Never let me go von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 7: I'm sentimental and violent -------------------------------------- „I'm sentimental and violent“   Placebo, „Chemtrails“   „Aber ich-!“ „Nein, Eliza! Das war nicht der Plan!“ „Aber George!“ Vehement wehrte Eliza sich gegen die Schelte des Mannes, den Tachihara als den Anführer der verdächtigen drei ausgemacht hatte. „Du hast selbst gesagt, das Büro der bewaffneten Detektive könnte zum Problem werden und du hattest Recht! Sie sind hinterlistig! Sie sind eine Gefahr für uns!“ „Deswegen darfst du trotzdem nicht einfach einen von ihnen erschießen! Stell dir vor, du hättest den Falschen getroffen!“ Eliza stemmte wütend die Hände in ihre Hüften und schnaubte. „Ich halte mich an den Plan, aber ich tue das, was ich für richtig halte!“ Ihre Worte schienen den Mann außerordentlich zu erschrecken. Man konnte sehen, wie sämtliche Farbe aus seinem Gesicht wich. „Du tust, was du für richtig hältst?“ Er starrte sie ungläubig an – was sie nicht beeindruckte. Einen Schmollmund ziehend, erwiderte sie wortlos seinen entsetzten Blick. „Dann solltest du dich erst einmal zurückziehen“, sagte er stimmlos und kurz darauf verschwand die Frau einfach aus dem kleinen Kellerraum des alten Lagerhauses, das sie als ihr Versteck bezogen hatten. Das schwache Licht einer einzigen, alten Glühbirne erhellte den Raum gerade so weit, dass man erkennen konnte, dass sich mehrere Personen darin befanden. Es gab keine Fenster und nur eine einzige, verschlossene Tür – die die Frau nicht benutzt hatte. Sie hatte sich wortwörtlich schlichtweg in Luft aufgelöst. „Oh, Georgie, Georgie, Georgie“, ertönte da die gespielt tadelnde Stimme eines weiteren Mannes unweit neben ihm und ließ ihn mit den Zähnen knirschen. „Du scheinst sie aber nicht sonderlich gut unter Kontrolle zu haben. Seit wann hast du sie? Damals hattest du sie noch nicht, oder? Das wäre ja eine Schande, wenn du so eine Schönheit vor uns versteckt hättest.“ Der Mann drehte sich zu der Person, von der dies alles gekommen war. Diese hatte langes, gewelltes, braunes Haar, war an einen Stuhl gefesselt und sah mit einem süffisantem Lächeln im Gesicht, in das er am liebsten reinschlagen wollte, zu ihm hinauf. Selbst bei diesem schlechten Licht konnte man erkennen, dass dieser Gefangene sehr blass aussah und anscheinend bereits mehrmals ins Gesicht geschlagen worden war. Ein lilafarbener Fleck hatte sich um sein rechtes Auge gebildet, verkrustetes Blut klebte an seiner Nase und seinen Lippen. Wilde war alles andere als begeistert davon, dass sie sein eigentlich bezauberndes Antlitz dermaßen verunstaltet hatten. „Siehst du dich wirklich in der Position, mich noch weiter reizen zu können? Du weißt, dass ich diesen Namen hasse!“ „Hach~, mein Gedächtnis hat etwas gelitten. Hilf mir noch mal: Bernie war dir auch nicht lieber, oder?“ Wilde kniff die Augen zu, als der Andere zum Schlag ausholte. „Herr Shaw“, unterbrach eine weibliche Stimme den Gewaltausbruch. Es war Mansfield, die Frau im roten Kleid. „Sie haben Eliza unter Kontrolle, oder? Ich möchte Sie nicht daran erinnern müssen, dass wir eine Abmachung haben.“ Shaw senkte seine geballte Faust wieder hinab und atmete durch. „Machen Sie sich keine Sorgen. Eliza kennt unsere Abmachung. Sie wird Ihrer Zielperson keinen Schaden zufügen. Das garantiere ich Ihnen.“ Dadurch nur milde besänftigt nickte Mansfield. „Ich bin kein Anhänger von roher Gewalt. Der Vorfall am Hafen war schon recht unangenehm. Ich akzeptiere dies nur, weil Sie mir mit meiner Agenda helfen.“ Ihre Augen wanderten kurz zu Wilde hinab. „Knebeln Sie ihn lieber wieder oder nehmen Sie den Rest des Betäubungsmittels, statt ihn zu verprügeln. Er wird Ihnen sowieso nichts verraten, was Ihrer Mission dienlich wäre.“ „Lassen Sie das meine Sorge sein“, entgegnete Shaw scharf und seine Komplizin zuckte mit den Schultern, ehe sie sich ihre Pelerine wieder umlegte und zur Tür schritt, für die sie einen der zwei Schlüssel besaß. „Wenn es Ihnen recht ist, würde ich nun gerne mein Ziel weiterverfolgen.“ „Ich erwarte Sie im Anschluss daran zurück.“ Sie verabschiedeten sich unterkühlt, doch höflich voneinander und so blieben die beiden Männer allein in dem ungemütlichen Kellerraum zurück. Wachsam beobachtete Wilde sein Gegenüber, das sichtlich grübelnd die Tür anstarrte. „Einerseits bin ich froh, dass du noch lebst“, begann der Dunkelhaarige ernst nach einer Weile der Stille, „aber andererseits fällt unser Wiedersehen ganz anders aus als ich es mir vorgestellt hätte.“ Ein verbitterter und aufgebrachter Blick landete auf ihm. „Wie hast du es dir denn vorgestellt? Dass ich dir freudestrahlend um den Hals falle, nachdem du und die anderen mich durch die Hölle habt gehen lassen? Sollten wir über die guten, alten Zeiten reden? Die, bevor ihr mich bereitwillig geopfert habt?“ Wilde schluckte. Seine Augen verrieten, wie sehr ihn diese Worte mitnahmen. „George … es tut mi-“ „Sag bloß nicht, dass es dir leid tut, du elender Heuchler!“ Mit wütenden Schritten schloss Shaw zu ihm auf, packte seine Haare und riss ihm an diesen gewaltsam den Kopf nach hinten. „DU verdammter Dreckskerl hättest damals gehen sollen! DU hättest gefangen genommen und gefoltert werden sollen!“ Wilde zog vor Schmerzen die Luft scharf ein, als er seinem alten Bekannten ins vor Zorn verzerrte Gesicht blickte. „Musste Dorian … deswegen sterben?“ Ruckartig ließ Shaw ihn wieder los. „Dorians Tod war unvermeidbar. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass es ein befriedigendes Gefühl ist zu wissen, dass er endlich für seine Untaten bestraft worden ist. Dieser unnütze, primitive, minderbemittelte Schönling. Alle haben sich immer von seinem Äußeren blenden lassen. Diese Idioten! Ich verachte jeden von ihnen genauso sehr wie ihn.“ Schwach schüttelte Wilde den Kopf. Seine Mimik war nachdenklich geworden. „Ich frage mich das schon die ganze Zeit ….“ Eindringlich schaute er Shaw an. „Das alles hier passt nicht zu dir. Selbst wenn du diese schrecklichen Dinge durchmachen musstest … du kannst dich unmöglich so stark verändert haben, George. Dorian und Basil zu ermorden, mir Dorians Tod anzuhängen und mich dann mit der Hilfe von Schmiergeld aus dem Gefängnis zu befreien – oder eher zu entführen – um mich dann heimlich nach Yokohama zu schmuggeln, um etwas zu finden, was ursprünglich einer der Gründe für die ganze Tragödie war.“ Er schüttelte abermals den Kopf, diesmal intensiver. „Nein, das passt nicht zu dir. So bist du nicht.“ Shaws Miene wurde eisig. „Woher willst du wissen, wie ich jetzt bin? Du hast keine Ahnung. Du wirst niemals verstehen können, wie es sich anfühlt, vom Feind gefangen genommen zu werden, alleine in einer Zelle zu verrotten und von einem Wahnsinnigen gefoltert zu werden. Und das alles mit dem Wissen, dass keiner jemals zu deiner Rettung kommen wird, weil du als Kriegsverbrecher und Landesverräter giltst. Du erbärmlicher Feigling hast mir das angetan und dafür wirst du jetzt leiden.“ Wilde versuchte fieberhaft, die sich in seinen Augen formenden Tränen wegzublinzeln, doch er scheiterte. „In Ordnung“, sagte er schließlich mit brüchiger Stimme, „nimm an mir Rache, tob dich aus, aber ich bitte dich, bei aller Menschlichkeit, die dir noch geblieben ist: Lass Joyce und die Detektive da raus. Sie haben nichts mit dem, was damals passiert ist, zu tun.“ Der blonde Mann erwiderte überrascht seinen Blick, bevor er spöttisch lachte. „Sie haben nichts damit zu tun?“ Sein Lachen wurde lauter und lauter. „Sie haben mit dir zu tun, oder? Wie könnte ich dich möglichst schlimm leiden lassen, wenn ich sie nicht schlimm leiden lasse? Besonders deinen neuen Freund, deinen Partner, dem du nie erzählt hast, was du während des Krieges so getrieben hast? Er wird sich glücklich schätzen können, wenn er einen schnelleren Tod als Dorian sterben darf.“ Angst und Wut mischten sich in das inzwischen tränenüberströmte Gesicht Wildes. „Nein. Das klingt nicht nach dir. Hat Henrys Geist von dir Besitz ergriffen?“ „Henry?“ Shaw lachte von neuem. „Dieser Glückliche! Er durfte sterben, bevor alles den Bach hinunterging!“ Das Lachen versiegte und er zog erneut mit brutaler Gewalt den Kopf des Anderen nach hinten, sodass man meinen konnte, er versuchte, ihm den Kopf abzureißen. „Ich bin ein gerechter Mensch. Wenn wir das fehlende Teil haben und du brav mitmachst, verschonen wir deinen neuen Freund. Für die Sicherheit aller Detektive kann ich jedoch nicht garantieren. Einen musste ich zum Abschuss freigeben, sonst hätte ich die talentierte Frau Mansfield nicht rekrutieren können.“ Wilde wollte etwas antworten, aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein, was er sagen sollte. Seine Tränen brannten in seinen Wunden und wollten trotzdem nicht aufhören zu fallen. Basil war tot, Dorian war tot und George hatte den Verstand verloren. Es war seine Schuld. Seinetwegen hatten seine alten Freunde ihre Leben verloren und seinetwegen war Joyce in Gefahr. Er hatte kommen sehen, dass Dorians Ermordung mit seiner Vergangenheit zusammenhängen musste und deswegen schnell den Mord gestanden und den Wunsch geäußert, Joyce nicht sehen zu wollen. Er durfte nicht in dieses Drama mit hineingezogen werden. Unter gar keinen Umständen. Doch er hatte sich verkalkuliert. Er hatte gehofft, die Sache zügig abwenden zu können, indem er ins Gefängnis ging und der Fall ad acta gelegt werden würde. Der Schaden für Joyces Ruf wäre zwar immer noch da gewesen, aber er wäre nicht irreparabel gewesen. Niemand würde einer Detektei Aufträge geben, die von einem verurteilten Mörder mitgegründet worden war. Aber Joyce war clever, er käme klar und war fähig, etwas Neues anzufangen. Wenn jedoch bei weiteren Ermittlungen herausgekommen wäre, was Wilde während des großen Krieges zwischen England, Japan, Frankreich und Deutschland getan hatte, hätte dies auch Joyce das Genick gebrochen. Und er hätte ihm nie wieder in die Augen sehen können. Ja, wenn er ehrlich war, wog dies schwerer als er offen zugeben wollte: Joyce sollte nichts davon wissen, denn Wilde wusste nicht, ob er es ertragen würde, wenn der blonde, liebenswerte Choleriker sich von ihm abwenden würde. So wie es einst Dorian getan hatte. Er hatte nicht kommen sehen, dass alles damit zusammenhing, dass Shaw mithilfe eines wahnsinnigen Racheplans versuchen würde, Basils verfluchte Erfindung wiederzubeleben. „Wenn du diesen schrecklichen Apparat wieder zusammengesetzt hast“, raunte Wilde mit erstickter Stimme, „was dann?“ Shaw ließ ihn los. „Wenn du mir hilfst, darf dein Freund leben.“ „Und was hast du dann vor?“ Sein Landsmann sah von oben auf ihn herab. „Leben erschaffen.“   „Kunikida!“ Atsushi rannte den Flur des Krankenhauses entlang, als ginge es um Leben oder Tod – was es tat, aber der junge Detektiv wusste mit einer schmerzlichen Gewissheit, dass er im Moment nichts tun konnte. Völlig außer Puste kam er im Wartebereich der Notaufnahme vor dem dort sitzenden Kollegen zum Stehen. Kunikida hatte, bis er Atsushis Zuruf gehört hatte, den Kopf in den Händen gehalten und den Boden angestarrt. Nun richtete er sich auf und schaute mit verstörter Miene zu ihm auf. Atsushi stockte der Atem, als er seine mitgenommene Gestalt sah. Sie hatten über das Telefon den Schuss gehört, dann eine kurze, aber umso beängstigendere Stille, dann Schreie. Schrecklich viele und schrecklich laute Schreie. „Wie habt ihr es geschafft, so schnell herzukommen?“, fragte Kunikida stimmlos und seine plötzlich so fragil wirkende Erscheinung ließ Atsushi schlucken. „Dazai ist auf die Straße gesprungen und hat ein Auto angehalten, das uns dann hergebracht hat.“ Er warf einen kurzen Blick zurück auf Dazai und Joyce, die hinter ihm eintrafen. Joyce war kreidebleich und erinnerte momentan noch mehr an Kunikida als er es sonst sowieso schon tat und selbst Dazai wirkte ernst und besorgt. „Was ist mit ihm?“, fragte Letzterer nun. „Er wird notoperiert.“ „Ist Yosano auf dem Weg?“, hakte Atsushi zunehmend beklommen nach. Kunikida nickte schwach. „Was genau ist passiert?“, richtete Dazai das Wort an ihn – und an den ungewöhnlich stillen Kollegen, der neben ihm saß und scheinbar ins Nichts starrte. Dass er, der sonst nie einfach nur stillschweigend dasaß, so bestürzt Löcher in die Luft starrte, machte die Anspannung um sie herum noch eintausendmal schlimmer. „Das hatte ich nicht bedacht“, gab Ranpo schließlich leise von sich, „ich hatte nicht bedacht, dass so etwas passieren könnte.“ „Niemand gibt Ihnen die Schuld“, wandte Joyce energisch ein, „ich hatte es selbst nicht bemerkt. Niemand hat damit rechnen können, dass diese Frau eine Fähigkeit ist.“ Während Kunikida wiedergab, was geschehen war, erinnerte Atsushi sich mit einer aufsteigenden Übelkeit an Ranpos entsetzten Ausruf nach dem Schuss. „Sie ist kein Mensch!! Sie ist eine Fähigkeit!! Sie ist eine Fähigkeit!!“ Die mysteriöse Frau hatte eine Pistole in ihrer Hand materialisiert, diese auf Ranpo gerichtet und just in dem Augenblick, in dem sie hatte abdrücken wollen, sich in Luft aufgelöst, um plötzlich hinter Tanizaki aufzutauchen und ihm in den Rücken zu schießen. Blitzschnell hatte sie dann mit der Waffe auf Kunikida gezielt, der seines Schocks zum Trotz das Feuer auf sie hatte eröffnen wollen, als sie sich von neuem in Luft aufgelöst hatte und dieses Mal nicht zurückgekehrt war. „Kann das wirklich sein?“ Kunikida blickte bitterernst zu Dazai. „Kann sie wirklich eine Fähigkeit sein?“ Sichtlich gedankenversunken hatte der Angesprochene der Geschichte gelauscht, ehe er hörbar ausatmete, den Kopf in den Nacken legte und die Neonleuchte an der Decke anschaute. „Ich verstehe Ranpos Gedankengang. Wäre sie eine Befähigte, hätte sie wie wir auch eine Fähigkeit. Da sie aber Dinge als auch sich selbst verschwinden und wieder herbringen lassen kann, hieße das entweder, dass sie eine außergewöhnlich starke Fähigkeit mit mehreren Eigenschaften hätte oder dass es zwei Fähigkeiten wären – was nach unserem Kenntnisstand beides unmöglich ist.“ Aufmerksam beobachtete Atsushi seinen Mentor. Er konnte weder seine noch Ranpos Gedankengänge nachvollziehen. Wie schlossen sie daraus auf die drastische Annahme, dass diese Frau gar kein Mensch war? „Der springende Punkt ist ...“, Atsushi erschrak, als Dazai ihn direkt ansah, während er fortfuhr, „dass sie aus dem Nichts auftauchte und ins Nichts verschwand.“ „Aber ...“, der Jüngste der Runde schüttelte den Kopf, „das ist doch vielleicht ihre Fähigkeit … oder nicht?“ „Oha, Atsushi, jetzt denkst du aber schlecht von deinen Kollegen“, widersprach Dazai ihm spöttisch. „Meinst du nicht, die drei sind so kompetent, dass sie es merken würden, wenn sie verfolgt würden? Sie wurden ja auch beobachtet, deswegen Ranpos kleines Theaterstück, aber entweder kann die schöne Unbekannte sich zusätzlich unsichtbar machen oder sich teleportieren, sodass sie sich an ihr Ziel dranhängen kann ohne bemerkt zu werden. Bei Ersterem wäre sie zu Fuß einem fahrenden Auto den ganzen Weg nach Tobe gefolgt, was bemerkenswert wäre, aber unwahrscheinlich ist. Bei Letzterem bleibt eine entscheidende Frage offen.“ „Und welche?“ Atsushi schaute ihn mit immer größer werdenden Augen an. Ein dunkles Lächeln erschien auf Dazais Gesicht. „Die entscheidende Frage ist: Warum ist Kunikida unverletzt?“ „... Was?“ „Warum ist sie so plötzlich verschwunden statt auf mich zu schießen?“, übersetzte der Erwähnte, dem die Zusammenhänge allmählich klar wurden. „Sie hätte einfach wie zuvor auch hinter mir wieder auftauchen und schießen können. Aber sie kam nicht wieder.“ „Weil sie zurückgerufen wurde“, schloss Ranpo mit wachsender Frustration in der Stimme. „Sie wollte schießen. Sie war fest entschlossen zu schießen. Und wurde gegen ihren Willen zurückbeordert. Von ihrem Anwender.“ Betroffen schüttelte Joyce den Kopf. „Sie wirkte wie ein Mensch, als wir mit ihr sprachen. Ich kann kaum glauben, dass dem nicht so sein soll. Allerdings ...“ Er stockte, bevor er mit bitterer Miene zu den anderen sah. „Allerdings weiß ich aus erster Hand, dass es Fähigkeiten gibt, die Lebensformen erschaffen.“ „Ja, die von Barrie wäre ein Beispiel“, bestätigte Dazai ihm gefasst, „die von Mori ein weiteres. Und auch Weißer Dämonenschnee fällt in diese Kategorie.“ „Das heißt ...“ Atsushi schluckte von neuem. Das war nicht gut. Gar nicht gut. Sie hatten es mit einer solch entsetzlich starken Fähigkeit zu tun? Mit Grauen dachte er zurück an die Fähigkeit Barries, die gestorbene Kinder zu einer mächtigen Armee von Untoten gemacht hatte. Alles an dieser Fähigkeit war grausam gewesen und sie hatten ihr nichts entgegensetzen können. „Es ist noch viel schlimmer, Atsushi.“ Dazai las erneut seine Gedanken. „Diese Lebensform-Fähigkeit weiß anscheinend immer, wo wir sind. Sie kann jederzeit überall auftauchen.“ „DANN MÜSSEN WIR DOCH UMGEHEND DIE ANDEREN WARNEN!“ Der Junge vergaß vor Panik beinahe zu atmen. „Argh.“ Ranpo hielt sich missmutig die Ohren zu. „Rumschreien ist sicher keine Lösung. Glaubst du ernsthaft, sie sind noch nicht gewarnt? Dass Tanizaki angeschossen wurde, hat uns automatisch alle in Alarmbereitschaft versetzt. Aber ich habe dem Chef natürlich auch längst alles durchgegeben.“ „Das ist meine Schuld“, äußerte Joyce unvermittelt. „Herr Tanizaki schwebt jetzt nur in Lebensgefahr, weil ich in diese Falle getappt bin. Bevor noch jemandem etwas zustößt, ziehe ich meinen Auftrag an Sie lieber zurück.“ „Hm?“ Dazai legte den Kopf schief. „So viel Edelmut auf einmal ist ja fast unerträglich. Und vollkommen unsinnig.“ „Bitte?“ „Dazai hat Recht“, bekräftigte Ranpo ihn. „Wir sind alle darauf reingefallen und daher stecken wir nun auch alle da mit drin. Selbst wenn Sie den Auftrag an uns zurücknehmen, werden diese Leute uns nicht mehr in Ruhe lassen. Ihr Plan hatte von Anfang an die Detektei beinhaltet. An Ihrer Stelle würde ich mir lieber noch mehr Sorgen um Ihren Partner machen. Denn hinter dem, was mit ihm geschehen ist, stecken mit absoluter Sicherheit diese Leute.“ Geknickt ließ Joyce den Kopf hängen. „Ich verstehe überhaupt nicht, was hier los ist. Wer sind diese mysteriösen Gestalten? Was wollen sie? Und was in aller Welt haben sie mit Wilde zu schaffen?“ „Wer auch immer sie sind“, Kunikida stand auf, „der Chef hat die Order gegeben, den Fall weiter zu verfolgen und sie dingfest zu machen. Wir müssen unter allen Umständen den Anwender dieser Fähigkeit finden und ihn aufhalten.“ Trotz seiner offensichtlichen Angst nickte Atsushi entschlossen. Sie konnten niemanden entkommen lassen, der einen der ihren schwer verletzt hatte. Doch gleichzeitig breitete sich auch einer immer stärker und stärker werdendes, unheilvolles Gefühl in ihm aus. Sie hatten noch keinen Überblick, um was es hier tatsächlich ging und einer der Sätze der Frau, die er über das Telefon mit angehört hatte, beunruhigte ihn zutiefst. „Was … was meinte die Fähigkeit mit: 'Wir brauchen nur-“ „WO?? WO IST ER??“ Er schreckte zusammen, als eine verzweifelte Stimme durch den Gang hallte und ihn unterbrach. Atsushi traute sich kaum, sich umzudrehen, denn er ahnte, was er dort sehen würde. Er tat es dennoch. Tränenüberströmt und am ganzen Körper zitternd, blieb Naomi vor ihm stehen. „Was ist mit ihm?? Wisst ihr etwas?? Wer hat ihm das angetan??“ Die Schülerin krallte ihre Hände in Atsushis Schultern und für einen Augenblick hatte er Sorge, sie würde umkippen, sodass er sie festhielt. „Tut mir leid, wir wissen noch nichts Genaues.“ Seine Stimme begann bei ihren lautstarken Tränen zu zittern. Naomi war mental unglaublich stark, aber gerade schien sie vor seinen Augen wie ein Kartenhaus im Wind zu zerfallen. Wenn der Satz, der ihn beunruhigte, das bedeutete, was er befürchtete, dann würde der Albtraum vielleicht von vorne losgehen. Wie sollte er das verhindern? Konnte er das überhaupt verhindern? „Mach nicht so ein Gesicht, Atsushi!“ Er blickte auf und sah Yosano zusammen mit Kenji an ihm vorbeisprinten. Im Laufen drehte sie ihm ihren Kopf zu und lächelte beherzt. „Noch ist niemand tot! Und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit das so bleibt!“ „Mach dir keine Sorgen!“, ergänzte Kenji, ungetrübt wie eh und je. „Tanizaki ist super stark! Er schafft das! Und wir müssen uns auch ganz doll Mühe geben!“ Yosano wechselte ein paar Worte mit jemandem vom Personal, bevor sie beide in den öffentlich nicht zugänglichen Bereich durchgelassen wurden. Unbewusst seufzte Atsushi, während er ihnen nachschaute. Er war nicht allein mit diesem Problem. Die anderen waren da. Es musste nicht wieder in einer Katastrophe enden. Er spürte ein Paar Augen auf sich und sah neben sich. „Der Chef sagte, wir sollen wieder nur in Gruppen unterwegs sein und nichts alleine unternehmen.“ Nach außen hin war Kyoka die Ruhe selbst, doch Atsushi bemerkte das lodernde Feuer in ihren Augen. Jeder Angriff auf einen bewaffneten Detektiv war für Kyoka ein Angriff zu viel. Es war seltsam, aber es beruhigte ihn ungemein. Haruno kam hinzu und nahm die weinende Naomi in ihre Arme. Dabei wirkte sie sehr angespannt und ängstlich. „Ich wünschte nur, der Chef würde sich auch an das halten, was er sagt.“ Angesichts dieser Aussage stutzte Atsushi, als Ranpo bereits einen Tobsuchtsanfall bekam. „Das kann nicht sein Ernst sein!“ Atsushi zählte die Anwesenden durch und erschrak. „Schrecklich, dieser ganze Edelmut.“ Dazai seufzte kopfschüttelnd.   Die ungewohnte Stille im Büro der bewaffneten Detektive hatte etwas Unheimliches an sich. Normalerweise konnte Fukuzawa in seinem Büro immer etwas von dem Krach der anderen hören, wenn auch nur gedämpft, aber ihre Stimmen und Geräusche waren zu einer Art Hintergrundmusik geworden, an die er sich im Laufe der Jahre gewöhnt hatte. Daher war es zutiefst beklemmend keinen einzigen Mucks in der gesamten Umgebung zu hören. Der Chef saß auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer und blickte mit tief in Falten gelegter Stirn finster die Tür an. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden und obwohl er das Licht in seinem Büro anhatte, kam es ihm so vor, als würde die Dunkelheit von draußen versuchen, nach drinnen einzudringen. Möglicherweise war es die Sorge um Tanizaki oder die Erinnerung an Naomis erschüttertes Gesicht, als er ihr sagte, was vorgefallen war – oder es war dieses unheilvolle Gefühl, weil jemand es erneut auf sie abgesehen hatte und sie weder wussten, mit wem sie es zu tun hatten noch was sie unternehmen sollten. Ranpos schnell schaltendes Gehirn hatte unverzüglich ein paar Theorien aufgestellt. Keine von ihnen trug irgendetwas dazu bei, Fukuzawas Sorgen einzudämmen. Sollte Ranpo mit allem Recht haben, wäre das ein Problem. Eine Fähigkeit, die wie eine eigenständige Lebensform agierte? Er grummelte bei diesem Gedanken innerlich. Mit Moris Elise hatte er schon unzählige unwillkommene Begegnungen gehabt, doch bei ihr war es so, dass Mori immer in ihrer Nähe sein musste. Auch wenn Elise eigenwillig war, sie konnte nicht von sich aus plötzlich irgendwo auftauchen. Dass er jetzt alleine in der Detektei zurückgeblieben war, sollte aber in erster Linie Ranpos zweite Theorie widerlegen. Es würde Fukuzawa eigentlich ein Stück weit beruhigen, wenn die Theorie des Meisterdetektivs sich als wahr herausstellte, doch in diesem einen, außergewöhnlichen Fall wollte Ranpo nicht Recht haben. Und das wiederum rührte Fukuzawa. Tauchte die Lebensform hier auf und griff ihn an, bestätigte dies Ranpos These, wer „der Eine“ sein mochte, den die unbekannten Angreifer brauchten. Fukuzawa war nicht lebensmüde. Er wusste, dass seine Aktion gefährlich war, aber seine Erfahrungen mit gefährlichen Situationen hatten ihn viel gelehrt und sagten ihm nun, dass er diesen Schritt wagen musste, um an Informationen zu gelangen. Besser er als einer der anderen. Solange sie so wenige Informationen hatten, war das Zurechtlegen einer Strategie selbst für die gebündelten Kräfte von Ranpo und Dazai kaum machbar. Sie wussten bisher nicht einmal, ob Dazais Fähigkeit gegen diese Lebensform-Fähigkeit wirken würde. Es war wahrscheinlicher, dass er den Anwender berühren musste, um sie aufzuheben. Vielleicht, so hoffte Fukuzawa es inständig, vielleicht konnte er selbst etwas über den Anwender herausfinden, wenn er den Lockvogel spielte und auf sie traf. Das Geräusch von Schritten ließ ihn aufhorchen. Sie hallten in der komplett verwaisten Detektei wider und näherten sich ihm bedächtig. Es waren keine Schritte, die ihm bekannt vorkamen. Doch die Fähigkeit konnte es ebenso wenig sein. Sie tauchte aus dem Nichts auf und würde keinen Weg zu Fuß zurücklegen. Wer war dann- Es klopfte an seiner Tür. „Ja?“ Seine Erfahrung war es auch, die ihn trotz seiner enormen Anspannung ganz ruhig klingen ließ. Dennoch hielt er fast den Atem an, als die Tür sich daraufhin öffnete. „Entschuldigen Sie bitte die Störung. Sind Sie Yukichi Fukuzawa?“ Eine junge Frau stand dort. Sie hatte rostbraune Haare und trug ein langes, rotes Kleid mit einem dazu passendem Schulterumhang. Sie lächelte höflich und trotzdem konnte Fukuzawa spüren, dass sie genauso in Alarmbereitschaft versetzt war wie er. „Der bin ich. Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Sehr gut.“ Das unterkühlte Lächeln der Frau wurde ein wenig wärmer. „Ich würde mich gerne mit Ihnen über eine äußerst wichtige Angelegenheit unterhalten. Eliza sagte mir, dass Sie gerade allein wären, daher würde ich die Gelegenheit nur sehr ungern ungenutzt verstreichen lassen.“ Ohne dass er es sich selbst erklären konnte, nahm die Anspannung des Chefs bei ihren Worten schlagartig zu. „Eliza?“ „Einige Ihrer Mitarbeiter haben vor kurzem Bekanntschaft mit ihr gemacht. Lassen Sie mich bitte sagen, dass ich nicht durchweg damit einverstanden bin, wie dies gelaufen ist.“ Der Blick des Chefs verfinsterte sich drastisch. „Sie meinen diese Fähigkeit? Ihr Name ist also Eliza?“ „Oh?“ Die Frau gab sich unbeeindruckt von seinem Blick. „Das wissen Sie also schon? Nicht dass wir uns falsch verstehen: Eliza ist nicht meine Fähigkeit. Zum Glück nicht. Sie kann nämlich ziemlich anstrengend sein.“ „Aber Sie wissen, wer sie kontrolliert?“ Ein Lachen unterdrückend, winkte sie ab. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Antworten für Antworten. Ich sage Ihnen zuerst, was ich möchte und dann erhalten Sie ein paar Hinweise. Klingt das nicht fair? Wir können uns sicher ohne Blutvergießen zivilisiert unterhalten, nicht wahr?“ Wer auch immer die Besucherin war, sie konnte ihm vielleicht tatsächlich Antworten liefern. Auf jeden Fall gehörte sie zu den Leuten, die Joyce mit diesem rätselhaften Brief nach Yokohama gelotst hatten. Das Komische war jedoch … er konnte keine bösartige Aura, keine Tötungsabsicht, keine Hinterlistigkeit bei ihr ausmachen. Wer war sie und was wollte sie? Fukuzawa spürte in seinem Rücken die Scheide des Schwertes, das er hinter den Sofakissen versteckt hatte und deutete auf den Platz ihm gegenüber. „Bitte.“ „Vielen Dank.“ Sie setzte sich und legte die Handtasche, die sie umhängen gehabt hatte, auf ihren Schoß. „Lassen Sie mich bitte mich vorstellen. Mein Name ist Katherine Mansfield. Ich bin auf der Suche nach jemandem und hoffe sehr, dass Sie mir dabei helfen können.“ Fukuzawa stutzte. „Sie wollen das Büro der bewaffneten Detektive engagieren?“ Sie lachte. „Nein, das ist nicht nötig. Ich brauche zwar Ihre Detektei, aber aus dem Grund, dass ich meine Zielperson bereits gefunden habe.“ Das ergab keinen Sinn. Was sollte dieser Satz heißen? Fukuzawa behielt die Frau fest im Blick. Sie brauchte die Detektei, um jemanden zu finden, den sie bereits gefunden hatte? Oder meinte sie etwa, dass sie denjenigen in der … nein. Das konnte sie nicht meinen. Oder doch? „Bitte lassen Sie mich das erklären“, begann sie zuvorkommend, doch mit einem plötzlichen, sehr deutlichen Hauch von Kummer. „Ich habe einen Teil meiner Kindheit in dieser Stadt verbracht. Meine Eltern waren wegen ihrer Arbeit hierher gezogen und selbst nachdem der Krieg ausgebrochen war, konnten sie wegen ihrer neuseeländischen Pässe hier bleiben. Die britischen hatten sie verschwinden lassen, sodass wir relativ unbehelligt geblieben sind. Aber eines schrecklichen Tages wurde mein gerade mal erst zwei Jahre alter Bruder entführt.“ Sie schluckte schwer und hielt mit Mühe ihre Tränen zurück, ehe sie weiter erzählte. „Da der Krieg allerorten die Anzahl der Straftaten in die Höhe getrieben hatte, war dem Fall meines verschwundenen Bruders nie wirklich Beachtung geschenkt worden. Nach Kriegsende verließen wir Japan, doch meine Eltern konnten sich nie verzeihen, ihren Sohn irgendwo hier zurückgelassen zu haben. Deswegen brachen sie vor ein paar Jahren auf, um ihn auf eigene Faust zu suchen.“ Sie pausierte von neuem, um die Tränen in ihren Augen zurückzudrängen. Ein zunehmend ungutes Gefühl breitete sich in Fukuzawa aus. Irgendetwas sagte ihm, dass diese Geschichte nicht nur kein gutes Ende nahm, sondern noch weitaus dramatischer würde. „Sie kehrten nie zurück.“ Mansfield entwich gegen ihren Willen ein Schluchzen. „Das tut mir leid. Ist ihnen etwas zugestoßen?“ Rasch ihre Contenance zurückerzwingend, nickte sie. „Ich weiß nicht, was im Detail passiert ist, aber mir wurden Informationen zugespielt, aus denen hervorgeht, dass sie hier in Yokohama ermordet wurden.“ Fukuzawa schreckte kaum merklich zusammen. Innerlich brodelte es jedoch in ihm. „Ermordet?“ „Anscheinend waren sie einer Spur meines verschwundenen Bruders gefolgt und ihr Mörder wollte nicht, dass sie herausfanden, was mit ihrem Sohn geschehen war. Vermutlich hat er ihn auch auf dem Gewissen. Und damit nichts davon das Licht des Tages erblickte, brachte er meine Eltern auf brutalste Weise um. Im beigefügten Polizeibericht war die Rede von einem regelrechten Blutbad, von der Tat eines Wahnsinnigen.“ In Mansfields Mimik mischte sich eine eiskalte Entschlossenheit. „Ich bin hier, um den Mörder meiner Eltern zur Rechenschaft zu ziehen.“ Wortlos starrte Fukuzawa sie an. Es war ihm schmerzlich bewusst, wie unsinnig es wäre, etwas zu denken wie: 'Das kann nicht sein', denn er wusste, dass es sehr wohl sein konnte. Dass es mitunter vielleicht sogar wahrscheinlich war, dass es genau so war. Es tat ihm selbst weh, so über ihn zu denken, aber die Vergangenheit ließ sich nicht auslöschen, Geschehenes nicht ungeschehen machen. „Denken Sie, Ihre Eltern würden wollen, dass Sie das tun?“, fragte er und war selbst ein wenig überrascht, wie ruhig er klang. Mit einem gequälten Lächeln schüttelte sie den Kopf. „Die Dinge sind, wie sie sind, Herr Fukuzawa. Doch ich kann eine Welt nicht akzeptieren, in der der Mörder meiner Eltern sich des Lebens freut, während ich allein zurückgelassen wurde. Er muss mir sagen, was mit meinem Bruder passiert ist und dann muss er sterben.“ „Wir könnten den Fall untersuchen und zur Anklage bringen.“ „Hah!“ Mansfield lachte spöttisch. „Auf die Militärpolizei war ja von Anfang an so schrecklich viel Verlass gewesen, nicht wahr? Ich wurde davor gewarnt, dass Sie so etwas versuchen würden. Sie haben Verbindungen nach ganz oben, es wäre wahrscheinlich eine Leichtigkeit für Sie, ihn freisprechen zu lassen. Nein, nein, Herr Fukuzawa, so läuft das nicht. Sie überlassen ihn mir und ich sorge dafür, dass Ihre restlichen Mitarbeiter möglichst wenig Schaden nehmen.“ Fukuzawas Blick wurde harsch. „Das ist keine Option“, sagte er in einem gleichermaßen groben Tonfall. „Sie können ihn nach dem Verbleib Ihres Bruders fragen, aber ich werde nicht zulassen, dass Sie ihn töten.“ Mansfields Hände krallten sich in die Handtasche, die auf ihrem Schoß stand. „Das ist … bedauerlich. Ich hatte angenommen, Sie wären vernünftiger.“ Sie biss sich kurz auf ihre Unterlippe. „Vielleicht werden Sie ja doch noch einsichtiger, wenn die beiden anderen so weitermachen wie bisher.“ „Wer arbeitet mit Ihnen zusammen und was haben Wilde und Joyce damit zu tun?“ Er hatte Mühe, die Frau nicht anzuschreien. „Ich hatte es Ihnen ja versprochen und ich bin ein ehrlicher Mensch. Elizas Anwender ist ein ziemlich … launischer Ire namens George Bernard Shaw. Er möchte sich irgendeinen Apparat zusammenbasteln, der wohl praktisch unsterblich machen soll. Der Erfinder ist ein Freund von diesem Wilde. Er war ein Entwickler für Fähigkeiten-Waffen, hat dieses Ding aber vernichtet und die einzelnen Teile in der Welt verstreut. Tja, eins fehlt noch. Ich helfe ihm mit diesem Quatsch, weil er mir die Informationen über meine Eltern zugespielt hat. Ich glaube, mehr sollte ich Ihnen nicht verraten. Außer Sie-“ „Ich werden Ihnen Dazai nicht ausliefern!“ Fukuzawas Ausruf grollte durch die stille Detektei, doch Mansfield zuckte lediglich mit den Schultern. „Ich hoffe, Sie werden Ihre Entscheidung nicht irgendwann bereuen. Reue ist etwas Schreckliches.“ Zu Fukuzawas Unglauben stand sie seelenruhig auf. Was machte sie so sicher, dass er sie einfach gehen ließ? Er seufzte innerlich. Es konnte nur einen Grund dafür geben: Sie war eine Befähigte. „Wenn Sie jetzt aufgeben und sich stellen“, schlug er vor, „wird dieses Gespräch auch zivilisiert enden.“ Sie blinzelte ihn verwundert an. „Ich dachte, ich hätte deutlich gemacht, weswegen ich hier bin. Wissen Sie, wir hatten zu Hause immer einen Leitsatz: 'Aber etwas lieben, das muss man.'“ Ihr Blick und ihre Stimme wurden wehmütig. „Ich kann nichts mehr lieben außer dem Gedanken, mich an Osamu Dazai zu rächen. Und dafür bin ich bereit alles zu tun.“ Sie zog einen Revolver aus ihrer Handtasche, entsicherte ihn und richtete ihn auf den Chef. Ohne eine Miene zu verziehen, sah Fukuzawa in den Lauf der Waffe. „In diesem Fall lassen Sie mir keine andere Wahl.“ Er schloss kurz die Augen, atmete aus und hatte im Handumdrehen bereits das versteckte Schwert gezogen – was Mansfield nicht beeindruckte. „Fähigkeit“, sagte die Frau gelassen, „Sixpence.“ Mit ihrer freien Hand warf sie eine Münze, die gegen Fukuzawas Klinge prallte. Im nächsten Augenblick stand er ohne seine Waffe da. Irritiert starrte er auf seine leeren Hände. Sie schmerzten etwas, als hätte er etwas Heißes darin gehalten und sich verbrannt. Und tatsächlich roch es so, als wäre etwas explodiert. Sein Blick schnellte zu Mansfield zurück. Auch sie hielt keinen Revolver mehr in der Hand. Dafür klimperte sie mit den Münzen in ihrer anderen Hand. „Zwingen Sie mich nicht, das mit Ihrem ganzen Büro oder gar mit Ihnen selbst zu tun. Sie wollen den anderen doch sicher noch mitteilen, was Sie in Erfahrung gebracht haben.“ Sich selbst für seine Hilflosigkeit verfluchend, blickte Fukuzawa Mansfield mit nur äußerlich stoischem Blick hinterher.   Mit staunenden Augen sah Kenji sichtlich beeindruckt zwischen Yosano und der Ärztin hin und her, die sie gerade in dem kleinen Raum vor dem OP-Saal über Tanizakis Zustand aufklärte. Die Ärztin aus dem Krankenhaus sagte irgendeinen Wert und Yosano fragte daraufhin irgendeinen anderen Wert ab; die jeweils andere nickte stets als Antwort und so ging es hin und her und hin und her – und das rasend schnell. Vermutlich hätte Kenji auch dann nichts von diesem Gespräch verstanden, wenn sie bedeutend langsamer gesprochen hätten, aber das kümmerte ihn nicht so sehr. Von Natur aus war er es gewohnt, sich auf das Wichtigste zu beschränken. „Geht es Tanizaki gut?“, fragte er, als die Medizinerin des Krankenhauses in den OP zurückgekehrt war. Yosano stutzte kurz, bevor sie durchatmete und ein erleichtertes Lächeln sich auf ihrem Gesicht bildete. „Es sieht gut aus. Auch wenn ich ein bisschen angefressen bin, dass er sich eine Kugel einfängt und ich sie nicht herausholen darf. Die Ärzte hier sind aber mehr als kompetent. Ich bleibe trotzdem lieber mal in der Nähe. Bei ihm weiß man nie.“ Kenji strahlte bei ihrer Antwort. Wenn Yosano so zuversichtlich war, dann musste er sich keine Sorgen um Tanizaki machen. „Manchmal wünschte ich, ich könnte ihm etwas von meiner Fähigkeit abgeben.“ „Wieso das?“ „Weil Tanizaki so oft verletzt wird. Es wäre viel schöner, wenn er das nicht würde.“ Yosano sah in Kenjis ehrliches und munteres Gesicht und schüttelte amüsiert den Kopf. Der Junge hatte keine Ahnung, wie süß er manchmal sein konnte. Es stimmte schon, Tanizaki war der reinste Magnet für Verletzungen – oder kam ihnen beiden das nur so vor, weil sie physisch robuster waren? Plötzlich hielt Yosano alarmiert inne. Wo kam dieser Hauch von Eiseskälte mit einem Mal her? „Was -?!“ Vor ihren Augen materialisierte sich aus dem Nichts eine Frau. Ihr Blick war durchdrungen von Zorn und Irrsinn und in einer ihrer Hände hielt sie eine Pistole. War sie das? Die, vor der Ranpo sie gewarnt hatte? Schützend stellte Yosano sich vor Kenji. „Du hast auf Tanizaki geschossen, nicht wahr? Das war ein Fehler. Niemand außer mir darf ihm wehtun.“ Ein nicht weniger irres Grinsen erschien auf dem Gesicht der Ärztin. „Ihr seid Störfaktoren!“, schrie die Fähigkeit den Detektiven wie im Wahn entgegen. „Wenn ihr George stört, war alles umsonst! Wir brauchen nur einen von euch! Der Rest von euch kann weg!“ „Und wen von uns braucht ihr so dringend? Und wofür?“ Yosano versuchte, ihre eigene Wut im Zaum zu halten. Normalerweise wäre sie auf so eine Verrückte, die es gewagt hatte, auf einen der ihren zu schießen, längst mit ihrer Machete losgegangen, jedoch – das da vor ihr war eine Fähigkeit. Sie wusste, dass man Elise oder auch Weißer Dämonenschnee zwar angreifen, aber nicht töten konnte. Der einzige Vorteil, den sie gerade hatten, war, dass die durchgeknallte Fähigkeit vor genau den beiden Richtigen aus der Detektei erschienen war. „Nicht euch! Ihr seid unnütz!“, brüllte die übernatürliche Frau hysterisch und gab mehrere Schüsse auf Yosano ab. Noch während die Getroffene mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden fiel, feuerte Eliza weiter und traf Kenji … mehr oder weniger. „Hey!“, empörte sich der Junge und schüttelte sich, nachdem die Kugeln an ihm abgeprallt und zu Boden gefallen waren. „Hör auf damit! Das gehört sich doch nicht! Ich kann das nicht ignorieren, wenn du uns einfach angreifst.“ Elizas Wahnsinn wich für den Moment einer tiefen Verwirrung, als Kenji bereits auf sie zustürmte und ihr einen Schlag in den Magen verpasste. „Urgh!“ Luft entwich ihren Lungen, als sie getroffen zurücktaumelte. Sie riss entsetzt die Augen auf, als sie bemerkte, wie Yosano wieder aufstand und eindeutig nicht mehr verletzt war. „Was-was seid ihr für Monster?!“ „Ist das jetzt dein Ernst?“ Yosano zog eine Augenbraue nach oben. „Du hältst uns für die Monster?“ „Menschen sind doch sterblich!“ Eliza stapfte wütend mit einem Fuß auf. Als hätte die Unverwundbarkeit ihrer beiden Gegner sie beleidigt, löste sie sich in Luft auf, um im nächsten Augenblick hinter Yosano zu erscheinen und ihr ein Kurzschwert in den Rücken zu rammen. Die Detektivin schrie vor Schmerzen auf und fiel wieder auf die Knie, nachdem die Fähigkeit die Klinge gezogen hatte. „Yosano!“, rief Kenji entsetzt aus, bevor er von neuem auf Eliza losging. Sie parierte seinen Schlag mit dem Schwert und machte abermals große Augen, als das Schwert beim Aufeinandertreffen mit Kenjis Faust zersplitterte. Sein nachfolgender Schlag beförderte sie mit voller Wucht gegen die nächste Wand. „Vorsicht, Kenji“, mahnte die erneut wiederhergestellte Yosano. „Tanizaki wird noch operiert, wir dürfen hier nichts kaputt machen.“ „Alles klar!“ Angesichts ihrer unverwüstlichen Kontrahenten verlor Eliza mehr und mehr die Geduld. „Das akzeptiere ich nicht!! Damit George glücklich wird, dürft ihr ihm nicht in die Quere kommen! Ihr müsst weg! Ich werde zuerst euch und dann Mori töten!! Dann wird George glücklich werden!“ „Mori?“ Bei diesem Namen hielt Yosano inne. Was hatte der mit allem zu tun? Ein lauter, jähzorniger Urschrei entfuhr Eliza, als sich in ihrer Hand eine runde Kugel materialisierte. Sie schmiss diese auf den Fußboden, wo sie zersprang und ihr ein lilafarbenes Gas entwich, das den kleinen Raum in Nullkommanichts einhüllte. Geistesgegenwärtig hielt Yosano sich eine Hand vor Nase und Mund und nutzte die andere, um das Gleiche bei ihrem jüngeren Kollegen zu tun. War das irgendein Giftgas? Aber die Fähigkeit stand am nächsten dran, sie würde es ebenso einatmen. Oder hieß das, der Fähigkeit machte nicht einmal das etwa-? Yosano spürte, wie ihr ganzer Körper sich plötzlich wie gelähmt anfühlte. Sie verlor die Kontrolle über ihre Muskeln und stürzte wie Kenji zu Boden. Alles verschwamm vor ihren Augen und sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Wie durch einen Schleier beobachtete sie, wie ihre übernatürliche Angreiferin abrupt erschrocken zusammenzuckte und sich auflöste. Dann wurde die Tür zum Flur aufgerissen und sie hörte aufgeregte Schreie. „Yosano! Kenji! Was ist passiert?!“ „Zurück, Atsushi! Da ist irgendein Gas!“ Dazai zog den Jüngeren mit Gewalt nach hinten zurück, während er gleichzeitig Kunikida daran hinderte, in das Zimmer zu laufen. „Kyoka!“ „Verstanden! Fähigkeit: Weißer Dämonenschnee!“ Kyokas Fähigkeit erschien und raste in den Raum, um die beiden darin Liegenden herauszuziehen. „Das Gas verteilt sich im Flur!“, rief Ranpo und staunte, als Joyce sich an die Spitze der anderen setzte und etwas aus seiner Hosentasche in den Gang hineinwarf. „Fähigkeit: Clay!“ Es rumpelte und schepperte, als eine große, dicke Mauer aus Lehm sich zwischen dem gefährlichen Gas und den Detektiven erhob und den Flur zusammenschrumpfen ließ. Atemlos blickten sie auf die Wand, die sie nun gegen das Gas abschirmte, als Weißer Dämonenschnee in der Luft schwankte und sich auflöste. Die beiden, die die Fähigkeit im Schlepptau gehabt hatte, fielen hinab und blitzschnell fing Atsushi Kenji auf, während Yosano in Dazais Arme fiel. Der silberhaarige Junge legte seinen bewusstlosen Kameraden vorsichtig auf dem Boden ab, doch Dazai beeilte sich, Yosano geschwind loszulassen. Er konnte nicht einschätzen, was mit ihr war und wollte daher rasch von ihr wegrücken. Kaum noch bei Bewusstsein und mit deutlichen Schwierigkeiten zu atmen, suchten Yosanos glasige Augen die seinen. „Mori“, raunte sie fast unhörbar und ließ ihn stutzen. „Sie will … Mori … töten ...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)