte sie daraufhin eine Schublade vom Wohnzimmerschrank geöffnet, unter einem Stapel Briefe ein Kuvert herausgeholt und daraus ein dickes Bündel Geldscheine entnommen. Zielstrebig war sie zu ihrem Sohn marschiert, hatte ihm das gesamte Geld in die Hosentasche gestopft, ihm tief in die großen, dunklen Augen geblickt und gesagt:

„Lauf.“

Er hatte nur schwach genickt, war zu einem der Fenster an der Rückseite des Hauses gelaufen und blitzschnell dort hinaus geklettert. Wie der Wind war er über den Zaun gestiegen und auf die andere Straßenseite in den Merrion Square Park gelaufen.

Von dort hatte er sie gesehen.

Die britische Militärpolizei.

Seine Mutter hatte diesen Tag kommen sehen und ihn darauf vorbereitet. Seit Beginn des Krieges hatte sie sich im Widerstand engagiert und mit ihren Aktionen mehr und mehr den Zorn der britischen Armee auf sich gezogen. Jetzt waren sie gekommen, um sie zu holen.

Es war alles so sinnlos.

England, Frankreich, Deutschland und Japan führten einen Krieg gegeneinander, bei dem wahrscheinlich keine Seite überhaupt mehr wusste, um was es eigentlich ging. Es war die tragische Geschichte Irlands, die sie vertraglich an die Unterstützung der Briten band. Wenn diese vier Nationen keinen Frieden schließen konnten, hatte seine Mutter öffentlich skandiert, dann war das schon schlimm genug, aber sie sollten das unter sich ausmachen und das irische Volk da raus lassen.

Immer mehr Iren waren in der letzten Zeit von den englischen Befehlshabern zwangsrekrutiert worden. Wilde selbst hatte keine Ahnung, was aus seinem Vater geworden war. Erst Jahre später würde Huxley herausfinden, dass er auf irgendeinem Schlachtfeld auf dem Kontinent den Tod gefunden hatte.

Alles so sinnlos.

Er war damals nicht lange genug im Park geblieben, um zu beobachten, wie sie seine Mutter fortbrachten, denn er hatte ihr versprochen, dass er – wenn es dazu kam – weglaufen und nicht zurückblicken würde. Also lief er los. Er lief weg von seinem Elternhaus, mischte sich zuerst unter die Leute auf der belebten O'Connell Street und ließ sich schließlich erschöpft unweit eines roten Backsteingebäudes auf ein paar Treppenstufen nieder. Dort weinte er bitterlich bis zum nächsten Morgengrauen.

Da er kein kleines Kind mehr war, sondern immerhin schon 15 Jahre alt, hatte seine Mutter befürchtet, sie könnten ihn im Falle ihrer Verhaftung zum Militärdienst einziehen. Daher sollte er sich verstecken, nicht auffallen, bis die Lage sich vielleicht irgendwann zum Besseren ändern würde. Das Geld, das sie ihm mitgegeben hatte, reichte zwar nicht, um das Land zu verlassen, doch er allein würde damit gewiss ein paar Monate hinkommen, wenn er sparsam war. Seine Mutter hatte ihn immer wieder darin bestärkt, wie klug er war und dass er sicherlich gut allein klarkommen würde. Der Gedanke, völlig allein zu sein, ließ jedoch das Blut in seinen Adern gefrieren. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen als ganz und gar allein zu sein.

Mitten in seine Überlegungen platzte ein leises Wimmern.

Aufgeschreckt sah Wilde von seinem Platz auf den Treppenstufen hoch. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und seine ganze Umgebung war in ein mystisches Dämmerlicht getaucht. Hier war niemand außer ihm und doch hörte er in der Nähe schon wieder dieses klägliche Wimmern. Er stand auf und ging die Stufen wieder hinauf, zurück zur Straße. Vorsichtig blickte er um die Ecke und hielt perplex inne.

Ein Junge saß dort auf dem Bürgersteig. Er hatte die Arme um seine Beine geschlungen und sein Kopf hing so tief, dass man außer seinen goldblonden Locken nichts erkennen konnte. Das Wimmern war zu einem herzzerreißenden Schluchzen geworden.

„Fehlt dir was?“, fragte Wilde behutsam, als er sich dem Jungen näherte. Dieser schreckte zusammen und sah ihn mit ängstlichen, weit aufgerissenen und selbst im Halbdunklen leuchtenden blauen Augen an.

„Ich ...“, begann der Junge scheu und mit zitternden, scharlachroten Lippen, „ich bin ganz allein.“

Seine Antwort versetzte ihm einen Stich ins Herz.

„Oh … warum?“

Tränen rannten in Strömen aus diesen tiefblauen Augen. „Vor ein paar Tagen haben sie meinen Vater eingezogen.“

„Und deine Mutter?“

„Lebt nicht mehr.“

„Und dein Zuhause?“

„Wurde beschlagnahmt.“

Die Straßenkinder waren ein bekanntes und weitgehend unlösbares Problem. Die Waisenhäuser waren unterfinanziert und überfüllt und je länger der Krieg sich zog, desto mehr schienen die Leute sich an das Bild der auf den Straßen lebenden Kindern zu gewöhnen. Hier und da kippte die Stimmung auch bereits zu ihren Ungunsten, denn um zu überleben, klauten die Kinder alles, was nicht niet- und nagelfest war.

Die Menschen waren dumm.

Statt sich mit schönen Dingen zu beschäftigen, zogen sie die Hässlichen vor. Gab es keine Möglichkeit, diesen Unsinn zu beenden?

„Ich will nicht sterben“, winselte der goldblonde Junge erbärmlich. „Ich will nicht einsam und allein und elendig auf der Straße sterben.“ Mit tränennassen Augen sah er zu Wilde hoch.

Der Junge musste ungefähr so alt wie er selbst sein und Wilde kam trotz seines momentan kläglichen Aussehens und ihrer beider grässlicher Lage nicht umher, zu denken, wie außergewöhnlich hübsch dieser Junge war. Er hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so hübsch aussah (von seiner Mutter abgesehen, aber das war eine ganz andere Sache). Und außerdem – gerade, als ihn selbst die Angst vor dem Alleinsein überkommen hatte, tauchte dieser Junge auf, fast als hätte er ihn herbeibeschworen. Vielleicht wollte eine höhere Macht ihm in dieser schweren Stunde einen Kameraden schicken.

„Mein Name ist Oscar.“ Er hielt ihm eine Hand hin und lächelte. „Ich bin auch allein, aber wenn wir beide zusammen allein sind, sind wir nicht mehr allein, sondern zusammen, oder?“

Schniefend wischte der Junge sich die Tränen weg und blinzelte sein Gegenüber fragend an.

„Ich will sagen, dass wir uns zusammentun“, übersetzte Wilde.

„Ah, oh!“ Auf den wunderschönen Lippen des Jungen bildete sich ein zartes Lächeln und Wilde musste vor Verzückung schlucken. „Wirklich? Das wäre … das wäre großartig.“ Er ergriff die ihm entgegengestreckte Hand und wurde von ihr vom Boden hochgezogen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die beiden jungen Männer. „Mein Name ist Dorian. Dorian Gray.“

 

Für zwei Personen reichte das Geld natürlich nur halb so lange, weswegen sie sich zügig etwas hatten einfallen lassen müssen. Dorian war schüchtern und ängstlich und machte praktisch keinen Schritt mehr ohne Wilde an seiner Seite. Es war dem Braunschopf schnell klar geworden, dass Dorian ohne ihn keinen weiteren Tag auf der Straße überlebt hätte. Im schlimmsten Fall wäre er möglicherweise sogar einer der herumziehenden Menschenhändlerbanden ins Netz gegangen. Hier und da hörte man die Geschichten von verschwundenen Kindern, die als unbezahlte Arbeiter in Fabriken und auf Felder verschickt wurden oder für andere Dienste verwendet wurden, über die man in der strengen Öffentlichkeit nicht laut sprach. Ein Gefühl von blanker Panik überkam ihn regelmäßig, wenn er daran dachte, dass seinem zarten, liebreizenden Dorian so ein grausames Schicksal hätte blühen können.

Sie beide waren nicht dafür gemacht, Raubüberfälle oder Einbrüche zu versuchen, doch glücklicherweise wusste Wilde um sein Talent, andere um den Finger zu wickeln. Es hatte schon in der Schule bestens funktioniert und so hielten die zwei sich mit kleinen Trickbetrügereien über Wasser. Es half sehr, dass Dorian das Gesicht eines Engels hatte. In den meisten Fällen sprachen sie unter irgendeinem Vorwand ältere Damen auf der Straße an und während Dorian nichts tun musste, außer bezaubernd dreinzublicken, leierte Wilde ihren Opfern geschickt etwas Geld aus der Tasche. Manchmal sogar Schmuck, den sie auf dem Schwarzmarkt verticken konnten („Oh, sieh doch nur, die gleiche Kette, die deine geliebte Mutter früher trug!“ An dieser Stelle musste Dorian nur noch ergriffen weinen und zack! hatten sie eine Halskette gewonnen).

Es war gewiss kein gutes Leben, bei dem sie von der Hand in den Mund lebten und ständig von einem abrissreifen Haus zum nächsten zogen und Angst vor besonders kalten Nächten haben mussten, doch keiner der beiden beschwerte sich sonderlich.

„Du tust so viel für mich“, sagte Dorian eines Tages bekümmert, „und es gibt so wenig, das ich tun kann. Ich wünschte, ich könnte so viel mehr tun.“

Erstaunt blickte Wilde ihn an und schüttelte dann lächelnd den Kopf. „Dorian, du tust so viel mehr für mich, als du dir vorstellen kannst.“

„Wirklich?“

Es war so herzallerliebst, wie ahnungslos er sein konnte. „Aber ja. Du bringst Sinn in eine sinnlose Welt. Das ist das Größte, was jemand tun kann.“

Dorian war stets am schönsten, wenn er über das ganze Gesicht strahlte. „Und das tue ich?“

Wilde nickte, nahm die Hände des Anderen in seine eigenen und küsste seine scharlachroten Lippen.

Es war kein schlechtes Leben, das die beiden hatten.

 

Es schüttete aus Eimern, als die Polizei in dieser Nacht gewaltsam die Straßenkinder aus dem leerstehenden Haus räumte. Das Problem mit den Waisenkindern hatte überhand genommen und weder die Bevölkerung noch die Polizei zeigten mehr jegliches Mitgefühl. Wilde und Dorian waren aus einem der Fenster getürmt, als sie die ersten Schüsse und die Schreie der anderen Kinder hörten. Dorian erstarrte vor Angst und Wilde musste ihn anschreien, damit er sich überhaupt wieder bewegte. Sie mussten hier weg, sie mussten hier schnell weg. Das waren keine einfachen Polizisten mehr, es schien vielmehr so, als hätten böse Geister Besitz von den Menschen ergriffen. Einer der Polizisten hatte ihre Verfolgung aufgenommen und gab im Laufen mehrere Schüsse auf sie ab. Wilde hatte sich Dorian gegriffen und wollte mit ihm in die Liffey springen, um sich vor dem Verfolger zu retten, auch wenn der Fluss durch das schlechte Wetter viel Wasser führte und die Strömung stark war. Sie hatten die Wahl, so eventuell zu entkommen oder mit Gewissheit hier erschossen zu werden.

Als sie sprangen, schrie Dorian vor Schmerzen auf und Wildes Herz blieb beinahe stehen. Während die Strömung sie davontrieb, umklammerte er mit der linken Hand Dorian und versuchte, mit der rechten nach etwas zu greifen, um sie wieder aus dem Fluss zu ziehen. Er dankte Gott in dem Moment, als er trotz aller Widrigkeiten dieses Wunder vollbrachte. Vor Angst und Kälte zitternd, retteten sie sich an ein Ufer. Unter dem schwachen Licht einer Straßenlaterne erkannte Wilde den Grund für Dorians Schrei. Eine Kugel hatte ihn in den Oberschenkel getroffen. Es war ein glatter Durchschuss, aber dennoch blutete die Wunde heftig und der goldblonde Junge konnte vor Schmerzen kaum atmen. Panisch starrte Wilde abwechselnd auf das Blut und das schmerzverzerrte Gesicht seines Freundes. Er durfte Dorian nicht verlieren. Unter gar keinen Umständen durfte er Dorian verlieren. Was sollte er tun? Was konnte er überhaupt tun? Er musste ihn retten!

Vor Angst und Verzweiflung sammelten sich Tränen in seinen Augen. Hilflos drückte er seine linke Hand auf die Wunde am Bein und griff mit der rechten nach Dorians Hand. Er stockte perplex, als er dabei plötzlich einen starken, stechenden und pochenden Schmerz in seiner rechten Hand spürte. Verdattert schaute er auf diese Hand. Sie war blutüberströmt und einige der Finger waren abgeknickt, so als wären sie gebrochen. Er hatte sie aus dem Fluss ziehen können, weil er mit dieser Hand gegen ein scharfkantiges Metallrohr gedonnert war. Dabei musste er sich so verletzt haben. Aus Furcht um Dorian hatte er dies bis jetzt nicht einmal bemerkt.

Ein warmes Gefühl durchflutete ihn auf einmal.

Als käme ein Licht aus seinem Innern.

Wildes Atem ging schnell, als Dorian sich plötzlich aufsetzte.

„Es … es tut gar nicht mehr weh.“

Die Welt nicht mehr verstehend, blickte der Dunkelhaarige auf die Verletzung seines Freundes. Sie war verschwunden.

Was in aller Welt war das gewesen?

 

Befähigte.

So nannte man Menschen, die über übernatürliche Fähigkeiten verfügten. Wilde hatte schon mehrmals davon gehört, aber er hatte noch nie zuvor einen solchen Menschen getroffen und es daher für ein Ammenmärchen gehalten.

Allerdings - war er wohl ein Befähigter.

Sie hatten es mehrmals mit kleineren, harmlosen Verletzungen versucht und tatsächlich: Jedes Mal, wenn Dorian sich an einem Papier schnitt, Wilde daraufhin das Gleiche tat und ihn berührte, verschwand Dorians Wunde.

Eine unverhoffte Einnahmequelle hatte sich vor ihnen aufgetan.

Außerhalb der Stadt, wo es keine Ärzte gab, heilte Wilde geringfügige Verletzungen und kassierte dafür Geld oder Naturalien. Doch mit jedem Tag, an dem der Brünette sich selbst Verletzungen zufügte, wuchs Dorians Unzufriedenheit. Derjenige, den er so sehr liebte und bewunderte, musste solche Pein erleiden, um sie beide durchzubringen. Er kam sich schrecklich nutzlos vor.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte Wilde besorgt, während sie außerhalb eines Dorfes am Wegesrand saßen und Dorian mit verkniffener Miene einen Verband um eine größere Wunde des Anderen wickelte. Größere Verletzungen seitens der Patienten erforderten größere Verletzungen seitens Wilde. Und trotzdem fragte der blasse, sichtlich erschöpfte Dunkelhaarige ihn, ob es ihm gut ginge. Mit aller Kraft hielt Dorian ein paar Tränen zurück und schüttelte den Kopf. Wie nutzlos konnte ein Mensch sein?

„Danke, dass du das machst.“ Wilde schien offensichtlich seine Gedanken lesen zu können und bot ihm Worte der Aufmunterung an.

„Ich mache doch gar nichts“, entgegnete Dorian bitter.

„Das sehe ich anders. Ich weiß, dass dir der Anblick von Blut zuwider ist.“

Entgegen seines Willens fielen Tränen aus den Augen des goldblonden Jungen. „Sind … sind die Schmerzen auszuhalten?“ Er zuckte zusammen, als Wilde ihm die Tränen aus dem Gesicht wischte.

„Solange du bei mir bist, ja.“ Er lächelte und Dorian erwiderte das Lächeln schwach.

Schritte ließen sie plötzlich aufhorchen. Zwei Männer kamen den Weg, der aus dem Dorf führte, entlang. Sie trugen keine Uniformen, was die beiden Jungs enorm beruhigte, doch sie sahen auch nicht so aus, als kämen sie aus dieser Gegend. Einer von ihnen, er hatte aschblonde, streng gescheitelte Haare, machte eine ziemlich finstere Miene; der andere - er hatte pechschwarze, filigrane Haare und trug eine Brille - machte ein freundlicheres Gesicht. Sie mussten beide etwa zehn Jahre älter als sie selbst sein. Die Fremden blieben vor ihnen stehen und Dorian ergriff ängstlich eine Hand seines Freundes.

„Guten Tag“, grüßte der Mann mit der Brille herzlich, „dürften wir die zwei jungen Herren etwas fragen?“

„Ich sehe keinen Grund, warum das verboten sein sollte“, erwiderte Wilde schlagfertig und brachte damit sein Gegenüber zum Schmunzeln.

„Wir haben nun schon mehrmals gehört, dass es hier in der Gegend jemanden mit der Fähigkeit zum Heilen geben soll. Wisst ihr zufällig etwas darüber?“

Wilde spürte, wie Dorian seine Hand fester drückte. Er drückte sanft zurück, um ihn zu beruhigen. „Hmm, ob wir etwas über einen Heiler wissen?“, antwortete er nonchalant. „Das kommt auf zwei Dinge an.“

„So?“ Der bebrillte Fremde blinzelte überrascht. „Und die wären?“

„Erstens, warum Sie das wissen wollen, Herr Engländer.“

Der Mann wich peinlich berührt einen Schritt zurück. „Oh? Hört man das?“

„Ja“, meldete der andere Mann sich aus dem Hintergrund zu Wort. „Selbstverständlich. Warum glaubst du, haben die Leute in den Dörfern dir so böse Blicke zugeworfen?“

„Oh.“ Der dunkelhaarige Mann kratzte sich verlegen am Kopf. „Herrje. Ich gehöre nicht zur Regierung oder so. Eigentlich bin ich sogar fahnenflüchtig, wenn man es genau nimmt. Also, ich bin … uhm, in friedlicher Mission unterwegs …?“

„Du meine Güte“, stöhnte der blonde Mann und fasste sich an den Kopf. „Lerne endlich einmal, dich vernünftig auszudrücken.“

„Wie dem auch sei“, fuhr er fort, während die Jungen die Fremden mit immer skeptischerer Miene musterten, „mein Name ist Basil Hallward, ich bin Entwickler von Fähigkeiten-Waffen. Wobei Waffe in meinem Fall das falsche Wort ist. Es geht um eine Vorrichtung, die Menschenleben retten soll. Es ist sehr wichtig, dass ich diesen Befähigten finde, denn er könnte mir dabei helfen.“

Die zwei Jungs tauschten einen verunsicherten Blick aus.

„Soweit ich das gehört habe, gibt es in England auch Befähigte, oder?“, gab Wilde zurück. „Warum suchen Sie dann hier nach so jemandem?“

„Das ist leicht zu erklären“, antwortete Hallward. „Heilfähigkeiten sind sehr selten. Wir sind wegen einer anderen Sache hier und haben zufällig davon gehört, also ergreifen wir die Gelegenheit beim Schopfe.“

„Sie sind selten?“, fragte der brünette Junge verblüfft nach.

„Sehr selten.“

„Gut, das bringt uns zu zweitens“, sagte Wilde, nachdem er sichtlich nachdenklich geworden war. Gespannt sahen Hallward und er sich an. „Was springt für den Befähigten dabei heraus, wenn er Ihnen hilft?“

Der Engländer machte eine lange Pause, ehe er antwortete. „Leider könnte ich nicht mehr als Kost und Logis anbieten.“

„In England?“

„Genau dort.“

„Sie sind auf der Flucht vor dem Militär?“

„So ist es.“

„Wieso?“

„Das ist eine lange Geschichte.“

Wilde fühlte, wie kalt Dorians Hand inzwischen vor Angst geworden war. Auch seine tiefblauen Augen verrieten, wie sehr ihn die Situation einschüchterte. Dennoch -

So konnten sie nicht ewig weitermachen. Und ihre Mittel würden nie reichen, um das Land zu verlassen. Es war riskant, aber …

„Ich bin derjenige, den Sie suchen. Und ich gehe nirgends ohne Dorian hin.“

 

Nachdem Wilde die beiden Fremden damit kalt erwischt hatte und Hallward Shaw – nach einigem Meckern seitens des Blonden darüber, dass sie nun diese zwei Kinder mitnehmen mussten – überredet hatte, auch Pässe für die beiden zu fälschen, setzten die beiden Jungen mit ihren neuen Bekanntschaften nach England über. Shaw und Hallward hatten sich in ihrer Zeit beim britischen Militär kennengelernt. Beide waren dort als Zivilisten angestellt gewesen. Ersterer als Mitarbeiter der Chiffrierungsabteilung, Letzterer als Entwickler für Fähigkeiten-Waffen. Als der Krieg jedoch immer größere und verheerendere Ausmaße anzunehmen begann, hatte Shaw alles daran gesetzt, gefeuert zu werden (seine nicht gerade umgängliche Art war ihm da sehr gelegen gekommen) und Hallward hatte sich seine Erfindung gepackt und sich mit ihr auf und davon gemacht. Ein Dritter im Bunde hatte ihm dazu geraten. Dieser war Berater des Militärs gewesen und hatte mit Hallward zusammen die Flucht angetreten.

Trotzdem konnte Wilde Henry Wotton schon bei ihrer ersten Begegnung nicht ausstehen.

Er konnte es sich nicht erklären, aber allein die Art, wie Wotton sie damals in ihrem Versteck begrüßte, hatte in ihm einen unheilvollen Schauder ausgelöst.

Endlich seid ihr zurück. Ich wäre hier vor Langeweile ja beinahe gestorben!“

Es war ihm ebenso unerklärlich wie dieser Typ zu den beiden anderen und ihrem erklärten Ziel passte. Hallward und Shaw waren überzeugte Kriegsgegner und arbeiteten daran, einen Weg zu finden, den Krieg zu beenden. Doch Wotton ließ diese Überzeugung vermissen; so wie er auch jegliche Moralvorstellungen vermissen ließ. Aber er machte mit den beiden anderen gemeinsame Sache und Hallward vertraute ihm, also beschloss Wilde, dies auch zu tun. Besonders, nachdem er eines Tages von Basil hörte, wie sie an diesen Punkt gelangt waren.

„Nein, das war es auch nicht. Vielleicht wenn wir noch einmal etwas an der Konfiguration ändern …?“ Gedankenversunken murmelte der Erfinder etwas vor sich hin, während er konzentriert an seiner Schöpfung herumschraubte. Wilde saß daneben und sah ihm interessiert zu. Seine Aufgabe bestand darin, seine Fähigkeit auf den Apparat anzuwenden, wenn Basil es ihm sagte. Das war in der Theorie ein leichter Job, aber er war entsetzlich frustrierend. Denn egal, wie oft sie an diesem Ding herumwerkelten, Basil war nie zufrieden mit dem Ergebnis.

„Woher willst du wissen, dass sie nicht funktioniert?“, fragte der Jüngere.

„Ich weiß, dass sie funktioniert, aber sie funktioniert falsch.“

„Häh?“

Seufzend blickte Basil von dem Apparat auf. „Meine Fähigkeit erlaubt mir, Teile meiner Lebenskraft an andere abzugeben. Auf dieser Grundlage wollte ich ein Gerät entwickeln, dass Menschen, die im Kampf verwundet wurden, schnell und einfach heilt.“ Seine Miene wurde schrecklich schwermütig und Wilde tat es sofort leid, überhaupt nachgefragt zu haben. Basil war eigentlich ein recht hübscher Kerl, doch er wirkte oft bekümmert und hatte tiefe Sorgenfalten im Gesicht.

„Bisher wurde dieses Gerät einmal an einem Menschen getestet“, erzählte der Schwarzhaarige weiter. „An einem hohen Offizier, der auf dem Kontinent schwer verletzt worden war. Wir hatten nur durch einen grausamen Zufall herausgefunden, wie die Fähigkeiten-Waffe funktioniert und was sie … dafür einfordert. Mein Assistent verlor dabei sein Leben. Doch der Offizier wurde tatsächlich wiederhergestellt.“ Basils Finger strichen über seine Erfindung und er schluckte schwer.

„Aber?“

„Aber … es gab einen Nebeneffekt. Dieser Mann war daraufhin … sozusagen unsterblich.“

Wilde sah ihn entgeistert an. „Unsterblich??“

„Wunden, die man ihm zufügte, verheilten auf der Stelle wieder. Meine Tests damals ergaben, dass dieser Effekt nur temporär gewesen wäre, aber nichtsdestotrotz vielleicht gut zehn Jahre angehalten hätte.“

„Lass mich raten“, der Junge seufzte angesichts der betroffenen Miene des Anderen, „dieser hohe Offizier war nicht gerade ein Engel, richtig?“

Basil schüttelte den Kopf. „Er war ein grässlicher Kriegstreiber. Er beging Gräueltaten, die ich dir nicht zumuten möchte. Und ich hatte dieses Monster unsterblich gemacht.“

„Warte mal ...“ Wilde fiel etwas auf. „Er war? Der Effekt hätte zehn Jahre angehalten?“

„Ich wandte mich damals an Henry, um ihn zu fragen, was ich tun soll.“ Basil schaute zur Zimmerdecke empor. „Henry riet mir, die Fähigkeiten-Waffe zu nehmen und damit zu türmen, bevor die Regierung oder der Rest des Militärs davon erfuhr und eine Armee von Unsterblichen erschaffen würde. Er half mir dabei und kam sogar mit. Und der Offizier, dem Kugeln und Klingen nichts anhaben konnten, starb ganz plötzlich an einer Vergiftung.“ Er senkte seinen Blick wieder hinab und sah den erschütterten Jungen neben sich an, der verstand, was der Ältere nur angedeutet hatte und nicht aussprechen wollte. „Das Gerät benötigt eine Heilfähigkeit, um überhaupt aktiviert zu werden. Vielleicht schaffen wir es, dass deine Fähigkeit den furchtbaren Effekt überschreibt, den meine Fähigkeit verursacht.“

„Und wenn nicht?“

„Dann müssen wir den Krieg so bald wie möglich beenden.“

 

Die Zeit verging, ohne dass sie Fortschritte mit der Fähigkeiten-Waffe machten. Nach einem weiteren, gescheiterten Versuch beschloss Basil, eine Pause zu machen und nahm die beiden, den Großteil der Zeit drinnen ausharrenden Jungen mit in die Stadt, um ein wenig Zerstreuung zu finden. Shaw war der bloße Gedanke an Zerstreuung zuwider, weswegen er es ablehnte mitzukommen. Henry argumentierte, dass es keine Zerstreuung wäre, wenn weder Drogen, noch Alkohol, noch Sex im Spiel wären.

So landeten die verbliebenen drei in einem kleinen, leicht gammeligen Hinterhoftheater, das Dorians Neugier geweckt hatte. Nie im Leben hätten sie beim Anblick der schief zusammengenagelten Bühne mit dem Rausch gerechnet, den sie dort erlebt hatten. Die Hauptdarstellerin des Stücks, ein wunderschönes junges Mädchen namens Sibyl, spielte ihre älteren Kollegen mit Leichtigkeit an die Wand. Sie eine Offenbarung zu nennen, wäre eine Untertreibung gewesen. Es war, als spielte sie nicht nur eine Rolle, sondern als wurde sie zu dieser Rolle, mit allem Schmerz und aller Freude, die zu diesem fiktiven Menschen dazugehörte. Für die Dauer eines Abends ließ sie die drei vergessen, in welcher elenden Situation sie sich eigentlich befanden.

Dorian, der zuvor noch nie ein Theater besucht hatte, war so überwältigt, dass er die beiden anderen darum bat, die junge Frau nach dem Auftritt abzupassen, um ihr für die atemberaubende Vorführung zu danken. Sie willigten ein und taten es dem euphorischen Jungen gleich. Die bescheidene Mimin winkte überrascht ab und errötete sogar. So viel Begeisterung war ihr eindeutig noch nie zuvor entgegengebracht worden.

„Ich spiele doch nur“, sagte sie verlegen.

„Nur?“, entgegnete Wilde empört. „Was heißt hier 'nur'? Was kann es Schöneres geben als die Kunst?“

Sibyl sah ihn und die zwei anderen mit ihren großen, unschuldigen und entsetzlich traurigen Augen an. „Frieden“, antwortete sie letztlich und machte den damals schon nie um einen Kommentar verlegenen Wilde für einen Moment sprachlos.

Ungewohnt ernst holte er tief Luft und ballte seine Hände zu Fäusten. „Ich verstehe. Aber wenn endlich Frieden herrscht, wirst du verstehen, dass ich von Anfang an Recht hatte.“

Bevor sie sich voneinander verabschiedeten, ließ Basil sich von ihr eine Kontaktadresse geben, weil Wilde darauf bestand, dass sie auf dieses Gespräch zurückkommen sollten, sobald der Krieg beendet war.

Auf dem Heimweg trat eine bedächtige Stille zwischen die drei jungen Männer.

„Basil“, ergriff Wilde schließlich das Wort und der Älteste der Gruppe drehte sich angesichts der ernsten Tonlage des Jungen erstaunt zu ihm um. „Ich will euch helfen, den Krieg zu beenden. Bitte sag mir, was ich tun kann.“

Rückblickend betrachtet, machte Wilde diesen Augenblick, diese Entscheidung als den Anfang der Entzweiung von Dorian aus. Noch Jahre später erinnerte er sich, wie der goldblonde Junge seine Hand umklammert und ihn verängstigt angesehen hatte.

 

Ohne Shaw und Henry zu erzählen, was an diesem Abend vorgefallen war und wem sie begegnet waren, eröffnete Basil ihnen, dass die beiden Jungen von nun an auch an den anderen Aktivitäten ihrer Gruppe teilnahmen.

Bisher hatten sie vor allem Informationen über die Einheiten, Ausrüstungen und Strategien aller beteiligten Nationen gesammelt und Überlegungen angestellt, wie sie diese am besten nutzen konnten. Basils Grundgedanke, der hinter allem stand, war einfach: Wenn alle Seiten zum Aufgeben gezwungen würden, würde es keine Sieger und keine Verlierer geben. Der Krieg würde beendet, ohne gewonnen oder verloren zu werden. Wilde war begeistert von dieser Idee. Wenn alle Seiten gleichzeitig aufgaben, hätten sie eine Gemeinsamkeit, auf deren Grundlage sie vernünftige Lösungen finden konnten. Und dann konnten die Menschen sich endlich wieder den wirklich wichtigen Dingen widmen.

Es war ein gefährlicher Balanceakt, den sie vorhatten. Sie mussten immer im Blick behalten, welche Armee Niederlagen oder Erfolge erzielte, wie die Lage in allen Nationen war und was sie mit ihren Mitteln bewerkstelligen konnten. Wenn sie einen Fehler machten, konnte das Gleichgewicht zu sehr kippen oder der Krieg noch mehr in die Länge gezogen werden. Es war am leichtesten in England anzufangen. Die britische Armee war auf dem Festland weit vorgerückt, was Frankreich in Bedrängnis brachte. Mit gefälschten Pässen und Befehlen schmuggelten Shaw und Henry sich ins Kriegsministerium und sabotierten die Pläne für das weitere Vorgehen, während Basil Deutschland Informationen zur britischen Strategie zuspielte, sodass die Streitkräfte dieser beiden Länder aufeinandertrafen und Frankreich somit vorerst von keiner Seite eingenommen werden konnte. Die Regierungen sollten mürbe gemacht werden, die Soldaten gegen den Krieg aufgebracht werden. Sie alle sollten durch das entstandene Chaos das Vertrauen in das verlieren, was sie taten.

Mit Vorbehalt und Vorsicht banden sie die beiden Jungen in diese riskante Unternehmungen mit ein. Die zwei agierten immer mit einem der Erwachsenen zusammen, auch weil diese Sorge hatten, dass die Nerven der Jugendlichen dem außerordentlichen Stress und Druck der Missionen eventuell doch nicht standhielten. Basil und Shaw waren beeindruckt, wie Wilde die schwierigen Aufgaben löste (und ja, wieder half es ihm, dass er Leute um den Finger wickeln konnte), während Dorian zunehmend zum nervösen Wrack wurde. Seine Angst war ein zu hohes Risiko, weswegen die Erwachsenen beschlossen, dass er keine Missionen mehr antreten sollte. Der Junge entschuldigte sich unter Tränen für seine Nutzlosigkeit und obwohl Wilde ihm versicherte, ganz bestimmt nicht nutzlos zu sein, drangen seine Worte nicht zu ihm durch. Ein kaltes Gefühl ergriff Besitz von seinem Herzen, als er realisierte, dass Henrys Worte ganz und gar zu seinem Freund durchdrangen.

„Mach dir nichts draus“, sagte der Mann mit einem ominösen Lächeln im Gesicht zu Dorian, „es gibt Menschen, die großartige Talente besitzen. Und es gibt Menschen, die wenigstens hübsch anzusehen sind. Es ist gut zu wissen, zu welcher Gruppe man gehört.“

Wilde konnte nicht anders, als bei diesen Worten an das Zischen einer Schlange zu denken.

 

Die Monate zogen ins Land und Dorian sich mehr und mehr zurück. Wenn sie von einer Mission auf dem Festland wiederkamen, empfing der Junge, der zuhause bleiben musste, sie mit von Mal zu Mal verzweifelterer Miene und dem Satz „Ich hatte schreckliche Angst, ihr würdet nicht zurückkehren.“

Es war auch Dorians Angst, die zur Zerlegung von Basils Erfindung führte. Dorian hatte höllische Panik davor, dass jemand ihren Unterschlupf und damit auch den dort versteckten Apparat finden könnte. Wenn die Fähigkeiten-Waffe einer Nation in die Hände fiel, wären all ihre Bemühungen umsonst gewesen. Mit Blick auf den fast wahnhaft wirkenden Jungen beschloss Basil schweren Herzens, sein Lebenswerk zu zerstören. Sichtlich entsetzt ging Henry dazwischen und überredete ihn, das Gerät nur zu zerlegen, nicht zu zerstören. Im Notfall, so argumentierte er, wären sie auf diese Weise immer noch in der Lage, die Waffe zu reaktivieren.

„Du weißt, dass ich nichts an ihren schlechten Eigenschaften ändern konnte“, entgegnete Basil zerknirscht. „Sie verlangt nach wie vor Unmenschliches, um Unmenschliches zu erschaffen.“

„Bitte“, bat Henry mit der gleichen einlullenden Art, die Wilde auch schon bei ihm beobachtet hatte, wenn er mit Dorian sprach, „ich glaube fest daran, dass sie irgendwann Großartiges leisten wird.“

Basil kam seinem Flehen nach – und Henry säuselte ab da noch öfter als zuvor Dinge in Dorians Ohren.

Wilde konnte nicht leugnen, dass er rasend eifersüchtig war, denn Dorian sog alles, was Henry sagte, wie ein Schwamm auf. Doch zudem war er beunruhigt, wie der ihm wichtigste Mensch auf Erden sich nach und nach veränderte.

„Wir sollten gehen“, eröffnete Dorian ihm eines Tages aus dem Blauen heraus, als sie unter sich waren. „Wir haben die gefälschten Pässe, wir können überall hin.“

Kopfschüttelnd musterte Wilde ihn daraufhin kritisch. „Was redest du da? Wir können nicht weg. Wir haben eine Aufgabe.“ Er stutzte, als er bei dem Anderen einen Gesichtsausdruck bemerkte, den er dort noch nie zuvor gesehen hatte. Zorn verunstaltete Dorians außergewöhnlich schöne Züge.

„DU hast eine Aufgabe! Ich sitze hier nur herum! Und überhaupt, warum soll das unsere Aufgabe sein? Was haben wir mit dem Krieg zu tun?“

„Was wir mit …?!“ Wilde konnte nicht glauben, was er da hörte. „Was ist mit unseren Eltern, mit unseren Freunden, unserem Land, der ganzen verdammten Welt? Wir müssen für sie den Krieg beenden.“

„Ich habe keinen Krieg angefangen, also muss ich auch keinen beenden“, erwiderte der goldblonde junge Mann ungewohnt ungerührt. „Warum riskierst du dafür dein Leben? Die anderen werden uns eh verraten und fallen lassen, sobald sie uns nicht mehr brauchen.“ Er schmiegte sich näher an seinen dunkelhaarigen Freund an. „Es reicht doch, wenn wir einander haben.“

Fassungslos rückte Wilde von ihm weg. „Ich habe das Gefühl, ich rede nicht mit dir, sondern mit Henry.“

„Henry ist wenigstens ehrlich.“

„Du verbringst zu viel Zeit mit ihm.“

„Und wessen Schuld ist das?“

Wilde spürte nun auch in sich selbst Zorn aufsteigen. Er wollte nicht mit Dorian streiten, auf keinen Fall mit ihm, aber alles an diesem Vorwurf machte ihn wütend. Basil rief nach ihm, weil er ihn brauchte und so blieb die Unterstellung wie ein mahnendes Schwert über ihnen hängen.

Als Henry begann, nicht nur seine fragwürdigen Gedanken, sondern auch seine vielfältige Auswahl an illegalen Substanzen mit Dorian zu teilen, platzte Wilde der Kragen. Die Spannungen in der Gruppe wurden beinahe unerträglich und doch ließ sich nichts daran ändern.

„Henry ist schwierig, das kann man nicht beschönigen“, erklärte Shaw dem aufgebrachten Brünetten ruhig, „aber wir brauchen ihn. Er ist klug, er versteht sein Handwerk. Mir, Basil und dir fehlt es an Heimtücke. Henry hat davon mehr als genug und wir brauchen alles davon für unseren Erfolg.“

Wilde hasste den Umstand, dass Shaw damit Recht hatte und dass er sich trotzdem wünschte, Henry würde von der Bildfläche verschwinden.

Daher traf es ihn auch so hart, als Henry dies tatsächlich tat.

Der verhasste Kamerad hatte in Frankreich eine Waffenfabrik bespitzeln sollen und war längst überfällig. So ekelhaft er auch war, unpünktlich war er nie. Eines unglücklichen Tages rauschte Shaw aufgewühlt in ihr Versteck und offenbarte ihnen, was er in Erfahrung gebracht hatte. Auch der Anblick von Basil, wie er bei dieser Nachricht schockiert zusammenbrach, hatte sich auf ewig in das Gedächtnis Wildes eingebrannt.

Die Waffenfabrik war aus unbekannten Gründen in die Luft geflogen.

So groß ihre Trauer und ihr Entsetzen auch war, sie konnten die Steine, die sie ins Rollen gebracht hatten, nicht mehr anhalten. Sie mussten weitermachen, sie mussten sich an den Plan halten, um das übergeordnete Ziel zu erreichen. Der Faktor, der ihnen zusätzlich ihr Unterfangen erschwerte, war die vierte Nation. Mit ihren Tricksereien konnten sie sich relativ leicht zwischen den europäischen Ländern hin und her bewegen, doch es war ihnen fast unmöglich, nach Japan zu gelangen. Sie mussten die Operationen dort allerdings unbedingt durchführen, um ihren Plan umzusetzen. Es würde alles nicht aufgehen, wenn sie die vierte Nation außen vor ließen.

„Um am unauffälligsten agieren zu können“, äußerte Basil, den gedankenschweren Blick auf Wilde gerichtet, „wäre es am besten, wenn du nach Yokohama-“

„NEIN!“, schrie Dorian panisch dazwischen und klammerte sich an seinen Gefährten. „Nein, bitte nicht, bitte nicht! Was ist, wenn du auch stirbst?? Das würde ich nicht ertragen!“ Er brach in lautstarke, herzzerreißende Tränen aus.

Hilflos sah Wilde von ihm zu den beiden anderen. Ich kann ihn nicht alleine lassen, war der unausgesprochene Satz, der in der Luft hing.

„Dann werde ich gehen.“ Es war das letzte Mal, dass sie etwas von Shaw hörten.

Als Basil einige Zeit später die Meldung abfing, dass ein irischer Spion in Yokohama gefangen genommen wurde, stand er hektisch von seinem Platz auf, schmiss den beiden Jüngeren die gefälschten Pässe und Bargeld zu und schnappte sich die Tasche mit der zerlegten Fähigkeiten-Waffe.

„Lauft“, sagte er ihnen mit zitternder Stimme. „Es ist vorbei. George wird uns nicht verraten wollen, aber bevor das Gleiche mit euch passiert … lauft.“

„Was-was wird aus dir?“, fragte Wilde stimmlos.

„Wir werden uns wahrscheinlich nicht mehr wiedersehen.“ Basil kämpfte merklich gegen die Tränen in seinen Augen an. „Es tut mir leid. Es tut mir alles so schrecklich leid. Ich hätte euch niemals ….“ Er schluckte. „Ich werde die einzelnen Teile an verschiedene Personen schicken, damit sie nicht bei mir gefunden werden. Dieses Ding, das uns nur Unheil gebracht hat, soll nie wieder zusammengesetzt werden.“

Er umarmte die Jüngeren ein letztes Mal, ehe ihre Wege sich für immer trennten.

 

Wilde und Dorian schlugen sich bis nach Paris durch. Unterwegs schnappten sie auf, dass alle vier am Krieg beteiligten Nationen nach einer Gruppe von Verbrechern suchte, die in jedem Land Spionage und Sabotageakte durchgeführt hatte. Die Streitkräfte allerorten waren von den ersten Informationen, die sie gewonnen hatten, sehr verwirrt. Diese Gruppe konnte keiner Nation zugeordnet werden; waren sie vielleicht von einem fünften Land engagiert worden? Waren es Terroristen?

Wilde ertrug es nicht, irgendetwas von diesem Gerede zu hören. Denn erst jetzt, nach all der Zeit mit Basil, Shaw und Henry, begann die Erkenntnis einzusinken, was sie getan hatten. Es musste den drei Älteren klar gewesen sein, dass ihr Plan genauso funktionierte wie die verfluchte Fähigkeiten-Waffe. Sie opferten Menschenleben, um andere Menschen zu retten. Jeder sabotierte Feldzug, jede Falschinformation, jede Weitergabe von Informationen hatte auf den Schlachtfeldern Tote nach sich gezogen.

Sie hatten es alle die ganze Zeit nicht wahrhaben wollen, was sie taten und was sie waren.

Es war eine Erkenntnis, die entsetzlich schmerzte.

Er wollte weinen, doch er konnte es nicht. Er war die letzte Barriere, die hier in den Straßen von Paris zwischen Dorian und einem näher und näher rückenden Abgrund stand. Auf ihrer Flucht war der einstmals so hübsche junge Mann immer lethargischer geworden. Er sprach kaum noch ein Wort und wenn dann nur, weil er eine Panikattacke bekam. Nun abgeschnitten von Henrys Drogenvorrat, kam zu Dorians wachsender Paranoia noch ein drastischer Entzug hinzu. Dorian flehte ihn an, ihm zu helfen und Wilde ging in seinem Kopf alle Möglichkeiten durch, die er hatte, um die Sucht seines geliebten Freundes zu finanzieren. Aber jede illegale Tätigkeit barg das Risiko, dass er von der Polizei geschnappt wurde – und er konnte Dorian nicht alleine lassen.

„Du hättest mich sterben lassen sollen, als die Kugel mich erwischt hatte“, murmelte Dorian vorwurfsvoll in die kalte Nachtluft hinein, während sie unter einer Brücke Schutz vor dem Regen suchten. „Das wäre humaner gewesen als diese Quälerei.“

„Sag so etwas nicht. Es ist in vielerlei Hinsicht grausam, so etwas zu sagen.“ Mittlerweile war er die Anschuldigungen des Anderen schon fast gewohnt. Was nicht hieß, dass sie ihn nicht trafen.

„Es ist grausam, so ein grässlicher Gutmensch zu sein, wie du es einer bist. Wären dir andere doch nur egal, dann hätten wir unseren Frieden gehabt. Aber du musstest dich diesem lächerlichen Erfinder an den Hals werfen, um die Welt zu retten. Ich sage dir, was du gerettet hast: Absolut nichts. Wahrscheinlich hast du es nur schlimmer gemacht.“

„Sei still!“, fuhr Wilde ihn an, obwohl er sich geschworen hatte, niemals Dorian anzuschreien, egal, wie schlimm es mit ihm werden würde. „Halt den Mund! Nichts davon ist wahr! Du hast Unrecht!“

Er bereute seinen Ausbruch umgehend.

Dorian starrte ihn erschrocken an, während seine einst tiefblauen, nun glasigen Augen sich mit Tränen füllten. „Du bereust es nicht?“, fragte er mit brüchiger Stimme.

„Ich bereue nicht, dass wir es versucht haben“, antwortete Wilde ruhiger und packte ihn sanft an den Schultern. Doch Dorian wich vor seiner Berührung zurück.

„Das heißt ...“ Die eigentlich so zarte Stimme des Hellhaarigen bebte. „Das heißt, du würdest es wieder tun, nicht wahr? Genau das heißt es doch, oder? Du würdest dich wieder irgendwelchen Weltverbesserern anschließen und mich wieder zurücklassen. Du würdest mich wieder allein und voller Angst zurücklassen.“

Wilde blickte erschüttert auf die elendig aussehende Gestalt an seiner Seite. Wie betäubt schüttelte er den Kopf. „Nein, nein, Dorian, das …. Du hast Unrecht, ich würde dich niemals -“

„Genau das hast du getan. Und sieh dir an, wo wir jetzt sind. Sie jagen uns. Wir werden gejagt, als wären wir elende Tiere. Irgendwer wird uns finden. Irgendwann wird irgendwer uns finden und dann werden wir uns wünschen, sie würden uns nur wie Tiere erlegen.“ Er zitterte am ganzen Körper, während er sprach. Sein Blick war schon lange nicht mehr auf seinen geliebten Beschützer gerichtet; er sah durch ihn hindurch und was er dort sah, erschreckte ihn spürbar zu Tode.

„Ich werde nicht zulassen, dass dir jemand wehtut“, erklärte Wilde mit einem immer stärker werdenden Gefühl von Horror in seinem Innern.

Der Ausdruck in Dorians Gesicht wurde zusehends panischer. „Du tust mir weh! Wenn ich bei dir bleibe, gibt es kein Entkommen. Ich werde auf ewig verfolgt werden. Das ist noch schrecklicher als gefunden zu werden.“ Sein wirrer Blick landete wieder auf dem Brünetten. „Ich muss weg von dir!“

„Dorian, du bist nicht ganz bei dir, du weißt nicht, was du sagst-“

„Ich muss weg von dir!“ Mit diesem Ausruf, der klang wie der Schrei eines Wahnsinnigen, sprang Dorian auf. Wilde wollte ihn festhalten, aber in seinem Anfall mobilisierte Dorian so viel Kraft in seinem kaputten Körper, dass er den Anderen von sich stoßen konnte. Wilde krachte mit dem Hinterkopf gegen den massiven Brückenpfeiler und so war das Letzte, was er erblickte, bevor er das Bewusstsein verlor, wie der Mann, den er über alles geliebt hatte, in die kalte Nacht von Paris verschwand.

Wochen und letztlich Monate verbrachte Wilde damit, nach Dorian zu suchen. Er war nirgends zu finden und irgendwann gab er einfach auf. Er gab alles auf. Sein Herz und sein Lebenswille waren gebrochen und er ließ sich am Straßenrand nieder, um auf den Tod zu warten.

Und wessen Schuld ist das?“

Er hatte alles falsch gemacht. Daher war es nur mehr als richtig, dass er jetzt dafür bestraft würde. Sein Körper würde irgendwann vor Hunger und Durst sterben, aber sein Herz war längst vor Einsamkeit gestorben.

Der Krieg endete und die Menschen tanzten vor Freude in den Straßen. Es war das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass ein schwaches Lächeln sich auf sein hager gewordenes Gesicht stahl.

 

„Hey.“

Wilde spürte ein Rütteln an seiner Schulter und machte schwerfällig die Augen auf. Auch wenn er jegliches Zeitgefühl verloren hatte, hatte er festgestellt, dass sein Körper sich Zeit mit dem Sterben ließ. War das seiner Fähigkeit geschuldet? Er seufzte innerlich. Fast alles war seiner Fähigkeit geschuldet.

Er blinzelte ein paar Mal, weil die Sonne so grell vom Himmel schien. Vor ihm hockte ein Mann mit kurzen schwarzen Haaren, der trotz der brütenden Hitze einen Tweedanzug trug.

„Gut, du lebst noch.“

Wilde erschrak. Der Mann sprach seine Sprache und trug bei so einem Wetter einen Tweedanzug. Das konnte nur ein Brite sein. Seine Eingebung brachte ihm allerdings nichts. Er war zu schwach, um wegzulaufen – oder um überhaupt aufzustehen.

„Keine Angst“, sagte der Mann und lächelte sanft. „Ich habe zwar nach dir gesucht, aber nur weil ich deine Hilfe will.“

„Meine … Hilfe?“ Da er seine Stimme seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt hatte, kam seine Frage nur krächzend heraus.

Der Mann nickte. „Ich habe Wind von deiner Fähigkeit bekommen und finde, es wäre eine Schande, damit nichts Sinnvolles anzustellen.“

„Ach so.“ Wilde schloss die Augen wieder. „Gehören Sie zum Militär, zur Regierung oder zu irgendetwas anderem Bösen?“

„Huh?“ Er konnte die Verwunderung des Mannes hören. „Oje. Dein Misstrauen ist verständlich. Ich habe einmal für die Regierung gearbeitet, das ist wahr, sonst wüsste ich auch nichts von dir. Aber jetzt arbeite ich nicht mehr für irgendjemanden.“

Der Jüngere öffnete ein Auge und musterte ihn damit argwöhnisch. „Wenn Sie wissen, wer ich bin, dann wissen Sie auch, was ich getan habe.“

„Das tue ich. Du darfst mich ruhig eines Besseren belehren, aber mein Gefühl sagt mir, dass du kein Verbrecher oder Terrorist bist.“

„Ihr Gefühl?“ Der Kerl war ja mal interessant. So viel Selbstsicherheit auf einmal war ihm noch nie begegnet.

„Das hat mich bisher noch nie im Stich gelassen. Die Regierung schuldet mir übrigens noch eine Menge. Ich könnte da einen Deal für dich herausschlagen, wenn du mit mir kommst. Es muss sonst auch niemand davon erfahren. Du würdest auch einen netten Kollegen bekommen. Er ist ebenfalls Ire. Na ja, nett ist vielleicht, uhm, er ist ein bisschen … er arbeitet an seinen sozialen Fähigkeiten. Aber er ist sehr fleißig und pflichtbewusst. Ihr würdet euch bestimmt gut ergänzen.“

„Häh?“ Wilde schwirrte der Kopf. Was redete der Mann da alles?

Sein Gegenüber lachte und stand auf, sodass die Sonne ihn von hinten anstrahlte. „Das Wichtigste habe ich noch gar nicht erwähnt. Mein Name ist Aldous Huxley. Ich bereite gerade die Gründung einer Organisation vor.“

 

Huxley erklärte ihm, dass es für diese neue Welt nach dem Krieg eine Anlaufstelle für Menschen brauchte, denen von der Regierung oder der Polizei nicht geholfen wurde. Mit jedem weiteren Detail, das er aus dem Mund des Schwarzhaarigen hörte, spürte Wilde sein Herz schneller schlagen. Bevor er sich versah, ergriff er die ausgestreckte Hand des Älteren und ging mit ihm zurück nach England. Huxley schaffte es tatsächlich im Handumdrehen, dass er Amnestie erhielt und alle zu ihm existierenden Einträge geschwärzt wurden. Es fühlte sich wie ein letzter Verrat an Shaw an, denn Wilde war klar, dass diese Informationen über ihn nur von ihm gekommen sein konnten und er verdrängte die Gedanken daran, was dieser wohl hatte durchmachen müssen, bis er dies alles verraten hatte. Leider hatte Huxley überhaupt nichts über den Verbleib von ihm, Basil oder Dorian herausfinden können.

Dafür begrüßte ihn in dem Büro, das Huxley angemietet hatte, ein nervöser, bebrillter Blondschopf mit strengem und kritischem Blick.

„Guten Tag, mein Name ist Joyce. Sie dürfen mich 'James' nennen. Hatten Sie längere Zeit keine Gelegenheit zum Frisör zu gehen oder hat Ihre lange Mähne einen anderen Hintergrund?“

Baff starrte Wilde den stramm stehenden Mann vor sich an. Was in aller …? Er wusste bis heute nicht, was damals über ihn gekommen war, aber plötzlich musste er zu Joyce' Irritation von Ohr zu Ohr grinsen.

„Freut mich dich kennen zu lernen, Jimmy!“

Wilde konnte sich nicht entsinnen, dass er jemals im Leben so viel Spaß gehabt hatte, wie wenn er seinen hitzköpfigen Kollegen zur Weißglut brachte. Joyce und Huxley waren beide herzensgut und liebenswert und davon überzeugt, dass das, was sie taten, richtig und gut war. Wilde fragte sich oft, ob er es verdient hatte, bei ihnen zu sein. Und gerade weil sie so gute Menschen waren, verwunderte es ihn auch nicht, dass sie nach vielen Jahren zu dritt eines Tages einen verstörten Teenager bei sich aufnahmen, dessen gesamte Familie ermordet worden war. So wie James Matthew Barrie bestürzt und zitternd und schreiend und ohne jeglichen Lebensmut in ihrem Büro saß, erinnerte er Wilde an sich selbst und er wünschte sich, dass er irgendetwas tun könnte, um ihm zu helfen. Er war nicht begeistert davon, dass Huxley den Jungen mit seiner drogenähnlichen Fähigkeit beruhigte, aber sie wussten sich nicht anders zu helfen. Unter keinen Umständen wollten sie den Jungen in einer Einrichtung abgeben, wo er vermutlich einfach weggesperrt worden wäre.

Sie hatten einige gute Jahre zusammen verbringen können. Barrie war traumatisiert und es war oft schwierig, doch für Wilde war es, jedes Mal, wenn der Junge auch nur schwach lächelte, so als würde die Sonne in diesem Moment aufgehen.

Vielleicht hatten sie sich damals nur eingeredet, die Situation unter Kontrolle zu haben.

Denn als alles außer Kontrolle geriet, wurde Wilde von neuem zu einem Getriebenen. Er fühlte sich schuldig, sie nicht aufgehalten zu haben. Er fühlte sich schuldig, dem Jungen keine größere Hilfe gewesen zu sein. Er fühlte sich schuldig, dass er nichts getan hatte, um ihren Tod zu verhindern. Dieses Mal jedoch war er nicht allein und musste nicht alles allein schultern. Joyce blieb an seiner Seite und sie stellten sich dem Problem gemeinsam. Für Joyce war es dann auch selbstverständlich, dass sie nach dem Tod von Huxley und Barrie zusammenblieben. Gegen seinen Willen weinte Wilde bitterlich, als der Blonde beiläufig ihre Zukunftspläne ansprach und Joyce verstand seine Tränen als Trauer um die beiden Verstorbenen. Er konnte nicht ahnen, dass Wilde Angst davor gehabt hatte, wieder allein dazustehen.

Es gab keinen anderen Menschen, mit dem Wilde so viel Zeit zusammen verbracht hatte wie mit Joyce. Er wollte alles daran setzen, damit dies so blieb. Dieses Mal würde er alles anders machen, die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.

Bis seine Vergangenheit in Form von Dorian Gray aus dem Nichts wieder auftauchte.

Er durfte Joyce nicht enttäuschen, von allen Menschen auf dieser Welt durfte er gerade ihn nicht enttäuschen. Deswegen musste er Dorian von Joyce fernhalten.

Damals, als sie in den Straßen Dublins gelebt hatten, hatten sie – für den Fall, dass sie getrennt würden – einen Treffpunkt ausgemacht: der Ort ihrer ersten Begegnung. Dorthin war Wilde nun im Schutz der Dunkelheit unterwegs, nachdem die Klientin ihnen von seinem Verschwinden erzählt hatte. Wenn Dorian tatsächlich hergekommen war, dann würde er mit Sicherheit zu diesem Ort gehen. Mit einem leicht gequälten Lächeln stellte Wilde fest, dass an dieser schicksalsträchtigen Stelle jetzt ein Friedenspark war.

Keine Menschenseele trieb sich zu dieser späten Stunde hier herum und ein kalter Wind blies durch die Straßen und ließ den brünetten Mann noch mehr schaudern, als er dies ohnehin tat. Ein Wiedersehen mit Dorian war nichts, auf das er sich freute.

„Oscar?“

Die zarte Stimme ließ ihn vergessen zu atmen. Er musste sich Mut zusprechen, ehe er sich in ihre Richtung umdrehte.

„Du bist es wirklich!“ Ein Mann mit goldblonden Haaren schmiss sich ihm um den Hals.

Er schob den Mann ein wenig von sich, um ihn im Schein der Straßenlaterne zu betrachten. Sein Herz machte einen Sprung, als er in tiefblaue Augen blickte.

„Ich hatte so gehofft, dich hier zu finden, auch wenn ich nicht einmal wusste, ob du noch lebst.“ Dorians Finger krallten sich in seine Arme. Er war immer noch wunderhübsch anzusehen, obwohl die Drogen Spuren in seinem einst so perfekten Gesicht hinterlassen hatten.

„Was machst du hier?“ Wilde versuchte, seine Gedanken beisammen zu halten. Er war nicht hier, um Dorian wiederzusehen, sondern um ihn um Joyce' und auch um seinetwillen loszuwerden. Es klang grausam, es so zu formulieren, doch er konnte die Anwesenheit seines früher so geliebten Menschen nicht ertragen. Er gab sich zwar die Schuld an Dorians Niedergang, aber er konnte dennoch nicht zulassen, dass alles von vorn losging.

„Es ist etwas Schreckliches passiert“, antwortete Dorian kreidebleich und hörbar verstört. „Basil … er ist … er ist tot.“

„Was?!“

„Und ich weiß, dass ich der Nächste sein werde.“

Wilde schüttelte den Kopf. „Warte. Was ist passiert und woher willst du das wissen?“

Unverzüglich zog der blonde Mann mit zitternden Fingern einen Brief aus seiner Hosentasche. „Der erreichte mich vor ein paar Tagen. Kein Absender, keine Anschrift. Darin steht, Basil musste verschwinden und ich wäre als nächstes dran. Bestimmt will jemand Rache üben!“

Wilde riss ihm den Brief aus den Händen und las ihn sich selber durch. Mehr als das, was Dorian ihm berichtet hatte, stand dort in der Tat nicht. Er biss sich auf die Lippe. Sollte dies wirklich ein Akt der Vergeltung sein? Vielleicht irgendein Militärangehöriger oder jemand von der damaligen Regierung? Jemand aus einem der anderen Länder? Wer hatte Zugriff auf diese Daten? Wer auch immer es war, hatte Dorian bereits ausfindig gemacht.

„Dieses Gefühl, dass ich verfolgt werde, hat mich nie verlassen“, erklärte dieser, während das Grauen ihm ins Gesicht geschrieben stand, „aber immer mal wieder, wird es viel schlimmer. In letzter Zeit ist es fast unerträglich. Ich habe das Gefühl, ich verliere den Verstand.“

Der Brünette musterte ihn mitleidig. Es war nicht auszuschließen, dass Dorian wahrhaftig den Verstand verlor. „Was genau meinst du damit? Wie äußert sich diese Verschlimmerung?“

Er krallte seine Finger noch fester in Wildes Arme. „Da ist ...“ Ihm fiel es sichtlich schwer, darüber zu sprechen. „Da ist diese Stimme. Sie kommt aus dem Nichts und sagt, dass es kein Entkommen gibt. Dass wir alle bestraft würden, für das, was wir getan haben.“

„Eine Stimme, die aus dem Nichts kommt? Es ist niemand zu sehen?“

„N-nein, nicht wirklich, nur … nur sehr schemenhaft ...“

Wilde atmete laut aus. „Du hörst diese Stimme, wenn du auf Drogen bist, oder?“

In seiner Verzweiflung begann Dorian zu schluchzen. „Sie ist echt! Bitte glaube mir! Sie wusste von Basil und seiner Erfindung und wollte wissen, was daraus geworden ist! Und jetzt ist Basil tot! Und den Brief bilde ich mir ja auch nicht ein!“

Das war wahr. Wilde schaute auf den Brief, zerriss ihn und schmiss die Fetzen in das im Park eingelassene Wasserbecken. Es war möglich, dass jemand hinter ihnen her war. Wenn derjenige die Informationen aus der Datenbank hatte, war er selbst außer Gefahr und die Person wäre demnach nur auf der Jagd nach Basil und Dorian. Ob Shaw noch lebte, wusste er nicht.

„Im Brief stand lediglich, dass Basil verschwinden musste; wir wissen nicht genau, was das heißt. Aber-“ Wilde packte ihn mit festem Griff an den Schultern und sah ihn eindringlich an. „Du wirst es ihm gleichtun.“

„Ich verstehe nicht-?“

„Hast du noch den gefälschten Pass?“

Dorian nickte zögerlich.

„Du verlässt noch heute Nacht das Land. Steig in irgendein Flugzeug und tauche irgendwo unter. Irgendwo, wo es möglichst menschenleer ist.“

Die tiefblauen Augen füllten sich mit Tränen. „Du … du kommst doch mit mir mit, oder? Du lässt mich nicht allein … oder?“

Wilde ließ ihn los und holte mit fahrigen Bewegungen sein Portmonee hervor, um dem überrumpelten Dorian das gesamte Bargeld daraus in die Hand zu drücken. „Das müsste für ein Ticket bis nach Osteuropa reichen. Schlag dich ab da auf dem Landweg durch. Du musst so weit wie möglich von hier weg.“ Wilde biss sich seine Unterlippe beinahe blutig, nachdem er dies hastig gesagt hatte.

Entgeistert starrte Dorian auf das Geld in seinen Händen. Für einen sehr langen Moment schwieg er. „Ich verstehe“, sagte er schließlich mit gebrochener Stimme und blickte wieder auf. Tränen liefen seine Wangen hinab. „Ab jetzt will ich dir auch keinen Ärger mehr machen, Oscar.“ Er zwang sich zu einem gequälten, todtraurigen Lächeln. „Ab jetzt mache ich dir keinen Ärger mehr, ich verspreche es.“

„Ich weiß, dass du das nie wolltest“, entgegnete Wilde und wischte dem Anderen die Tränen aus dem Gesicht, während er selbst zu weinen begann. „Es tut mir alles so leid.“

Ein letztes Mal drückten sich scharlachrote Lippen auf seine eigenen, bevor Wilde den Park mit zügigen Schritten verließ. Für Stunden streifte er durch das nächtliche Dublin, bis seine Tränen versiegten und er wieder atmen konnte. Er wusste selbst nicht, warum er zur alten Apotheke zurückkehrte – Joyce würde kaum dort auf ihn gewartet haben – aber er tat es dennoch.

Ein Gefühl von Wärme vertrieb die Kälte, die er bis gerade verspürt hatte, als er im Inneren des Gebäudes seinen Partner erblickte. Mit einem unverhofften Lächeln im Gesicht rüttelte er sanft an Joyce' Schulter.

If I only could, I'd make a deal with God and I'd get him to swap our places

If I only could

I'd make a deal with God

And I'd get him to swap our places“

 

Placebo [Kate Bush], „Running up that hill“

 

Mori wurde äußerst unsanft von Elise in die Lüfte gehoben und mit Schwung hinter einige alte Maschinen, die in der verlassenen Fabrikhalle standen, geschmissen. Er jaulte, als er auf den Boden krachte, wollte sich aber nicht weiter beschweren, denn ohne Elises Wurf wäre er von Eliza und ihrem Dauerfeuer getroffen worden. Es war hoffnungslos gegen die Lebensform-Fähigkeit zu kämpfen. Er hatte sie nun bereits etliche Male aufgeschlitzt und doch stand sie nur Sekunden später wieder erholt vor ihm. So langsam ging selbst ihm die Puste aus. Vorsichtig reckte er den Kopf ein wenig empor, um zu sehen, was nun vor sich ging. Fukuzawa hatte einen schnellen Treffer mit seiner Klinge gelandet und die Fähigkeit verabschiedete sich mal wieder für einen kurzen Augenblick.

„Was ist, Mori? Sind Sie verletzt?“ Selbst Fukuzawa klang außer Atem. Auch er hatte Eliza schon mehrere Male ausgeschaltet, aber es änderte nichts an ihrer Lage. Sie waren Menschen, Befähigte zwar, aber ihre Kraft und Ausdauer ging trotzdem allmählich zuneige. Wäre Fukuzawa nicht hier, so war sich Mori sicher, wäre er allein längst draufgegangen.

„Machen Sie sich Sorgen um mich?“

„Nein.“

„Sie können so herzlos sein.“

Mori kam aus seinem Versteck und hob eines der Skalpelle auf, die er nach Eliza geworfen hatte.

„Wir brauchen dringend einen anderen Plan“, meckerte Elise.

„Tut mir leid, mein Elisechen, einen anderen haben wir nicht.“

Eliza erschien abermals vor ihnen und mit jedem Mal wirkte sie noch fuchsteufelswilder. Ohne ein Wort zu verlieren, feuerte sie umgehend aus ihren beiden Pistolen. Dass der Chef der Detektive ihrer Zielperson half, hatte ihn ebenfalls zu ihrem Todfeind gemacht. Außerdem funkte er ständig dazwischen, wenn sie Mori ins Visier nahm. Er musste weg.

Fukuzawa wich den meisten Kugeln geschickt aus und zerlegte dabei sogar im Flug noch einige mit seinem Schwert. Doch nun ließ Eliza scheinbar Mori links liegen und konzentrierte ihren gesamten Angriff auf ihn. Sie schoss und schoss und Fukuzawa wurde durch das Ausweichen immer weiter in Richtung einer Wand gedrängt. Sonst praktisch undenkbar, kam Mori ihm zu Hilfe und schleuderte sein Skalpell auf Eliza. Sie löste sich auf, bevor er traf und materialisierte sich sofort hinter Fukuzawa. Ihre Aura bemerkend, wirbelte er herum und parierte ihren Schwerthieb in letzter Sekunde. Die Fähigkeit verschwand von neuem und tauchte dieses Mal wieder vor Mori auf. Elise schaffte es nicht rechtzeitig ihn zu packen und so warf sie sich zwischen die abgefeuerten Kugeln und ihren Rintaro.

Das Prinzip war das Gleiche.

Elise und Eliza unterschieden sich zwar, jedoch brauchte auch Elise ein paar Sekunden, um erneut gerufen zu werden. Dieses kurze Zeitfenster wollte Eliza endlich nutzen. Sie zielte erneut auf Mori und bemerkte, wie Fukuzawa auf sie zustürmte, um sie davon abzuhalten.

Mori stutzte, als ihm das flüchtige Lächeln in ihrem Gesicht auffiel.

„Was …? Das ist eine Falle!“

Seine Warnung kam zu spät. Eliza hatte sich bereits in Luft aufgelöst und hinter Fukuzawa manövriert, sodass sie ihm, bevor er von neuem herumwirbeln konnte, ihr eigenes Schwert in die linke Schulter rammte.

„Ah!“ Der Silberhaarige spürte, wie die Klinge ihn durchbohrte und wie sein Blut aus der Wunde zu spritzen begann, als die Angreiferin das Schwert wieder gezogen hatte. Die Heftigkeit der Verletzung ließ ihn auf die Knie sinken. Eliza holte ein weiteres Mal zum Schlag aus, aber mit einer Kraft, von der selbst Mori sich fragte, wo er sie herholte, umgriff Fukuzawa den Griff seines Schwerts und wehrte den gegnerischen Angriff ab. Frustriert verschwand die Lebensform-Fähigkeit und Fukuzawa stürzte Blut spuckend und sein Schwert loslassend auf alle Viere.

„Das ist aber gar nicht gut“, resümierte Mori wachsam.

Elise packte den Schwarzhaarigen, bevor die aberdutzenden Salven aus Elizas Waffen ihn treffen konnten. Dieses Mal war sie nicht vor ihm erschienen, sondern hatte sich hinter einer der Maschinen versteckt und aus der Deckung gefeuert. Sie lernte hinzu. Ihr Denken wurde immer strategischer.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen und beschlossen, ihm seine Vermutung zu bestätigen, sah Eliza voraus, wo Elise ihn hinbringen wollte und teleportierte sich genau dorthin, sodass sie freie Schussbahn hatte. Das übernatürliche Mädchen fluchte und versuchte eiligst, Mori wegzubringen, doch auch dieses Mal war es zu spät.

Eliza traf ihn ins Bein und in den Unterbauch.

Eine erwartungsfrohe Miene breitete sich auf dem Gesicht der brünetten Frau aus, als sie hinter sich ein metallisches Geräusch vernahm. Sie warf einen Blick zurück und stöhnte entnervt. Fukuzawa versuchte, sich aufzurichten und sein Schwert zu greifen.

„Dann du zuerst. Ich habe es bald geschafft und ich will nicht gestört werden, wenn ich Mori leiden lasse.“

Der Chef blickte auf und sah in Elizas eiskaltes Gesicht. Sie richtete ihre Pistole auf seine Stirn.

„Es ist den Menschen ein Bedürfnis, letzte Worte zu äußern, oder?“, fragte sie. „Ich möchte nichts tun, das sich nicht gehört. Also, wenn du etwas sagen willst, dann tu das bitte.“

Atemlos und stoisch blickte Fukuzawa an der Waffe vorbei in Elizas Augen. „Es gehört sich nicht, Menschen das Leben zu rauben.“

„George sagt immer, man muss tun, was nötig ist.“

Machte es Sinn, mit ihr zu diskutieren? Fukuzawa dachte angestrengt darüber nach, wie er sie noch aufhalten sollte. Er hatte nicht viel Zeit, bis er dem Blutverlust erliegen würde und noch konnte er nicht davon ausgehen, dass Ranpos Plan aufgegangen war. Eliza vermutete, dass er das fehlende Teil hatte und würde ihn wieder verfolgen, sobald sie hier fertig war. Er musste wenigstens noch mehr Zeit herausschlagen. Wenigstens noch die, die ihm blieb. Wenn Fukuzawa hier starb, würde Ranpo sich am Ende vielleicht die Schuld dafür geben. Es war ein schrecklicher, quälender Gedanke, dass er sich hierfür schuldig fühlen könnte – und ein erhellender.

„Versprichst du mir etwas, bevor du mich erschießt?“, fragte der Chef plötzlich und ließ sie stutzen.

„Was?“

„Frage Shaw, ob er mit dem, was du hier tust, einverstanden ist.“

Irritiert schüttelte sie den Kopf. „Ich brauche sein Einverständnis nicht.“

„Aber du behauptest, du tötest Mori für ihn. Wenn er das gar nicht will, handelst du gegen seinen Willen. Vielleicht tust du ihm damit sogar weh.“

„Ich würde ihm nie wehtun!“, schrie sie entsetzt.

„Manchmal tun wir Menschen, die wir lieben, weh, ohne dies zu wollen.“

„Sei still!“ Elizas Finger legten sich um den Abzug, als sie wie vom Blitz getroffen zusammenzuckte. „George!“, rief sie erschrocken aus – und verschwand.

Ungläubig blickten Mori, Elise (die notdürftig seine Wunden abdrückte) und ein kurz vor der Ohnmacht stehender Fukuzawa auf die Stelle, an der sie gerade noch gestanden hatte.

 

Voller Entsetzen starrten Kunikida, Joyce und vor allem Wilde auf das, was gerade geschah. Dazai blinzelte erstaunt.

„Oh“, war alles, was er dazu sagte.

Shaw blickte derweil entgeistert von Henrys Hand an seinem Arm zu dessen Gesicht, während sein eigenes aschfahl wurde.

„Was …? Wieso …?“ Es war überdeutlich, dass er am allerwenigsten verstand, was vor sich ging.

Der Engländer lächelte belustigt. „Weißt du, was daran am besten ist, George? Du hast früher immer selbst gesagt, man dürfe mir nicht mehr als nötig trauen. Und trotzdem hast du dich von mir täuschen lassen. Das ist großartig! Einfach großartig!“ Er lachte, während Shaw kraftlos auf die Knie fiel und immer noch von ihm festgehalten wurde. „Aw, mach nicht so ein Gesicht. Du musst mir doch dabei Recht geben, dass die Gelegenheit zu günstig war. Du warst nur noch ein armseliges Abbild deiner Selbst und so fixiert auf deine Eliza - es war so einfach, dir weiszumachen, man könnte Basils Erfindung nutzen, um aus ihr einen Menschen zu machen. Du konntest für mich die ganze lästige Drecksarbeit erledigen und ich konnte mich entspannt zurücklehnen und euch dabei zusehen, wie ihr in Wahrheit alle nach meiner Pfeife getanzt seid. Das war herrlich, wirklich.“

Mit ungläubigem Blick und bebenden Lippen hörte Shaw diesem egomanischen Monolog zu. „Du … du hast mich angelogen?“

„Von vorne bis hinten.“

„Du verdammter-“ Wilde wollte auf Henry zustürmen, doch er wackelte mahnend mit einem Finger seiner anderen Hand.

„Ich weiß, dass Basils Erfindung ein Menschenopfer pro Aktivierung benötigt. Ich weiß nicht, was passiert, wenn du mich jetzt zusätzlich noch berührst. Mir wird es wahrscheinlich nicht schaden, also, wenn du es wagen willst …?“

Wilde erstarrte auf der Stelle. Er wirkte, als wäre eine Erkenntnis über ihn gekommen. „Das war von Anfang an dein Plan gewesen. Deswegen hast du Basil überredet, dieses furchtbare Ding vor dem Militär zu verstecken und deswegen warst du so sauer, als Dorian vorschlug, es zu zerstören. Du hast es die ganze Zeit für dich nutzen wollen.“

Henry rollte spöttisch mit den Augen. „Diese Einsicht hat aber lange gebraucht.“ Er ließ Shaws Arm los, sodass dieser rücklings hinfiel.

„Aber ...“, keuchte Shaw schwerfällig, „wieso hast du … dir den Apparat nicht sofort gegriffen?“

„Das ist ganz simpel. Zuerst hatte ich gehofft, Basil könnte sein Maschinchen noch verbessern, allerdings ist das hier wohl die Obergrenze seiner Leistung. Irgendwann war ich von der Warterei und eurem Gutmenschgetue so angewidert, dass ich diese Fabrik in Frankreich in die Luft sprengte und anfing, mir zu überlegen, wie ich an die Erfindung kommen könnte. Lange Rede, kurzer Sinn: Es war leicht, Dorian zu finden und ihm Informationen zu entlocken. Schließlich hatte ich bei ihm auch schon früh genug mit der Vorarbeit begonnen. Dann brauchte ich nur noch einen Dummen, der mir bei der Suche der Teile half und als Opfer herhalten konnte und voilà! Hier sind wir nun.“

Kaum noch in der Lage Luft zu holen oder sich zu bewegen, riss Shaw fassungslos die Augen auf. „Du hast … uns alle … nur benutzt.“

Gehässig grinsend, zuckte der Engländer mit den Schultern.

„Was für ein ekelhaftes Individuum!“, schrie Joyce ihm zornig entgegen. „Wie verdorben kann jemand sein?! Besitzen Sie gar keinen Anstand? Waren Ihre Kameraden nur Marionetten für Sie?“

„Marionetten?“ Der Beschuldigte schüttelte den Kopf. „Seien Sie nicht albern. Die sind lächerlich. Aber unterhaltsam waren sie schon alle. Äußerst unterhaltsam.“ Er grinste in Shaws Richtung. „Weißt du, was das Beste war, George? Dass du dich sooo schlecht gefühlt hast, weil du dachtest, deine Kameraden verraten zu haben.“ Henry fing an, lauthals zu lachen. „Warum glaubst du, haben die Japaner dich damals so schnell hochnehmen können?“ Ihm kamen die Tränen vor Lachen, während sich in Shaws Augen die Tränen vor Entsetzen sammelten.

„Genau deswegen! Ich hatte ihnen längst alles gesteckt.“

Aus den dunklen, schweren Wolken über ihnen begann der Regen, sich zu entladen. Mit lautem Prasseln ging er auf alle nieder, die auf diesem Hochhausdach standen, und schaffte es dennoch nicht, das manische Lachen des schwarzhaarigen Mannes zu übertönen.

Ein eiskalter Hauch mischte sich plötzlich in den warmen Regen und alle stutzten für einen Moment, als aus dem Nichts Eliza auf dem Dach erschien.

Ihre sowieso großen Augen weiteten sich vor Schreck, als sie begriff, was hier geschah. Mit einem Schrei der Verzweiflung eilte sie an die Seite ihres Anwenders und ergriff seine immer kälter werdende Hand.

„George!“, rief sie panisch und schluchzend aus. „George! Was ist mit dir? Was ist mit dir?? Wäre ich doch nur hier gewesen!“ Tränen fielen aus Elizas Augen auf den Iren hinab und Kunikida spürte, wie dieser Anblick ihm einen Stich ins Herz versetzte.

Das war nicht die rasende Furie, die auf Tanizaki geschossen hatte und Kenji und Yosano angegriffen hatte. Das dort war ein Mensch, der gerade einen geliebten Menschen verlor.

„Mach … dir keinen … Vorwurf“, sagte Shaw schwach, als seine eigenen Tränen zu fallen anfingen. „Nein … du hast dir … nichts vorzu … werfen. Meinetwegen bist du … so … geworden. All mein Hass … und all mein … Groll gingen … auf dich über. Du hast … ihn ausgehalten.“ Mit letzter Kraft hob er seine Hand und legte sie gegen Elizas Wange. „Verzeih mir bitte.“

Eliza lächelte sanftmütig, bevor die Hand hinabsank und die übernatürliche Frau sich auflöste.

„Tragisch“, ätzte Henry in die ergriffene Stille hinein und brachte damit bei Kunikida das Fass zum Überlaufen.

„Was sind Sie? Ein seelenloses Monster? Leben Sie davon, andere leiden zu lassen? Das war das letzte Verbrechen, das Sie jemals begangen haben! Ich werde nicht zulassen, dass Sie weiter Ihr Unwesen treiben!“ Der Idealist schnaubte vor Wut und beeindruckte Henry damit herzlich wenig.

„Herr Dazai“, sagte er ruhig zu dem neben ihm stehenden Braunschopf, „schießen Sie doch bitte einmal auf mich.“

„Soll ich wirklich?“ Selbst Dazai klang überrascht.

„Aber ja! Ich bitte darum.“

Dazai zuckte mit den Achseln. „Wenn Sie das wollen.“ Er feuerte dem Anderen mitten ins Gesicht. Die Kugel drang in seinen Schädel ein, erstarrte auf halbem Weg und wurde wieder herausgedrückt. Henry fasste sich mit einer Hand an das geschwind zuwachsende Loch auf seiner Stirn und applaudierte lachend, als die Wunde sich wieder geschlossen hatte.

„Großartig, nicht wahr?“ Es steigerte seine Erheiterung noch, als er in die verdatterten Mienen von Kunikida und Joyce sah. Wie hilflos sie auf einmal aussahen! Was für ein Fest das doch war!

„Wow“, kommentierte Dazai, „das ist mal wirklich interessant.“

„Sie funktioniert also tatsächlich.“ Wilde klang ganz und gar gebrochen. „Und jetzt? Willst du in zehn Jahren wieder jemanden töten, um diesen Zustand beizubehalten?“

Henry nickte beiläufig. „Ja, das ist doch schön so, oder? Und ich kenne mich gut genug mit Gift und Vergiftungen aus, um nicht das gleiche Schicksal wie der arme Tropf damals zu erleiden. Ich weiß auch schon, was du sagen willst: Nein, natürlich erwarte ich nicht, dass du mir noch einmal hilfst. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Da werde ich schon irgendeinen anderen Befähigten mit einer Heilfähigkeit auftreiben.“

Wilde fuhr sich mit seiner gesunden Hand durch die Haare. „Und wofür das Ganze? Warum? Welchen Zweck verfolgst du damit?“

„Zweck?“ Henrys arrogante Miene wurde für einen flüchtigen Augenblick fragend, ehe er den Kopf schüttelte. „Jemand wie du versteht das nicht. Auch diese beiden moralischen Äffchen verstehen es nicht.“ Er blickte mit erwartungsfroher Mimik zu Dazai. „Aber Sie, Sie verstehen es, nicht wahr? Durch Basils Erfindung bin ich in der Lage zu sehen, wie die Menschheit sich entwickelt, was für Dummheiten sie anstellt, wie sie glaubt, Fortschritte zu machen und sich dabei doch nur im Kreis dreht. Ich kann Einfluss auf dies alles nehmen. Ich kann unzählige Menschen aufbauen und dann wieder einreißen. Ich kann Kriege anfangen und nach meinem Geschmack beenden. Und das bis in alle Ewigkeit. Es gibt nichts Besseres. Ja, das muss es ein, wonach ich so lange gesucht habe. Das Etwas, das sich nicht benennen lässt und trotzdem der Ursprung und das Ziel von allem ist. Ich werde der Gott dieser Welt sein.“

„Das soll deiner Meinung nach ein Gott sein?“, widersprach Wilde angewidert. „Verwechselst du ihn nicht mit seinem Gegenpart?“

Er erntete ein überhebliches Kopfschütteln als Antwort. „Ich sagte doch: Du verstehst das nicht. Du bist nicht wie wir.“ Erneut schaute er zu Dazai, als hoffte er auf eine Bestätigung. Dazai sah indes aus dem Augenwinkel zu Kunikida, der ihn angespannt anstarrte. Es war deutlich, dass der Idealist darauf hoffte, dass Dazai die vermutete Ähnlichkeit empört zurückwies.

Stattdessen lächelte Dazai genüsslich. „Dann darf ich auch ein Gott sein?“ Aus den Augenwinkeln bemerkte er Kunikidas entgleisende Mimik.

„Es wäre mit Sicherheit interessant zu sehen, was dann passieren würde“, antwortete Henry.

„Dann los. Suchen wir uns einen neuen Befähigten mit einer Heilfähigkeit, damit ich mitmachen kann. Ich nehme an, Herr Wilde will nicht mehr?“

Der angesprochene Ire warf ihm einen verächtlichen Blick zu, was Dazai lediglich erneut mit den Schultern zucken ließ.

„Einen Augenblick noch“, wandte Henry ein. „Eine kleine Bedingung hätte ich da.“

„So?“ Dazai schien darüber amüsiert zu sein. „Was auch immer es ist, ich willige ein, wenn ich dafür auch einen kleinen Gefallen einfordern darf.“

„Interessantes Verhandlungsgeschick.“ Henry nickte. „Einverstanden. Zuerst meine Bedingung: Wählen Sie einen der drei Herren hier aus und erschießen ihn dann.“

Wie Joyce und Wilde zuckte Kunikida bei diesen erschreckend nüchtern vorgetragenen Worten zusammen. Er hörte ein leises Röcheln vom Boden und blickte flüchtig zu dem dort liegenden und halb bewusstlosen Atsushi. Die vor Schmerzen verzerrte Miene des Jungen wurde nun auch noch von einer nackten Angst heimgesucht. Kunikida wäre es im Moment tatsächlich lieber gewesen, wenn Atsushi nicht bei Bewusstsein wäre; dann würde er nicht mitbekommen, was hier nun vielleicht geschehen würde. Was würde Dazai jetzt tun? Ihm lief der Schweiß die Stirn hinunter, als sein eigentlicher Partner abwägend zu ihm schaute.

Daran gab es keinen Zweifel.

Dazai überlegte ernsthaft, wen er erschießen sollte.

Die Augen des Braunschopfs wanderten zu Wilde, der seinen Blick wortlos und nervös erwiderte. Ihr Blickkontakt dauerte um einiges länger als der zwischen den beiden Detektiven.

„Der englische Sommerregen“, sagte Wilde plötzlich und zwang sich zu einem Lächeln, das schrecklich traurig aussah, „ist uns wohl gefolgt.“

Was …? Was soll das heißen?, überlegte Kunikida fieberhaft, als -

Dazai sich zu ihnen zurückdrehte und abdrückte.

Kunikida hielt den Atem an, als Joyce neben ihm von der Kugel getroffen wurde. Sie durchbohrte seinen Brustkorb und ließ sein Blut aus der Wunde spritzen, bevor der blonde Ire zu Boden fiel.

Atem- und wortlos starrte Kunikida auf Joyce, der sich nicht mehr rührte. Wilde schrie auf und rannte über das Dach zu seinem sterbenden Partner.

Das war ein Albtraum.

Nein, es war schlimmer.

„Interessante Wahl“, bemerkte Henry imponiert.

„Es wäre so ein schreckliches Klischee, wenn ich meinen früheren Kollegen erschießen würde. Und Wilde ist eh am Ende.“ Dazai klang ganz und gar ungerührt. „Und jetzt?“, fragte er daraufhin seinen neuen Kompagnon, den diese Szene und seine Antwort sichtlich verzückt hatten.

„Ihr Gefallen?“

„Ah, ja.“ Dazai senkte die Pistole hinab. „Ich brenne darauf, zu erfahren, wie Mansfield in diese ganze Geschichte hineinpasst.“

„Oh?“ Die Bitte überraschte ihn. „Ich wurde von jemandem auf die liebreizende Frau Mansfield und ihren verschollenen Bruder aufmerksam gemacht. Ihre Fähigkeit ist sehr interessant, daher wollte ich für meinen Plan auf sie zurückgreifen.“

„Das ist ein wenig seltsam“, entgegnete Dazai nachdenklich, „ich weiß, dass ich ihren Bruder nicht getötet habe. Er starb vor langer Zeit an einer Krankheit. Und ich bin mir relativ sicher, ihre Eltern auch nicht getötet zu haben. Aber sie ist der festen Überzeugung, ich hätte dies getan.“

„Das war eine Idee meines Wohltäters. Er meinte, es wäre lustig, Ihnen die Ermordung ihrer Eltern in die Schuhe zu schieben und Frau Mansfield so für meine Zwecke gefügig zu machen.“

„Dann haben Sie ihre Eltern getötet?“

Henry nickte unaufgeregt. „Ja, das war recht schnell erledigt gewesen. Ich hoffe, Sie sind nicht nachtragend? Das ist eine unschöne Eigenschaft.“

Dazai winkte ab. „Ich nehme an, Ihr mysteriöser Wohltäter hat Ihnen auch die Informationen über die Detektei gegeben, damit Eliza uns angreifen konnte?“

„In der Tat, auch das entspricht der Wahrheit. Ein äußerst interessanter Mann, nebenbei bemerkt. Leider wollte er unseren Kontakt nur auf diese eine Angelegenheit beschränken. Schade, dieser russische Gentleman hätte unsere Runde sicherlich vorzüglich komplettiert.“

Der Brünette stockte und lachte schließlich. „Als hätte ich es geahnt.“

„Erfüllt das Ihren Gefallen?“

„Mehr habe ich nicht hören wollen.“

Henry lachte ebenso. „Sehr gut. Mein Herz rast regelrecht vor Aufregung, seit George mir von Ihnen erzählt hat. Ich bin sehr froh, Sie gefunden zu haben. Lassen Sie uns herausfinden, was aus dieser Welt werden wird.“ Der Engländer hielt mit einem Mal inne und fasste sich an den Kopf, so als hätte ihn plötzlich etwas dort getroffen.

Kunikida war kurz davor in Panik zu verfallen, als das Unvorstellbare geschah.

Eine Explosion.

Eine gigantische, unfassbar heiße, grelle und ohrenbetäubende Explosion ereignete sich aus dem Nichts auf dem Dach des unfertigen Wolkenkratzers hoch über der Stadt.

Die Druckwelle schleuderte Kunikida mit voller Wucht gegen den Gebäudeteil, der zum Treppenhaus führte. Die Tür und Teile der Außenwände wurden durch die immense Kraft einfach weggesprengt. Auch Atsushi und Kyoka flogen in Richtung der unverputzten, nun nur noch halb stehenden Mauern. Die jäh aufgetauchte Feuerkugel verschwand und hinterließ eine dicke Wolke aus Staub und Rauch, durch die man kaum hindurchsehen konnte. Mit wackligen Beinen und einem schrillen, furchtbar lauten Klingeln in den Ohren stand Kunikida wieder auf und versuchte, trotz seiner zersprungenen Brillengläser, die Lage zu überblicken.

Obwohl die beiden jüngeren Detektive durch das Gift beeinträchtigt waren, hatten sie im entscheidenden Moment ihre Fähigkeiten kurz einsetzen können. Weißer Dämonenschnee löste sich gerade auf, als Kunikida zu ihm sah. Die Fähigkeit hatte Kyoka vor einem härteren Aufprall beschützt. Ähnlich verhielt es sich bei Atsushi, der keuchend und hustend am Boden lag und dessen Gliedmaße wieder von denen eines Tigers zu denen eines Menschen wurden. Beide waren jetzt mit ihren Kräften endgültig am Ende. Der Idealist schaute rasch um die Ecke und fand dort Wilde vor, der sich über seinen Partner geworfen hatte. Sie waren ein paar Meter weiter an den Rand des Dachs geschleudert worden. Kunikida wirbelte herum und blickte zu der Stelle, an der Henry gestanden hatte. Der Rauch lichtete sich langsam und eröffnete ihm den Blick auf die Verwüstung, die nun auf dem Dach herrschte. Die mysteriöse Explosion hatte die zweite Hälfte des Daches vollkommen zerstört. Vor ihm tat sich eine riesige Abbruchkante auf, von der weiterhin Teile des Gebäudes abbröckelten und nach unten in die Tiefe fielen. Doch Henry war nirgends mehr zu sehen.

Kunikida schluckte.

Dazai war ebenso nirgends auszumachen!

Der Obertrottel hatte neben dem Engländer gestanden; war er somit auch der Explosion zum Opfer gefallen?

Sein Herz blieb beinahe stehen, als er etwas an der Abbruchkante bemerkte. Ein paar Finger klammerten sich an der Bruchkante fest. Kunikida stolperte, so schnell er in seinem angeschlagenen Zustand konnte, zu dem Abgrund hin, kniete sich davor und griff im letzten Augenblick nach der Hand, die beinahe abgerutscht wäre.

„Das sieht gar nicht gut aus.“ Dazai grinste ihm gequält entgegen. Blut lief von seiner Stirn sein Gesicht hinunter. „Meinst du, es wird sehr wehtun unten aufzuschlagen?“

„DAS WILL ICH NICHT HERAUSFINDEN!“ Kunikida schnaubte und biss gleich darauf die Zähne zusammen, denn Dazai drohte, ihm aus seinem Griff zu entgleiten. Es sah wirklich nicht sonderlich gut aus. Aus dieser Position konnte er ihn nicht hochziehen und er brauchte seine zweite Hand, um sich selbst am Dach festzuhalten. Durch die Wucht der Zerstörung kippte der Boden, auf dem er hockte, nach unten. Wie sollte er diesen Spinner jetzt hochhieven?

„Du musst mit deiner anderen Hand nach mir greifen“, ordnete er dem Braunschopf an. „Und dich dann an mir hochziehen.“

Dazais Miene wurde erst leicht perplex, dann ganz ernst. „Mein Gewicht könnte dich mit in die Tiefe ziehen.“

„Wir haben keine andere Wahl. So kann ich dich nicht ewig festhalten.“ Kunikida keuchte vor Anstrengung, als Dazais Hand abermals aus seiner eigenen glitt und er von neuem seinen Griff verstärken musste.

Dazai stutzte plötzlich. Seine Augen, die zur Abbruchkante hinaufblickten, weiteten sich erschrocken.

„Kunikida ...“, sagte er stimmlos, „du musst mich jetzt sofort loslassen.“

„Was redest du da für einen Unsinn?“, entgegnete der Angesprochene missmutig.

„Da bilden sich weitere Risse im weggesprengten Boden“, antwortete Dazai hastig. „Du wirst definitiv auch in den Tod stürzen, wenn du nicht schnell hier verschwindest!“

„Glaubst du ernsthaft, ich lasse dich einfach los??“

Die Blicke der beiden trafen sich. Dazai sah in Kunikidas determiniertes, angestrengtes Gesicht – und ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Ohne dir zu nahe treten zu wollen“, äußerte er plötzlich süffisant, „DU bist nicht die hübsche Frau, die ich mir für diesen Moment immer gewünscht habe.“

„Hast du ein Trümmerteil gegen den Kopf gekriegt?! Sei still, ich muss nachdenken!“

Dazais Augen wanderten noch einmal von den größer und größer werdenden Rissen an der Abbruchkante zu seinem Partner hinauf. Dann wurde seine Miene ganz leer. „Pass gut auf Atsushi und die Detektei auf.“

„Was-?!“

Zu Kunikidas blankem Entsetzen fing Dazai an zu zappeln, sodass es immer schwerer wurde, ihn festzuhalten.

Die Hand des brünetten Wirrkopfs entglitt seiner eigenen.

„DAZAI!! DAZAI!!!“

Kunikida schrie ihm panisch hinterher, während er hilflos dabei zusah, wie Dazai in die Tiefe stürzte. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er ein unheilvolles Geräusch vernahm.

Mit einem lauten Krachen löste sich der Teil des Daches, auf dem er hockte.

Kunikida fühlte, wie er zu fallen begann.

The silence in your eyes is far too rare to give away – And it's exactly why I stay

The silence in your eyes

Is far too rare to give away

And it's exactly why I stay“

 

Placebo, „Beautiful James“

 

Sie haben es gehört, oder? Einen besseren Beweis als ein Geständnis gibt es nicht.“

Ich … ich bin nur benutzt worden? Es … es war von Anfang an … nichts als eine Lüge …?“

Es tut mir leid. Aber das ist leider die Wahrheit.“

Wussten Sie das etwa die ganze Zeit?“

„Nein. Dazai wusste es. Er musste es wissen. Deswegen hat er mich gebeten, Sie herzubringen und dieses Gespräch über Funk mitanzuhören. Er wollte, dass Sie die Wahrheit erfahren.“

Er hat dich gebeten, sie herzubringen, Detektiv? Mach dich nicht lächerlich. Ich habe euch hergebracht. Und das auch nur weil Dazai und Mori mich darum gebeten haben. Unter anderen Umständen hätte ich euch und den Menschentiger längst getötet.“

Höh? Meinetwegen stell deine Leistungen in Rechnung, aber langweile nicht mich mit so was.“

„R-ranpo, reiz ihn bitte nicht noch weiter! Er wirft uns sowieso die ganze Zeit schon so finstere Blicke zu!“

„So guckt der immer.“

„Hn.“

Herr Edogawa? Ich habe meine Entscheidung getroffen.“

Sind Sie sich wirklich sicher?“

Die Schuld, die ich mir bereits aufgeladen habe, kann ich nie mehr auslöschen. Daher … ja. So wie man etwas lieben muss, so muss ich auch diesen letzten Schritt gehen.“

Es tut mir sehr leid.“

Nein, mir tut es leid. … Ich hätte beinahe einen schrecklichen Fehler begangen. Bevor noch tatsächlich jemand von Ihren Leuten zu Schaden kommt, nehmen Sie bitte das hier. Es sind ein paar Ampullen mit dem Gegengift. Shaw gab sie mir, weil Henry Eliza damit ausgestattet hatte und es wohl selbst ihm zu unheimlich war. Bitte, nehmen Sie sie. Das ist leider alles, was ich für Sie tun kann.“

Keiner der Anwesenden auf dem Dach des unfertigen Hochauses hatte etwas von diesem Gespräch mitbekommen, das sich nur ein Gebäude weiter ereignet hatte. Und so hatte keiner von ihnen gesehen, wie Akutagawa mit Rashomon die zu Tode betrübte Katherine Mansfield hoch in die Luft geschleudert hatte, von wo sie eine ihrer Münzen auf Henry geworfen hatte.

Damals in Fukuzawas Büro war es ein Bluff gewesen. Mansfield wusste, was ihre Fähigkeit verlangte. Wollte sie etwas auslöschen, musste sie dafür ein gleichwertiges Opfer bringen. Um ein Leben auszulöschen - ob durch eine Fähigkeiten-Waffe verstärkt oder nicht – musste sie ihr eigenes Leben opfern.

 

Kunikida spürte, wie der Boden unter ihm wegbrach und er zu fallen begann. Er griff im Sturz nach seinem Notizbuch und ließ seine Augen hastig durch die ihm nahe Umgebung rasen. Die Drahtpistole würde ihm nichts nützen; sie brauchte einen Halt, aber hier gab es nichts mehr, an dem er sich hätte festhalten können. Der zerfallende Wolkenkratzer bot keine Fläche mehr dafür und die anderen Gebäude waren zu weit weg.

Dazais Opfer war umsonst gewesen. Wenn er doch nur stärker gewesen wäre, wenn er ihn doch nur hätte retten können. Was war er für ein Mensch, dass er nicht einmal seinen Kameraden hatte retten können? Das Wort, das auf seinem Notizbuch prangte, verspottete ihn mit einem Mal.

Sie stürzten beide in die Tiefe und wer würde nun Atsushi und Kyoka helfen? Er wusste nicht, was genau mit dem noch verbliebenen Iren war; ob er noch in der Lage war, die beiden in Sicherheit zu bringen und ihnen zu helfen.

Die ersten Tränen liefen aus seinen Augen und Kunikida fand es abscheulich, dass seine letzten Gedanken voller Reue und Ungewissheit waren. Beschämt schloss er seine Augen -

und riss sie wieder auf, als etwas ihn unter den Armen packte und er plötzlich hoch oben in der Luft zu schweben schien. Was auch immer das war zog ihn zurück auf das Dach. Er legte den Kopf in den Nacken und erkannte, was ihn vor dem tödlichen Fall bewahrt hatte. Noch während er Weißer Dämonenschnee ungläubig anstarrte, erhaschte er aus seinen Augenwinkeln ein noch viel größeres Wunder. Aus seinem toten Winkel heraus rannte rasend schnell ein riesiger weißer Tiger auf die Abbruchkante zu. Mit einem großen Sprung jagte er über die Kante und hechtete an dem zerstörten Gebäude hinunter.

„Was …?“

Weißer Dämonenschnee setzte Kunikida an einer sicheren Stelle auf dem Dach ab. Die Welt nicht mehr verstehend, blickte der Idealist auf eine kreideweiße und erschöpfte Kyoka, die neben Akutagawa stand und ein paar Ampullen in der Hand hielt. Zwei waren leer, in zwei weiteren war augenscheinlich noch eine Flüssigkeit enthalten.

Moment.

Akutagawa?

Kunikida öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sein Kopf war vollkommen leer und so brachte er keinen Ton heraus.

„Geht es dir gut?“, fragte Kyoka ängstlich und Kunikida brauchte einige Sekunden, ehe er zaghaft nickte.

„Versteht dies nicht falsch, Detektive“, brummte Akutagawa übellaunig. „Morgen sind wir wieder Todfeinde.“

Immer noch nicht begreifend, nickte Kunikida geistesabwesend erneut und erblickte in der Ferne auf einem benachbarten Wolkenkratzer eine mit großen Gesten winkende Gestalt und eine weitere Gestalt danebenstehend.

Ranpo und Poe.

„Der Chef und Mori?“, fragte Kunikida, ohne Akutagawa anzusehen.

„Chuuya müsste inzwischen bei ihnen sein“, erwiderte der Mafioso.

War es das? War der Albtraum wirklich vorbei?

„Hilfe!!“ Ein panischer Schrei durchkreuzte seine aufkeimende Hoffnung. „Ich brauche Hilfe! Schnell!!“

Das … das war die Stimme von Joyce.

Endlich wieder bei Sinnen hinkte Kunikida zu der Stelle, an der er die beiden Iren zuletzt gesehen hatte.

Wie? Was ist passiert?

Von neuem das Bild vor seinen Augen nicht begreifend, hielt Kunikida erstarrt inne. Joyce, der zuvor niedergeschossen worden war, hockte am ganzen Körper zitternd über einem am Boden liegenden Wilde, der an mehreren Stellen heftig blutete. Neben ihm lag das kleine Messer, das Shaw ihm zur Aktivierung der Fähigkeiten-Waffe gegeben hatte.

Kunikida zog scharf die Luft ein, als er begriff, was sich hier abgespielt hatte.

Um Joyce mit seiner Fähigkeit zu heilen, hatte Wilde sich mehrere drastische Verletzungen zugefügt.

„Er verblutet! Er wird verbluten!“, schrie Joyce aufgebracht seinem japanischen Kollegen entgegen.

„Hier wird niemand sterben“, antwortete der Idealist unerschütterlich. „Egal, wie oft diese Spinner das versuchen.“

 

Atsushi zuckte erschrocken zusammen, als er plötzlich einen kalten Luftzug spürte. Die anderen hatten erzählt, dass sie stets so etwas wahrgenommen hatten, bevor Eliza aufgetaucht war. Er blieb vor einem geöffneten Fenster stehen und atmete erleichtert aus.

Es war nur der Wind gewesen.

Eliza würde nie wieder vor ihnen erscheinen und auf eine seltsame Art und Weise erfüllte dies den Jungen mit Traurigkeit. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, wäre Eliza wahrscheinlich niemals zu der geworden, die sie gewesen war. Dachte er zurück an die tragische Szene auf dem Dach, so konnte Atsushi nicht leugnen, dass er sich für sie und Shaw gewünscht hätte, dass wenigstens das Märchen von ihrer möglichen Menschwerdung keine Lüge von Henry gewesen wäre. Natürlich ohne die Sache mit dem Menschenopfer. Atsushi schüttelte sich bei diesem Gedanken, riss seinen Blick von dem Fenster los und setzte seinen Weg durch den langen Flur des Krankenhauses fort.

Es waren drei Tage vergangen, seit Mansfield Henrys unmenschlichem Treiben ein Ende gesetzt hatte.

Wenn Atsushi sich an die Geschehnisse vor drei Tagen zu erinnern versuchte, kam ihm alles wie ein Traum vor. Vielleicht lag es daran, dass er danach fast zwei Tage durchgeschlafen hatte, aber wahrscheinlicher war es, dass er immer noch nicht begreifen konnte, was alles passiert war. Dazais merkwürdiges und beängstigendes Verhalten, das Gift, das er und Kyoka abbekommen hatten, die aus dem Nichts gekommene Explosion und Akutagawas grimmige Visage, als er nach einer kurzen Ohnmacht wieder zu sich gekommen war. Bevor er überhaupt den Mund hatte aufmachen können, hatte er Kunikidas verzweifelte Schreie nach Dazai gehört und war aufgesprungen – und beinahe wieder hingefallen, da sein Körper das von Akutagawa verabreichte Gegenmittel nicht so schnell hatte verarbeiten können. Ausgerechnet Rashomon hatte ihn aufgefangen und dann mit einem unsanften Schubs nach vorne befördert. Die beiden jungen Männer hatten nur einen hastigen Blick austauschen müssen, um sich zu verständigen:

Rette ihn. Ich kann es nicht.“

Ohne weiter darüber nachzudenken, ohne dem Ächzen seines Körpers Aufmerksamkeit zu schenken, war Atsushi losgesprintet und hatte sich in den Tiger verwandelt. Die Explosion musste Dazai vom Dach geschleudert haben und in Atsushis Kopf hatte es nichts mehr außer dem Bild eines in die Tiefe stürzenden Dazais gegeben. Kyoka hatte mit Weißer Dämonenschnee Kunikida in Sicherheit gebracht und so hatte er sich voll und ganz auf die Rettung seines Mentors konzentrieren können. Mit seinen eindrucksvollen, mächtigen Beinen war der Tiger schneller als der Wind am Gebäude hinuntergejagt, bis er Dazai eingeholt und seine Reißzähne in seinen flatternden Mantel verbissen hatte. Die übernatürliche Bestie hatte ihre Krallen in die Mauern des Hochhauses geschlagen, um abzubremsen. Durch den Bremsvorgang war Dazai gegen das Ungetüm geschleudert worden und es hatte sich daraufhin in Atsushi zurückverwandelt.

Einen Meter über dem Boden waren die beiden Detektive – grob, aber gefahrlos - auf die Erde gekracht.

Vollkommen geschlaucht und nicht mehr in der Lage, auch nur einen Muskel zu bewegen, hatte Atsushi mit letzter Kraft zu Dazai gesehen und gemurmelt: „So ein Glück. Dir ist nichts passiert ...“ Die Augen waren ihm an dieser Stelle vor Anstrengung zugefallen und bevor er eingeschlafen war, hatte er eine Hand über seinen Kopf streicheln gespürt.

Atsushi seufzte bei der Erinnerung daran. Er hielt vor einer Tür an und sammelte sich einen Moment lang, um nicht zu trübsinnig zu wirken. Dann klopfte er leise und öffnete verhalten die Tür.

„Ah, du bist es, Junge“, begrüßte Joyce ihn flüsternd. Der Ire saß neben dem Bett, in dem sein schlafender Kompagnon lag. „Geht es dir wieder besser?“

Der junge Detektiv nickte. „Ich merke überhaupt nichts mehr von dem Gift. Und Kyoka fühlt sich auch wieder gut.“

„Das beruhigt mich ungemein.“

„Wie geht es Herrn Wilde?“

„Unkraut vergeht nicht“, antwortete Joyce trocken. „Der Idiot hat Unmengen an Blut verloren, aber die Ärzte haben ihn wieder zusammengeflickt. Er schläft die halbe Zeit, aber heute Morgen hatte er genug Kraft, um der lieben Frau Yosano, die sich extra hatte herbringen lassen, weiszumachen, sie solle ihre Fähigkeit nicht bei ihm einsetzen und sich lieber noch schonen. Es wäre schließlich eine Schande, wenn seinetwegen eine so wunderschöne Frau zu Schaden komme.“ Der Ire rollte mit den Augen. „Wenn er Leute einlullt, geht es ihm wieder blendend.“

Atsushi lachte verlegen. Yosano und Kenji, die weitaus mehr Gift als er abbekommen hatten, waren zwar noch im Krankenhaus, doch beide auf dem Weg der Besserung. Kenji mal wieder etwas schneller als Yosano, was die Ärztin tierisch wurmte. Naomi hatte erzählt, dass Yosano auch bereits angeboten hatte, Tanizakis Heilung zu beschleunigen, worauf der Rothaarige mit sehr, sehr panischem Gesichtsausdruck die Ärzte gefragt hatte, was ihrer Meinung nach zuerst einträfe: seine oder Yosanos vollständige Heilung. Naomi hatte unheimlich gelächelt, als sie dies erzählt hatte. Ob es nicht sooo süß war, wenn ihr Bruder so verängstigt war, hatte sie gefragt und Atsushi hatte es vorgezogen, nicht zu antworten.

Sie waren alle exzentrisch, aber liebenswert.

„Irgendetwas Neues von Herrn Dazai?“, fragte Joyce nun und erhielt umgehend die Antwort, als die Schultern des Jüngeren herabsackten. „Er bleibt also mal wieder verschwunden.“

„Der Chef und Kunikida sagten, wir sollten ihn einfach ein paar Tage in Ruhe lassen. Ich hoffe nur … ich hoffe, es geht ihm gut.“

Joyce winkte ab. „Unkraut vergeht nicht. Ich kann immer noch nicht glauben, was da alles vor sich gegangen ist.“

„Ich auch nicht.“ Zögerlich wanderten Atsushis Augen zu Wilde. „Konnten Sie schon mit ihm über alles sprechen?“

Sein Gegenüber atmete lautstark aus. „Dein Chef war gestern hier und wollte die Einzelheiten von ihm wissen. Ich bestand darauf, dabei sein zu dürfen und wenn Herr Fukuzawa nicht auch darauf bestanden hätte, wäre ich immer noch im Unklaren über seine Vergangenheit.“ Joyce hielt kurz inne. „Es ist vor allem eine schrecklich traurige Geschichte, wenn du mich fragst. Dieser Wirrkopf wollte nicht, dass ich irgendetwas davon erfahre, weil er Angst hatte, ich würde dann anders über ihn denken und ihn zurücklassen. Und er wollte nicht, dass ich seinetwegen Schwierigkeiten bekomme.“ Ein zartes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Wie sagte Kyoka doch so treffend? Ein Mensch hat viele Facetten. Ich habe bisher keine an ihm gefunden, die bösartig oder unmenschlich ist, daher sehe ich auch keinen Grund, irgendetwas an unserem Status quo zu ändern. Außer dass ich ihn das nächste Mal, wenn er etwas vor mir verheimlicht, zusammenschlagen werde.“

Merklich erleichtert lächelte Atsushi erfreut. „Dann vertrauen Sie ihm auch weiterhin?“

„So sehr man einem anderen Menschen nur vertrauen kann.“ Nach seinen großen Worten stutzte Joyce, wandte sich Wilde zu und schnippte ihm angesäuert gegen die Stirn. „Verrätst du mir vielleicht einmal, warum du dich schlafend stellst?!“

Verdattert blickte nun auch Atsushi zu dem Brünetten, dessen Mundwinkel spitzbübisch nach oben gezogen waren. Sichtlich erheitert öffnete Wilde die Augen und richtete sich, so weit er konnte, auf.

„Aww, Jimmy, weil du nie so nette Sachen sagst, wenn ich wach bin. Du kannst ja zuckersüß sein, wenn du nur willst!“

„Es wird gleich bittersüß, wenn du weiter so einen Unfug machst!“

„Du kannst deine Worte nicht zurücknehmen! Du magst mich! Du magst mich!“

„Ich vergesse mich gleich!“

Mit zuckenden Augen schaute Atsushi auf das sich kabbelnde Duo – und fühlte dabei eine wohlige Wärme in seinem Innern. Für ihn war die Welt in Ordnung, wenn ein chaotischer Braunschopf und ein penibler Blondschopf sich in den Haaren hatten.

„Apropos zuckersüß“, sprach Wilde in Atsushis Richtung, „ich habe es zwar schon deinem Chef gesagt, aber ich möchte es euch allen sagen: Ich danke euch für das, was ihr getan habt. Ich will nicht darüber nachdenken was wäre, wenn auch nur einem von euch meinetwegen etwas zugestoßen wäre. Ihr seid wahrhaftig ein einschüchternder, gutherziger Haufen. Ich stehe tief in eurer Schuld.“

„Wir“, warf Joyce ein, „wir stehen tief in eurer Schuld.“

Peinlich berührt winkte Atsushi ab. „Nicht doch. Ich wette, der Chef hat gesagt, Sie sollen sich keinen Kopf darüber machen, oder? Genauso ist es nämlich.“

Die zwei Iren tauschten einen zufriedenen Blick aus.

„Nachdem ich deinem Chef erzählt habe, was sich während des Krieges zugetragen hat“, begann Wilde hörbar ergriffen, „hat er nur einen Augenblick lang überlegt und dann gesagt, dass er da keinen Handlungsbedarf sieht und uns viel Glück für unser eigenes Detektivbüro gewünscht. Glaubt man das?“

„Der Chef ist sehr gutmütig“, erwiderte Atsushi stolz.

„Hmm“, Joyce schob nachdenklich seine Brille hoch, „ich hatte den Eindruck, er hätte die Geschichte irgendwie nachempfinden können.“ Er deutete ein Achselzucken an. „Auf jeden Fall hättest du ihn im Anschluss daran nicht gleich nach einer Verabredung fragen sollen!“

„Wieso nicht?“ Wilde lachte. „Er hat nicht nein gesagt.“

„Du hast ihn damit total überrumpelt und er wollte nicht unhöflich sein!“

„Der gute Mann ist meinetwegen verletzt worden, das muss ich doch wieder gutmachen“, konterte der brünette Ire verschmitzt. „Aber er sagte ja, er müsse sich nun erst einmal eine Weile vor Frau Yosano verstecken.“

Atsushis Augen zuckten von neuem. Wieso nur konnte er sich das Gesicht des Chefs, nachdem er um ein Rendezvous gebeten worden war, so gut vorstellen?

„Ach, da fällt mir ein“, fuhr Wilde an ihn gerichtet fort, „kannst du auch Herrn Hutgesicht und Gothic Boy unseren Dank ausrichten?“

Der silberhaarige Junge blinzelte überfordert. „Herr Hutgesicht? Gothic Boy?“ Von diesen Namen verwirrt, dachte er kurz über diese nach und seine Augen wurden riesengroß, als er begriff, wer sich hinter diesen Spitznamen verbarg. „Chuuya und Akutagawa?“

Wilde nickte. „Die beiden sind auch so niedlich.“

„Niedlich ...“, wiederholte Atsushi ungläubig. Jetzt ergab das langsam Sinn, was Kyoka ihm berichtet hatte. Seltsam nervös hatte Akutagawa sie gefragt, ob der dunkelhaarige Ire gegenüber der Detektei je etwas Bestimmtes erwähnt hätte. Nachdem sie dies verneint hatte, hatte Akutagawa wohl deutlich erleichtert ausgesehen. Akutagawa. Erleichtert. Atsushi konnte sich das nach wie vor nicht vorstellen.

Ein ungewohnt schelmisches Grinsen schlich sich nun auf sein Gesicht. „So, so, Gothic Boy also? Ich danke Ihnen, Herr Wilde. Sie haben mir gerade ein großes Geschenk gemacht.“ Wenn sich das nicht irgendwie gegen seinen Erzrivalen verwenden ließ, dann ließ sich nichts gegen ihn verwenden. Ob Dazai diesen Namen schon kannte? Er würde bestimmt Gefallen daran haben. Bei diesem Gedanken fiel Atsushi etwas ein, das er den Iren unbedingt fragen wollte.

„Ich muss ehrlich zugeben, ich habe immer noch verstanden, was genau geschehen ist. Ranpo sagte mir, Dazais Plan hätte nur funktioniert, weil Sie so gut reagiert hätten. Aber … was meinte er damit?“

„Oh, das würde mich auch interessieren.“ Joyce kreuzte die Arme vor der Brust. „Was ist da eigentlich zwischen euch beiden abgelaufen?“

„He he.“ Wilde grinste abermals. „Bist du jetzt schon eifersüchtig, Jimmy?“

„SICHER NICHT!“ Der Blondschopf räusperte sich. „Der arme Herr Kunikida und ich konnten die ganze Zeit nur raten, was vor sich ging. Ein bisschen Licht ins Dunkle wäre ganz erhellend.“

„Es ist eigentlich ganz einfach“, erläuterte Wilde. „Es kam mir sehr verdächtig vor, dass Herr Dazai sich der Gegenseite anschließen wollte. Also vermutete ich, dass er einen Plan verfolgte und improvisierte, indem ich George weismachte, er sei in Wahrheit eine hinterhältige Schlange, die nur ihren eigenen Vorteil sucht. Ich hatte keine Ahnung, dass Henry hinter der ganzen Sache steckte, aber es hat unserer Lage wohl sehr geholfen, Dazai mit ihm zu vergleichen.“

Bei diesem unheimlichen Vergleich musste Atsushi schlucken. Er konnte das, was auf dem Dach vorgefallen war, immer noch nicht abschütteln. Nun verstand er jedoch endlich, was Ranpo gemeint hatte. Hätte Wilde Shaw und damit letztlich Wotton nicht überzeugt, dass Dazai keiner der Guten war, hätten sie ihm nicht ihr Vertrauen geschenkt. Die Ironie von Wildes Tat traf den silberhaarigen Jungen wie ein Blitzschlag.

„Sie haben also an Dazai geglaubt?“

„Gewissermaßen, ja.“ Wilde deutete ein Schulterzucken an. „Ich hoffe, er weiß, dass die Dinge, die ich zu ihm und über ihn gesagt habe, nicht ganz so gemeint waren. Bei ihm bin ich mir nicht sicher, ob er diese Unterscheidung hinbekommt.“

„Sie machen sich Gedanken um Dazai und vertrauen ihm?“ Atsushi machte große Augen. Das war eine überraschende Entwicklung. „Obwohl … obwohl diese Sache mit Barrie passiert ist?“

Die Iren tauschten einen erneuten Blick aus.

Dann lachte Wilde und schob sich eine Haarsträhne aus seinem Gesicht. „Oh, wie sage ich immer: Vergib stets deinen Feinden – nichts ärgert sie so sehr.“

„Außerdem“, ergänzte Joyce schmunzelnd, „hat mir ein weiser Junge einst den Rat mit auf den Weg gegeben, dass es wichtiger ist, was man jetzt in einem Menschen sieht – und nicht, was er früher vielleicht einmal war.“

Mit Tränen der Rührung in den Augen verbeugte Atsushi sich tief vor dem liebenswerten Duo.

 

Eine sanfte Brise wehte über das ruhige Meer.

Hoch oben vom blauen Himmel schien die Sonne auf die kleinen Wogen, die leise ans Ufer schwappten und ganz zart die Beine des Mannes umspielten, der knietief im Wasser stand und aufs offene Meer hinausblickte. Die Hände in seinen Manteltaschen vergraben, konnte niemand sehen, wie eine Hand eine Streichholzschachtel fest umklammerte.

„Das war alles, was ich tun konnte“, flüsterte Dazai in den Wind. „Du hättest sie sicherlich alle retten können, aber ich bin nicht du, Odasaku. Ich konnte nur so viel tun. Du hättest das gewiss auch hinbekommen, ohne Atsushi das anzutun.“ Er senkte seinen Blick hinab. „Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, Odasaku.“ Eine Windböe wirbelte durch seine Haare und Dazai blickte wieder auf.

Es war richtig gewesen, sich auf die eine Fähigkeit zu verlassen, die nicht einmal er aufheben konnte. Die Fähigkeit, die die Stärkste des ganzen Detektivbüros war. Mori war ein Idiot. Er lechzte so sehr nach Yosanos Fähigkeit, dass er nie auch nur daran gedacht hatte, sich um diese andere, besondere Fähigkeit zu scheren. Wobei – Mori war nicht ganz so dämlich. Er war sich schließlich bewusst, dass es absolut kein Drankommen an diese mächtige Fähigkeit gab. Es gab nichts auf der Welt, mit der man Ranpo jemals zur Hafen-Mafia locken könnte.

Die Fähigkeit, die keine war.

Dazais gesamter Plan hatte auf der Ultra Deduktion gefußt. Er hatte Ranpo nur verschlüsselte Hinweise übermitteln müssen, um alles ins Rollen zu bringen. Die hässliche Schwarzhaarige? Offensichtlich ein Code für Akutagawa. Die hübsche Ausländerin konnte nur Mansfield meinen. Und dass Chuuya weiterplappern würde, wo er auf ihn getroffen war und ihm seine Machtübernahme- und Mordfantasien mitgeteilt hatte, war auch selbstverständlich gewesen. Auf diesem Weg hatte er Ranpo gesagt, in welcher Umgebung sie nach Mansfield suchen mussten, um sie letzten Endes Zeugin von Henrys Geständnis werden zu lassen. Nur sie war in der Lage gewesen, den Engländer auszulöschen. Und nur so hatte sie selbst mit ihrer gesamten tragischen Geschichte abschließen können.

Dazai hatte geahnt, dass es einen versteckten Drahtzieher hinter der ganzen Aktion hatte geben müssen. Den auffallend zögerlich agierenden Shaw auszuschalten hätte demnach das Problem nicht gelöst. Er hatte Henry hervorlocken müssen. Unverhoffterweise hatte er dafür Hilfe von Wilde erhalten. Ohne den ihm sympathischen Iren wäre es weitaus schwieriger gewesen, sich Shaws und Henrys Vertrauen zu erschleichen.

Der Gott dieser Welt.

In diesem Punkt unterschieden er und Henry sich. Dazai hatte nie Bestrebungen gehegt, so etwas zu werden. Er konnte sich detailgenau vorstellen, wie angewidert Odasaku von so einem Größenwahn wäre. Nein, nicht nur von diesem Wahnsinn, sondern auch oder vor allem von Henrys Umgang mit Menschen.

Das war nicht Odasakus Weg.

Begib dich auf die Seite der Retter. Wenn es sowieso nicht darauf ankommt … wähle ein guter Mensch zu sein. Einer, der die Schwachen rettet … und die Waisen beschützt.“

Odasakus Worte würden in seinen Ohren widerhallen, so lange er auf dieser Welt weilte.

Sanft lächelnd legte Dazai den Kopf in den Nacken.

Und wenn er diese Welt verließ, würde jemand anderes Odasakus Weg weiter beschreiten. Jemand, der von einer schwachen Waise zu einem Retter geworden war. Ein guter Mensch war Atsushi sowieso – soweit er das beurteilen konnte.

Das wütende Platschen, das er jetzt hinter sich vernahm, verriet ihm, dass es nicht Atsushi war, der da auf ihn zukam. Dazais Lächeln wurde zu einem amüsierten Grinsen. Das klang ja, als würde der Mann das arme Wasser treten! Was hatte es ihm denn getan? Vielleicht war er auch gar nicht sauer auf das Wasser, sondern auf jemand anderen …. Mit einem genüsslichen Grinsen im Gesicht drehte Dazai sich zu demjenigen um, der schnaufend und mit hochrotem Kopf an ihn herangetreten war.

„Machst du gerade einen Strandspaziergang, Kunikida?“

 

„GLAUBST DU ALLENERNSTES, ICH HÄTTE ZEIT FÜR EINEN STRANDSPAZIERGANG?!“ Kunikida blieb wutentbrannt schnaubend vor ihm stehen. „DU HAST JA MAL WIEDER ALLE ZEIT DER WELT! UND VOLLKOMMEN DIE RUHE WEG!“

Obwohl er so lautstark angeschrien wurde, blieb Dazai völlig ruhig. „Hast du mich etwa gesucht?“

Seine beiläufig gestellte Frage brachte sichtbar das Blut des Idealisten zum Kochen. „Was glaubst du denn? Du ziehst diese wahnsinnige Nummer ab und verschwindest dann! Atsushi ist fast krank vor Sorge.“

Bei Erwähnung dieses Namens wurde der Brünette ernster. „Geht es ihm gut?“

Kunikida stutzte kurz. „Er und Kyoka haben sich von der Vergiftung erholt. Aber ob es Atsushi gut geht, würde ich so nicht bejahen.“

„Wieso nicht?“

Die Wut des bebrillten Detektivs verdampfte ein wenig, als er die untypisch besorgte Miene des Anderen erblickte. „Ist die Frage ernst gemeint? Er macht sich natürlich Sorgen um dich und dass du glauben könntest, er hätte an dir gezweifelt.“

War Dazais vorige Miene untypisch für ihn gewesen, so wurde sie nun zu Kunikidas Verwunderung erfrischend baff. Er hätte den Anblick sehr viel mehr genossen, wenn er nicht zeitgleich an das verheulte Gesicht des Bengels hätte denken müssen.

Vielleicht ist Dazai enttäuscht, weil er denkt, ich hätte ihm nicht vertraut und er kommt deswegen nicht wieder“, erinnerte Kunikida sich an Atsushis unter Tränen vorgetragene Schuldzuweisung. Er fühlte sich selbst ein bisschen schuldig an Atsushis Gefühlslage. Sie hatten ihn nicht in Ranpos Plan eingeweiht, um alles glaubwürdiger wirken zu lassen. Er und Poe waren grottige Lügner und so hatte Ranpo entschieden, dass sie im Unklaren gelassen werden sollten. Unterm Strich hatte es funktioniert: Atsushis Verzweiflung auf dem Dach hatte Dazais Glaubwürdigkeit gestärkt.

„Du hast uns alle auf die Probe gestellt, aber bei Atsushi war es am unverantwortlichsten“, fuhr Kunikida fort. „Er hängt so sehr an dir und du bist ihm so wichtig. Er glaubt jetzt, dass du böse auf ihn bist. Dabei hat er überhaupt nicht an dir gezweifelt. Er sagte mir, er wäre sich so schrecklich hilflos vorgekommen, weil er dir nicht hatte helfen können. Deine Darstellung von jemandem, der endgültig den Verstand verloren hat, war sehr überzeugend. Du hast den Bengel beinahe zu Tode erschreckt.“

Perplex starrte Dazai seinen Kollegen an. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Kunikida hob eine Hand, um ihm zu signalisieren, dass er noch nicht fertig war.

„Mich übrigens auch! Ranpo hatte zwar im Vorfeld erklärt, dass er seinen Plan von deinem Plan abhängig macht, aber ich hatte ja trotzdem keine Ahnung, was genau passieren würde. Ich habe die ganze Zeit vor Anspannung nicht atmen können!“

Wenn ich Atsushi das Teil mitgebe, spielt ihr bei Dazais Schmierenkomödie mit und folgt seinen Anweisungen.“

Und wenn du es selbst behältst?“, hatte Kunikida Ranpo sorgenvoll gefragt.

Der Meisterdetektiv hatte den Kopf schief gelegt. „Dann hätten wir ein Problem.“

„Und als du dann auch noch auf Joyce geschossen hast! Ich dachte, mein Herz explodiert! Schön, wenn du dich anscheinend mit Wilde telepathisch verständigen kannst, aber warne mich doch wenigstens vor! Wer wagt sich an so einen irrsinnigen Schuss?! Wenn du nur einen Millimeter daneben geschossen hättest, hättest du den Mann sofort umgebracht! Das war dir natürlich klar, sonst hättest du Wilde nicht per Blickkontakt um Erlaubnis gefragt!“ Kunikida schnaubte wieder vor Wut und holte Luft für die nächste Runde.

„Wie wäre es, wenn du das nächste Mal auch mich um Erlaubnis für deine durchgeknallten Aktionen fragst?! Wäre es mir nicht von Anfang an so verdächtig vorgekommen, dass du – ausgerechnet du! - scharf auf eine Maschine seist, die unsterblich macht, ich hätte gedacht, du wärst durch einen noch wahnsinnigeren Doppelgänger ersetzt worden! Ich kann gar nicht sagen, wer wütender ist wegen deines Alleinganges: Ich, Ranpo oder der Chef! Ranpo ist mächtig angefressen, weil du ihm ungefragt so viel Arbeit und Verantwortung aufgebürdet hast! Was ist dein Problem?! Wieso kannst du uns nicht mitteilen, was du vorhast?! Oh, Chuuya solltest du in nächster Zeit auch besser noch aus dem Weg gehen! Ich bin zufällig in ihn hineingelaufen und ich soll dir ausrichten, dass du der Letzte wärst, der ihn zu einem Laufburschen degradieren dürfe! Zum Glück ist er für einen Mafioso unglaublich vernünftig! Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn er keinen Rettungswagen für den Chef bestellt hätte!“

Der Blondschopf war von seinem Tobsuchtsanfall außer Puste, aber hielt weiterhin die Hand hoch, die Dazai ruhigstellen sollte.

„Du hast es geschafft, den Chef wütend zu machen! Dem einzigen Menschen, der selbst bei dir immer die Ruhe behalten hat, ist jetzt auch der Kragen geplatzt! Er ist dein Verhalten endgültig leid! Dieses Mal kommst du nicht ohne Strafe davon! Ihm tut es zwar leid, dass er dich fälschlicherweise verdächtig hat, aber meiner Meinung nach bist du daran selbst schuld!“ Kunikida stockte, als Dazai plötzlich seltsam verunsichert aussah.

„Ich war mich nicht sicher“, sagte er leise in die Pause des Anderen hinein.

„Was meinst du? Womit warst du dir nicht sicher?“ Kritisch hob Kunikida eine Augenbraue und musterte seinen Kollegen.

„Ich war mir zuerst nicht sicher, ob ich Mansfields Eltern getötet habe oder nicht“, antwortete Dazai wieder etwas lauter. „Ich dachte, ich hätte vielleicht doch den Überblick verloren.“

Kunikida schluckte. Nicht so sehr wegen Dazais Aussage, sondern weil der Wirrkopf dabei so … so … - wirkte Dazai da gerade etwa zerbrechlich? Er konnte es kaum fassen und blinzelte und schüttelte den Kopf. Doch es war kein Trugbild, was er sah.

„Ich werde jede Strafe ertragen“, sagte Dazai weiter, „außer er will mich entlassen. Das wäre ein Problem.“

„Entlassen?“ Kunikida schob seine Brille hoch. „Wie kommst du auf so einen Unsinn? Deine Strafe besteht darin, dass du für die nächsten drei Monate den Putzdienst in der gesamten Detektei übernimmst. Ich habe für sechs Monate plädiert, was wieder einmal zeigt, dass der Chef mit dir viel zu nachsichtig ist. Außerdem wird Ranpo für diesen Zeitraum einen Teil deines Gehalts für seinen Süßigkeitenvorrat abzweigen. Er wollte zuerst alles einbehalten, weil er sich auch noch um den Fall mit dem Theaterbesitzer, der die Leiche der Schauspielerin hat verschwinden lassen, kümmern muss, aber Haruno konnte ihn überzeugen, dass selbst du von irgendetwas leben musst. Ich überlasse es dir, wie du die Angelegenheit wieder bei Atsushi gutmachen will-“ Er hielt von neuem inne, als Dazai nun völlig baff dreinblickte. „Was? Was ist denn jetzt?“

Dazai starrte ihn lediglich entgeistert und mit großen Augen an. Er hatte den Mund geöffnet, als wollte er etwas sagen, aber auch als Kunikida abwartete, kam kein einziger Laut heraus. Er hatte immer gedacht, ein sprachloser Dazai wäre ein Traum, doch jetzt, wo sich dieser Wunsch endlich erfüllt hatte, gab ihm der Anblick ein unbehagliches Gefühl.

„Das … das ist die ganze Strafe?“, brachte Dazai schließlich ungläubig hervor. „Du hast sicher etwas falsch verstanden-“

Kunikida stöhnte in seinen Satz hinein. „Habe ich nicht. Hast du ernsthaft damit gerechnet, der Chef würde dich herausschmeißen?“

Obwohl Dazai nichts erwiderte, konnte der Idealist ihm ansehen, dass er genau das gedacht hatte. Sämtliche Härchen auf seiner Haut richteten sich auf, als er seinen sonst so unbeschwert tuenden Partner anblickte. Dazai wirkte mit einem Mal total verloren. Es war ein unheimlicher Anblick.

Vielleicht – so war es Kunikida in den letzten Tagen und nachdem er ausführlich mit Ranpo gesprochen hatte, in den Sinn gekommen – vielleicht war es gar nicht so, dass Dazai sich nicht mitteilen wollte. Es bestand die Möglichkeit, dass er es einfach nicht konnte. Der unbekannte Faktor, der der festen Überzeugung war, dass man einen anderen Menschen nie wirklich kennen konnte, kannte sich vermutlich selbst nicht einmal wirklich. Vielleicht war es egal, dass die Gleichungen einen unbekannten Faktor enthielten, wenn sie trotzdem aufgingen. Und Dazai war – aus Gründen, die Kunikida nicht verstand – in der Lage, praktisch jede Gleichung aufzulösen.

Möglicherweise war sich Dazai der Ironie nicht einmal bewusst. Er war davon ausgegangen, dass Ranpo seinen Plan verstehen würde, auch wenn er ihn nie mit ihm besprochen hatte. Mit anderen Worten: Er hatte so viel Vertrauen in Ranpo, dass er alles, inklusive seines eigenen Lebens, in dessen Hände gelegt hatte. Dazai brachte ihnen allen dieses Vertrauen entgegen, weil er sie kennengelernt hatte und deswegen ihr Verhalten einschätzen konnte. Nur bei einem lag er völlig daneben.

Zum wiederholten Mal an diesem Tag nahm Kunikida einen tiefen Luftzug von der frischen Meeresbrise. Dieses Mal brauchte er ihn allerdings nicht, um seinen Kameraden weiter anzuschreien.

„Der Chef ist über deinen Alleingang wütend, nicht über die Dinge, die du vorher oder hinterher getan hast“, sagte Kunikida gefasst. „Er und Atsushi und auch ich, wir hätten uns alle ein weniger dramatisches und blutiges Ende für diesen Konflikt gewünscht, aber … auch jetzt fällt mir noch keine Lösung ein, bei der wir alle hätten retten können.“ Er atmete hörbar aus und sah Dazai direkt an. „Du hast versucht, so viele zu möglich zu retten. Deswegen hast du diese bescheuerte One-Man-Show gegenüber Chuuya abgezogen und Eliza verraten, wie sie Mori finden kann. Du wusstest, dass der Chef vorhatte, alleine gegen Eliza anzutreten und hast ihm daher Mori zur Unterstützung geschickt. Du wusstest, dass Henry einen von uns getötet hätte, wenn du auf niemanden geschossen hättest und darum hast du Joyce gewählt, weil Wilde ihn heilen würde und ich mich um Atsushi und Kyoka kümmern sollte. Du wusstest, dass Mansfields Fähigkeit eine Explosion auslösen würde und dass du dein Leben dabei verlieren könntest.

Du glaubst zu wissen, dass das für niemanden von uns schlimm wäre und es ist ein wenig wohltuend zu wissen, dass selbst du auch mal falsch liegst. Ich habe es vorhin bereits gemerkt. Es gibt Dinge, die nicht einmal du kannst. Du kannst nicht begreifen, warum Atsushi an dir hängt. Vielleicht hältst du das für eine Laune von ihm, aber das ist es nicht. Du kennst Atsushi gut genug, um zu wissen, dass er nicht so ist. Und dennoch ist das die Erklärung, die du dir einredest.

Du hast Joyce die ganze Zeit provoziert, weil du wolltest, dass er dich für das, was du getan hast, bestraft. Du merkst, dass Wilde dir vertraut und schiebst es auf die Umstände, in denen ihr euch befindet. Und du glaubst ihm alles, was er über dich gesagt hat, um dich als abgrundtief schlechten Menschen darzustellen, weil du denkst, dass dies alles der Wahrheit entspricht.

Ich muss ehrlich zugeben, ich weiß nicht, wie ich dich vom Gegenteil überzeugen soll. Du bist leider klüger als ich. Das ist unglücklicherweise ein unbestreitbarer Fakt. Wenn du dich nicht davon überzeugen kannst, wie soll ich das dann? Ich will dir nur eine Frage stellen, über die du nachdenken sollst: Wenn du durch und durch schlecht bist, wenn es keine Facette an dir gibt, die gut ist – warum rettest du dann Menschenleben?“

Für einen langen Moment starrte Dazai ihn noch wortlos an, ehe er mit einem forcierten Lächeln den Kopf schüttelte. „Auf diese Frage gibt es eine einfache Antwort.“

„Gibt es nicht“, widersprach Kunikida prompt und zu seiner Überraschung. „Wenn du meinst, diese Frage ließe sich einfach beantworten, ist deine Antwort entweder falsch oder unvollständig. Und das heißt, du musst noch einmal darüber nachdenken.“

Dazai blinzelte seinen Partner ein paar Mal an, bevor er flüchtig zum blauen Himmel hinaufschaute. Dann trat ein mildes Lächeln an die Stelle seiner erstaunten Miene.

„Gut. Dann werde ich noch einmal darüber nachdenken. Gibt es einen Abgabetermin für meine Antwort?“

„An den würdest du dich doch eh nicht halten.“

„Auch wieder wahr.“ Dazai lachte und es erleichterte Kunikida mehr als er je zugegeben hätte.

„Dann lass uns zur Detektei zurückkehren. Es ist dort ein wenig staubig und wir wollen uns doch nicht blamieren, falls Klienten kommen.“

„Awww, Kunikida, ich habe heute Morgen schon Hausarbeit erledigt.“

„Wie bitte? Was willst du denn schon gemacht haben?“

Es gefiel dem Idealisten gar nicht, wie das Lächeln des Wirrkopfs schelmisch wurde. „Du hast doch heute Morgen eine Waschladung mit weißer Wäsche angestellt, erinnerst du dich?“

„Woher …?“ Kunikida runzelte die Stirn. Wusste Dazai, dass er immer am gleichen Tag seine weiße Wäsche wusch? „Ja, und?“

„Ich hatte noch etwas von der rosa Farbe übrig.“

 

Einige Wochen, nachdem andere Strandbesucher sich gewundert hatten, warum ein bebrillter Mann mit pulsierenden Venen auf der Stirn einen anderen Mann im Trenchcoat über den gesamten Küstenabschnitt gejagt und dabei ständig „Mir fallen eintausenddreihundertunddreiundachtzig Dinge ein, die ich dir antun möchte!!“ geschrien hatte, saß Fukuzawa in seinem Büro an seinem Schreibtisch und sah die Post durch. Es waren die üblichen Briefe von Leuten aus der Regierung, dem Militär und der Polizei, die Anfragen stellten und ein paar Dankesbriefe von Klienten. Unter all diesen Umschlägen fiel ihm einer jedoch besonders auf.

Er kam aus Irland.

Hastig öffnete er den Brief. Im Innern befanden sich eine Karte und ein Foto. Fukuzawa warf zuerst einen Blick auf die Karte.

Sollten Sie je Hilfe brauchen, kontaktieren Sie uns ohne zu zögern. Sie erhalten natürlich auch einen Freundschaftsrabatt. Vielen Dank und alles Gute! <3“

Amüsiert legte er die Karte beiseite und besah sich das beigelegte Foto. Es zeigte Wilde und Joyce stolz vor ihrer eigenen Detektei posierend. Fukuzawas Augen wanderten zu dem im Bild gezeigten Schild über dem Eingang des irischen Detektivbüros und er stutzte.

„Was soll denn eine 'Detektur' sein?“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Habt ihr die beiden Iren auch vermisst?
Zur Erinnerung: Oscar Wilde (1854-1900): irischer Schriftsteller. Ich gab ihm die Fähigkeit „The Happy Prince“, mit der er durch Selbstverletzung andere heilen kann.
James Joyce (1882-1941): irischer Schriftsteller. Bei mir ist seine Fähigkeit „Clay.“ Dadurch kann er mit Lehm Dinge erschaffen.
Dorian Gray ist der Name des Hauptcharakters aus Wildes Roman „The Picture of Dorian Gray.“ Ich bin bisher noch nicht dort gewesen, aber diese Apotheke gibt es wirklich. Ursprünglich in Joyce' Roman „Ulysses“ erwähnt, beherbergt sie heute ein Joyce Zentrum.
Kann ich euch noch um etwas bitten? Mein Herz hängt an der deutschen Fassung von BSD. Könnt ihr Crunchyroll wissen lassen, dass sie die Serie unbedingt weiter mit der deutschen Synchro veröffentlichen sollen? Es wäre so traurig, wenn es diese Fassung nicht mehr geben würde. Ich bin dankbar für jede Mithilfe. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wieso nur macht es so viel Spaß, Kunikida zu ärgern? Besagte Schokoriegel sind meiner Meinung nach ziemlich eklig, aber ich glaube, Ranpo würden sie schmecken. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wenn ihr euch an die Vorgänger-Geschichte erinnert, werdet ihr vielleicht ahnen, was jetzt kommt: Das nächste Kapitel wird eine Rückblende sein. Sie wird erst etwas verwirrend sein, aber am Ende wird alles einen Sinn ergeben. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Der junge Dazai ist immer noch nicht leicht zu schreiben. Ich hoffe, ich habe es aller Vagheit zum Trotz gut gelöst. Das nächste Kapitel behandelt wieder die fortlaufende Handlung. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Tachiharas Konflikt passte thematisch so gut, dass ich ihn nicht rauslassen wollte. Ich hoffe, ihr verzeiht mir das. Vielleicht seid ihr auch jetzt nicht gespoilert, sondern nur ein wenig verwirrt.
George Bernard Shaw (1856-1950): irischer Schriftsteller. Eliza (eigentlich Elizabeth) ist der Name eines Charakters aus seinem Stück „Pygmalion.“ Sie ist eine arme Blumenverkäuferin, die von einem Professor Higgins in formeller englischer Sprache unterrichtet wird.
Katherine Mansfield (1888-1923): neuseeländisch-britische Schriftstellerin. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und genau deswegen gab ich Eliza eine kleine Sprachauffälligkeit. Im nächsten Kapitel gibt es wieder eine Rückblende.
Darf ich euch daran erinnern, mir zu helfen, Crunchyroll zu einer Weiterveröffentlichung der deutschen Fassung des BSD-Animes zu bewegen? Es wäre eine Schande, wenn der Anime bei uns nicht weiter veröffentlicht würde und vielleicht können wir zusammen Crunchyroll überzeugen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
In Osamu Dazais Roman „No Longer Human“ gibt es eine Szene auf einem Dach, in der der Protagonist mit seinem besten Freund spricht. Ich kann nicht behaupten, das Spiel aus dem Roman, das die beiden dort spielen, verstanden zu haben, aber mein Kapitel ist an diese Szene angelehnt. Im nächsten Kapitel kehren wir zurück zur fortlaufenden Handlung. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Normalerweise versuche ich ellenlange Kapitel zu vermeiden, aber hier wollte ich nichts aufteilen. Die arme Yosano muss wegen ihrer Fähigkeit ständig ausgeschaltet werden. Ich mag sie sehr, doch ihre Fähigkeit ist ein Problem.
„Sixpence“ ist eine Kurzgeschichte von Katherine Mansfield. „But love something one must“ ist ein Zitat aus ihrer Geschichte „The Canary.“ George Wotton und Basil Hallward sind Namen von Charakteren aus „The Picture of Dorian Gray.“
Soweit ich weiß, gibt es noch keine offizielle Übersetzung für „skill weapon“, daher habe ich es mal wörtlich übersetzt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Atsushi macht hier eine Anspielung auf die Light Novel „55 Minutes.“
Ich bin so froh, dass ich endlich mal Poe unterkriegen konnte! Ich mag ihn so sehr! Und ich vermute, der ein oder andere freut sich über das Auftauchen eines gewissen Hut tragenden Mafiosos. Wieso nur macht es so viel Spaß, Chuuya zu ärgern? Das nächste Mal gibt es wieder eine Rückblende – und vielleicht habt ihr schon eine Ahnung, wer da im Mittelpunkt stehen wird. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Habt ihr auf ein Kapitel mit Chuuya gewartet? Unser aller Lieblings-HB-Männchen darf natürlich nicht fehlen. Nicht zuletzt, weil ich sein Verhältnis zu Dazai wirklich faszinierend finde. Beim nächsten Kapitel kehren wir wieder zur fortlaufenden Handlung zurück. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Weitere Premieren sind die Auftritte von Kajii und Koyo. Besonders Ersteren finde ich sehr schwierig zu schreiben. Wisst ihr noch, warum Chuuya und Akutagawa nicht gut auf Wilde zu sprechen sind? *zwinker*
Hier wird auch offensichtlich, wie ich auf die Idee mit Eliza gekommen bin. Sie und Elise heißen ja fast schon gleich.
Auf halbem Weg fiel mir ein, dass ich „Romeo und Julia“ nicht beim Namen nennen konnte, weil Shakespeare ja mehr oder weniger eine Figur bei BSD ist. Sibyl ist der Name eines Charakters aus „The Picture of Dorian Gray.“ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Szenen mit Fukuzawa und Mori machen immer einen Riesenspaß.
Konnte ich euch mit dem Schluss überraschen? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Als ich in „The Picture of Dorian Gray“ Henrys Sätze las, dass es nur zwei Arten von Menschen auf der Welt gäbe, die wahrhaft faszinierend seien, wusste ich, dass ich meinen nächsten BSD-Bösewicht hatte. Ernsthaft, so etwas sagen nur Bösewichte!
Das nächste Mal folgt eine Rückblende – und sie dreht sich einmal nicht um Dazai. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich sollte an dieser Stelle einmal klarstellen, dass das Großbritannien und das Irland meiner Geschichte genauso fiktiv sind wie die anderen Länder, die in BSD eine Rolle spielen. Bevor noch jemand fragt, was ich gegen GB haben könnte. (Nichts. Ehrlich.) Der Friedenspark in Dublin allerdings ist echt und wunderschön. Er ist in der Nähe des „Dublin Writers Museum.“
Dieses Kapitel zu schreiben hat mir sehr viel Freude gemacht (auch wenn es eigentlich sehr traurig ist) und ich hoffe, es gefällt euch auch, obwohl nur OCs vorkommen. Es ist auch sehr lang, aber ich wollte es nicht aufteilen. Hat jemand den Satz aus Huxleys Vorstellung wiedererkannt? Es ist der Gleiche, den Fukuzawa im Anime einmal gesagt hat. Kehren wir nach dieser Hintergrundgeschichte das nächste Mal in die Gegenwart zurück. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Seit ich mich erinnern kann, gehört Kate Bushs „Running up that hill“ zu meinen absoluten Lieblingsliedern. Und niemand covert es so großartig wie Placebo.
Als ich Placebos Album „Never let me go“ hörte, hatte ich plötzlich das Bild vor Augen, wie Kunikida Dazai festhält. Alles andere baute darauf auf.
Es folgt noch der Epilog. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Der Anfang ist ein bisschen experimentell, ich wollte sehen, ob der Dialog funktioniert, auch wenn ich nur andeute, wer da spricht. Wird es erkenntlich?
„Always forgive your enemies – nothing annoys them so much“ soll Oscar Wilde tatsächlich gesagt haben. Ich liebe dieses Zitat.
Ich habe das Gefühl, ich sage das bei jeder meiner BSD-Geschichten, aber ich habe noch nie so etwas Kompliziertes geschrieben wie das hier. Ich habe Unmengen an Notizzetteln, auf die ich Probleme der Geschichte und mögliche Lösungen gekritzelt habe, weil ich ständig auf noch ein weiteres Problem gestoßen bin.
Hat euch die Geschichte gefallen? War irgendetwas undeutlich oder verwirrend? Lasst mich das gerne erfahren. Ich danke euch allen von Herzen für die Aufmerksamkeit und verbleibe in der Hoffnung, dass der BSD-Anime irgendwann nach Deutschland zurückkehrt. Auf dass diese wundervolle Serie noch viele Fanfictions inspirieren wird! Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück