Never let me go von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 10: There is no running that can hide you ------------------------------------------------- „There is no running that can hide you“   Placebo, „Infra-red“   Shaw wartete mit nervösem Blick und ebenso nervösem Gehabe in einer dunklen, schmalen Gasse zwischen zwei heruntergekommenen Lagerhäusern. Es war nicht mehr lange, bis die Sonne aufging und er hatte keine Lust im Hellen hier gesehen zu werden. Egal von wem. Während Eliza Dazai zu ihm führte, warf sie dem Detektiv ununterbrochen garstige Blicke zu und achtete penibel darauf, ihm nicht zu nahe zu kommen. „Ich sagte doch, es war ein Versehen.“ Ungeniert und unbekümmert schritt Dazai hinter der angesäuerten Fähigkeit her. „Wenn du mich noch einmal berührst, hole ich auf der Stelle Katherine her!“ Was so frivol klang, hatte einen eigentlich harmlosen Hintergrund. Als Eliza wieder vor dem Detektiv aufgetaucht war, um ihn zu Shaw zu geleiten, hatte Dazai ihr dankend auf die Schulter geklopft – wodurch sie sich in Luft aufgelöst hatte. Sie war im Handumdrehen zwar wieder aufgetaucht, doch seitdem nicht allzu gut auf ihn zu sprechen. „Herr Shaw nehme ich an?“, begrüßte Dazai den übellaunig dreinblickenden Iren überschwänglich. „Vielen Dank, dass Sie mich empfangen.“ „Was wollen Sie?“, gab dieser sofort barsch zurück. „Und bleiben Sie da stehen. Ich kenne Ihre Fähigkeit. Wenn Sie auch nur einen Zentimeter näher kommen, ist das Gespräch beendet.“ Dazai hielt an, lächelte entschuldigend und hob kurz seine Hände aus seinen Taschen, um seinem Gegenüber zu zeigen, dass er nichts Hinterlistiges vorhatte. „Ich dachte, Eliza hätte Ihnen-“ „Ja ja, sie hat mir gesagt, Sie wären an Hallwards Erfindung und an einer Zusammenarbeit mit mir interessiert? Das ist jawohl lächerlich. Soll das eine Falle sein?“ Der Braunschopf stutzte und schüttelte den Kopf. „Keinesfalls! Aber da Ihre Kollegin Mansfield hinter mir her ist – und leider nicht so, wie es mir bei Frauen am liebsten ist – muss ich … umdisponieren. Außerdem bin ich von Natur aus sehr neugierig und ein solcher Apparat weckt daher unweigerlich mein Interesse.“ Shaws analytischer Blick musterte ihn von oben bis unten. Erzählte der Detektiv die Wahrheit? Er hatte sich eigentlich überhaupt nicht auf dieses Treffen einlassen wollen, aber ein Kommentar von Wilde hatte ihn zum Umdenken gebracht. „Osamu Dazai hat Interesse an Basils Erfindung?“ „Scheinbar. Das könnte aber auch eine List des Büros sein.“ „Eine List? Oh Georgie, weiß du denn nicht, wer Osamu Dazai ist?“ „Einer der Detektive.“ „Hah! Das ist ja nicht einmal ein Viertel der Wahrheit. Dieser Mistkerl hat zwei meiner Freunde auf dem Gewissen. Und nicht nur die! Seine Zugehörigkeit zu den bewaffneten Detektiven ist mehr Schein als Sein. Mehr eine Farce, wenn du mich fragst. Er ist ein kluger, aber boshafter Kopf. Er schenkt sein Können immer demjenigen, der ihm gerade von Vorteil ist. Wenn ich so darüber nachdenke, hat er sehr viel mit Henry gemein.“ „Sie wollen also Ihren Kopf retten, indem Sie uns Ihre Dienste anbieten?“ „Das bringt es auf den Punkt, ja.“ Hinter Dazais Lächeln verbarg sich etwas Düsteres. „Kommen wir ins Geschäft?“ Shaw zögerte. „Das kann ich nicht allein entscheiden.“ „Um Frau Mansfield kann ich mich kümmern, wenn das das Problem ist.“ Eliza und ihr Anwender waren über diesen beiläufigen Vorschlag sichtlich schockiert. „Du willst sie töten?“, fragte die Fähigkeit irritiert. Dazai zuckte mit den Schultern. „Ich denke, ich wäre ein mehr als adäquater Ersatz für sie. Nach dem, was ich gehört habe, kann ihre Fähigkeit mithilfe spezieller Münzen und im Austausch für etwas anderes Dinge auslöschen? Ich will das Talent Ihrer Gehilfin nicht kleinreden, aber ich glaube, ich bin trotzdem wertvoller für Sie. Die Detektive wissen nicht, dass ich mit Ihnen rede. Es wäre also ein Leichtes für mich, an dieses fehlende Teil zu kommen, wenn meine lieben Kollegen es erst einmal gefunden haben.“ „Das kann ich auch!“, tönte Eliza patzig. Merklich in Gedanken versunken, ließ Shaw sich Dazais Vorschlag durch den Kopf gehen. „Es könnte wirklich von Vorteil sein, Sie dabei zu haben.“ „Meine Rede!“, frohlockte Dazai überschäumend. „Auf diese Weise könnte man weiteres Blutvergießen verhindern. Und auch Frau Mansfield muss nicht unbedingt den Tod finden. Ich würde mir da eine andere Lösung überlegen.“ „Dann sind wir endlich im Geschäft?“ Zu Dazais Verwunderung stimmte Shaw ihm nicht zu. „Es … wie gesagt, ich muss das noch abklären. Warten Sie hier. Eliza, pass auf ihn auf.“ Die übernatürliche Frau nickte energisch und beide sahen zu, wie Shaw in der nächsten Gasse verschwand. „Wo will er denn hin?“, fragte Dazai Eliza und sie antwortete unbedarft. „Telefonieren.“ „Mansfield hätte er doch ruhig in meinem Beisein anrufen können.“ „Sie schon, aber ihn nicht.“ „Ihn?“ Eliza schreckte zusammen. Zornig funkelte sie ihn an. „Das musst du nicht wissen. Aber ich will endlich wissen, wie Mori aussieht. Du hast es mir versprochen!“ Dazai lächelte amüsiert. „Als könnte ich einer so schönen Frau etwas abschlagen.“   „Dazai ist doch immer wieder für eine Überraschung gut.“ Koyo wandte sich kichernd Mori zu. „Wer hätte gedacht, dass er solche Ambitionen hat?“ Gefasst lächelnd erwiderte der Boss der Hafen-Mafia den Blick der Frau. „Mit ihm wird es nie langweilig, das ist wohl wahr.“ Umgeben von seinen treusten Untergebenen, hielt sich Mori an einem streng geheimen Ort auf. Koyo, Kajii, Chuuya, Akutagawa, Higuchi und die Schwarze Echse hatten ihn in diesen unterirdischen Sicherheitsraum begleitet. Obwohl draußen bald die Sonne aufging und einen neuen hochsommerlichen Tag versprach, war es hier unten, abgeschottet von der Außenwelt, düster und kühl. „Denken Sie wirklich, er wird sich mit diesen Fremden zusammentun, um Sie zu töten?“ Man konnte Higuchis Stimme anmerken, dass ihr das weit hergeholt vorkam. „Deswegen sind wir in diesem Raum“, antwortete Chuuya an Moris Stelle, „diesen Neubau kennt Dazai nicht.“ „Und jetzt verstecken wir den Boss, bis die aufgeben, oder wie?“ Tachihara schien nicht überzeugt von diesem Plan zu sein. „Verstecken ist so ein unschönes Wort“, antwortete Mori. „Wir warten erst einmal ab, bis wir Neuigkeiten von der Vorhut erhalten.“ „Häh, welche Vorhut?“ Koyo lachte hinter vorgehaltener Hand. „Naivität ist nicht immer liebreizend, Tachihara. Ist es nicht offensichtlich, wer die Feinde dezimieren soll?“ „Die bewaffneten Detektive“, brummte Akutagawa und sah aus dem Augenwinkel zu Kajii, der mit einem selbstgebastelten, abhörsicheren Funkgerät den Kontakt zur Außenwelt hielt. Das Ding sah aus wie aus einem schlechten, unterfinanzierten Science-Fiction-Film. „Sollten unsere Versuchsobjekte von der Detektei erneut angegriffen werden, werden wir durch das Wunder der Wissenschaft und seinen menschlichen Gehilfen davon in Kenntnis gesetzt und auf dem Laufenden gehalten. Niemand kann uns aufspüren, doch wir spüren alle Geheimnisse der Welt auf! Und sollte sich jemand diesem Raum nähern, dann werden wunderschöne, umwerfende Explosionen uns vorwarnen und die Eindringlinge-“ „Ja! Ja! Wir haben es verstanden!“ Chuuyas Laune war genauso unterirdisch wie ihr Standort. „Du hast ein kompliziertes Funkgerät gebastelt und draußen Bomben angebracht! Wie du es auch solltest! Halt jetzt endlich den Mund!“ Sichtlich bedröppelt streichelte Kajii nun stillschweigend sein Funkgerät. „Wir hoffen also darauf, dass das Detektivbüro die Angelegenheit für uns klärt?“ Higuchi sah enttäuscht aus. „Ich bitte dich, wo bliebe da unser Stolz?“ Mori deutete ein Kopfschütteln an. „Wofür sind sie denn schließlich Detektive? Es gehört zu ihrer Arbeit Informationen zu sammeln. Wenn diese am Ende uns nützen, tut ihnen das auch nicht weh.“ „Hat noch jemand das Gefühl, da fehlte ein 'leider' am Schluss?“, raunte Tachihara der achselzuckenden Gin zu. „Wenn ich so frei sein dürfte, dies zu fragen, Boss“, begann Hirotsu ernst, „wer ist dieser Shaw, den Dazai Chuuya gegenüber erwähnt hat?“ Moris sowieso kaltes Lächeln wurde noch unterkühlter. Selbst wenn er nervös war, was Hirotsu die ganze Zeit bereits vermutete, ließ er sich dies dennoch nicht weiter anmerken. Die Fassung formvollendet bewahrend, schmunzelte er bitterböse. „George Bernard Shaw“, erzählte er dann mit genau diesem Schmunzeln im Gesicht, „war ein ausländischer Spion, der vom japanischen Militär aufgegriffen worden war. Nun ja, er selbst stritt natürlich ab, ein Spion zu sein, aber während des Krieges sahen die Befehlshaber das anders – und so kam er in meine … Obhut.“ Mori machte eine kurze Pause, in der er in die Runde blickte, um zu sehen, ob jeder ihm folgen konnte. Ihre teils entgeisterten Mienen (Higuchi und Tachihara lief sichtlich ein Schauer über den Rücken) bestätigten ihm, dass sie dies konnten. „Da er Ire war“, fuhr Mori fort, „und Irland damals gezwungenermaßen mit Großbritannien kollaborierte, erhofften sie sich wohl irgendwelche brauchbaren Informationen von ihm. Er war ein interessanter Mann. Obwohl er eindeutig keine militärische Ausbildung oder sonst etwas in dieser Richtung genossen hatte, hat er erstaunlich lange durchgehalten.“ Der Boss blickte amüsiert drein, als er sich erinnerte. „Als er dann doch irgendwann zerbrach, bot er in seiner Verzweiflung seine Dienste der Dechiffrierabteilung an. Ein unglaublich gebildeter Mann. Er konnte sogar Handschriften aufs Genaueste kopieren. Irgendwann bin ich leider von diesem Fall abgezogen worden, aber ich hörte, er hätte seine Kameraden später wohl doch noch verraten. Ein Jammer, dass ich das verpasst habe.“ „Wurde er daraufhin freigelassen?“, hakte Koyo nach. Sie und Hirotsu kannten Mori als einzige schon so lange, dass sie nichts mehr schocken konnte. Der Rest der Hafen-Mafia starrte entweder mit großen Augen oder mit noch ernsterer Miene als sonst zu ihrem Anführer. Mori schüttelte sacht den Kopf. „Nein. Und dank Dazai weiß ich nun endlich, wie er damals entkommen ist. Fähigkeiten sind doch etwas Erstaunliches. Sie muss erwacht sein, während er in Gefangenschaft war. Diese Eliza hat damals also die Wachen niedergemetzelt. Eine Fähigkeit, die meinem bezaubernden Elisechen ähnelt. Diese Ironie hat etwas Belustigendes, oder?“ „Hat sie?“ Tachihara zog kritisch eine Augenbraue nach oben. „Wir hatten gedacht, wir hätten sie mit Hirotsus Angriff gekillt, aber die Alte lebt noch, weil sie eine verdammte Fähigkeit ist. Wie killen wir eine Fähigkeit?“ „Fähigkeiten lassen sich nicht töten“, stellte Akutagawa unumwunden fest, „nur die Befähigten, die sie kontrollieren.“ „Das heißt, wir müssen diesen Shaw töten“, schlussfolgerte Higuchi. „Aber der würde dann seine Fähigkeit einsetzen, um uns davon abzuhalten.“ „Deswegen ist es von Vorteil, dass die Detektive involviert sind“, sagte Mori. „Ich habe keine Ahnung, warum Shaw auch hinter unseren alten Freunden her ist, aber es könnte uns von Nutzen sein.“ Chuuya knirschte mit den Zähnen. „Diese Iren von damals sind auch irgendwie daran beteiligt. Zumindest der eine Typ mit seinem dämlichen Lehm ist von unseren Leuten bei ihnen gesehen worden.“ „Zum Glück nicht der andere“, schoben er und Akutagawa unisono nuschelnd hinterher. Ohne dies nach außen zu zeigen, grübelte Mori innerlich. War Shaw heimlich nach Yokohama gekommen, nur um ihn zu töten? Das erschien ihm unwahrscheinlich. Denn warum griff Eliza die bewaffneten Detektive an? Er konnte sich nicht vorstellen, dass Fukuzawa damals mit Shaw zu tun gehabt hatte. Fukuzawa war ein schnöder (wenn auch erstklassiger) Auftragskiller gewesen und war wahrscheinlich selbst damals schon zu tugendhaft gewesen, um mit der Folterabteilung (Befragungsabteilung, korrigierte er in Gedanken schmunzelnd) in Berührung zu kommen. Mori selbst war nur in Härtefällen dahin abkommandiert worden. Was ging hier also in Wahrheit vor sich? Die Iren … ob da der Schlüssel zum Verständnis lag? Die Detektei wusste mehr über diese beiden komischen Gestalten als sie es taten. Gin zuckte plötzlich zusammen und alarmierte damit alle. „Ein eisiger Lufthauch“, sagte Akutagawa in die aufgeschreckte Stille hinein. „Das kann nicht sein“, widersprach Kajii, „die Temperatur in diesem Raum bleibt immer glei-“ Er brach ab, als vor ihm mit einem Mal eine Frau mit mattbraunen Haaren stand. Ihr verwunderter Blick wanderte von einem Mafioso zum nächsten und verfinsterte sich, als sie die Schwarze Echse wiedererkannte. Dann fiel ihr Blick auf Mori – und glich schlagartig dem einer Wahnsinnigen. „Du! Du bist Ogai Mori!“ „Boss, das ist sie!“, rief Tachihara, seine Waffen ziehend, doch im nächsten Augenblick feuerte Eliza mit einem ebenso aus dem Nichts gekommenen Revolver bereits auf ihn und traf ihn in die Schulter. Schreiend stürzte er zu Boden, während Gin ihre Messer zückte und Rashomon die übernatürliche Frau festhielt. Kurz davon irritiert, fluchte Eliza und löste sich in Luft auf, noch bevor Gin sie erreichen konnte. „Ist sie wieder verschwunden?“ Koyo suchte mit den Augen den Raum ab, während Higuchi ein Taschentuch auf Tachiharas blutende Wunde drückte. „Was soll die Scheiße?!“, zeterte Chuuya. „Wo ist ihr Anwender?!“ Hektisch drehte Kajii an irgendwelchen Knöpfen seines Apparates. „Das ist unmöglich. Die Sensoren erfassen in der gesamten Umgebung keinen einzigen Menschen.“ „Das kann aber doch nicht sei-“ Chuuya stoppte, als Eliza plötzlich vor ihm stand und ohne Umschweife ihre Waffe von neuem abfeuerte. Der Rotschopf hatte dank seiner Fähigkeit keine Probleme die Kugeln abzufangen, was den Eindringling abermals fuchsteufelswild machte. „Argh! Was soll das?! Ich will doch nur Mori töten!!“ „Da haben wir etwas dagegen, meine Liebe.“ Koyos Goldfarbiger Dämon erschien ebenso plötzlich und traf die überraschte Eliza fatal mit seinem Schwerthieb. Sie löste sich auf und tauchte nur wenige Sekunden später unversehrt hinter Koyo auf und eröffnete einen Kugelhagel auf diese. Goldfarbiger Dämon ging dazwischen und musste daraufhin den Rückzug antreten. Akutagawa ließ ein Schild mit Rashomon entstehen, sodass Koyo nicht getroffen wurde. „Hört auf damit!!“, wütete Eliza. „Warum macht ihr es mir so schwer?! Ich habe endlich Mori gefunden! Ich muss ihn töten, bevor George mich zurückruft!“ Sich abermals auflösend, erschien sie nun vor Higuchi und schoss auf sie. Geistesgegenwärtig sprang die Mafiafrau zur Seite, doch die Kugel erwischte sie trotzdem am Oberarm. Rashomons Bänder schossen aus der Entfernung auf die Angreiferin zu, während Gin von der anderen Seite erneut versuchte, sie zu erreichen. Eliza verschwand und Akutagawa brach seinen Angriff panisch ab, da er beinahe seine Schwester damit getroffen hätte. Dieses Mal materialisierte Eliza sich direkt vor Mori, aber ihre Freude darüber wurde blitzschnell von einer Attacke Hirotsus getrübt. Seine Fähigkeit schleuderte sie mit voller Kraft durch den Raum, sodass sie ungebremst in eine der Wände hineindonnerte und zu Boden fiel. Sie raffte sich wieder auf und schüttelte sich, so als wäre sie nur gestolpert. „Nimmt das kein Ende?“ Ratlos sah Chuuya von der Fähigkeit zu seinem Boss. „Physische Angriffe machen ihr nichts aus.“ Zu seinem Entsetzen antwortete Mori lediglich mit einem nachdenklichen „Hm.“ „Wenn ich euch alle töten muss, um Mori zu töten, dann ist das wohl so. Das wird George sicher verstehen, nicht wahr?“ Eliza löste sich wieder in Luft auf. Für eine paar endlos lange Sekunden passierte gar nichts und die noch stehenden Mafiamitglieder ließen rastlos ihre Augen durch den Raum schnellen. Dann ging es ganz schnell. Zuerst rammte Eliza Hirotsu hinterrücks ein Kurzschwert in den Körper, dann erschien sie hinter Gin und feuerte auf sie. Hätte die Dunkelhaarige aufgrund ihrer Tätigkeit als Assassine nicht einen siebten Sinn, sie wäre wie Tanizaki in den Rücken getroffen worden. Doch so konnte sie knapp ausweichen und wurde lediglich am Oberschenkel erwischt. Kajii bekam eine Kugel in den Bauch ab. Mit jedem Mal schien Eliza schneller und treffsicherer zu werden. Chuuya, Akutagawa und Koyo stellten sich zügig um Mori auf, dessen Mimik nicht mehr teilnahmslos wirkte. Er war berechnend und kaltherzig, ja, aber dass sie all seine Leute vor seinen Augen verwundete, ging auch an ihm nicht spurlos vorüber. Rashomon, Goldfarbiger Dämon und die Aura von Chuuyas Gravitationsveränderung waberten bedrohlich zwischen Eliza und den verbliebenen Mafiosi. Die Fähigkeit hatte gemerkt, dass an ihnen kein leichtes Vorbeikommen war und biss sich verärgert auf die Lippe. „Ich mag es gar nicht gerne, wenn jemand meinem Rintaro zu nahe kommt.“ Die Stimme eines kleinen Mädchens ließ Eliza aufgeschreckt zur Seite blicken. Elise stand dort, die Arme vor der Brust verschränkt und ein schmollendes Gesicht ziehend. „Kannst du mir mal verraten, wie lange du hier noch herumballern willst?“ Elise klang sauer. „Rintaro hat so ja überhaupt keine Zeit für mich. Ist dein Magazin nicht bald mal leer?“ „Leer?“ Eliza schüttelte den Kopf. „Es geht niemals leer. Ich habe diese Waffen, seit George sie mir damals gegeben hat. Und Waffen, die George mir einmal gegeben hat, kann ich immer wieder benutzen.“ „Ach ja?“ Das kleine Mädchen gab sich unbeeindruckt. „Das heißt, du hast nur irgendeinen uralten Kram bei dir?“ „Das ist kein uralter Kram!“, wetterte Eliza empört. „Diesen Revolver hier habe ich damals einem der Wachen abgenommen, nachdem George sich gewünscht hatte, er könnte die schreckliche Zelle endlich verlassen. Und dann habe ich alle Wachen damit getötet.“ Eliza erzählte dies, als wäre es eine schöne, wertvolle Erinnerung. „Rintaro hat immer gesagt, die Zellen könnten noch viel schlimmer sein. Dein George hat sich wahrscheinlich einfach nur angestellt.“ „Nein! George war furchtbar traurig und einsam so ganz allein in diesem dunklen Loch! Deswegen hat er sich auch so gefreut, als ich aufgetaucht bin und ihm Gesellschaft geleistet habe. Er hat mir gesagt, dass das der schönste Tag in seinem Leben gewesen ist!“ „Und warum tauchst du dann erst jetzt auf, um Rintaro zu töten?“ „Weil ich ihm doch nie begegnet bin und nicht wusste, wie er aussieht! Und George konnte sich nicht an sein Gesicht erinnern. Ich habe ihn irgendwann auch nicht mehr fragen wollen, weil es ihm so weh getan hat, sich daran zu erinnern.“ „Dazai“, zischte Chuuya erbost in das Streitgespräch der beiden Damen rein, „der Mistkerl hat uns ernsthaft an diese Irre verraten.“ Nach Chuuyas Feststellung drehte Eliza sich ihnen wieder zu. „Jetzt lasst mich endlich durch!“ Sie hob beide Hände, in denen sich nun je eine Pistole befand und richtete sie auf die Gruppe vor sich. Die drei, die den Boss beschützten, hielten vor Anspannung den Atem an und auch Elise schien sich vorzubereiten. Dann, plötzlich - zuckte Eliza erschrocken zusammen und löste sich in Luft auf. Für einige Sekunden verharrten alle in ihrer Position, bis sie sich sicher waren, dass die Fähigkeit dieses Mal nicht zurückkehrte. Mori atmete aus. „Holt Verstärkung, die Verletzten müssen versorgt werden.“ Akutagawa und Koyo verließen auf den Befehl hin rasch das Versteck, während der Boss selbst die Wunden musterte. Keiner war in akuter Lebensgefahr, aber eine einzelne Fähigkeit hatte seine Topleute so schnell und einfach dezimiert. „Diese Eliza“, sagte Mori und klang dabei fast ein wenig bewundernd, „ist wie eine allmächtige Version von Elise. Sie handelt eigenständig. Shaw muss nicht einmal in der Nähe sein.“ „Soll das heißen, ich hätte einen Makel?“ Das Mädchen schmollte noch mehr als zuvor, was ihren Anwender lachend den Kopf schütteln ließ. „Oh nein, gewiss nicht. Du hast deine Arbeit tadellos erledigt, mein wundervolles Elisechen. Du hast sie perfekt hingehalten und ihr Informationen entlockt.“ „Sie wird wiederkommen“, mahnte Chuuya ernst an. „Ich weiß.“ Mori seufzte. „Es hilft nichts. Uns bleibt nur ein Ausweg. Ein sehr leidiger, wenn du mich fragst.“ Der Rotschopf schaute fragend zu seinem Vorgesetzten, der sein Handy zückte und eine Nummer wählte. Am anderen Ende der Leitung wurde scheinbar abgenommen. „Ich weiß, dass es gerade nicht passt, alter Freund. Aber wir haben ein sehr ähnliches Problem und wir haben doch beide ein großes Interesse daran, keinen unserer Mitarbeiter an diese Fähigkeit zu verlieren, nicht wahr?“ Chuuya hörte dem Gespräch stutzend zu. Mit wem redete der Boss da? Wieso bekam er so ein komisches Gefühl in der Magengegend? „Wir sollten ein paar Informationen austauschen“, fuhr Mori nicht weniger kryptisch fort. „Mein Liebling hat ein paar Dinge herausgefunden, die Ihrem Liebling sicher helfen würden.“ Häh? Chuuya konnte sich seine plötzlich einsetzenden Magenschmerzen nicht erklären.   Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, als Ranpo anfing, den Besitzer des Theaters anzumeckern. „Na endlich! Was hat denn da so lange gedauert? Welchen Teil von 'dringend' verstehen Sie nicht? 'Dring' oder 'end'?“ „Äh, Ranpo“, warf Poe verlegen von der Seite ein, „ich weiß nicht, ob uns das hilft, wenn du den Mann beleidigst ...“ „Tut es mit Sicherheit nicht.“ Atsushi seufzte. Irgendwie war er die Launen des Meisterdetektivs schon mehr als gewohnt. Es hatte wohl auch nicht geholfen, dass Poe sie hergefahren hatte und der scheue Amerikaner einen eher gemächlichen (er nannte es „vorausschauenden“) Fahrstil bevorzugte. Ranpos motziges „Auf dem Rückweg fährt Kyoka!!“ hallte immer noch in seinen Ohren nach. Er konnte ihn ja irgendwie verstehen. Ihr Plan war nicht ungefährlich, ach was, ihre ganze Lage war höchst gefährlich und der, den sie am nötigsten brauchten, war unauffindbar. Wenn sie Shaw fanden und Dazai bis dahin nicht wieder aufgetaucht war, müssten sie zu rabiateren Methoden greifen, um den Iren aufzuhalten. Atsushi konnte nicht verstehen, was in seinem Mentor vorging. Wie konnte er sie ausgerechnet jetzt alleine lassen? War ihm nicht klar, dass sie ihn brauchten? Irgendetwas stimmte nicht. Dazai würde sie nicht alleine lassen … oder? Nein, sicher nicht. Aber wo in aller Welt war er dann jetzt? Warum schlich er sich heimlich davon? Dem jungen Detektiv war vor Ratlosigkeit nach Schreien zumute. „Kunikida hat gesagt, wir sollen keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden“, sagte Kyoka plötzlich zu ihm und ließ ihn damit stutzen. Seine Gedanken waren vermutlich wirklich einfach zu lesen. Der Besitzer des Theaters ging derweil hektisch die Schlüssel an seinem dicken Schlüsselbund durch. „Entschuldigung, Entschuldigung. Konnte ja nicht ahnen, dass ich mitten in der Nacht angerufen werde, weil mein Theater etwas mit einem Fall zu tun haben soll, bei dem es um Leben und Tod geht.“ „Geht es im Theater nicht eigentlich fast immer um Leben und Tod?“ Ranpo tippelte quengelig mit einem Fuß auf und ab, während er den Mann beobachtete. „Schon, aber doch meistens nur auf der Bühne.“ Endlich hatte er den richtigen Schlüssel, schloss auf und ließ die Detektive rein. Noch im Hineingehen zog Ranpo seine Brille auf. So aufgekratzt hatte ihn zuvor noch keiner erlebt. Atsushi machte sich Sorgen, weil aus unerklärlichen Gründen er selbst und Poe von den Details der Strategiebesprechung ausgeladen worden waren. Sagte ihm nun keiner mehr etwas? Kaum gingen die Lichter im Foyer an, stürmte Ranpo auf die gerahmten Poster zu, die dort an den Wänden hingen und über vergangene Aufführungen informierten. „Aha! Dieses Stück hier!“ Er zeigte auf ein Plakat, auf dem ein Stück mit den Worten 'Die tragischste Liebesgeschichte aller Zeiten' beworben wurde. Der Besitzer zuckte leicht zusammen – und anscheinend nicht nur wegen Ranpos Lautstärke. „Was ist damit?“ „Es wurde vor ein paar Jahren aus Ihrem Programm genommen. Warum?“ „Das Programm ändert sich nun mal halt von Zeit zu Zeit-“ „Sie sollten mich nicht anlügen!“ Ranpo wurde noch eine Stufe lauter. „Weder mein Assistent, noch die Mitarbeiterinnen der Detektei konnten Informationen dazu finden, wieso dieses Stück so plötzlich gestrichen wurde.“ Sein scharfer Blick bohrte sich geradezu in den Inhaber des Theaters, der eingeschüchtert einen Schritt zurück machte. „Etwas ist vorgefallen, etwas, dass Sie vertuschen wollen!“ „V-vertuschen?“ Dem Mann stand plötzlich der Schweiß auf der Stirn. „U-unsinn, was sollte ich denn-“ „Ich möchte mit der Besetzung sprechen! Der gesamten und zwar schnell! Das Wort kennen Sie doch wenigstens, oder?“ „Als könnte ich ad hoc die gesamte Besetzung von damals zusammentrommeln!“, wehrte der Besitzer sich empört. „Und das, weil Sie irgendwelche an den Haaren herbeigezogene Anschuldigungen-“ „Hmm“, fiel der Meisterdetektiv ihm erneut ins Wort; dieses Mal deutlich leiser. „Wenn ich mich hier so umsehe … das Gebäude ist schon ein wenig in die Jahre gekommen, nicht wahr?“ Ein listiges Grinsen, das Dazai alle Ehre machen würde, formte sich auf seinem Gesicht. „Mein Chef kennt den obersten Beamten der Bauaufsichtsbehörde. Na so was. Man kann ja förmlich mitansehen, wie die Statik von Sekunde zu Sekunde schlechter wird.“ „Das würden Sie nicht ...“ Der Mann wurde leichenblass. „Es treiben sich ja sogar wilde Tiere im Foyer herum. Ah, den Leiter des Gesundheitsamtes kennt er übrigens auch.“ „Was für wilde-“ Ranpo zeigte auf Poe's Waschbären. „Aber den haben Sie doch mitgebracht!!“ „Was für eine lahme Ausrede. Die wird Ihnen wohl keiner abnehmen. Atsushi, ruf doch schon mal den Chef an.“ Atsushi, Kyoka und Poe hatten den Schlagabtausch erstaunt und zunehmend irritiert verfolgt. Ranpo durfte man sich wirklich nicht zum Feind machen. Der silberhaarige Junge spürte einen leichten Stupser seitens Kyoka in seine Rippen und begriff, dass er mitspielen musste. Mit einer demonstrativ ausladenden Geste holte er sein Handy hervor. Der arme Inhaber riss erschrocken die Augen auf, als er dies bemerkte. „Na schön, na schön. Bitte, keine Behörden“, lenkte er geschlagen ein, „allerdings können Sie nicht mit allen Schauspielern sprechen.“ „Weil?“ Sein Gegenüber seufzte schwer. „Die Schauspielerin, die jahrelang die weibliche Hauptrolle gespielt hat, sie ist ...“ Mimik und Stimme des Mannes wurden schrecklich betrübt. „Sie ist tot.“ Die drei Beobachter des Gesprächs zuckten kurz zusammen. Nur Ranpo nickte bedächtig, als hätte er etwas in dieser Richtung kommen sehen. „Sie ist keines natürlichen Todes gestorben“, kam es Kyoka mit einem Mal in den Sinn. „Wäre das der Fall, gäbe es keinen Grund, ein Geheimnis daraus zu machen.“ „Wurde sie auch ermordet?“ Atsushi schreckte zusammen. „Nein“, antwortete Ranpo, „wurde sie nicht. Zumindest nicht von einer anderen Person, nicht wahr?“ Der Inhaber starrte ihn entgeistert an. „Woher-?“ Er schüttelte den Kopf. „Es bringt nichts mehr, irgendetwas leugnen zu wollen, oder? Ich habe das Gefühl, Sie können durch mich durch sehen.“ „Ich sehe durch jede Lüge hindurch“, entgegnete Ranpo, „aber wie gesagt: Es ist dringend. Erzählen Sie uns, was vorgefallen ist. Bevor noch mehr Leute den Tod finden.“ Von diesen drastischen Worten sichtlich erschüttert, holte der Besitzer Luft und nickte. „Sibyl … sie war schon immer ein sehr … fragiler Mensch gewesen. Doch auf der Bühne war sie eine Offenbarung. Ich habe nie jemanden erlebt, der diese schwere Rolle so überwältigend spielen konnte wie sie. Sie war unglaublich. So talentiert, so wunderschön, so zerbrechlich.“ Er senkte seinen Blick und seine brüchig werdende Stimme. „Und eines Tages, nach einem Auftritt, fand ich sie. Sie … sie hatte irgendein herumstehendes Schädlingsbekämpfungsmittel getrunken.“ Aufgewühlt versuchte Atsushi, seine Tränen zurückzuhalten, während er Poe neben sich schniefen hörte. Selbst Kyoka blickte tieftraurig drein. „Sie hatten Angst, man würde schlussfolgern, diese deprimierende Rolle hätte eine sowieso bereits depressive Frau in den Tod getrieben“, schloss Ranpo behutsam, „und dass das ein schlechtes Licht auf das Theater, das Sie so sehr lieben, werfen würde. Also verschwand die arme Frau einfach von der Bildfläche und irgendwann fragte niemand mehr nach ihr. Das ist wahrhaftig eine tragische Liebesgeschichte.“ Er sah zu dem mittlerweile weinenden Inhaber. „Sie kam aus dem Ausland, ja?“ Der Mann nickte und wischte sich seine Tränen weg. „Aus England.“ England? Atsushi zog hörbar die Luft ein, als er zu Ranpo blickte. „Was haben Sie mit ihren Habseligkeiten gemacht?“, fragte der Meisterdetektiv. „Einen Teil habe ich weggeworfen und einen anderen Teil … habe ich aufbewahrt. In ihrem Spind war eine Kiste gewesen, auf der 'wertvollste Dinge' stand. Die habe ich in den Bühnenboden eingelassen. Ich dachte, so bleibt sie an dem Ort, den sie doch eigentlich liebte.“ „Zeigen Sie uns, wo.“ Der Theaterbesitzer führte sie zu der Stelle auf der Bühne, unter der er die Sachen der Schauspielerin versteckt hatte. Er wich erschrocken zurück, als Atsushi seine Arme in die Gliedmaße eines Tigers verwandelte und die festgenagelten Bretter aus dem Boden riss. Kyoka beugte sich in das entstandene Loch hinunter und förderte ein kleines Kästchen zutage. Sie setzte es auf der Bühne ab und öffnete es vorsichtig. „Das sind Briefe. Sehr viele Briefe.“ Sie nahm die Papiere heraus und ging sie achtsam durch. „Sie sind auf Englisch“, stellte sie enttäuscht fest. „Oho, vielleicht kann ich aushelfen.“ Poe kniete sich zu ihr hinunter und überflog die vollgeschriebenen Seiten. „Allem Anschein nach hatte sie Kontakt zu einem Herrn aus England und sie haben sich gegenseitig ihr Leid geklagt. Ah, hm, ja, sehr große Traurigkeit … verlorene Freunde … 'sind wir wohl beide von jeglichem Glück verlassen worden' ...“ „WAS?!“ Poe erschrak, als die drei Detektive ihm einhellig und lautstark ins Wort fielen. „Ranpo“, hakte Atsushi atemlos nach, „kann das der Hinweis aus dem Brief sein??“ „Wahrscheinlich. Gibt es keinen Absender? Wie sind sie unterschrieben?“ Ranpo lehnte sich über Poes Schulter. „Nur mit … 'B.'“, antwortete der Amerikaner. „Basil Hallward.“ Ranpo riss die Augen auf und sah selbst in die Kiste. Ein einziger, unbeschriebener Umschlag lag dort zuunterst drin. Und er enthielt keinen Brief. Die Detektive und Poe blickten fragend auf das kleine schwarze Teil, das Ranpo aus dem Umschlag in seine Hand geschüttet hatte. Es hatte entfernt Ähnlichkeit mit einem Computerchip und auf der Oberseite war eine Art Display, das jedoch nichts anzeigte. „Bewahre es gut auf“, las Poe aus dem letzten Brief vor, „gib es niemals jemandem außer mir oder Oscar. Nicht einmal Dorian. Er ist kein schlechter Mensch, aber er ist zu leicht zu beeinflussen. Mit diesen Worten verabschiede ich mich von dir, treue Freundin, denn unser Kontakt dauert schon zu lange an und selbst wenn ich einen falschen Absender benutze, ist es zu gefährlich. Ich will nicht, dass du meinetwegen Probleme bekommst. Selbst wenn keiner von uns dreien dich je wieder auf der Bühne sehen kann, so wäre es eine Schande, dein Talent anderen vorzuenthalten.“ Stillschweigend sahen sie sich untereinander an. Das fehlende Teil. 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