Never let me go von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 14: If I only could, I'd make a deal with God and I'd get him to swap our places ---------------------------------------------------------------------------------------- „If I only could I'd make a deal with God And I'd get him to swap our places“   Placebo [Kate Bush], „Running up that hill“   Mori wurde äußerst unsanft von Elise in die Lüfte gehoben und mit Schwung hinter einige alte Maschinen, die in der verlassenen Fabrikhalle standen, geschmissen. Er jaulte, als er auf den Boden krachte, wollte sich aber nicht weiter beschweren, denn ohne Elises Wurf wäre er von Eliza und ihrem Dauerfeuer getroffen worden. Es war hoffnungslos gegen die Lebensform-Fähigkeit zu kämpfen. Er hatte sie nun bereits etliche Male aufgeschlitzt und doch stand sie nur Sekunden später wieder erholt vor ihm. So langsam ging selbst ihm die Puste aus. Vorsichtig reckte er den Kopf ein wenig empor, um zu sehen, was nun vor sich ging. Fukuzawa hatte einen schnellen Treffer mit seiner Klinge gelandet und die Fähigkeit verabschiedete sich mal wieder für einen kurzen Augenblick. „Was ist, Mori? Sind Sie verletzt?“ Selbst Fukuzawa klang außer Atem. Auch er hatte Eliza schon mehrere Male ausgeschaltet, aber es änderte nichts an ihrer Lage. Sie waren Menschen, Befähigte zwar, aber ihre Kraft und Ausdauer ging trotzdem allmählich zuneige. Wäre Fukuzawa nicht hier, so war sich Mori sicher, wäre er allein längst draufgegangen. „Machen Sie sich Sorgen um mich?“ „Nein.“ „Sie können so herzlos sein.“ Mori kam aus seinem Versteck und hob eines der Skalpelle auf, die er nach Eliza geworfen hatte. „Wir brauchen dringend einen anderen Plan“, meckerte Elise. „Tut mir leid, mein Elisechen, einen anderen haben wir nicht.“ Eliza erschien abermals vor ihnen und mit jedem Mal wirkte sie noch fuchsteufelswilder. Ohne ein Wort zu verlieren, feuerte sie umgehend aus ihren beiden Pistolen. Dass der Chef der Detektive ihrer Zielperson half, hatte ihn ebenfalls zu ihrem Todfeind gemacht. Außerdem funkte er ständig dazwischen, wenn sie Mori ins Visier nahm. Er musste weg. Fukuzawa wich den meisten Kugeln geschickt aus und zerlegte dabei sogar im Flug noch einige mit seinem Schwert. Doch nun ließ Eliza scheinbar Mori links liegen und konzentrierte ihren gesamten Angriff auf ihn. Sie schoss und schoss und Fukuzawa wurde durch das Ausweichen immer weiter in Richtung einer Wand gedrängt. Sonst praktisch undenkbar, kam Mori ihm zu Hilfe und schleuderte sein Skalpell auf Eliza. Sie löste sich auf, bevor er traf und materialisierte sich sofort hinter Fukuzawa. Ihre Aura bemerkend, wirbelte er herum und parierte ihren Schwerthieb in letzter Sekunde. Die Fähigkeit verschwand von neuem und tauchte dieses Mal wieder vor Mori auf. Elise schaffte es nicht rechtzeitig ihn zu packen und so warf sie sich zwischen die abgefeuerten Kugeln und ihren Rintaro. Das Prinzip war das Gleiche. Elise und Eliza unterschieden sich zwar, jedoch brauchte auch Elise ein paar Sekunden, um erneut gerufen zu werden. Dieses kurze Zeitfenster wollte Eliza endlich nutzen. Sie zielte erneut auf Mori und bemerkte, wie Fukuzawa auf sie zustürmte, um sie davon abzuhalten. Mori stutzte, als ihm das flüchtige Lächeln in ihrem Gesicht auffiel. „Was …? Das ist eine Falle!“ Seine Warnung kam zu spät. Eliza hatte sich bereits in Luft aufgelöst und hinter Fukuzawa manövriert, sodass sie ihm, bevor er von neuem herumwirbeln konnte, ihr eigenes Schwert in die linke Schulter rammte. „Ah!“ Der Silberhaarige spürte, wie die Klinge ihn durchbohrte und wie sein Blut aus der Wunde zu spritzen begann, als die Angreiferin das Schwert wieder gezogen hatte. Die Heftigkeit der Verletzung ließ ihn auf die Knie sinken. Eliza holte ein weiteres Mal zum Schlag aus, aber mit einer Kraft, von der selbst Mori sich fragte, wo er sie herholte, umgriff Fukuzawa den Griff seines Schwerts und wehrte den gegnerischen Angriff ab. Frustriert verschwand die Lebensform-Fähigkeit und Fukuzawa stürzte Blut spuckend und sein Schwert loslassend auf alle Viere. „Das ist aber gar nicht gut“, resümierte Mori wachsam. Elise packte den Schwarzhaarigen, bevor die aberdutzenden Salven aus Elizas Waffen ihn treffen konnten. Dieses Mal war sie nicht vor ihm erschienen, sondern hatte sich hinter einer der Maschinen versteckt und aus der Deckung gefeuert. Sie lernte hinzu. Ihr Denken wurde immer strategischer. Als hätte sie seine Gedanken gelesen und beschlossen, ihm seine Vermutung zu bestätigen, sah Eliza voraus, wo Elise ihn hinbringen wollte und teleportierte sich genau dorthin, sodass sie freie Schussbahn hatte. Das übernatürliche Mädchen fluchte und versuchte eiligst, Mori wegzubringen, doch auch dieses Mal war es zu spät. Eliza traf ihn ins Bein und in den Unterbauch. Eine erwartungsfrohe Miene breitete sich auf dem Gesicht der brünetten Frau aus, als sie hinter sich ein metallisches Geräusch vernahm. Sie warf einen Blick zurück und stöhnte entnervt. Fukuzawa versuchte, sich aufzurichten und sein Schwert zu greifen. „Dann du zuerst. Ich habe es bald geschafft und ich will nicht gestört werden, wenn ich Mori leiden lasse.“ Der Chef blickte auf und sah in Elizas eiskaltes Gesicht. Sie richtete ihre Pistole auf seine Stirn. „Es ist den Menschen ein Bedürfnis, letzte Worte zu äußern, oder?“, fragte sie. „Ich möchte nichts tun, das sich nicht gehört. Also, wenn du etwas sagen willst, dann tu das bitte.“ Atemlos und stoisch blickte Fukuzawa an der Waffe vorbei in Elizas Augen. „Es gehört sich nicht, Menschen das Leben zu rauben.“ „George sagt immer, man muss tun, was nötig ist.“ Machte es Sinn, mit ihr zu diskutieren? Fukuzawa dachte angestrengt darüber nach, wie er sie noch aufhalten sollte. Er hatte nicht viel Zeit, bis er dem Blutverlust erliegen würde und noch konnte er nicht davon ausgehen, dass Ranpos Plan aufgegangen war. Eliza vermutete, dass er das fehlende Teil hatte und würde ihn wieder verfolgen, sobald sie hier fertig war. Er musste wenigstens noch mehr Zeit herausschlagen. Wenigstens noch die, die ihm blieb. Wenn Fukuzawa hier starb, würde Ranpo sich am Ende vielleicht die Schuld dafür geben. Es war ein schrecklicher, quälender Gedanke, dass er sich hierfür schuldig fühlen könnte – und ein erhellender. „Versprichst du mir etwas, bevor du mich erschießt?“, fragte der Chef plötzlich und ließ sie stutzen. „Was?“ „Frage Shaw, ob er mit dem, was du hier tust, einverstanden ist.“ Irritiert schüttelte sie den Kopf. „Ich brauche sein Einverständnis nicht.“ „Aber du behauptest, du tötest Mori für ihn. Wenn er das gar nicht will, handelst du gegen seinen Willen. Vielleicht tust du ihm damit sogar weh.“ „Ich würde ihm nie wehtun!“, schrie sie entsetzt. „Manchmal tun wir Menschen, die wir lieben, weh, ohne dies zu wollen.“ „Sei still!“ Elizas Finger legten sich um den Abzug, als sie wie vom Blitz getroffen zusammenzuckte. „George!“, rief sie erschrocken aus – und verschwand. Ungläubig blickten Mori, Elise (die notdürftig seine Wunden abdrückte) und ein kurz vor der Ohnmacht stehender Fukuzawa auf die Stelle, an der sie gerade noch gestanden hatte.   Voller Entsetzen starrten Kunikida, Joyce und vor allem Wilde auf das, was gerade geschah. Dazai blinzelte erstaunt. „Oh“, war alles, was er dazu sagte. Shaw blickte derweil entgeistert von Henrys Hand an seinem Arm zu dessen Gesicht, während sein eigenes aschfahl wurde. „Was …? Wieso …?“ Es war überdeutlich, dass er am allerwenigsten verstand, was vor sich ging. Der Engländer lächelte belustigt. „Weißt du, was daran am besten ist, George? Du hast früher immer selbst gesagt, man dürfe mir nicht mehr als nötig trauen. Und trotzdem hast du dich von mir täuschen lassen. Das ist großartig! Einfach großartig!“ Er lachte, während Shaw kraftlos auf die Knie fiel und immer noch von ihm festgehalten wurde. „Aw, mach nicht so ein Gesicht. Du musst mir doch dabei Recht geben, dass die Gelegenheit zu günstig war. Du warst nur noch ein armseliges Abbild deiner Selbst und so fixiert auf deine Eliza - es war so einfach, dir weiszumachen, man könnte Basils Erfindung nutzen, um aus ihr einen Menschen zu machen. Du konntest für mich die ganze lästige Drecksarbeit erledigen und ich konnte mich entspannt zurücklehnen und euch dabei zusehen, wie ihr in Wahrheit alle nach meiner Pfeife getanzt seid. Das war herrlich, wirklich.“ Mit ungläubigem Blick und bebenden Lippen hörte Shaw diesem egomanischen Monolog zu. „Du … du hast mich angelogen?“ „Von vorne bis hinten.“ „Du verdammter-“ Wilde wollte auf Henry zustürmen, doch er wackelte mahnend mit einem Finger seiner anderen Hand. „Ich weiß, dass Basils Erfindung ein Menschenopfer pro Aktivierung benötigt. Ich weiß nicht, was passiert, wenn du mich jetzt zusätzlich noch berührst. Mir wird es wahrscheinlich nicht schaden, also, wenn du es wagen willst …?“ Wilde erstarrte auf der Stelle. Er wirkte, als wäre eine Erkenntnis über ihn gekommen. „Das war von Anfang an dein Plan gewesen. Deswegen hast du Basil überredet, dieses furchtbare Ding vor dem Militär zu verstecken und deswegen warst du so sauer, als Dorian vorschlug, es zu zerstören. Du hast es die ganze Zeit für dich nutzen wollen.“ Henry rollte spöttisch mit den Augen. „Diese Einsicht hat aber lange gebraucht.“ Er ließ Shaws Arm los, sodass dieser rücklings hinfiel. „Aber ...“, keuchte Shaw schwerfällig, „wieso hast du … dir den Apparat nicht sofort gegriffen?“ „Das ist ganz simpel. Zuerst hatte ich gehofft, Basil könnte sein Maschinchen noch verbessern, allerdings ist das hier wohl die Obergrenze seiner Leistung. Irgendwann war ich von der Warterei und eurem Gutmenschgetue so angewidert, dass ich diese Fabrik in Frankreich in die Luft sprengte und anfing, mir zu überlegen, wie ich an die Erfindung kommen könnte. Lange Rede, kurzer Sinn: Es war leicht, Dorian zu finden und ihm Informationen zu entlocken. Schließlich hatte ich bei ihm auch schon früh genug mit der Vorarbeit begonnen. Dann brauchte ich nur noch einen Dummen, der mir bei der Suche der Teile half und als Opfer herhalten konnte und voilà! Hier sind wir nun.“ Kaum noch in der Lage Luft zu holen oder sich zu bewegen, riss Shaw fassungslos die Augen auf. „Du hast … uns alle … nur benutzt.“ Gehässig grinsend, zuckte der Engländer mit den Schultern. „Was für ein ekelhaftes Individuum!“, schrie Joyce ihm zornig entgegen. „Wie verdorben kann jemand sein?! Besitzen Sie gar keinen Anstand? Waren Ihre Kameraden nur Marionetten für Sie?“ „Marionetten?“ Der Beschuldigte schüttelte den Kopf. „Seien Sie nicht albern. Die sind lächerlich. Aber unterhaltsam waren sie schon alle. Äußerst unterhaltsam.“ Er grinste in Shaws Richtung. „Weißt du, was das Beste war, George? Dass du dich sooo schlecht gefühlt hast, weil du dachtest, deine Kameraden verraten zu haben.“ Henry fing an, lauthals zu lachen. „Warum glaubst du, haben die Japaner dich damals so schnell hochnehmen können?“ Ihm kamen die Tränen vor Lachen, während sich in Shaws Augen die Tränen vor Entsetzen sammelten. „Genau deswegen! Ich hatte ihnen längst alles gesteckt.“ Aus den dunklen, schweren Wolken über ihnen begann der Regen, sich zu entladen. Mit lautem Prasseln ging er auf alle nieder, die auf diesem Hochhausdach standen, und schaffte es dennoch nicht, das manische Lachen des schwarzhaarigen Mannes zu übertönen. Ein eiskalter Hauch mischte sich plötzlich in den warmen Regen und alle stutzten für einen Moment, als aus dem Nichts Eliza auf dem Dach erschien. Ihre sowieso großen Augen weiteten sich vor Schreck, als sie begriff, was hier geschah. Mit einem Schrei der Verzweiflung eilte sie an die Seite ihres Anwenders und ergriff seine immer kälter werdende Hand. „George!“, rief sie panisch und schluchzend aus. „George! Was ist mit dir? Was ist mit dir?? Wäre ich doch nur hier gewesen!“ Tränen fielen aus Elizas Augen auf den Iren hinab und Kunikida spürte, wie dieser Anblick ihm einen Stich ins Herz versetzte. Das war nicht die rasende Furie, die auf Tanizaki geschossen hatte und Kenji und Yosano angegriffen hatte. Das dort war ein Mensch, der gerade einen geliebten Menschen verlor. „Mach … dir keinen … Vorwurf“, sagte Shaw schwach, als seine eigenen Tränen zu fallen anfingen. „Nein … du hast dir … nichts vorzu … werfen. Meinetwegen bist du … so … geworden. All mein Hass … und all mein … Groll gingen … auf dich über. Du hast … ihn ausgehalten.“ Mit letzter Kraft hob er seine Hand und legte sie gegen Elizas Wange. „Verzeih mir bitte.“ Eliza lächelte sanftmütig, bevor die Hand hinabsank und die übernatürliche Frau sich auflöste. „Tragisch“, ätzte Henry in die ergriffene Stille hinein und brachte damit bei Kunikida das Fass zum Überlaufen. „Was sind Sie? Ein seelenloses Monster? Leben Sie davon, andere leiden zu lassen? Das war das letzte Verbrechen, das Sie jemals begangen haben! Ich werde nicht zulassen, dass Sie weiter Ihr Unwesen treiben!“ Der Idealist schnaubte vor Wut und beeindruckte Henry damit herzlich wenig. „Herr Dazai“, sagte er ruhig zu dem neben ihm stehenden Braunschopf, „schießen Sie doch bitte einmal auf mich.“ „Soll ich wirklich?“ Selbst Dazai klang überrascht. „Aber ja! Ich bitte darum.“ Dazai zuckte mit den Achseln. „Wenn Sie das wollen.“ Er feuerte dem Anderen mitten ins Gesicht. Die Kugel drang in seinen Schädel ein, erstarrte auf halbem Weg und wurde wieder herausgedrückt. Henry fasste sich mit einer Hand an das geschwind zuwachsende Loch auf seiner Stirn und applaudierte lachend, als die Wunde sich wieder geschlossen hatte. „Großartig, nicht wahr?“ Es steigerte seine Erheiterung noch, als er in die verdatterten Mienen von Kunikida und Joyce sah. Wie hilflos sie auf einmal aussahen! Was für ein Fest das doch war! „Wow“, kommentierte Dazai, „das ist mal wirklich interessant.“ „Sie funktioniert also tatsächlich.“ Wilde klang ganz und gar gebrochen. „Und jetzt? Willst du in zehn Jahren wieder jemanden töten, um diesen Zustand beizubehalten?“ Henry nickte beiläufig. „Ja, das ist doch schön so, oder? Und ich kenne mich gut genug mit Gift und Vergiftungen aus, um nicht das gleiche Schicksal wie der arme Tropf damals zu erleiden. Ich weiß auch schon, was du sagen willst: Nein, natürlich erwarte ich nicht, dass du mir noch einmal hilfst. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Da werde ich schon irgendeinen anderen Befähigten mit einer Heilfähigkeit auftreiben.“ Wilde fuhr sich mit seiner gesunden Hand durch die Haare. „Und wofür das Ganze? Warum? Welchen Zweck verfolgst du damit?“ „Zweck?“ Henrys arrogante Miene wurde für einen flüchtigen Augenblick fragend, ehe er den Kopf schüttelte. „Jemand wie du versteht das nicht. Auch diese beiden moralischen Äffchen verstehen es nicht.“ Er blickte mit erwartungsfroher Mimik zu Dazai. „Aber Sie, Sie verstehen es, nicht wahr? Durch Basils Erfindung bin ich in der Lage zu sehen, wie die Menschheit sich entwickelt, was für Dummheiten sie anstellt, wie sie glaubt, Fortschritte zu machen und sich dabei doch nur im Kreis dreht. Ich kann Einfluss auf dies alles nehmen. Ich kann unzählige Menschen aufbauen und dann wieder einreißen. Ich kann Kriege anfangen und nach meinem Geschmack beenden. Und das bis in alle Ewigkeit. Es gibt nichts Besseres. Ja, das muss es ein, wonach ich so lange gesucht habe. Das Etwas, das sich nicht benennen lässt und trotzdem der Ursprung und das Ziel von allem ist. Ich werde der Gott dieser Welt sein.“ „Das soll deiner Meinung nach ein Gott sein?“, widersprach Wilde angewidert. „Verwechselst du ihn nicht mit seinem Gegenpart?“ Er erntete ein überhebliches Kopfschütteln als Antwort. „Ich sagte doch: Du verstehst das nicht. Du bist nicht wie wir.“ Erneut schaute er zu Dazai, als hoffte er auf eine Bestätigung. Dazai sah indes aus dem Augenwinkel zu Kunikida, der ihn angespannt anstarrte. Es war deutlich, dass der Idealist darauf hoffte, dass Dazai die vermutete Ähnlichkeit empört zurückwies. Stattdessen lächelte Dazai genüsslich. „Dann darf ich auch ein Gott sein?“ Aus den Augenwinkeln bemerkte er Kunikidas entgleisende Mimik. „Es wäre mit Sicherheit interessant zu sehen, was dann passieren würde“, antwortete Henry. „Dann los. Suchen wir uns einen neuen Befähigten mit einer Heilfähigkeit, damit ich mitmachen kann. Ich nehme an, Herr Wilde will nicht mehr?“ Der angesprochene Ire warf ihm einen verächtlichen Blick zu, was Dazai lediglich erneut mit den Schultern zucken ließ. „Einen Augenblick noch“, wandte Henry ein. „Eine kleine Bedingung hätte ich da.“ „So?“ Dazai schien darüber amüsiert zu sein. „Was auch immer es ist, ich willige ein, wenn ich dafür auch einen kleinen Gefallen einfordern darf.“ „Interessantes Verhandlungsgeschick.“ Henry nickte. „Einverstanden. Zuerst meine Bedingung: Wählen Sie einen der drei Herren hier aus und erschießen ihn dann.“ Wie Joyce und Wilde zuckte Kunikida bei diesen erschreckend nüchtern vorgetragenen Worten zusammen. Er hörte ein leises Röcheln vom Boden und blickte flüchtig zu dem dort liegenden und halb bewusstlosen Atsushi. Die vor Schmerzen verzerrte Miene des Jungen wurde nun auch noch von einer nackten Angst heimgesucht. Kunikida wäre es im Moment tatsächlich lieber gewesen, wenn Atsushi nicht bei Bewusstsein wäre; dann würde er nicht mitbekommen, was hier nun vielleicht geschehen würde. Was würde Dazai jetzt tun? Ihm lief der Schweiß die Stirn hinunter, als sein eigentlicher Partner abwägend zu ihm schaute. Daran gab es keinen Zweifel. Dazai überlegte ernsthaft, wen er erschießen sollte. Die Augen des Braunschopfs wanderten zu Wilde, der seinen Blick wortlos und nervös erwiderte. Ihr Blickkontakt dauerte um einiges länger als der zwischen den beiden Detektiven. „Der englische Sommerregen“, sagte Wilde plötzlich und zwang sich zu einem Lächeln, das schrecklich traurig aussah, „ist uns wohl gefolgt.“ Was …? Was soll das heißen?, überlegte Kunikida fieberhaft, als - Dazai sich zu ihnen zurückdrehte und abdrückte. Kunikida hielt den Atem an, als Joyce neben ihm von der Kugel getroffen wurde. Sie durchbohrte seinen Brustkorb und ließ sein Blut aus der Wunde spritzen, bevor der blonde Ire zu Boden fiel. Atem- und wortlos starrte Kunikida auf Joyce, der sich nicht mehr rührte. Wilde schrie auf und rannte über das Dach zu seinem sterbenden Partner. Das war ein Albtraum. Nein, es war schlimmer. „Interessante Wahl“, bemerkte Henry imponiert. „Es wäre so ein schreckliches Klischee, wenn ich meinen früheren Kollegen erschießen würde. Und Wilde ist eh am Ende.“ Dazai klang ganz und gar ungerührt. „Und jetzt?“, fragte er daraufhin seinen neuen Kompagnon, den diese Szene und seine Antwort sichtlich verzückt hatten. „Ihr Gefallen?“ „Ah, ja.“ Dazai senkte die Pistole hinab. „Ich brenne darauf, zu erfahren, wie Mansfield in diese ganze Geschichte hineinpasst.“ „Oh?“ Die Bitte überraschte ihn. „Ich wurde von jemandem auf die liebreizende Frau Mansfield und ihren verschollenen Bruder aufmerksam gemacht. Ihre Fähigkeit ist sehr interessant, daher wollte ich für meinen Plan auf sie zurückgreifen.“ „Das ist ein wenig seltsam“, entgegnete Dazai nachdenklich, „ich weiß, dass ich ihren Bruder nicht getötet habe. Er starb vor langer Zeit an einer Krankheit. Und ich bin mir relativ sicher, ihre Eltern auch nicht getötet zu haben. Aber sie ist der festen Überzeugung, ich hätte dies getan.“ „Das war eine Idee meines Wohltäters. Er meinte, es wäre lustig, Ihnen die Ermordung ihrer Eltern in die Schuhe zu schieben und Frau Mansfield so für meine Zwecke gefügig zu machen.“ „Dann haben Sie ihre Eltern getötet?“ Henry nickte unaufgeregt. „Ja, das war recht schnell erledigt gewesen. Ich hoffe, Sie sind nicht nachtragend? Das ist eine unschöne Eigenschaft.“ Dazai winkte ab. „Ich nehme an, Ihr mysteriöser Wohltäter hat Ihnen auch die Informationen über die Detektei gegeben, damit Eliza uns angreifen konnte?“ „In der Tat, auch das entspricht der Wahrheit. Ein äußerst interessanter Mann, nebenbei bemerkt. Leider wollte er unseren Kontakt nur auf diese eine Angelegenheit beschränken. Schade, dieser russische Gentleman hätte unsere Runde sicherlich vorzüglich komplettiert.“ Der Brünette stockte und lachte schließlich. „Als hätte ich es geahnt.“ „Erfüllt das Ihren Gefallen?“ „Mehr habe ich nicht hören wollen.“ Henry lachte ebenso. „Sehr gut. Mein Herz rast regelrecht vor Aufregung, seit George mir von Ihnen erzählt hat. Ich bin sehr froh, Sie gefunden zu haben. Lassen Sie uns herausfinden, was aus dieser Welt werden wird.“ Der Engländer hielt mit einem Mal inne und fasste sich an den Kopf, so als hätte ihn plötzlich etwas dort getroffen. Kunikida war kurz davor in Panik zu verfallen, als das Unvorstellbare geschah. Eine Explosion. Eine gigantische, unfassbar heiße, grelle und ohrenbetäubende Explosion ereignete sich aus dem Nichts auf dem Dach des unfertigen Wolkenkratzers hoch über der Stadt. Die Druckwelle schleuderte Kunikida mit voller Wucht gegen den Gebäudeteil, der zum Treppenhaus führte. Die Tür und Teile der Außenwände wurden durch die immense Kraft einfach weggesprengt. Auch Atsushi und Kyoka flogen in Richtung der unverputzten, nun nur noch halb stehenden Mauern. Die jäh aufgetauchte Feuerkugel verschwand und hinterließ eine dicke Wolke aus Staub und Rauch, durch die man kaum hindurchsehen konnte. Mit wackligen Beinen und einem schrillen, furchtbar lauten Klingeln in den Ohren stand Kunikida wieder auf und versuchte, trotz seiner zersprungenen Brillengläser, die Lage zu überblicken. Obwohl die beiden jüngeren Detektive durch das Gift beeinträchtigt waren, hatten sie im entscheidenden Moment ihre Fähigkeiten kurz einsetzen können. Weißer Dämonenschnee löste sich gerade auf, als Kunikida zu ihm sah. Die Fähigkeit hatte Kyoka vor einem härteren Aufprall beschützt. Ähnlich verhielt es sich bei Atsushi, der keuchend und hustend am Boden lag und dessen Gliedmaße wieder von denen eines Tigers zu denen eines Menschen wurden. Beide waren jetzt mit ihren Kräften endgültig am Ende. Der Idealist schaute rasch um die Ecke und fand dort Wilde vor, der sich über seinen Partner geworfen hatte. Sie waren ein paar Meter weiter an den Rand des Dachs geschleudert worden. Kunikida wirbelte herum und blickte zu der Stelle, an der Henry gestanden hatte. Der Rauch lichtete sich langsam und eröffnete ihm den Blick auf die Verwüstung, die nun auf dem Dach herrschte. Die mysteriöse Explosion hatte die zweite Hälfte des Daches vollkommen zerstört. Vor ihm tat sich eine riesige Abbruchkante auf, von der weiterhin Teile des Gebäudes abbröckelten und nach unten in die Tiefe fielen. Doch Henry war nirgends mehr zu sehen. Kunikida schluckte. Dazai war ebenso nirgends auszumachen! Der Obertrottel hatte neben dem Engländer gestanden; war er somit auch der Explosion zum Opfer gefallen? Sein Herz blieb beinahe stehen, als er etwas an der Abbruchkante bemerkte. Ein paar Finger klammerten sich an der Bruchkante fest. Kunikida stolperte, so schnell er in seinem angeschlagenen Zustand konnte, zu dem Abgrund hin, kniete sich davor und griff im letzten Augenblick nach der Hand, die beinahe abgerutscht wäre. „Das sieht gar nicht gut aus.“ Dazai grinste ihm gequält entgegen. Blut lief von seiner Stirn sein Gesicht hinunter. „Meinst du, es wird sehr wehtun unten aufzuschlagen?“ „DAS WILL ICH NICHT HERAUSFINDEN!“ Kunikida schnaubte und biss gleich darauf die Zähne zusammen, denn Dazai drohte, ihm aus seinem Griff zu entgleiten. Es sah wirklich nicht sonderlich gut aus. Aus dieser Position konnte er ihn nicht hochziehen und er brauchte seine zweite Hand, um sich selbst am Dach festzuhalten. Durch die Wucht der Zerstörung kippte der Boden, auf dem er hockte, nach unten. Wie sollte er diesen Spinner jetzt hochhieven? „Du musst mit deiner anderen Hand nach mir greifen“, ordnete er dem Braunschopf an. „Und dich dann an mir hochziehen.“ Dazais Miene wurde erst leicht perplex, dann ganz ernst. „Mein Gewicht könnte dich mit in die Tiefe ziehen.“ „Wir haben keine andere Wahl. So kann ich dich nicht ewig festhalten.“ Kunikida keuchte vor Anstrengung, als Dazais Hand abermals aus seiner eigenen glitt und er von neuem seinen Griff verstärken musste. Dazai stutzte plötzlich. Seine Augen, die zur Abbruchkante hinaufblickten, weiteten sich erschrocken. „Kunikida ...“, sagte er stimmlos, „du musst mich jetzt sofort loslassen.“ „Was redest du da für einen Unsinn?“, entgegnete der Angesprochene missmutig. „Da bilden sich weitere Risse im weggesprengten Boden“, antwortete Dazai hastig. „Du wirst definitiv auch in den Tod stürzen, wenn du nicht schnell hier verschwindest!“ „Glaubst du ernsthaft, ich lasse dich einfach los??“ Die Blicke der beiden trafen sich. Dazai sah in Kunikidas determiniertes, angestrengtes Gesicht – und ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ohne dir zu nahe treten zu wollen“, äußerte er plötzlich süffisant, „DU bist nicht die hübsche Frau, die ich mir für diesen Moment immer gewünscht habe.“ „Hast du ein Trümmerteil gegen den Kopf gekriegt?! Sei still, ich muss nachdenken!“ Dazais Augen wanderten noch einmal von den größer und größer werdenden Rissen an der Abbruchkante zu seinem Partner hinauf. Dann wurde seine Miene ganz leer. „Pass gut auf Atsushi und die Detektei auf.“ „Was-?!“ Zu Kunikidas blankem Entsetzen fing Dazai an zu zappeln, sodass es immer schwerer wurde, ihn festzuhalten. Die Hand des brünetten Wirrkopfs entglitt seiner eigenen. „DAZAI!! DAZAI!!!“ Kunikida schrie ihm panisch hinterher, während er hilflos dabei zusah, wie Dazai in die Tiefe stürzte. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er ein unheilvolles Geräusch vernahm. Mit einem lauten Krachen löste sich der Teil des Daches, auf dem er hockte. Kunikida fühlte, wie er zu fallen begann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)