Never let me go von rokugatsu-go ================================================================================ Epilog: The silence in your eyes is far too rare to give away – And it's exactly why I stay ------------------------------------------------------------------------------------------- „The silence in your eyes Is far too rare to give away And it's exactly why I stay“   Placebo, „Beautiful James“   „Sie haben es gehört, oder? Einen besseren Beweis als ein Geständnis gibt es nicht.“ „Ich … ich bin nur benutzt worden? Es … es war von Anfang an … nichts als eine Lüge …?“ „Es tut mir leid. Aber das ist leider die Wahrheit.“ „Wussten Sie das etwa die ganze Zeit?“ „Nein. Dazai wusste es. Er musste es wissen. Deswegen hat er mich gebeten, Sie herzubringen und dieses Gespräch über Funk mitanzuhören. Er wollte, dass Sie die Wahrheit erfahren.“ „Er hat dich gebeten, sie herzubringen, Detektiv? Mach dich nicht lächerlich. Ich habe euch hergebracht. Und das auch nur weil Dazai und Mori mich darum gebeten haben. Unter anderen Umständen hätte ich euch und den Menschentiger längst getötet.“ „Höh? Meinetwegen stell deine Leistungen in Rechnung, aber langweile nicht mich mit so was.“ „R-ranpo, reiz ihn bitte nicht noch weiter! Er wirft uns sowieso die ganze Zeit schon so finstere Blicke zu!“ „So guckt der immer.“ „Hn.“ „Herr Edogawa? Ich habe meine Entscheidung getroffen.“ „Sind Sie sich wirklich sicher?“ „Die Schuld, die ich mir bereits aufgeladen habe, kann ich nie mehr auslöschen. Daher … ja. So wie man etwas lieben muss, so muss ich auch diesen letzten Schritt gehen.“ „Es tut mir sehr leid.“ „Nein, mir tut es leid. … Ich hätte beinahe einen schrecklichen Fehler begangen. Bevor noch tatsächlich jemand von Ihren Leuten zu Schaden kommt, nehmen Sie bitte das hier. Es sind ein paar Ampullen mit dem Gegengift. Shaw gab sie mir, weil Henry Eliza damit ausgestattet hatte und es wohl selbst ihm zu unheimlich war. Bitte, nehmen Sie sie. Das ist leider alles, was ich für Sie tun kann.“ Keiner der Anwesenden auf dem Dach des unfertigen Hochauses hatte etwas von diesem Gespräch mitbekommen, das sich nur ein Gebäude weiter ereignet hatte. Und so hatte keiner von ihnen gesehen, wie Akutagawa mit Rashomon die zu Tode betrübte Katherine Mansfield hoch in die Luft geschleudert hatte, von wo sie eine ihrer Münzen auf Henry geworfen hatte. Damals in Fukuzawas Büro war es ein Bluff gewesen. Mansfield wusste, was ihre Fähigkeit verlangte. Wollte sie etwas auslöschen, musste sie dafür ein gleichwertiges Opfer bringen. Um ein Leben auszulöschen - ob durch eine Fähigkeiten-Waffe verstärkt oder nicht – musste sie ihr eigenes Leben opfern.   Kunikida spürte, wie der Boden unter ihm wegbrach und er zu fallen begann. Er griff im Sturz nach seinem Notizbuch und ließ seine Augen hastig durch die ihm nahe Umgebung rasen. Die Drahtpistole würde ihm nichts nützen; sie brauchte einen Halt, aber hier gab es nichts mehr, an dem er sich hätte festhalten können. Der zerfallende Wolkenkratzer bot keine Fläche mehr dafür und die anderen Gebäude waren zu weit weg. Dazais Opfer war umsonst gewesen. Wenn er doch nur stärker gewesen wäre, wenn er ihn doch nur hätte retten können. Was war er für ein Mensch, dass er nicht einmal seinen Kameraden hatte retten können? Das Wort, das auf seinem Notizbuch prangte, verspottete ihn mit einem Mal. Sie stürzten beide in die Tiefe und wer würde nun Atsushi und Kyoka helfen? Er wusste nicht, was genau mit dem noch verbliebenen Iren war; ob er noch in der Lage war, die beiden in Sicherheit zu bringen und ihnen zu helfen. Die ersten Tränen liefen aus seinen Augen und Kunikida fand es abscheulich, dass seine letzten Gedanken voller Reue und Ungewissheit waren. Beschämt schloss er seine Augen - und riss sie wieder auf, als etwas ihn unter den Armen packte und er plötzlich hoch oben in der Luft zu schweben schien. Was auch immer das war zog ihn zurück auf das Dach. Er legte den Kopf in den Nacken und erkannte, was ihn vor dem tödlichen Fall bewahrt hatte. Noch während er Weißer Dämonenschnee ungläubig anstarrte, erhaschte er aus seinen Augenwinkeln ein noch viel größeres Wunder. Aus seinem toten Winkel heraus rannte rasend schnell ein riesiger weißer Tiger auf die Abbruchkante zu. Mit einem großen Sprung jagte er über die Kante und hechtete an dem zerstörten Gebäude hinunter. „Was …?“ Weißer Dämonenschnee setzte Kunikida an einer sicheren Stelle auf dem Dach ab. Die Welt nicht mehr verstehend, blickte der Idealist auf eine kreideweiße und erschöpfte Kyoka, die neben Akutagawa stand und ein paar Ampullen in der Hand hielt. Zwei waren leer, in zwei weiteren war augenscheinlich noch eine Flüssigkeit enthalten. Moment. Akutagawa? Kunikida öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sein Kopf war vollkommen leer und so brachte er keinen Ton heraus. „Geht es dir gut?“, fragte Kyoka ängstlich und Kunikida brauchte einige Sekunden, ehe er zaghaft nickte. „Versteht dies nicht falsch, Detektive“, brummte Akutagawa übellaunig. „Morgen sind wir wieder Todfeinde.“ Immer noch nicht begreifend, nickte Kunikida geistesabwesend erneut und erblickte in der Ferne auf einem benachbarten Wolkenkratzer eine mit großen Gesten winkende Gestalt und eine weitere Gestalt danebenstehend. Ranpo und Poe. „Der Chef und Mori?“, fragte Kunikida, ohne Akutagawa anzusehen. „Chuuya müsste inzwischen bei ihnen sein“, erwiderte der Mafioso. War es das? War der Albtraum wirklich vorbei? „Hilfe!!“ Ein panischer Schrei durchkreuzte seine aufkeimende Hoffnung. „Ich brauche Hilfe! Schnell!!“ Das … das war die Stimme von Joyce. Endlich wieder bei Sinnen hinkte Kunikida zu der Stelle, an der er die beiden Iren zuletzt gesehen hatte. Wie? Was ist passiert? Von neuem das Bild vor seinen Augen nicht begreifend, hielt Kunikida erstarrt inne. Joyce, der zuvor niedergeschossen worden war, hockte am ganzen Körper zitternd über einem am Boden liegenden Wilde, der an mehreren Stellen heftig blutete. Neben ihm lag das kleine Messer, das Shaw ihm zur Aktivierung der Fähigkeiten-Waffe gegeben hatte. Kunikida zog scharf die Luft ein, als er begriff, was sich hier abgespielt hatte. Um Joyce mit seiner Fähigkeit zu heilen, hatte Wilde sich mehrere drastische Verletzungen zugefügt. „Er verblutet! Er wird verbluten!“, schrie Joyce aufgebracht seinem japanischen Kollegen entgegen. „Hier wird niemand sterben“, antwortete der Idealist unerschütterlich. „Egal, wie oft diese Spinner das versuchen.“   Atsushi zuckte erschrocken zusammen, als er plötzlich einen kalten Luftzug spürte. Die anderen hatten erzählt, dass sie stets so etwas wahrgenommen hatten, bevor Eliza aufgetaucht war. Er blieb vor einem geöffneten Fenster stehen und atmete erleichtert aus. Es war nur der Wind gewesen. Eliza würde nie wieder vor ihnen erscheinen und auf eine seltsame Art und Weise erfüllte dies den Jungen mit Traurigkeit. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, wäre Eliza wahrscheinlich niemals zu der geworden, die sie gewesen war. Dachte er zurück an die tragische Szene auf dem Dach, so konnte Atsushi nicht leugnen, dass er sich für sie und Shaw gewünscht hätte, dass wenigstens das Märchen von ihrer möglichen Menschwerdung keine Lüge von Henry gewesen wäre. Natürlich ohne die Sache mit dem Menschenopfer. Atsushi schüttelte sich bei diesem Gedanken, riss seinen Blick von dem Fenster los und setzte seinen Weg durch den langen Flur des Krankenhauses fort. Es waren drei Tage vergangen, seit Mansfield Henrys unmenschlichem Treiben ein Ende gesetzt hatte. Wenn Atsushi sich an die Geschehnisse vor drei Tagen zu erinnern versuchte, kam ihm alles wie ein Traum vor. Vielleicht lag es daran, dass er danach fast zwei Tage durchgeschlafen hatte, aber wahrscheinlicher war es, dass er immer noch nicht begreifen konnte, was alles passiert war. Dazais merkwürdiges und beängstigendes Verhalten, das Gift, das er und Kyoka abbekommen hatten, die aus dem Nichts gekommene Explosion und Akutagawas grimmige Visage, als er nach einer kurzen Ohnmacht wieder zu sich gekommen war. Bevor er überhaupt den Mund hatte aufmachen können, hatte er Kunikidas verzweifelte Schreie nach Dazai gehört und war aufgesprungen – und beinahe wieder hingefallen, da sein Körper das von Akutagawa verabreichte Gegenmittel nicht so schnell hatte verarbeiten können. Ausgerechnet Rashomon hatte ihn aufgefangen und dann mit einem unsanften Schubs nach vorne befördert. Die beiden jungen Männer hatten nur einen hastigen Blick austauschen müssen, um sich zu verständigen: „Rette ihn. Ich kann es nicht.“ Ohne weiter darüber nachzudenken, ohne dem Ächzen seines Körpers Aufmerksamkeit zu schenken, war Atsushi losgesprintet und hatte sich in den Tiger verwandelt. Die Explosion musste Dazai vom Dach geschleudert haben und in Atsushis Kopf hatte es nichts mehr außer dem Bild eines in die Tiefe stürzenden Dazais gegeben. Kyoka hatte mit Weißer Dämonenschnee Kunikida in Sicherheit gebracht und so hatte er sich voll und ganz auf die Rettung seines Mentors konzentrieren können. Mit seinen eindrucksvollen, mächtigen Beinen war der Tiger schneller als der Wind am Gebäude hinuntergejagt, bis er Dazai eingeholt und seine Reißzähne in seinen flatternden Mantel verbissen hatte. Die übernatürliche Bestie hatte ihre Krallen in die Mauern des Hochhauses geschlagen, um abzubremsen. Durch den Bremsvorgang war Dazai gegen das Ungetüm geschleudert worden und es hatte sich daraufhin in Atsushi zurückverwandelt. Einen Meter über dem Boden waren die beiden Detektive – grob, aber gefahrlos - auf die Erde gekracht. Vollkommen geschlaucht und nicht mehr in der Lage, auch nur einen Muskel zu bewegen, hatte Atsushi mit letzter Kraft zu Dazai gesehen und gemurmelt: „So ein Glück. Dir ist nichts passiert ...“ Die Augen waren ihm an dieser Stelle vor Anstrengung zugefallen und bevor er eingeschlafen war, hatte er eine Hand über seinen Kopf streicheln gespürt. Atsushi seufzte bei der Erinnerung daran. Er hielt vor einer Tür an und sammelte sich einen Moment lang, um nicht zu trübsinnig zu wirken. Dann klopfte er leise und öffnete verhalten die Tür. „Ah, du bist es, Junge“, begrüßte Joyce ihn flüsternd. Der Ire saß neben dem Bett, in dem sein schlafender Kompagnon lag. „Geht es dir wieder besser?“ Der junge Detektiv nickte. „Ich merke überhaupt nichts mehr von dem Gift. Und Kyoka fühlt sich auch wieder gut.“ „Das beruhigt mich ungemein.“ „Wie geht es Herrn Wilde?“ „Unkraut vergeht nicht“, antwortete Joyce trocken. „Der Idiot hat Unmengen an Blut verloren, aber die Ärzte haben ihn wieder zusammengeflickt. Er schläft die halbe Zeit, aber heute Morgen hatte er genug Kraft, um der lieben Frau Yosano, die sich extra hatte herbringen lassen, weiszumachen, sie solle ihre Fähigkeit nicht bei ihm einsetzen und sich lieber noch schonen. Es wäre schließlich eine Schande, wenn seinetwegen eine so wunderschöne Frau zu Schaden komme.“ Der Ire rollte mit den Augen. „Wenn er Leute einlullt, geht es ihm wieder blendend.“ Atsushi lachte verlegen. Yosano und Kenji, die weitaus mehr Gift als er abbekommen hatten, waren zwar noch im Krankenhaus, doch beide auf dem Weg der Besserung. Kenji mal wieder etwas schneller als Yosano, was die Ärztin tierisch wurmte. Naomi hatte erzählt, dass Yosano auch bereits angeboten hatte, Tanizakis Heilung zu beschleunigen, worauf der Rothaarige mit sehr, sehr panischem Gesichtsausdruck die Ärzte gefragt hatte, was ihrer Meinung nach zuerst einträfe: seine oder Yosanos vollständige Heilung. Naomi hatte unheimlich gelächelt, als sie dies erzählt hatte. Ob es nicht sooo süß war, wenn ihr Bruder so verängstigt war, hatte sie gefragt und Atsushi hatte es vorgezogen, nicht zu antworten. Sie waren alle exzentrisch, aber liebenswert. „Irgendetwas Neues von Herrn Dazai?“, fragte Joyce nun und erhielt umgehend die Antwort, als die Schultern des Jüngeren herabsackten. „Er bleibt also mal wieder verschwunden.“ „Der Chef und Kunikida sagten, wir sollten ihn einfach ein paar Tage in Ruhe lassen. Ich hoffe nur … ich hoffe, es geht ihm gut.“ Joyce winkte ab. „Unkraut vergeht nicht. Ich kann immer noch nicht glauben, was da alles vor sich gegangen ist.“ „Ich auch nicht.“ Zögerlich wanderten Atsushis Augen zu Wilde. „Konnten Sie schon mit ihm über alles sprechen?“ Sein Gegenüber atmete lautstark aus. „Dein Chef war gestern hier und wollte die Einzelheiten von ihm wissen. Ich bestand darauf, dabei sein zu dürfen und wenn Herr Fukuzawa nicht auch darauf bestanden hätte, wäre ich immer noch im Unklaren über seine Vergangenheit.“ Joyce hielt kurz inne. „Es ist vor allem eine schrecklich traurige Geschichte, wenn du mich fragst. Dieser Wirrkopf wollte nicht, dass ich irgendetwas davon erfahre, weil er Angst hatte, ich würde dann anders über ihn denken und ihn zurücklassen. Und er wollte nicht, dass ich seinetwegen Schwierigkeiten bekomme.“ Ein zartes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Wie sagte Kyoka doch so treffend? Ein Mensch hat viele Facetten. Ich habe bisher keine an ihm gefunden, die bösartig oder unmenschlich ist, daher sehe ich auch keinen Grund, irgendetwas an unserem Status quo zu ändern. Außer dass ich ihn das nächste Mal, wenn er etwas vor mir verheimlicht, zusammenschlagen werde.“ Merklich erleichtert lächelte Atsushi erfreut. „Dann vertrauen Sie ihm auch weiterhin?“ „So sehr man einem anderen Menschen nur vertrauen kann.“ Nach seinen großen Worten stutzte Joyce, wandte sich Wilde zu und schnippte ihm angesäuert gegen die Stirn. „Verrätst du mir vielleicht einmal, warum du dich schlafend stellst?!“ Verdattert blickte nun auch Atsushi zu dem Brünetten, dessen Mundwinkel spitzbübisch nach oben gezogen waren. Sichtlich erheitert öffnete Wilde die Augen und richtete sich, so weit er konnte, auf. „Aww, Jimmy, weil du nie so nette Sachen sagst, wenn ich wach bin. Du kannst ja zuckersüß sein, wenn du nur willst!“ „Es wird gleich bittersüß, wenn du weiter so einen Unfug machst!“ „Du kannst deine Worte nicht zurücknehmen! Du magst mich! Du magst mich!“ „Ich vergesse mich gleich!“ Mit zuckenden Augen schaute Atsushi auf das sich kabbelnde Duo – und fühlte dabei eine wohlige Wärme in seinem Innern. Für ihn war die Welt in Ordnung, wenn ein chaotischer Braunschopf und ein penibler Blondschopf sich in den Haaren hatten. „Apropos zuckersüß“, sprach Wilde in Atsushis Richtung, „ich habe es zwar schon deinem Chef gesagt, aber ich möchte es euch allen sagen: Ich danke euch für das, was ihr getan habt. Ich will nicht darüber nachdenken was wäre, wenn auch nur einem von euch meinetwegen etwas zugestoßen wäre. Ihr seid wahrhaftig ein einschüchternder, gutherziger Haufen. Ich stehe tief in eurer Schuld.“ „Wir“, warf Joyce ein, „wir stehen tief in eurer Schuld.“ Peinlich berührt winkte Atsushi ab. „Nicht doch. Ich wette, der Chef hat gesagt, Sie sollen sich keinen Kopf darüber machen, oder? Genauso ist es nämlich.“ Die zwei Iren tauschten einen zufriedenen Blick aus. „Nachdem ich deinem Chef erzählt habe, was sich während des Krieges zugetragen hat“, begann Wilde hörbar ergriffen, „hat er nur einen Augenblick lang überlegt und dann gesagt, dass er da keinen Handlungsbedarf sieht und uns viel Glück für unser eigenes Detektivbüro gewünscht. Glaubt man das?“ „Der Chef ist sehr gutmütig“, erwiderte Atsushi stolz. „Hmm“, Joyce schob nachdenklich seine Brille hoch, „ich hatte den Eindruck, er hätte die Geschichte irgendwie nachempfinden können.“ Er deutete ein Achselzucken an. „Auf jeden Fall hättest du ihn im Anschluss daran nicht gleich nach einer Verabredung fragen sollen!“ „Wieso nicht?“ Wilde lachte. „Er hat nicht nein gesagt.“ „Du hast ihn damit total überrumpelt und er wollte nicht unhöflich sein!“ „Der gute Mann ist meinetwegen verletzt worden, das muss ich doch wieder gutmachen“, konterte der brünette Ire verschmitzt. „Aber er sagte ja, er müsse sich nun erst einmal eine Weile vor Frau Yosano verstecken.“ Atsushis Augen zuckten von neuem. Wieso nur konnte er sich das Gesicht des Chefs, nachdem er um ein Rendezvous gebeten worden war, so gut vorstellen? „Ach, da fällt mir ein“, fuhr Wilde an ihn gerichtet fort, „kannst du auch Herrn Hutgesicht und Gothic Boy unseren Dank ausrichten?“ Der silberhaarige Junge blinzelte überfordert. „Herr Hutgesicht? Gothic Boy?“ Von diesen Namen verwirrt, dachte er kurz über diese nach und seine Augen wurden riesengroß, als er begriff, wer sich hinter diesen Spitznamen verbarg. „Chuuya und Akutagawa?“ Wilde nickte. „Die beiden sind auch so niedlich.“ „Niedlich ...“, wiederholte Atsushi ungläubig. Jetzt ergab das langsam Sinn, was Kyoka ihm berichtet hatte. Seltsam nervös hatte Akutagawa sie gefragt, ob der dunkelhaarige Ire gegenüber der Detektei je etwas Bestimmtes erwähnt hätte. Nachdem sie dies verneint hatte, hatte Akutagawa wohl deutlich erleichtert ausgesehen. Akutagawa. Erleichtert. Atsushi konnte sich das nach wie vor nicht vorstellen. Ein ungewohnt schelmisches Grinsen schlich sich nun auf sein Gesicht. „So, so, Gothic Boy also? Ich danke Ihnen, Herr Wilde. Sie haben mir gerade ein großes Geschenk gemacht.“ Wenn sich das nicht irgendwie gegen seinen Erzrivalen verwenden ließ, dann ließ sich nichts gegen ihn verwenden. Ob Dazai diesen Namen schon kannte? Er würde bestimmt Gefallen daran haben. Bei diesem Gedanken fiel Atsushi etwas ein, das er den Iren unbedingt fragen wollte. „Ich muss ehrlich zugeben, ich habe immer noch verstanden, was genau geschehen ist. Ranpo sagte mir, Dazais Plan hätte nur funktioniert, weil Sie so gut reagiert hätten. Aber … was meinte er damit?“ „Oh, das würde mich auch interessieren.“ Joyce kreuzte die Arme vor der Brust. „Was ist da eigentlich zwischen euch beiden abgelaufen?“ „He he.“ Wilde grinste abermals. „Bist du jetzt schon eifersüchtig, Jimmy?“ „SICHER NICHT!“ Der Blondschopf räusperte sich. „Der arme Herr Kunikida und ich konnten die ganze Zeit nur raten, was vor sich ging. Ein bisschen Licht ins Dunkle wäre ganz erhellend.“ „Es ist eigentlich ganz einfach“, erläuterte Wilde. „Es kam mir sehr verdächtig vor, dass Herr Dazai sich der Gegenseite anschließen wollte. Also vermutete ich, dass er einen Plan verfolgte und improvisierte, indem ich George weismachte, er sei in Wahrheit eine hinterhältige Schlange, die nur ihren eigenen Vorteil sucht. Ich hatte keine Ahnung, dass Henry hinter der ganzen Sache steckte, aber es hat unserer Lage wohl sehr geholfen, Dazai mit ihm zu vergleichen.“ Bei diesem unheimlichen Vergleich musste Atsushi schlucken. Er konnte das, was auf dem Dach vorgefallen war, immer noch nicht abschütteln. Nun verstand er jedoch endlich, was Ranpo gemeint hatte. Hätte Wilde Shaw und damit letztlich Wotton nicht überzeugt, dass Dazai keiner der Guten war, hätten sie ihm nicht ihr Vertrauen geschenkt. Die Ironie von Wildes Tat traf den silberhaarigen Jungen wie ein Blitzschlag. „Sie haben also an Dazai geglaubt?“ „Gewissermaßen, ja.“ Wilde deutete ein Schulterzucken an. „Ich hoffe, er weiß, dass die Dinge, die ich zu ihm und über ihn gesagt habe, nicht ganz so gemeint waren. Bei ihm bin ich mir nicht sicher, ob er diese Unterscheidung hinbekommt.“ „Sie machen sich Gedanken um Dazai und vertrauen ihm?“ Atsushi machte große Augen. Das war eine überraschende Entwicklung. „Obwohl … obwohl diese Sache mit Barrie passiert ist?“ Die Iren tauschten einen erneuten Blick aus. Dann lachte Wilde und schob sich eine Haarsträhne aus seinem Gesicht. „Oh, wie sage ich immer: Vergib stets deinen Feinden – nichts ärgert sie so sehr.“ „Außerdem“, ergänzte Joyce schmunzelnd, „hat mir ein weiser Junge einst den Rat mit auf den Weg gegeben, dass es wichtiger ist, was man jetzt in einem Menschen sieht – und nicht, was er früher vielleicht einmal war.“ Mit Tränen der Rührung in den Augen verbeugte Atsushi sich tief vor dem liebenswerten Duo.   Eine sanfte Brise wehte über das ruhige Meer. Hoch oben vom blauen Himmel schien die Sonne auf die kleinen Wogen, die leise ans Ufer schwappten und ganz zart die Beine des Mannes umspielten, der knietief im Wasser stand und aufs offene Meer hinausblickte. Die Hände in seinen Manteltaschen vergraben, konnte niemand sehen, wie eine Hand eine Streichholzschachtel fest umklammerte. „Das war alles, was ich tun konnte“, flüsterte Dazai in den Wind. „Du hättest sie sicherlich alle retten können, aber ich bin nicht du, Odasaku. Ich konnte nur so viel tun. Du hättest das gewiss auch hinbekommen, ohne Atsushi das anzutun.“ Er senkte seinen Blick hinab. „Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, Odasaku.“ Eine Windböe wirbelte durch seine Haare und Dazai blickte wieder auf. Es war richtig gewesen, sich auf die eine Fähigkeit zu verlassen, die nicht einmal er aufheben konnte. Die Fähigkeit, die die Stärkste des ganzen Detektivbüros war. Mori war ein Idiot. Er lechzte so sehr nach Yosanos Fähigkeit, dass er nie auch nur daran gedacht hatte, sich um diese andere, besondere Fähigkeit zu scheren. Wobei – Mori war nicht ganz so dämlich. Er war sich schließlich bewusst, dass es absolut kein Drankommen an diese mächtige Fähigkeit gab. Es gab nichts auf der Welt, mit der man Ranpo jemals zur Hafen-Mafia locken könnte. Die Fähigkeit, die keine war. Dazais gesamter Plan hatte auf der Ultra Deduktion gefußt. Er hatte Ranpo nur verschlüsselte Hinweise übermitteln müssen, um alles ins Rollen zu bringen. Die hässliche Schwarzhaarige? Offensichtlich ein Code für Akutagawa. Die hübsche Ausländerin konnte nur Mansfield meinen. Und dass Chuuya weiterplappern würde, wo er auf ihn getroffen war und ihm seine Machtübernahme- und Mordfantasien mitgeteilt hatte, war auch selbstverständlich gewesen. Auf diesem Weg hatte er Ranpo gesagt, in welcher Umgebung sie nach Mansfield suchen mussten, um sie letzten Endes Zeugin von Henrys Geständnis werden zu lassen. Nur sie war in der Lage gewesen, den Engländer auszulöschen. Und nur so hatte sie selbst mit ihrer gesamten tragischen Geschichte abschließen können. Dazai hatte geahnt, dass es einen versteckten Drahtzieher hinter der ganzen Aktion hatte geben müssen. Den auffallend zögerlich agierenden Shaw auszuschalten hätte demnach das Problem nicht gelöst. Er hatte Henry hervorlocken müssen. Unverhoffterweise hatte er dafür Hilfe von Wilde erhalten. Ohne den ihm sympathischen Iren wäre es weitaus schwieriger gewesen, sich Shaws und Henrys Vertrauen zu erschleichen. Der Gott dieser Welt. In diesem Punkt unterschieden er und Henry sich. Dazai hatte nie Bestrebungen gehegt, so etwas zu werden. Er konnte sich detailgenau vorstellen, wie angewidert Odasaku von so einem Größenwahn wäre. Nein, nicht nur von diesem Wahnsinn, sondern auch oder vor allem von Henrys Umgang mit Menschen. Das war nicht Odasakus Weg. „Begib dich auf die Seite der Retter. Wenn es sowieso nicht darauf ankommt … wähle ein guter Mensch zu sein. Einer, der die Schwachen rettet … und die Waisen beschützt.“ Odasakus Worte würden in seinen Ohren widerhallen, so lange er auf dieser Welt weilte. Sanft lächelnd legte Dazai den Kopf in den Nacken. Und wenn er diese Welt verließ, würde jemand anderes Odasakus Weg weiter beschreiten. Jemand, der von einer schwachen Waise zu einem Retter geworden war. Ein guter Mensch war Atsushi sowieso – soweit er das beurteilen konnte. Das wütende Platschen, das er jetzt hinter sich vernahm, verriet ihm, dass es nicht Atsushi war, der da auf ihn zukam. Dazais Lächeln wurde zu einem amüsierten Grinsen. Das klang ja, als würde der Mann das arme Wasser treten! Was hatte es ihm denn getan? Vielleicht war er auch gar nicht sauer auf das Wasser, sondern auf jemand anderen …. Mit einem genüsslichen Grinsen im Gesicht drehte Dazai sich zu demjenigen um, der schnaufend und mit hochrotem Kopf an ihn herangetreten war. „Machst du gerade einen Strandspaziergang, Kunikida?“   „GLAUBST DU ALLENERNSTES, ICH HÄTTE ZEIT FÜR EINEN STRANDSPAZIERGANG?!“ Kunikida blieb wutentbrannt schnaubend vor ihm stehen. „DU HAST JA MAL WIEDER ALLE ZEIT DER WELT! UND VOLLKOMMEN DIE RUHE WEG!“ Obwohl er so lautstark angeschrien wurde, blieb Dazai völlig ruhig. „Hast du mich etwa gesucht?“ Seine beiläufig gestellte Frage brachte sichtbar das Blut des Idealisten zum Kochen. „Was glaubst du denn? Du ziehst diese wahnsinnige Nummer ab und verschwindest dann! Atsushi ist fast krank vor Sorge.“ Bei Erwähnung dieses Namens wurde der Brünette ernster. „Geht es ihm gut?“ Kunikida stutzte kurz. „Er und Kyoka haben sich von der Vergiftung erholt. Aber ob es Atsushi gut geht, würde ich so nicht bejahen.“ „Wieso nicht?“ Die Wut des bebrillten Detektivs verdampfte ein wenig, als er die untypisch besorgte Miene des Anderen erblickte. „Ist die Frage ernst gemeint? Er macht sich natürlich Sorgen um dich und dass du glauben könntest, er hätte an dir gezweifelt.“ War Dazais vorige Miene untypisch für ihn gewesen, so wurde sie nun zu Kunikidas Verwunderung erfrischend baff. Er hätte den Anblick sehr viel mehr genossen, wenn er nicht zeitgleich an das verheulte Gesicht des Bengels hätte denken müssen. „Vielleicht ist Dazai enttäuscht, weil er denkt, ich hätte ihm nicht vertraut und er kommt deswegen nicht wieder“, erinnerte Kunikida sich an Atsushis unter Tränen vorgetragene Schuldzuweisung. Er fühlte sich selbst ein bisschen schuldig an Atsushis Gefühlslage. Sie hatten ihn nicht in Ranpos Plan eingeweiht, um alles glaubwürdiger wirken zu lassen. Er und Poe waren grottige Lügner und so hatte Ranpo entschieden, dass sie im Unklaren gelassen werden sollten. Unterm Strich hatte es funktioniert: Atsushis Verzweiflung auf dem Dach hatte Dazais Glaubwürdigkeit gestärkt. „Du hast uns alle auf die Probe gestellt, aber bei Atsushi war es am unverantwortlichsten“, fuhr Kunikida fort. „Er hängt so sehr an dir und du bist ihm so wichtig. Er glaubt jetzt, dass du böse auf ihn bist. Dabei hat er überhaupt nicht an dir gezweifelt. Er sagte mir, er wäre sich so schrecklich hilflos vorgekommen, weil er dir nicht hatte helfen können. Deine Darstellung von jemandem, der endgültig den Verstand verloren hat, war sehr überzeugend. Du hast den Bengel beinahe zu Tode erschreckt.“ Perplex starrte Dazai seinen Kollegen an. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Kunikida hob eine Hand, um ihm zu signalisieren, dass er noch nicht fertig war. „Mich übrigens auch! Ranpo hatte zwar im Vorfeld erklärt, dass er seinen Plan von deinem Plan abhängig macht, aber ich hatte ja trotzdem keine Ahnung, was genau passieren würde. Ich habe die ganze Zeit vor Anspannung nicht atmen können!“ „Wenn ich Atsushi das Teil mitgebe, spielt ihr bei Dazais Schmierenkomödie mit und folgt seinen Anweisungen.“ „Und wenn du es selbst behältst?“, hatte Kunikida Ranpo sorgenvoll gefragt. Der Meisterdetektiv hatte den Kopf schief gelegt. „Dann hätten wir ein Problem.“ „Und als du dann auch noch auf Joyce geschossen hast! Ich dachte, mein Herz explodiert! Schön, wenn du dich anscheinend mit Wilde telepathisch verständigen kannst, aber warne mich doch wenigstens vor! Wer wagt sich an so einen irrsinnigen Schuss?! Wenn du nur einen Millimeter daneben geschossen hättest, hättest du den Mann sofort umgebracht! Das war dir natürlich klar, sonst hättest du Wilde nicht per Blickkontakt um Erlaubnis gefragt!“ Kunikida schnaubte wieder vor Wut und holte Luft für die nächste Runde. „Wie wäre es, wenn du das nächste Mal auch mich um Erlaubnis für deine durchgeknallten Aktionen fragst?! Wäre es mir nicht von Anfang an so verdächtig vorgekommen, dass du – ausgerechnet du! - scharf auf eine Maschine seist, die unsterblich macht, ich hätte gedacht, du wärst durch einen noch wahnsinnigeren Doppelgänger ersetzt worden! Ich kann gar nicht sagen, wer wütender ist wegen deines Alleinganges: Ich, Ranpo oder der Chef! Ranpo ist mächtig angefressen, weil du ihm ungefragt so viel Arbeit und Verantwortung aufgebürdet hast! Was ist dein Problem?! Wieso kannst du uns nicht mitteilen, was du vorhast?! Oh, Chuuya solltest du in nächster Zeit auch besser noch aus dem Weg gehen! Ich bin zufällig in ihn hineingelaufen und ich soll dir ausrichten, dass du der Letzte wärst, der ihn zu einem Laufburschen degradieren dürfe! Zum Glück ist er für einen Mafioso unglaublich vernünftig! Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn er keinen Rettungswagen für den Chef bestellt hätte!“ Der Blondschopf war von seinem Tobsuchtsanfall außer Puste, aber hielt weiterhin die Hand hoch, die Dazai ruhigstellen sollte. „Du hast es geschafft, den Chef wütend zu machen! Dem einzigen Menschen, der selbst bei dir immer die Ruhe behalten hat, ist jetzt auch der Kragen geplatzt! Er ist dein Verhalten endgültig leid! Dieses Mal kommst du nicht ohne Strafe davon! Ihm tut es zwar leid, dass er dich fälschlicherweise verdächtig hat, aber meiner Meinung nach bist du daran selbst schuld!“ Kunikida stockte, als Dazai plötzlich seltsam verunsichert aussah. „Ich war mich nicht sicher“, sagte er leise in die Pause des Anderen hinein. „Was meinst du? Womit warst du dir nicht sicher?“ Kritisch hob Kunikida eine Augenbraue und musterte seinen Kollegen. „Ich war mir zuerst nicht sicher, ob ich Mansfields Eltern getötet habe oder nicht“, antwortete Dazai wieder etwas lauter. „Ich dachte, ich hätte vielleicht doch den Überblick verloren.“ Kunikida schluckte. Nicht so sehr wegen Dazais Aussage, sondern weil der Wirrkopf dabei so … so … - wirkte Dazai da gerade etwa zerbrechlich? Er konnte es kaum fassen und blinzelte und schüttelte den Kopf. Doch es war kein Trugbild, was er sah. „Ich werde jede Strafe ertragen“, sagte Dazai weiter, „außer er will mich entlassen. Das wäre ein Problem.“ „Entlassen?“ Kunikida schob seine Brille hoch. „Wie kommst du auf so einen Unsinn? Deine Strafe besteht darin, dass du für die nächsten drei Monate den Putzdienst in der gesamten Detektei übernimmst. Ich habe für sechs Monate plädiert, was wieder einmal zeigt, dass der Chef mit dir viel zu nachsichtig ist. Außerdem wird Ranpo für diesen Zeitraum einen Teil deines Gehalts für seinen Süßigkeitenvorrat abzweigen. Er wollte zuerst alles einbehalten, weil er sich auch noch um den Fall mit dem Theaterbesitzer, der die Leiche der Schauspielerin hat verschwinden lassen, kümmern muss, aber Haruno konnte ihn überzeugen, dass selbst du von irgendetwas leben musst. Ich überlasse es dir, wie du die Angelegenheit wieder bei Atsushi gutmachen will-“ Er hielt von neuem inne, als Dazai nun völlig baff dreinblickte. „Was? Was ist denn jetzt?“ Dazai starrte ihn lediglich entgeistert und mit großen Augen an. Er hatte den Mund geöffnet, als wollte er etwas sagen, aber auch als Kunikida abwartete, kam kein einziger Laut heraus. Er hatte immer gedacht, ein sprachloser Dazai wäre ein Traum, doch jetzt, wo sich dieser Wunsch endlich erfüllt hatte, gab ihm der Anblick ein unbehagliches Gefühl. „Das … das ist die ganze Strafe?“, brachte Dazai schließlich ungläubig hervor. „Du hast sicher etwas falsch verstanden-“ Kunikida stöhnte in seinen Satz hinein. „Habe ich nicht. Hast du ernsthaft damit gerechnet, der Chef würde dich herausschmeißen?“ Obwohl Dazai nichts erwiderte, konnte der Idealist ihm ansehen, dass er genau das gedacht hatte. Sämtliche Härchen auf seiner Haut richteten sich auf, als er seinen sonst so unbeschwert tuenden Partner anblickte. Dazai wirkte mit einem Mal total verloren. Es war ein unheimlicher Anblick. Vielleicht – so war es Kunikida in den letzten Tagen und nachdem er ausführlich mit Ranpo gesprochen hatte, in den Sinn gekommen – vielleicht war es gar nicht so, dass Dazai sich nicht mitteilen wollte. Es bestand die Möglichkeit, dass er es einfach nicht konnte. Der unbekannte Faktor, der der festen Überzeugung war, dass man einen anderen Menschen nie wirklich kennen konnte, kannte sich vermutlich selbst nicht einmal wirklich. Vielleicht war es egal, dass die Gleichungen einen unbekannten Faktor enthielten, wenn sie trotzdem aufgingen. Und Dazai war – aus Gründen, die Kunikida nicht verstand – in der Lage, praktisch jede Gleichung aufzulösen. Möglicherweise war sich Dazai der Ironie nicht einmal bewusst. Er war davon ausgegangen, dass Ranpo seinen Plan verstehen würde, auch wenn er ihn nie mit ihm besprochen hatte. Mit anderen Worten: Er hatte so viel Vertrauen in Ranpo, dass er alles, inklusive seines eigenen Lebens, in dessen Hände gelegt hatte. Dazai brachte ihnen allen dieses Vertrauen entgegen, weil er sie kennengelernt hatte und deswegen ihr Verhalten einschätzen konnte. Nur bei einem lag er völlig daneben. Zum wiederholten Mal an diesem Tag nahm Kunikida einen tiefen Luftzug von der frischen Meeresbrise. Dieses Mal brauchte er ihn allerdings nicht, um seinen Kameraden weiter anzuschreien. „Der Chef ist über deinen Alleingang wütend, nicht über die Dinge, die du vorher oder hinterher getan hast“, sagte Kunikida gefasst. „Er und Atsushi und auch ich, wir hätten uns alle ein weniger dramatisches und blutiges Ende für diesen Konflikt gewünscht, aber … auch jetzt fällt mir noch keine Lösung ein, bei der wir alle hätten retten können.“ Er atmete hörbar aus und sah Dazai direkt an. „Du hast versucht, so viele zu möglich zu retten. Deswegen hast du diese bescheuerte One-Man-Show gegenüber Chuuya abgezogen und Eliza verraten, wie sie Mori finden kann. Du wusstest, dass der Chef vorhatte, alleine gegen Eliza anzutreten und hast ihm daher Mori zur Unterstützung geschickt. Du wusstest, dass Henry einen von uns getötet hätte, wenn du auf niemanden geschossen hättest und darum hast du Joyce gewählt, weil Wilde ihn heilen würde und ich mich um Atsushi und Kyoka kümmern sollte. Du wusstest, dass Mansfields Fähigkeit eine Explosion auslösen würde und dass du dein Leben dabei verlieren könntest. Du glaubst zu wissen, dass das für niemanden von uns schlimm wäre und es ist ein wenig wohltuend zu wissen, dass selbst du auch mal falsch liegst. Ich habe es vorhin bereits gemerkt. Es gibt Dinge, die nicht einmal du kannst. Du kannst nicht begreifen, warum Atsushi an dir hängt. Vielleicht hältst du das für eine Laune von ihm, aber das ist es nicht. Du kennst Atsushi gut genug, um zu wissen, dass er nicht so ist. Und dennoch ist das die Erklärung, die du dir einredest. Du hast Joyce die ganze Zeit provoziert, weil du wolltest, dass er dich für das, was du getan hast, bestraft. Du merkst, dass Wilde dir vertraut und schiebst es auf die Umstände, in denen ihr euch befindet. Und du glaubst ihm alles, was er über dich gesagt hat, um dich als abgrundtief schlechten Menschen darzustellen, weil du denkst, dass dies alles der Wahrheit entspricht. Ich muss ehrlich zugeben, ich weiß nicht, wie ich dich vom Gegenteil überzeugen soll. Du bist leider klüger als ich. Das ist unglücklicherweise ein unbestreitbarer Fakt. Wenn du dich nicht davon überzeugen kannst, wie soll ich das dann? Ich will dir nur eine Frage stellen, über die du nachdenken sollst: Wenn du durch und durch schlecht bist, wenn es keine Facette an dir gibt, die gut ist – warum rettest du dann Menschenleben?“ Für einen langen Moment starrte Dazai ihn noch wortlos an, ehe er mit einem forcierten Lächeln den Kopf schüttelte. „Auf diese Frage gibt es eine einfache Antwort.“ „Gibt es nicht“, widersprach Kunikida prompt und zu seiner Überraschung. „Wenn du meinst, diese Frage ließe sich einfach beantworten, ist deine Antwort entweder falsch oder unvollständig. Und das heißt, du musst noch einmal darüber nachdenken.“ Dazai blinzelte seinen Partner ein paar Mal an, bevor er flüchtig zum blauen Himmel hinaufschaute. Dann trat ein mildes Lächeln an die Stelle seiner erstaunten Miene. „Gut. Dann werde ich noch einmal darüber nachdenken. Gibt es einen Abgabetermin für meine Antwort?“ „An den würdest du dich doch eh nicht halten.“ „Auch wieder wahr.“ Dazai lachte und es erleichterte Kunikida mehr als er je zugegeben hätte. „Dann lass uns zur Detektei zurückkehren. Es ist dort ein wenig staubig und wir wollen uns doch nicht blamieren, falls Klienten kommen.“ „Awww, Kunikida, ich habe heute Morgen schon Hausarbeit erledigt.“ „Wie bitte? Was willst du denn schon gemacht haben?“ Es gefiel dem Idealisten gar nicht, wie das Lächeln des Wirrkopfs schelmisch wurde. „Du hast doch heute Morgen eine Waschladung mit weißer Wäsche angestellt, erinnerst du dich?“ „Woher …?“ Kunikida runzelte die Stirn. Wusste Dazai, dass er immer am gleichen Tag seine weiße Wäsche wusch? „Ja, und?“ „Ich hatte noch etwas von der rosa Farbe übrig.“   Einige Wochen, nachdem andere Strandbesucher sich gewundert hatten, warum ein bebrillter Mann mit pulsierenden Venen auf der Stirn einen anderen Mann im Trenchcoat über den gesamten Küstenabschnitt gejagt und dabei ständig „Mir fallen eintausenddreihundertunddreiundachtzig Dinge ein, die ich dir antun möchte!!“ geschrien hatte, saß Fukuzawa in seinem Büro an seinem Schreibtisch und sah die Post durch. Es waren die üblichen Briefe von Leuten aus der Regierung, dem Militär und der Polizei, die Anfragen stellten und ein paar Dankesbriefe von Klienten. Unter all diesen Umschlägen fiel ihm einer jedoch besonders auf. Er kam aus Irland. Hastig öffnete er den Brief. Im Innern befanden sich eine Karte und ein Foto. Fukuzawa warf zuerst einen Blick auf die Karte. „Sollten Sie je Hilfe brauchen, kontaktieren Sie uns ohne zu zögern. Sie erhalten natürlich auch einen Freundschaftsrabatt. Vielen Dank und alles Gute! “ Amüsiert legte er die Karte beiseite und besah sich das beigelegte Foto. Es zeigte Wilde und Joyce stolz vor ihrer eigenen Detektei posierend. Fukuzawas Augen wanderten zu dem im Bild gezeigten Schild über dem Eingang des irischen Detektivbüros und er stutzte. „Was soll denn eine 'Detektur' sein?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)