Never let me go von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 13: For all of our youth, we have craved them – Their beauty and their truth ------------------------------------------------------------------------------------ „For all of our youth We have craved them Their beauty and their truth“   Placebo, „Loud like love“   Die Sonne hatte hell vom blauen, fast wolkenlosen Himmel geschienen an diesem Septembermorgen vor etlichen, etlichen Jahren. Ein frischer, angenehmer Wind hatte an diesem schönen Tag durch Dublin geweht, als im Haus der Familie Wilde das Telefon geklingelt hatte. Bis heute konnte Oscar Wilde sich an das Gesicht seiner Mutter erinnern, nachdem sie den Hörer abgenommen hatte. „Verstanden“, hatte sie alarmiert gesagt und dann aufgelegt. Fahrig und doch zielsicher hatte sie daraufhin eine Schublade vom Wohnzimmerschrank geöffnet, unter einem Stapel Briefe ein Kuvert herausgeholt und daraus ein dickes Bündel Geldscheine entnommen. Zielstrebig war sie zu ihrem Sohn marschiert, hatte ihm das gesamte Geld in die Hosentasche gestopft, ihm tief in die großen, dunklen Augen geblickt und gesagt: „Lauf.“ Er hatte nur schwach genickt, war zu einem der Fenster an der Rückseite des Hauses gelaufen und blitzschnell dort hinaus geklettert. Wie der Wind war er über den Zaun gestiegen und auf die andere Straßenseite in den Merrion Square Park gelaufen. Von dort hatte er sie gesehen. Die britische Militärpolizei. Seine Mutter hatte diesen Tag kommen sehen und ihn darauf vorbereitet. Seit Beginn des Krieges hatte sie sich im Widerstand engagiert und mit ihren Aktionen mehr und mehr den Zorn der britischen Armee auf sich gezogen. Jetzt waren sie gekommen, um sie zu holen. Es war alles so sinnlos. England, Frankreich, Deutschland und Japan führten einen Krieg gegeneinander, bei dem wahrscheinlich keine Seite überhaupt mehr wusste, um was es eigentlich ging. Es war die tragische Geschichte Irlands, die sie vertraglich an die Unterstützung der Briten band. Wenn diese vier Nationen keinen Frieden schließen konnten, hatte seine Mutter öffentlich skandiert, dann war das schon schlimm genug, aber sie sollten das unter sich ausmachen und das irische Volk da raus lassen. Immer mehr Iren waren in der letzten Zeit von den englischen Befehlshabern zwangsrekrutiert worden. Wilde selbst hatte keine Ahnung, was aus seinem Vater geworden war. Erst Jahre später würde Huxley herausfinden, dass er auf irgendeinem Schlachtfeld auf dem Kontinent den Tod gefunden hatte. Alles so sinnlos. Er war damals nicht lange genug im Park geblieben, um zu beobachten, wie sie seine Mutter fortbrachten, denn er hatte ihr versprochen, dass er – wenn es dazu kam – weglaufen und nicht zurückblicken würde. Also lief er los. Er lief weg von seinem Elternhaus, mischte sich zuerst unter die Leute auf der belebten O'Connell Street und ließ sich schließlich erschöpft unweit eines roten Backsteingebäudes auf ein paar Treppenstufen nieder. Dort weinte er bitterlich bis zum nächsten Morgengrauen. Da er kein kleines Kind mehr war, sondern immerhin schon 15 Jahre alt, hatte seine Mutter befürchtet, sie könnten ihn im Falle ihrer Verhaftung zum Militärdienst einziehen. Daher sollte er sich verstecken, nicht auffallen, bis die Lage sich vielleicht irgendwann zum Besseren ändern würde. Das Geld, das sie ihm mitgegeben hatte, reichte zwar nicht, um das Land zu verlassen, doch er allein würde damit gewiss ein paar Monate hinkommen, wenn er sparsam war. Seine Mutter hatte ihn immer wieder darin bestärkt, wie klug er war und dass er sicherlich gut allein klarkommen würde. Der Gedanke, völlig allein zu sein, ließ jedoch das Blut in seinen Adern gefrieren. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen als ganz und gar allein zu sein. Mitten in seine Überlegungen platzte ein leises Wimmern. Aufgeschreckt sah Wilde von seinem Platz auf den Treppenstufen hoch. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und seine ganze Umgebung war in ein mystisches Dämmerlicht getaucht. Hier war niemand außer ihm und doch hörte er in der Nähe schon wieder dieses klägliche Wimmern. Er stand auf und ging die Stufen wieder hinauf, zurück zur Straße. Vorsichtig blickte er um die Ecke und hielt perplex inne. Ein Junge saß dort auf dem Bürgersteig. Er hatte die Arme um seine Beine geschlungen und sein Kopf hing so tief, dass man außer seinen goldblonden Locken nichts erkennen konnte. Das Wimmern war zu einem herzzerreißenden Schluchzen geworden. „Fehlt dir was?“, fragte Wilde behutsam, als er sich dem Jungen näherte. Dieser schreckte zusammen und sah ihn mit ängstlichen, weit aufgerissenen und selbst im Halbdunklen leuchtenden blauen Augen an. „Ich ...“, begann der Junge scheu und mit zitternden, scharlachroten Lippen, „ich bin ganz allein.“ Seine Antwort versetzte ihm einen Stich ins Herz. „Oh … warum?“ Tränen rannten in Strömen aus diesen tiefblauen Augen. „Vor ein paar Tagen haben sie meinen Vater eingezogen.“ „Und deine Mutter?“ „Lebt nicht mehr.“ „Und dein Zuhause?“ „Wurde beschlagnahmt.“ Die Straßenkinder waren ein bekanntes und weitgehend unlösbares Problem. Die Waisenhäuser waren unterfinanziert und überfüllt und je länger der Krieg sich zog, desto mehr schienen die Leute sich an das Bild der auf den Straßen lebenden Kindern zu gewöhnen. Hier und da kippte die Stimmung auch bereits zu ihren Ungunsten, denn um zu überleben, klauten die Kinder alles, was nicht niet- und nagelfest war. Die Menschen waren dumm. Statt sich mit schönen Dingen zu beschäftigen, zogen sie die Hässlichen vor. Gab es keine Möglichkeit, diesen Unsinn zu beenden? „Ich will nicht sterben“, winselte der goldblonde Junge erbärmlich. „Ich will nicht einsam und allein und elendig auf der Straße sterben.“ Mit tränennassen Augen sah er zu Wilde hoch. Der Junge musste ungefähr so alt wie er selbst sein und Wilde kam trotz seines momentan kläglichen Aussehens und ihrer beider grässlicher Lage nicht umher, zu denken, wie außergewöhnlich hübsch dieser Junge war. Er hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so hübsch aussah (von seiner Mutter abgesehen, aber das war eine ganz andere Sache). Und außerdem – gerade, als ihn selbst die Angst vor dem Alleinsein überkommen hatte, tauchte dieser Junge auf, fast als hätte er ihn herbeibeschworen. Vielleicht wollte eine höhere Macht ihm in dieser schweren Stunde einen Kameraden schicken. „Mein Name ist Oscar.“ Er hielt ihm eine Hand hin und lächelte. „Ich bin auch allein, aber wenn wir beide zusammen allein sind, sind wir nicht mehr allein, sondern zusammen, oder?“ Schniefend wischte der Junge sich die Tränen weg und blinzelte sein Gegenüber fragend an. „Ich will sagen, dass wir uns zusammentun“, übersetzte Wilde. „Ah, oh!“ Auf den wunderschönen Lippen des Jungen bildete sich ein zartes Lächeln und Wilde musste vor Verzückung schlucken. „Wirklich? Das wäre … das wäre großartig.“ Er ergriff die ihm entgegengestreckte Hand und wurde von ihr vom Boden hochgezogen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die beiden jungen Männer. „Mein Name ist Dorian. Dorian Gray.“   Für zwei Personen reichte das Geld natürlich nur halb so lange, weswegen sie sich zügig etwas hatten einfallen lassen müssen. Dorian war schüchtern und ängstlich und machte praktisch keinen Schritt mehr ohne Wilde an seiner Seite. Es war dem Braunschopf schnell klar geworden, dass Dorian ohne ihn keinen weiteren Tag auf der Straße überlebt hätte. Im schlimmsten Fall wäre er möglicherweise sogar einer der herumziehenden Menschenhändlerbanden ins Netz gegangen. Hier und da hörte man die Geschichten von verschwundenen Kindern, die als unbezahlte Arbeiter in Fabriken und auf Felder verschickt wurden oder für andere Dienste verwendet wurden, über die man in der strengen Öffentlichkeit nicht laut sprach. Ein Gefühl von blanker Panik überkam ihn regelmäßig, wenn er daran dachte, dass seinem zarten, liebreizenden Dorian so ein grausames Schicksal hätte blühen können. Sie beide waren nicht dafür gemacht, Raubüberfälle oder Einbrüche zu versuchen, doch glücklicherweise wusste Wilde um sein Talent, andere um den Finger zu wickeln. Es hatte schon in der Schule bestens funktioniert und so hielten die zwei sich mit kleinen Trickbetrügereien über Wasser. Es half sehr, dass Dorian das Gesicht eines Engels hatte. In den meisten Fällen sprachen sie unter irgendeinem Vorwand ältere Damen auf der Straße an und während Dorian nichts tun musste, außer bezaubernd dreinzublicken, leierte Wilde ihren Opfern geschickt etwas Geld aus der Tasche. Manchmal sogar Schmuck, den sie auf dem Schwarzmarkt verticken konnten („Oh, sieh doch nur, die gleiche Kette, die deine geliebte Mutter früher trug!“ An dieser Stelle musste Dorian nur noch ergriffen weinen und zack! hatten sie eine Halskette gewonnen). Es war gewiss kein gutes Leben, bei dem sie von der Hand in den Mund lebten und ständig von einem abrissreifen Haus zum nächsten zogen und Angst vor besonders kalten Nächten haben mussten, doch keiner der beiden beschwerte sich sonderlich. „Du tust so viel für mich“, sagte Dorian eines Tages bekümmert, „und es gibt so wenig, das ich tun kann. Ich wünschte, ich könnte so viel mehr tun.“ Erstaunt blickte Wilde ihn an und schüttelte dann lächelnd den Kopf. „Dorian, du tust so viel mehr für mich, als du dir vorstellen kannst.“ „Wirklich?“ Es war so herzallerliebst, wie ahnungslos er sein konnte. „Aber ja. Du bringst Sinn in eine sinnlose Welt. Das ist das Größte, was jemand tun kann.“ Dorian war stets am schönsten, wenn er über das ganze Gesicht strahlte. „Und das tue ich?“ Wilde nickte, nahm die Hände des Anderen in seine eigenen und küsste seine scharlachroten Lippen. Es war kein schlechtes Leben, das die beiden hatten.   Es schüttete aus Eimern, als die Polizei in dieser Nacht gewaltsam die Straßenkinder aus dem leerstehenden Haus räumte. Das Problem mit den Waisenkindern hatte überhand genommen und weder die Bevölkerung noch die Polizei zeigten mehr jegliches Mitgefühl. Wilde und Dorian waren aus einem der Fenster getürmt, als sie die ersten Schüsse und die Schreie der anderen Kinder hörten. Dorian erstarrte vor Angst und Wilde musste ihn anschreien, damit er sich überhaupt wieder bewegte. Sie mussten hier weg, sie mussten hier schnell weg. Das waren keine einfachen Polizisten mehr, es schien vielmehr so, als hätten böse Geister Besitz von den Menschen ergriffen. Einer der Polizisten hatte ihre Verfolgung aufgenommen und gab im Laufen mehrere Schüsse auf sie ab. Wilde hatte sich Dorian gegriffen und wollte mit ihm in die Liffey springen, um sich vor dem Verfolger zu retten, auch wenn der Fluss durch das schlechte Wetter viel Wasser führte und die Strömung stark war. Sie hatten die Wahl, so eventuell zu entkommen oder mit Gewissheit hier erschossen zu werden. Als sie sprangen, schrie Dorian vor Schmerzen auf und Wildes Herz blieb beinahe stehen. Während die Strömung sie davontrieb, umklammerte er mit der linken Hand Dorian und versuchte, mit der rechten nach etwas zu greifen, um sie wieder aus dem Fluss zu ziehen. Er dankte Gott in dem Moment, als er trotz aller Widrigkeiten dieses Wunder vollbrachte. Vor Angst und Kälte zitternd, retteten sie sich an ein Ufer. Unter dem schwachen Licht einer Straßenlaterne erkannte Wilde den Grund für Dorians Schrei. Eine Kugel hatte ihn in den Oberschenkel getroffen. Es war ein glatter Durchschuss, aber dennoch blutete die Wunde heftig und der goldblonde Junge konnte vor Schmerzen kaum atmen. Panisch starrte Wilde abwechselnd auf das Blut und das schmerzverzerrte Gesicht seines Freundes. Er durfte Dorian nicht verlieren. Unter gar keinen Umständen durfte er Dorian verlieren. Was sollte er tun? Was konnte er überhaupt tun? Er musste ihn retten! Vor Angst und Verzweiflung sammelten sich Tränen in seinen Augen. Hilflos drückte er seine linke Hand auf die Wunde am Bein und griff mit der rechten nach Dorians Hand. Er stockte perplex, als er dabei plötzlich einen starken, stechenden und pochenden Schmerz in seiner rechten Hand spürte. Verdattert schaute er auf diese Hand. Sie war blutüberströmt und einige der Finger waren abgeknickt, so als wären sie gebrochen. Er hatte sie aus dem Fluss ziehen können, weil er mit dieser Hand gegen ein scharfkantiges Metallrohr gedonnert war. Dabei musste er sich so verletzt haben. Aus Furcht um Dorian hatte er dies bis jetzt nicht einmal bemerkt. Ein warmes Gefühl durchflutete ihn auf einmal. Als käme ein Licht aus seinem Innern. Wildes Atem ging schnell, als Dorian sich plötzlich aufsetzte. „Es … es tut gar nicht mehr weh.“ Die Welt nicht mehr verstehend, blickte der Dunkelhaarige auf die Verletzung seines Freundes. Sie war verschwunden. Was in aller Welt war das gewesen?   Befähigte. So nannte man Menschen, die über übernatürliche Fähigkeiten verfügten. Wilde hatte schon mehrmals davon gehört, aber er hatte noch nie zuvor einen solchen Menschen getroffen und es daher für ein Ammenmärchen gehalten. Allerdings - war er wohl ein Befähigter. Sie hatten es mehrmals mit kleineren, harmlosen Verletzungen versucht und tatsächlich: Jedes Mal, wenn Dorian sich an einem Papier schnitt, Wilde daraufhin das Gleiche tat und ihn berührte, verschwand Dorians Wunde. Eine unverhoffte Einnahmequelle hatte sich vor ihnen aufgetan. Außerhalb der Stadt, wo es keine Ärzte gab, heilte Wilde geringfügige Verletzungen und kassierte dafür Geld oder Naturalien. Doch mit jedem Tag, an dem der Brünette sich selbst Verletzungen zufügte, wuchs Dorians Unzufriedenheit. Derjenige, den er so sehr liebte und bewunderte, musste solche Pein erleiden, um sie beide durchzubringen. Er kam sich schrecklich nutzlos vor. „Geht es dir nicht gut?“, fragte Wilde besorgt, während sie außerhalb eines Dorfes am Wegesrand saßen und Dorian mit verkniffener Miene einen Verband um eine größere Wunde des Anderen wickelte. Größere Verletzungen seitens der Patienten erforderten größere Verletzungen seitens Wilde. Und trotzdem fragte der blasse, sichtlich erschöpfte Dunkelhaarige ihn, ob es ihm gut ginge. Mit aller Kraft hielt Dorian ein paar Tränen zurück und schüttelte den Kopf. Wie nutzlos konnte ein Mensch sein? „Danke, dass du das machst.“ Wilde schien offensichtlich seine Gedanken lesen zu können und bot ihm Worte der Aufmunterung an. „Ich mache doch gar nichts“, entgegnete Dorian bitter. „Das sehe ich anders. Ich weiß, dass dir der Anblick von Blut zuwider ist.“ Entgegen seines Willens fielen Tränen aus den Augen des goldblonden Jungen. „Sind … sind die Schmerzen auszuhalten?“ Er zuckte zusammen, als Wilde ihm die Tränen aus dem Gesicht wischte. „Solange du bei mir bist, ja.“ Er lächelte und Dorian erwiderte das Lächeln schwach. Schritte ließen sie plötzlich aufhorchen. Zwei Männer kamen den Weg, der aus dem Dorf führte, entlang. Sie trugen keine Uniformen, was die beiden Jungs enorm beruhigte, doch sie sahen auch nicht so aus, als kämen sie aus dieser Gegend. Einer von ihnen, er hatte aschblonde, streng gescheitelte Haare, machte eine ziemlich finstere Miene; der andere - er hatte pechschwarze, filigrane Haare und trug eine Brille - machte ein freundlicheres Gesicht. Sie mussten beide etwa zehn Jahre älter als sie selbst sein. Die Fremden blieben vor ihnen stehen und Dorian ergriff ängstlich eine Hand seines Freundes. „Guten Tag“, grüßte der Mann mit der Brille herzlich, „dürften wir die zwei jungen Herren etwas fragen?“ „Ich sehe keinen Grund, warum das verboten sein sollte“, erwiderte Wilde schlagfertig und brachte damit sein Gegenüber zum Schmunzeln. „Wir haben nun schon mehrmals gehört, dass es hier in der Gegend jemanden mit der Fähigkeit zum Heilen geben soll. Wisst ihr zufällig etwas darüber?“ Wilde spürte, wie Dorian seine Hand fester drückte. Er drückte sanft zurück, um ihn zu beruhigen. „Hmm, ob wir etwas über einen Heiler wissen?“, antwortete er nonchalant. „Das kommt auf zwei Dinge an.“ „So?“ Der bebrillte Fremde blinzelte überrascht. „Und die wären?“ „Erstens, warum Sie das wissen wollen, Herr Engländer.“ Der Mann wich peinlich berührt einen Schritt zurück. „Oh? Hört man das?“ „Ja“, meldete der andere Mann sich aus dem Hintergrund zu Wort. „Selbstverständlich. Warum glaubst du, haben die Leute in den Dörfern dir so böse Blicke zugeworfen?“ „Oh.“ Der dunkelhaarige Mann kratzte sich verlegen am Kopf. „Herrje. Ich gehöre nicht zur Regierung oder so. Eigentlich bin ich sogar fahnenflüchtig, wenn man es genau nimmt. Also, ich bin … uhm, in friedlicher Mission unterwegs …?“ „Du meine Güte“, stöhnte der blonde Mann und fasste sich an den Kopf. „Lerne endlich einmal, dich vernünftig auszudrücken.“ „Wie dem auch sei“, fuhr er fort, während die Jungen die Fremden mit immer skeptischerer Miene musterten, „mein Name ist Basil Hallward, ich bin Entwickler von Fähigkeiten-Waffen. Wobei Waffe in meinem Fall das falsche Wort ist. Es geht um eine Vorrichtung, die Menschenleben retten soll. Es ist sehr wichtig, dass ich diesen Befähigten finde, denn er könnte mir dabei helfen.“ Die zwei Jungs tauschten einen verunsicherten Blick aus. „Soweit ich das gehört habe, gibt es in England auch Befähigte, oder?“, gab Wilde zurück. „Warum suchen Sie dann hier nach so jemandem?“ „Das ist leicht zu erklären“, antwortete Hallward. „Heilfähigkeiten sind sehr selten. Wir sind wegen einer anderen Sache hier und haben zufällig davon gehört, also ergreifen wir die Gelegenheit beim Schopfe.“ „Sie sind selten?“, fragte der brünette Junge verblüfft nach. „Sehr selten.“ „Gut, das bringt uns zu zweitens“, sagte Wilde, nachdem er sichtlich nachdenklich geworden war. Gespannt sahen Hallward und er sich an. „Was springt für den Befähigten dabei heraus, wenn er Ihnen hilft?“ Der Engländer machte eine lange Pause, ehe er antwortete. „Leider könnte ich nicht mehr als Kost und Logis anbieten.“ „In England?“ „Genau dort.“ „Sie sind auf der Flucht vor dem Militär?“ „So ist es.“ „Wieso?“ „Das ist eine lange Geschichte.“ Wilde fühlte, wie kalt Dorians Hand inzwischen vor Angst geworden war. Auch seine tiefblauen Augen verrieten, wie sehr ihn die Situation einschüchterte. Dennoch - So konnten sie nicht ewig weitermachen. Und ihre Mittel würden nie reichen, um das Land zu verlassen. Es war riskant, aber … „Ich bin derjenige, den Sie suchen. Und ich gehe nirgends ohne Dorian hin.“   Nachdem Wilde die beiden Fremden damit kalt erwischt hatte und Hallward Shaw – nach einigem Meckern seitens des Blonden darüber, dass sie nun diese zwei Kinder mitnehmen mussten – überredet hatte, auch Pässe für die beiden zu fälschen, setzten die beiden Jungen mit ihren neuen Bekanntschaften nach England über. Shaw und Hallward hatten sich in ihrer Zeit beim britischen Militär kennengelernt. Beide waren dort als Zivilisten angestellt gewesen. Ersterer als Mitarbeiter der Chiffrierungsabteilung, Letzterer als Entwickler für Fähigkeiten-Waffen. Als der Krieg jedoch immer größere und verheerendere Ausmaße anzunehmen begann, hatte Shaw alles daran gesetzt, gefeuert zu werden (seine nicht gerade umgängliche Art war ihm da sehr gelegen gekommen) und Hallward hatte sich seine Erfindung gepackt und sich mit ihr auf und davon gemacht. Ein Dritter im Bunde hatte ihm dazu geraten. Dieser war Berater des Militärs gewesen und hatte mit Hallward zusammen die Flucht angetreten. Trotzdem konnte Wilde Henry Wotton schon bei ihrer ersten Begegnung nicht ausstehen. Er konnte es sich nicht erklären, aber allein die Art, wie Wotton sie damals in ihrem Versteck begrüßte, hatte in ihm einen unheilvollen Schauder ausgelöst. „Endlich seid ihr zurück. Ich wäre hier vor Langeweile ja beinahe gestorben!“ Es war ihm ebenso unerklärlich wie dieser Typ zu den beiden anderen und ihrem erklärten Ziel passte. Hallward und Shaw waren überzeugte Kriegsgegner und arbeiteten daran, einen Weg zu finden, den Krieg zu beenden. Doch Wotton ließ diese Überzeugung vermissen; so wie er auch jegliche Moralvorstellungen vermissen ließ. Aber er machte mit den beiden anderen gemeinsame Sache und Hallward vertraute ihm, also beschloss Wilde, dies auch zu tun. Besonders, nachdem er eines Tages von Basil hörte, wie sie an diesen Punkt gelangt waren. „Nein, das war es auch nicht. Vielleicht wenn wir noch einmal etwas an der Konfiguration ändern …?“ Gedankenversunken murmelte der Erfinder etwas vor sich hin, während er konzentriert an seiner Schöpfung herumschraubte. Wilde saß daneben und sah ihm interessiert zu. Seine Aufgabe bestand darin, seine Fähigkeit auf den Apparat anzuwenden, wenn Basil es ihm sagte. Das war in der Theorie ein leichter Job, aber er war entsetzlich frustrierend. Denn egal, wie oft sie an diesem Ding herumwerkelten, Basil war nie zufrieden mit dem Ergebnis. „Woher willst du wissen, dass sie nicht funktioniert?“, fragte der Jüngere. „Ich weiß, dass sie funktioniert, aber sie funktioniert falsch.“ „Häh?“ Seufzend blickte Basil von dem Apparat auf. „Meine Fähigkeit erlaubt mir, Teile meiner Lebenskraft an andere abzugeben. Auf dieser Grundlage wollte ich ein Gerät entwickeln, dass Menschen, die im Kampf verwundet wurden, schnell und einfach heilt.“ Seine Miene wurde schrecklich schwermütig und Wilde tat es sofort leid, überhaupt nachgefragt zu haben. Basil war eigentlich ein recht hübscher Kerl, doch er wirkte oft bekümmert und hatte tiefe Sorgenfalten im Gesicht. „Bisher wurde dieses Gerät einmal an einem Menschen getestet“, erzählte der Schwarzhaarige weiter. „An einem hohen Offizier, der auf dem Kontinent schwer verletzt worden war. Wir hatten nur durch einen grausamen Zufall herausgefunden, wie die Fähigkeiten-Waffe funktioniert und was sie … dafür einfordert. Mein Assistent verlor dabei sein Leben. Doch der Offizier wurde tatsächlich wiederhergestellt.“ Basils Finger strichen über seine Erfindung und er schluckte schwer. „Aber?“ „Aber … es gab einen Nebeneffekt. Dieser Mann war daraufhin … sozusagen unsterblich.“ Wilde sah ihn entgeistert an. „Unsterblich??“ „Wunden, die man ihm zufügte, verheilten auf der Stelle wieder. Meine Tests damals ergaben, dass dieser Effekt nur temporär gewesen wäre, aber nichtsdestotrotz vielleicht gut zehn Jahre angehalten hätte.“ „Lass mich raten“, der Junge seufzte angesichts der betroffenen Miene des Anderen, „dieser hohe Offizier war nicht gerade ein Engel, richtig?“ Basil schüttelte den Kopf. „Er war ein grässlicher Kriegstreiber. Er beging Gräueltaten, die ich dir nicht zumuten möchte. Und ich hatte dieses Monster unsterblich gemacht.“ „Warte mal ...“ Wilde fiel etwas auf. „Er war? Der Effekt hätte zehn Jahre angehalten?“ „Ich wandte mich damals an Henry, um ihn zu fragen, was ich tun soll.“ Basil schaute zur Zimmerdecke empor. „Henry riet mir, die Fähigkeiten-Waffe zu nehmen und damit zu türmen, bevor die Regierung oder der Rest des Militärs davon erfuhr und eine Armee von Unsterblichen erschaffen würde. Er half mir dabei und kam sogar mit. Und der Offizier, dem Kugeln und Klingen nichts anhaben konnten, starb ganz plötzlich an einer Vergiftung.“ Er senkte seinen Blick wieder hinab und sah den erschütterten Jungen neben sich an, der verstand, was der Ältere nur angedeutet hatte und nicht aussprechen wollte. „Das Gerät benötigt eine Heilfähigkeit, um überhaupt aktiviert zu werden. Vielleicht schaffen wir es, dass deine Fähigkeit den furchtbaren Effekt überschreibt, den meine Fähigkeit verursacht.“ „Und wenn nicht?“ „Dann müssen wir den Krieg so bald wie möglich beenden.“   Die Zeit verging, ohne dass sie Fortschritte mit der Fähigkeiten-Waffe machten. Nach einem weiteren, gescheiterten Versuch beschloss Basil, eine Pause zu machen und nahm die beiden, den Großteil der Zeit drinnen ausharrenden Jungen mit in die Stadt, um ein wenig Zerstreuung zu finden. Shaw war der bloße Gedanke an Zerstreuung zuwider, weswegen er es ablehnte mitzukommen. Henry argumentierte, dass es keine Zerstreuung wäre, wenn weder Drogen, noch Alkohol, noch Sex im Spiel wären. So landeten die verbliebenen drei in einem kleinen, leicht gammeligen Hinterhoftheater, das Dorians Neugier geweckt hatte. Nie im Leben hätten sie beim Anblick der schief zusammengenagelten Bühne mit dem Rausch gerechnet, den sie dort erlebt hatten. Die Hauptdarstellerin des Stücks, ein wunderschönes junges Mädchen namens Sibyl, spielte ihre älteren Kollegen mit Leichtigkeit an die Wand. Sie eine Offenbarung zu nennen, wäre eine Untertreibung gewesen. Es war, als spielte sie nicht nur eine Rolle, sondern als wurde sie zu dieser Rolle, mit allem Schmerz und aller Freude, die zu diesem fiktiven Menschen dazugehörte. Für die Dauer eines Abends ließ sie die drei vergessen, in welcher elenden Situation sie sich eigentlich befanden. Dorian, der zuvor noch nie ein Theater besucht hatte, war so überwältigt, dass er die beiden anderen darum bat, die junge Frau nach dem Auftritt abzupassen, um ihr für die atemberaubende Vorführung zu danken. Sie willigten ein und taten es dem euphorischen Jungen gleich. Die bescheidene Mimin winkte überrascht ab und errötete sogar. So viel Begeisterung war ihr eindeutig noch nie zuvor entgegengebracht worden. „Ich spiele doch nur“, sagte sie verlegen. „Nur?“, entgegnete Wilde empört. „Was heißt hier 'nur'? Was kann es Schöneres geben als die Kunst?“ Sibyl sah ihn und die zwei anderen mit ihren großen, unschuldigen und entsetzlich traurigen Augen an. „Frieden“, antwortete sie letztlich und machte den damals schon nie um einen Kommentar verlegenen Wilde für einen Moment sprachlos. Ungewohnt ernst holte er tief Luft und ballte seine Hände zu Fäusten. „Ich verstehe. Aber wenn endlich Frieden herrscht, wirst du verstehen, dass ich von Anfang an Recht hatte.“ Bevor sie sich voneinander verabschiedeten, ließ Basil sich von ihr eine Kontaktadresse geben, weil Wilde darauf bestand, dass sie auf dieses Gespräch zurückkommen sollten, sobald der Krieg beendet war. Auf dem Heimweg trat eine bedächtige Stille zwischen die drei jungen Männer. „Basil“, ergriff Wilde schließlich das Wort und der Älteste der Gruppe drehte sich angesichts der ernsten Tonlage des Jungen erstaunt zu ihm um. „Ich will euch helfen, den Krieg zu beenden. Bitte sag mir, was ich tun kann.“ Rückblickend betrachtet, machte Wilde diesen Augenblick, diese Entscheidung als den Anfang der Entzweiung von Dorian aus. Noch Jahre später erinnerte er sich, wie der goldblonde Junge seine Hand umklammert und ihn verängstigt angesehen hatte.   Ohne Shaw und Henry zu erzählen, was an diesem Abend vorgefallen war und wem sie begegnet waren, eröffnete Basil ihnen, dass die beiden Jungen von nun an auch an den anderen Aktivitäten ihrer Gruppe teilnahmen. Bisher hatten sie vor allem Informationen über die Einheiten, Ausrüstungen und Strategien aller beteiligten Nationen gesammelt und Überlegungen angestellt, wie sie diese am besten nutzen konnten. Basils Grundgedanke, der hinter allem stand, war einfach: Wenn alle Seiten zum Aufgeben gezwungen würden, würde es keine Sieger und keine Verlierer geben. Der Krieg würde beendet, ohne gewonnen oder verloren zu werden. Wilde war begeistert von dieser Idee. Wenn alle Seiten gleichzeitig aufgaben, hätten sie eine Gemeinsamkeit, auf deren Grundlage sie vernünftige Lösungen finden konnten. Und dann konnten die Menschen sich endlich wieder den wirklich wichtigen Dingen widmen. Es war ein gefährlicher Balanceakt, den sie vorhatten. Sie mussten immer im Blick behalten, welche Armee Niederlagen oder Erfolge erzielte, wie die Lage in allen Nationen war und was sie mit ihren Mitteln bewerkstelligen konnten. Wenn sie einen Fehler machten, konnte das Gleichgewicht zu sehr kippen oder der Krieg noch mehr in die Länge gezogen werden. Es war am leichtesten in England anzufangen. Die britische Armee war auf dem Festland weit vorgerückt, was Frankreich in Bedrängnis brachte. Mit gefälschten Pässen und Befehlen schmuggelten Shaw und Henry sich ins Kriegsministerium und sabotierten die Pläne für das weitere Vorgehen, während Basil Deutschland Informationen zur britischen Strategie zuspielte, sodass die Streitkräfte dieser beiden Länder aufeinandertrafen und Frankreich somit vorerst von keiner Seite eingenommen werden konnte. Die Regierungen sollten mürbe gemacht werden, die Soldaten gegen den Krieg aufgebracht werden. Sie alle sollten durch das entstandene Chaos das Vertrauen in das verlieren, was sie taten. Mit Vorbehalt und Vorsicht banden sie die beiden Jungen in diese riskante Unternehmungen mit ein. Die zwei agierten immer mit einem der Erwachsenen zusammen, auch weil diese Sorge hatten, dass die Nerven der Jugendlichen dem außerordentlichen Stress und Druck der Missionen eventuell doch nicht standhielten. Basil und Shaw waren beeindruckt, wie Wilde die schwierigen Aufgaben löste (und ja, wieder half es ihm, dass er Leute um den Finger wickeln konnte), während Dorian zunehmend zum nervösen Wrack wurde. Seine Angst war ein zu hohes Risiko, weswegen die Erwachsenen beschlossen, dass er keine Missionen mehr antreten sollte. Der Junge entschuldigte sich unter Tränen für seine Nutzlosigkeit und obwohl Wilde ihm versicherte, ganz bestimmt nicht nutzlos zu sein, drangen seine Worte nicht zu ihm durch. Ein kaltes Gefühl ergriff Besitz von seinem Herzen, als er realisierte, dass Henrys Worte ganz und gar zu seinem Freund durchdrangen. „Mach dir nichts draus“, sagte der Mann mit einem ominösen Lächeln im Gesicht zu Dorian, „es gibt Menschen, die großartige Talente besitzen. Und es gibt Menschen, die wenigstens hübsch anzusehen sind. Es ist gut zu wissen, zu welcher Gruppe man gehört.“ Wilde konnte nicht anders, als bei diesen Worten an das Zischen einer Schlange zu denken.   Die Monate zogen ins Land und Dorian sich mehr und mehr zurück. Wenn sie von einer Mission auf dem Festland wiederkamen, empfing der Junge, der zuhause bleiben musste, sie mit von Mal zu Mal verzweifelterer Miene und dem Satz „Ich hatte schreckliche Angst, ihr würdet nicht zurückkehren.“ Es war auch Dorians Angst, die zur Zerlegung von Basils Erfindung führte. Dorian hatte höllische Panik davor, dass jemand ihren Unterschlupf und damit auch den dort versteckten Apparat finden könnte. Wenn die Fähigkeiten-Waffe einer Nation in die Hände fiel, wären all ihre Bemühungen umsonst gewesen. Mit Blick auf den fast wahnhaft wirkenden Jungen beschloss Basil schweren Herzens, sein Lebenswerk zu zerstören. Sichtlich entsetzt ging Henry dazwischen und überredete ihn, das Gerät nur zu zerlegen, nicht zu zerstören. Im Notfall, so argumentierte er, wären sie auf diese Weise immer noch in der Lage, die Waffe zu reaktivieren. „Du weißt, dass ich nichts an ihren schlechten Eigenschaften ändern konnte“, entgegnete Basil zerknirscht. „Sie verlangt nach wie vor Unmenschliches, um Unmenschliches zu erschaffen.“ „Bitte“, bat Henry mit der gleichen einlullenden Art, die Wilde auch schon bei ihm beobachtet hatte, wenn er mit Dorian sprach, „ich glaube fest daran, dass sie irgendwann Großartiges leisten wird.“ Basil kam seinem Flehen nach – und Henry säuselte ab da noch öfter als zuvor Dinge in Dorians Ohren. Wilde konnte nicht leugnen, dass er rasend eifersüchtig war, denn Dorian sog alles, was Henry sagte, wie ein Schwamm auf. Doch zudem war er beunruhigt, wie der ihm wichtigste Mensch auf Erden sich nach und nach veränderte. „Wir sollten gehen“, eröffnete Dorian ihm eines Tages aus dem Blauen heraus, als sie unter sich waren. „Wir haben die gefälschten Pässe, wir können überall hin.“ Kopfschüttelnd musterte Wilde ihn daraufhin kritisch. „Was redest du da? Wir können nicht weg. Wir haben eine Aufgabe.“ Er stutzte, als er bei dem Anderen einen Gesichtsausdruck bemerkte, den er dort noch nie zuvor gesehen hatte. Zorn verunstaltete Dorians außergewöhnlich schöne Züge. „DU hast eine Aufgabe! Ich sitze hier nur herum! Und überhaupt, warum soll das unsere Aufgabe sein? Was haben wir mit dem Krieg zu tun?“ „Was wir mit …?!“ Wilde konnte nicht glauben, was er da hörte. „Was ist mit unseren Eltern, mit unseren Freunden, unserem Land, der ganzen verdammten Welt? Wir müssen für sie den Krieg beenden.“ „Ich habe keinen Krieg angefangen, also muss ich auch keinen beenden“, erwiderte der goldblonde junge Mann ungewohnt ungerührt. „Warum riskierst du dafür dein Leben? Die anderen werden uns eh verraten und fallen lassen, sobald sie uns nicht mehr brauchen.“ Er schmiegte sich näher an seinen dunkelhaarigen Freund an. „Es reicht doch, wenn wir einander haben.“ Fassungslos rückte Wilde von ihm weg. „Ich habe das Gefühl, ich rede nicht mit dir, sondern mit Henry.“ „Henry ist wenigstens ehrlich.“ „Du verbringst zu viel Zeit mit ihm.“ „Und wessen Schuld ist das?“ Wilde spürte nun auch in sich selbst Zorn aufsteigen. Er wollte nicht mit Dorian streiten, auf keinen Fall mit ihm, aber alles an diesem Vorwurf machte ihn wütend. Basil rief nach ihm, weil er ihn brauchte und so blieb die Unterstellung wie ein mahnendes Schwert über ihnen hängen. Als Henry begann, nicht nur seine fragwürdigen Gedanken, sondern auch seine vielfältige Auswahl an illegalen Substanzen mit Dorian zu teilen, platzte Wilde der Kragen. Die Spannungen in der Gruppe wurden beinahe unerträglich und doch ließ sich nichts daran ändern. „Henry ist schwierig, das kann man nicht beschönigen“, erklärte Shaw dem aufgebrachten Brünetten ruhig, „aber wir brauchen ihn. Er ist klug, er versteht sein Handwerk. Mir, Basil und dir fehlt es an Heimtücke. Henry hat davon mehr als genug und wir brauchen alles davon für unseren Erfolg.“ Wilde hasste den Umstand, dass Shaw damit Recht hatte und dass er sich trotzdem wünschte, Henry würde von der Bildfläche verschwinden. Daher traf es ihn auch so hart, als Henry dies tatsächlich tat. Der verhasste Kamerad hatte in Frankreich eine Waffenfabrik bespitzeln sollen und war längst überfällig. So ekelhaft er auch war, unpünktlich war er nie. Eines unglücklichen Tages rauschte Shaw aufgewühlt in ihr Versteck und offenbarte ihnen, was er in Erfahrung gebracht hatte. Auch der Anblick von Basil, wie er bei dieser Nachricht schockiert zusammenbrach, hatte sich auf ewig in das Gedächtnis Wildes eingebrannt. Die Waffenfabrik war aus unbekannten Gründen in die Luft geflogen. So groß ihre Trauer und ihr Entsetzen auch war, sie konnten die Steine, die sie ins Rollen gebracht hatten, nicht mehr anhalten. Sie mussten weitermachen, sie mussten sich an den Plan halten, um das übergeordnete Ziel zu erreichen. Der Faktor, der ihnen zusätzlich ihr Unterfangen erschwerte, war die vierte Nation. Mit ihren Tricksereien konnten sie sich relativ leicht zwischen den europäischen Ländern hin und her bewegen, doch es war ihnen fast unmöglich, nach Japan zu gelangen. Sie mussten die Operationen dort allerdings unbedingt durchführen, um ihren Plan umzusetzen. Es würde alles nicht aufgehen, wenn sie die vierte Nation außen vor ließen. „Um am unauffälligsten agieren zu können“, äußerte Basil, den gedankenschweren Blick auf Wilde gerichtet, „wäre es am besten, wenn du nach Yokohama-“ „NEIN!“, schrie Dorian panisch dazwischen und klammerte sich an seinen Gefährten. „Nein, bitte nicht, bitte nicht! Was ist, wenn du auch stirbst?? Das würde ich nicht ertragen!“ Er brach in lautstarke, herzzerreißende Tränen aus. Hilflos sah Wilde von ihm zu den beiden anderen. Ich kann ihn nicht alleine lassen, war der unausgesprochene Satz, der in der Luft hing. „Dann werde ich gehen.“ Es war das letzte Mal, dass sie etwas von Shaw hörten. Als Basil einige Zeit später die Meldung abfing, dass ein irischer Spion in Yokohama gefangen genommen wurde, stand er hektisch von seinem Platz auf, schmiss den beiden Jüngeren die gefälschten Pässe und Bargeld zu und schnappte sich die Tasche mit der zerlegten Fähigkeiten-Waffe. „Lauft“, sagte er ihnen mit zitternder Stimme. „Es ist vorbei. George wird uns nicht verraten wollen, aber bevor das Gleiche mit euch passiert … lauft.“ „Was-was wird aus dir?“, fragte Wilde stimmlos. „Wir werden uns wahrscheinlich nicht mehr wiedersehen.“ Basil kämpfte merklich gegen die Tränen in seinen Augen an. „Es tut mir leid. Es tut mir alles so schrecklich leid. Ich hätte euch niemals ….“ Er schluckte. „Ich werde die einzelnen Teile an verschiedene Personen schicken, damit sie nicht bei mir gefunden werden. Dieses Ding, das uns nur Unheil gebracht hat, soll nie wieder zusammengesetzt werden.“ Er umarmte die Jüngeren ein letztes Mal, ehe ihre Wege sich für immer trennten.   Wilde und Dorian schlugen sich bis nach Paris durch. Unterwegs schnappten sie auf, dass alle vier am Krieg beteiligten Nationen nach einer Gruppe von Verbrechern suchte, die in jedem Land Spionage und Sabotageakte durchgeführt hatte. Die Streitkräfte allerorten waren von den ersten Informationen, die sie gewonnen hatten, sehr verwirrt. Diese Gruppe konnte keiner Nation zugeordnet werden; waren sie vielleicht von einem fünften Land engagiert worden? Waren es Terroristen? Wilde ertrug es nicht, irgendetwas von diesem Gerede zu hören. Denn erst jetzt, nach all der Zeit mit Basil, Shaw und Henry, begann die Erkenntnis einzusinken, was sie getan hatten. Es musste den drei Älteren klar gewesen sein, dass ihr Plan genauso funktionierte wie die verfluchte Fähigkeiten-Waffe. Sie opferten Menschenleben, um andere Menschen zu retten. Jeder sabotierte Feldzug, jede Falschinformation, jede Weitergabe von Informationen hatte auf den Schlachtfeldern Tote nach sich gezogen. Sie hatten es alle die ganze Zeit nicht wahrhaben wollen, was sie taten und was sie waren. Es war eine Erkenntnis, die entsetzlich schmerzte. Er wollte weinen, doch er konnte es nicht. Er war die letzte Barriere, die hier in den Straßen von Paris zwischen Dorian und einem näher und näher rückenden Abgrund stand. Auf ihrer Flucht war der einstmals so hübsche junge Mann immer lethargischer geworden. Er sprach kaum noch ein Wort und wenn dann nur, weil er eine Panikattacke bekam. Nun abgeschnitten von Henrys Drogenvorrat, kam zu Dorians wachsender Paranoia noch ein drastischer Entzug hinzu. Dorian flehte ihn an, ihm zu helfen und Wilde ging in seinem Kopf alle Möglichkeiten durch, die er hatte, um die Sucht seines geliebten Freundes zu finanzieren. Aber jede illegale Tätigkeit barg das Risiko, dass er von der Polizei geschnappt wurde – und er konnte Dorian nicht alleine lassen. „Du hättest mich sterben lassen sollen, als die Kugel mich erwischt hatte“, murmelte Dorian vorwurfsvoll in die kalte Nachtluft hinein, während sie unter einer Brücke Schutz vor dem Regen suchten. „Das wäre humaner gewesen als diese Quälerei.“ „Sag so etwas nicht. Es ist in vielerlei Hinsicht grausam, so etwas zu sagen.“ Mittlerweile war er die Anschuldigungen des Anderen schon fast gewohnt. Was nicht hieß, dass sie ihn nicht trafen. „Es ist grausam, so ein grässlicher Gutmensch zu sein, wie du es einer bist. Wären dir andere doch nur egal, dann hätten wir unseren Frieden gehabt. Aber du musstest dich diesem lächerlichen Erfinder an den Hals werfen, um die Welt zu retten. Ich sage dir, was du gerettet hast: Absolut nichts. Wahrscheinlich hast du es nur schlimmer gemacht.“ „Sei still!“, fuhr Wilde ihn an, obwohl er sich geschworen hatte, niemals Dorian anzuschreien, egal, wie schlimm es mit ihm werden würde. „Halt den Mund! Nichts davon ist wahr! Du hast Unrecht!“ Er bereute seinen Ausbruch umgehend. Dorian starrte ihn erschrocken an, während seine einst tiefblauen, nun glasigen Augen sich mit Tränen füllten. „Du bereust es nicht?“, fragte er mit brüchiger Stimme. „Ich bereue nicht, dass wir es versucht haben“, antwortete Wilde ruhiger und packte ihn sanft an den Schultern. Doch Dorian wich vor seiner Berührung zurück. „Das heißt ...“ Die eigentlich so zarte Stimme des Hellhaarigen bebte. „Das heißt, du würdest es wieder tun, nicht wahr? Genau das heißt es doch, oder? Du würdest dich wieder irgendwelchen Weltverbesserern anschließen und mich wieder zurücklassen. Du würdest mich wieder allein und voller Angst zurücklassen.“ Wilde blickte erschüttert auf die elendig aussehende Gestalt an seiner Seite. Wie betäubt schüttelte er den Kopf. „Nein, nein, Dorian, das …. Du hast Unrecht, ich würde dich niemals -“ „Genau das hast du getan. Und sieh dir an, wo wir jetzt sind. Sie jagen uns. Wir werden gejagt, als wären wir elende Tiere. Irgendwer wird uns finden. Irgendwann wird irgendwer uns finden und dann werden wir uns wünschen, sie würden uns nur wie Tiere erlegen.“ Er zitterte am ganzen Körper, während er sprach. Sein Blick war schon lange nicht mehr auf seinen geliebten Beschützer gerichtet; er sah durch ihn hindurch und was er dort sah, erschreckte ihn spürbar zu Tode. „Ich werde nicht zulassen, dass dir jemand wehtut“, erklärte Wilde mit einem immer stärker werdenden Gefühl von Horror in seinem Innern. Der Ausdruck in Dorians Gesicht wurde zusehends panischer. „Du tust mir weh! Wenn ich bei dir bleibe, gibt es kein Entkommen. Ich werde auf ewig verfolgt werden. Das ist noch schrecklicher als gefunden zu werden.“ Sein wirrer Blick landete wieder auf dem Brünetten. „Ich muss weg von dir!“ „Dorian, du bist nicht ganz bei dir, du weißt nicht, was du sagst-“ „Ich muss weg von dir!“ Mit diesem Ausruf, der klang wie der Schrei eines Wahnsinnigen, sprang Dorian auf. Wilde wollte ihn festhalten, aber in seinem Anfall mobilisierte Dorian so viel Kraft in seinem kaputten Körper, dass er den Anderen von sich stoßen konnte. Wilde krachte mit dem Hinterkopf gegen den massiven Brückenpfeiler und so war das Letzte, was er erblickte, bevor er das Bewusstsein verlor, wie der Mann, den er über alles geliebt hatte, in die kalte Nacht von Paris verschwand. Wochen und letztlich Monate verbrachte Wilde damit, nach Dorian zu suchen. Er war nirgends zu finden und irgendwann gab er einfach auf. Er gab alles auf. Sein Herz und sein Lebenswille waren gebrochen und er ließ sich am Straßenrand nieder, um auf den Tod zu warten. „Und wessen Schuld ist das?“ Er hatte alles falsch gemacht. Daher war es nur mehr als richtig, dass er jetzt dafür bestraft würde. Sein Körper würde irgendwann vor Hunger und Durst sterben, aber sein Herz war längst vor Einsamkeit gestorben. Der Krieg endete und die Menschen tanzten vor Freude in den Straßen. Es war das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass ein schwaches Lächeln sich auf sein hager gewordenes Gesicht stahl.   „Hey.“ Wilde spürte ein Rütteln an seiner Schulter und machte schwerfällig die Augen auf. Auch wenn er jegliches Zeitgefühl verloren hatte, hatte er festgestellt, dass sein Körper sich Zeit mit dem Sterben ließ. War das seiner Fähigkeit geschuldet? Er seufzte innerlich. Fast alles war seiner Fähigkeit geschuldet. Er blinzelte ein paar Mal, weil die Sonne so grell vom Himmel schien. Vor ihm hockte ein Mann mit kurzen schwarzen Haaren, der trotz der brütenden Hitze einen Tweedanzug trug. „Gut, du lebst noch.“ Wilde erschrak. Der Mann sprach seine Sprache und trug bei so einem Wetter einen Tweedanzug. Das konnte nur ein Brite sein. Seine Eingebung brachte ihm allerdings nichts. Er war zu schwach, um wegzulaufen – oder um überhaupt aufzustehen. „Keine Angst“, sagte der Mann und lächelte sanft. „Ich habe zwar nach dir gesucht, aber nur weil ich deine Hilfe will.“ „Meine … Hilfe?“ Da er seine Stimme seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt hatte, kam seine Frage nur krächzend heraus. Der Mann nickte. „Ich habe Wind von deiner Fähigkeit bekommen und finde, es wäre eine Schande, damit nichts Sinnvolles anzustellen.“ „Ach so.“ Wilde schloss die Augen wieder. „Gehören Sie zum Militär, zur Regierung oder zu irgendetwas anderem Bösen?“ „Huh?“ Er konnte die Verwunderung des Mannes hören. „Oje. Dein Misstrauen ist verständlich. Ich habe einmal für die Regierung gearbeitet, das ist wahr, sonst wüsste ich auch nichts von dir. Aber jetzt arbeite ich nicht mehr für irgendjemanden.“ Der Jüngere öffnete ein Auge und musterte ihn damit argwöhnisch. „Wenn Sie wissen, wer ich bin, dann wissen Sie auch, was ich getan habe.“ „Das tue ich. Du darfst mich ruhig eines Besseren belehren, aber mein Gefühl sagt mir, dass du kein Verbrecher oder Terrorist bist.“ „Ihr Gefühl?“ Der Kerl war ja mal interessant. So viel Selbstsicherheit auf einmal war ihm noch nie begegnet. „Das hat mich bisher noch nie im Stich gelassen. Die Regierung schuldet mir übrigens noch eine Menge. Ich könnte da einen Deal für dich herausschlagen, wenn du mit mir kommst. Es muss sonst auch niemand davon erfahren. Du würdest auch einen netten Kollegen bekommen. Er ist ebenfalls Ire. Na ja, nett ist vielleicht, uhm, er ist ein bisschen … er arbeitet an seinen sozialen Fähigkeiten. Aber er ist sehr fleißig und pflichtbewusst. Ihr würdet euch bestimmt gut ergänzen.“ „Häh?“ Wilde schwirrte der Kopf. Was redete der Mann da alles? Sein Gegenüber lachte und stand auf, sodass die Sonne ihn von hinten anstrahlte. „Das Wichtigste habe ich noch gar nicht erwähnt. Mein Name ist Aldous Huxley. Ich bereite gerade die Gründung einer Organisation vor.“   Huxley erklärte ihm, dass es für diese neue Welt nach dem Krieg eine Anlaufstelle für Menschen brauchte, denen von der Regierung oder der Polizei nicht geholfen wurde. Mit jedem weiteren Detail, das er aus dem Mund des Schwarzhaarigen hörte, spürte Wilde sein Herz schneller schlagen. Bevor er sich versah, ergriff er die ausgestreckte Hand des Älteren und ging mit ihm zurück nach England. Huxley schaffte es tatsächlich im Handumdrehen, dass er Amnestie erhielt und alle zu ihm existierenden Einträge geschwärzt wurden. Es fühlte sich wie ein letzter Verrat an Shaw an, denn Wilde war klar, dass diese Informationen über ihn nur von ihm gekommen sein konnten und er verdrängte die Gedanken daran, was dieser wohl hatte durchmachen müssen, bis er dies alles verraten hatte. Leider hatte Huxley überhaupt nichts über den Verbleib von ihm, Basil oder Dorian herausfinden können. Dafür begrüßte ihn in dem Büro, das Huxley angemietet hatte, ein nervöser, bebrillter Blondschopf mit strengem und kritischem Blick. „Guten Tag, mein Name ist Joyce. Sie dürfen mich 'James' nennen. Hatten Sie längere Zeit keine Gelegenheit zum Frisör zu gehen oder hat Ihre lange Mähne einen anderen Hintergrund?“ Baff starrte Wilde den stramm stehenden Mann vor sich an. Was in aller …? Er wusste bis heute nicht, was damals über ihn gekommen war, aber plötzlich musste er zu Joyce' Irritation von Ohr zu Ohr grinsen. „Freut mich dich kennen zu lernen, Jimmy!“ Wilde konnte sich nicht entsinnen, dass er jemals im Leben so viel Spaß gehabt hatte, wie wenn er seinen hitzköpfigen Kollegen zur Weißglut brachte. Joyce und Huxley waren beide herzensgut und liebenswert und davon überzeugt, dass das, was sie taten, richtig und gut war. Wilde fragte sich oft, ob er es verdient hatte, bei ihnen zu sein. Und gerade weil sie so gute Menschen waren, verwunderte es ihn auch nicht, dass sie nach vielen Jahren zu dritt eines Tages einen verstörten Teenager bei sich aufnahmen, dessen gesamte Familie ermordet worden war. So wie James Matthew Barrie bestürzt und zitternd und schreiend und ohne jeglichen Lebensmut in ihrem Büro saß, erinnerte er Wilde an sich selbst und er wünschte sich, dass er irgendetwas tun könnte, um ihm zu helfen. Er war nicht begeistert davon, dass Huxley den Jungen mit seiner drogenähnlichen Fähigkeit beruhigte, aber sie wussten sich nicht anders zu helfen. Unter keinen Umständen wollten sie den Jungen in einer Einrichtung abgeben, wo er vermutlich einfach weggesperrt worden wäre. Sie hatten einige gute Jahre zusammen verbringen können. Barrie war traumatisiert und es war oft schwierig, doch für Wilde war es, jedes Mal, wenn der Junge auch nur schwach lächelte, so als würde die Sonne in diesem Moment aufgehen. Vielleicht hatten sie sich damals nur eingeredet, die Situation unter Kontrolle zu haben. Denn als alles außer Kontrolle geriet, wurde Wilde von neuem zu einem Getriebenen. Er fühlte sich schuldig, sie nicht aufgehalten zu haben. Er fühlte sich schuldig, dem Jungen keine größere Hilfe gewesen zu sein. Er fühlte sich schuldig, dass er nichts getan hatte, um ihren Tod zu verhindern. Dieses Mal jedoch war er nicht allein und musste nicht alles allein schultern. Joyce blieb an seiner Seite und sie stellten sich dem Problem gemeinsam. Für Joyce war es dann auch selbstverständlich, dass sie nach dem Tod von Huxley und Barrie zusammenblieben. Gegen seinen Willen weinte Wilde bitterlich, als der Blonde beiläufig ihre Zukunftspläne ansprach und Joyce verstand seine Tränen als Trauer um die beiden Verstorbenen. Er konnte nicht ahnen, dass Wilde Angst davor gehabt hatte, wieder allein dazustehen. Es gab keinen anderen Menschen, mit dem Wilde so viel Zeit zusammen verbracht hatte wie mit Joyce. Er wollte alles daran setzen, damit dies so blieb. Dieses Mal würde er alles anders machen, die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Bis seine Vergangenheit in Form von Dorian Gray aus dem Nichts wieder auftauchte. Er durfte Joyce nicht enttäuschen, von allen Menschen auf dieser Welt durfte er gerade ihn nicht enttäuschen. Deswegen musste er Dorian von Joyce fernhalten. Damals, als sie in den Straßen Dublins gelebt hatten, hatten sie – für den Fall, dass sie getrennt würden – einen Treffpunkt ausgemacht: der Ort ihrer ersten Begegnung. Dorthin war Wilde nun im Schutz der Dunkelheit unterwegs, nachdem die Klientin ihnen von seinem Verschwinden erzählt hatte. Wenn Dorian tatsächlich hergekommen war, dann würde er mit Sicherheit zu diesem Ort gehen. Mit einem leicht gequälten Lächeln stellte Wilde fest, dass an dieser schicksalsträchtigen Stelle jetzt ein Friedenspark war. Keine Menschenseele trieb sich zu dieser späten Stunde hier herum und ein kalter Wind blies durch die Straßen und ließ den brünetten Mann noch mehr schaudern, als er dies ohnehin tat. Ein Wiedersehen mit Dorian war nichts, auf das er sich freute. „Oscar?“ Die zarte Stimme ließ ihn vergessen zu atmen. Er musste sich Mut zusprechen, ehe er sich in ihre Richtung umdrehte. „Du bist es wirklich!“ Ein Mann mit goldblonden Haaren schmiss sich ihm um den Hals. Er schob den Mann ein wenig von sich, um ihn im Schein der Straßenlaterne zu betrachten. Sein Herz machte einen Sprung, als er in tiefblaue Augen blickte. „Ich hatte so gehofft, dich hier zu finden, auch wenn ich nicht einmal wusste, ob du noch lebst.“ Dorians Finger krallten sich in seine Arme. Er war immer noch wunderhübsch anzusehen, obwohl die Drogen Spuren in seinem einst so perfekten Gesicht hinterlassen hatten. „Was machst du hier?“ Wilde versuchte, seine Gedanken beisammen zu halten. Er war nicht hier, um Dorian wiederzusehen, sondern um ihn um Joyce' und auch um seinetwillen loszuwerden. Es klang grausam, es so zu formulieren, doch er konnte die Anwesenheit seines früher so geliebten Menschen nicht ertragen. Er gab sich zwar die Schuld an Dorians Niedergang, aber er konnte dennoch nicht zulassen, dass alles von vorn losging. „Es ist etwas Schreckliches passiert“, antwortete Dorian kreidebleich und hörbar verstört. „Basil … er ist … er ist tot.“ „Was?!“ „Und ich weiß, dass ich der Nächste sein werde.“ Wilde schüttelte den Kopf. „Warte. Was ist passiert und woher willst du das wissen?“ Unverzüglich zog der blonde Mann mit zitternden Fingern einen Brief aus seiner Hosentasche. „Der erreichte mich vor ein paar Tagen. Kein Absender, keine Anschrift. Darin steht, Basil musste verschwinden und ich wäre als nächstes dran. Bestimmt will jemand Rache üben!“ Wilde riss ihm den Brief aus den Händen und las ihn sich selber durch. Mehr als das, was Dorian ihm berichtet hatte, stand dort in der Tat nicht. Er biss sich auf die Lippe. Sollte dies wirklich ein Akt der Vergeltung sein? Vielleicht irgendein Militärangehöriger oder jemand von der damaligen Regierung? Jemand aus einem der anderen Länder? Wer hatte Zugriff auf diese Daten? Wer auch immer es war, hatte Dorian bereits ausfindig gemacht. „Dieses Gefühl, dass ich verfolgt werde, hat mich nie verlassen“, erklärte dieser, während das Grauen ihm ins Gesicht geschrieben stand, „aber immer mal wieder, wird es viel schlimmer. In letzter Zeit ist es fast unerträglich. Ich habe das Gefühl, ich verliere den Verstand.“ Der Brünette musterte ihn mitleidig. Es war nicht auszuschließen, dass Dorian wahrhaftig den Verstand verlor. „Was genau meinst du damit? Wie äußert sich diese Verschlimmerung?“ Er krallte seine Finger noch fester in Wildes Arme. „Da ist ...“ Ihm fiel es sichtlich schwer, darüber zu sprechen. „Da ist diese Stimme. Sie kommt aus dem Nichts und sagt, dass es kein Entkommen gibt. Dass wir alle bestraft würden, für das, was wir getan haben.“ „Eine Stimme, die aus dem Nichts kommt? Es ist niemand zu sehen?“ „N-nein, nicht wirklich, nur … nur sehr schemenhaft ...“ Wilde atmete laut aus. „Du hörst diese Stimme, wenn du auf Drogen bist, oder?“ In seiner Verzweiflung begann Dorian zu schluchzen. „Sie ist echt! Bitte glaube mir! Sie wusste von Basil und seiner Erfindung und wollte wissen, was daraus geworden ist! Und jetzt ist Basil tot! Und den Brief bilde ich mir ja auch nicht ein!“ Das war wahr. Wilde schaute auf den Brief, zerriss ihn und schmiss die Fetzen in das im Park eingelassene Wasserbecken. Es war möglich, dass jemand hinter ihnen her war. Wenn derjenige die Informationen aus der Datenbank hatte, war er selbst außer Gefahr und die Person wäre demnach nur auf der Jagd nach Basil und Dorian. Ob Shaw noch lebte, wusste er nicht. „Im Brief stand lediglich, dass Basil verschwinden musste; wir wissen nicht genau, was das heißt. Aber-“ Wilde packte ihn mit festem Griff an den Schultern und sah ihn eindringlich an. „Du wirst es ihm gleichtun.“ „Ich verstehe nicht-?“ „Hast du noch den gefälschten Pass?“ Dorian nickte zögerlich. „Du verlässt noch heute Nacht das Land. Steig in irgendein Flugzeug und tauche irgendwo unter. Irgendwo, wo es möglichst menschenleer ist.“ Die tiefblauen Augen füllten sich mit Tränen. „Du … du kommst doch mit mir mit, oder? Du lässt mich nicht allein … oder?“ Wilde ließ ihn los und holte mit fahrigen Bewegungen sein Portmonee hervor, um dem überrumpelten Dorian das gesamte Bargeld daraus in die Hand zu drücken. „Das müsste für ein Ticket bis nach Osteuropa reichen. Schlag dich ab da auf dem Landweg durch. Du musst so weit wie möglich von hier weg.“ Wilde biss sich seine Unterlippe beinahe blutig, nachdem er dies hastig gesagt hatte. Entgeistert starrte Dorian auf das Geld in seinen Händen. Für einen sehr langen Moment schwieg er. „Ich verstehe“, sagte er schließlich mit gebrochener Stimme und blickte wieder auf. Tränen liefen seine Wangen hinab. „Ab jetzt will ich dir auch keinen Ärger mehr machen, Oscar.“ Er zwang sich zu einem gequälten, todtraurigen Lächeln. „Ab jetzt mache ich dir keinen Ärger mehr, ich verspreche es.“ „Ich weiß, dass du das nie wolltest“, entgegnete Wilde und wischte dem Anderen die Tränen aus dem Gesicht, während er selbst zu weinen begann. „Es tut mir alles so leid.“ Ein letztes Mal drückten sich scharlachrote Lippen auf seine eigenen, bevor Wilde den Park mit zügigen Schritten verließ. Für Stunden streifte er durch das nächtliche Dublin, bis seine Tränen versiegten und er wieder atmen konnte. Er wusste selbst nicht, warum er zur alten Apotheke zurückkehrte – Joyce würde kaum dort auf ihn gewartet haben – aber er tat es dennoch. Ein Gefühl von Wärme vertrieb die Kälte, die er bis gerade verspürt hatte, als er im Inneren des Gebäudes seinen Partner erblickte. Mit einem unverhofften Lächeln im Gesicht rüttelte er sanft an Joyce' Schulter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)