Never let me go von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 3: Since I was born, I started to decay ----------------------------------------------- „Since I was born, I started to decay“   Placebo, „Teenage angst“   „Vor Langeweile zu sterben, ist langweilig!“ Der Junge, der dies ausrief, guckte mit lustloser Miene zum blauen Himmel hinauf. Seine wuscheligen braunen Haare wehten in der zarten Brise, die durch die Stadt Yokohama blies. Er war vielleicht gerade einmal ein Teenager; seine Statur war zu klein für einen Erwachsenen und allzu kräftig sah er ebenso nicht aus. Vielleicht war sogar eher das Gegenteil der Fall. Für ein gewöhnliches Kind jedoch hatte er einen viel zu außergewöhnlichen Blick in seinen Augen. Seine ganze Miene verriet, dass er alles außer gewöhnlich war. Was für ein Junge war das, dessen Augen abwechselnd gänzlich leer und völlig abgeklärt dreinblickten? Manchmal, so wie heute, sah man ihn gelangweilt und gleichgültig und ohne jeglichen Elan durch die Gegend schlurfen, andere Male wirkte er plötzlich wie verzweifelt und panisch und schien mit seinen großen, dunklen Augen durch alles hindurchzustarren. Niemand, der diesen Jungen bisher gesehen hatte, wusste, wer er war, woher er gekommen war und wohin er gehörte. Ein Straßenkind wäre die offensichtlichste Vermutung gewesen, doch die Straßenkinder waren fast immer in Gruppen oder wenigstens zu zweit unterwegs. Nur dieser Junge war immer allein. Die wenigen Leute, die ihn einmal angesprochen hatten, berichteten hinterher, dass man ihn vielleicht besser einfach in Ruhe lassen sollte. Doch – warum wirkten diese Leute so verstört, wenn sie dies sagten? Hatten sie eine weitere Seite an diesem Jungen gesehen? Eine, die ihnen Angst gemacht hatte? Wie konnte ein Kind ihnen Angst eingeflößt haben? Er war doch nur ein Kind … oder? Der sprunghafte Anstieg von Diebstählen und Einbrüchen in letzter Zeit konnten unmöglich etwas mit diesem einen Jungen zu tun haben … oder? Er trug stets warme Kleidung, wenn auch keine saubere, und Hunger schien er auch nicht zu leiden. Und dann diese Verbände. Er machte sich anscheinend nichts aus frischer Kleidung, aber er schien regelmäßig die Verbände um seine Arme, Beine und seinen Hals zu wechseln. Warum in aller Welt trug dieses Kind so viele Bandagen an seinem kleinen Körper? Er hatte doch nichts zu verstecken … oder? Sollte man sich Gedanken darüber machen, dass anderswo sogar Überfälle und Morde geschehen waren? Das hatte sicher nichts mit diesem Jungen zu tun … oder? Irgendwann begannen die Leute zu hinterfragen, ob dies wirklich ein Kind oder gar ein Mensch war. Der Krieg war lang und grausam gewesen und lockten solche Ereignisse nicht oft Dämonen und böse Geister hervor? Die Gerüchte rund um den seltsamen Jungen wurden immer wilder und so wurde es zu einem stadtweiten Habitus, ihn einfach in Ruhe zu lassen. Dazai war eigentlich ganz zufrieden damit, dass sie ihn in Ruhe ließen. Anfangs war es ja noch ganz unterhaltsam gewesen, die Leute zu verschrecken, die nachfragen wollten, wer er denn war. Aber er musste auch höllisch aufpassen, dass er nicht zu viel Aufmerksamkeit erregte. Wenn die Leute nicht aufhörten nachzufragen oder ihn gar mitnehmen wollten, artete das Ganze jedes Mal in Arbeit aus. Wobei es schon irgendwie interessant gewesen war vor einer Weile diese Menschenhändler um die Ecke zu bringen. Um die war es nun wirklich nicht schade. „Haaaa~“ Er seufzte lang und tief. Etwas Interessantes war ihm schon lange nicht mehr passiert. Zu lange. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seit er von weit oben aus dem Norden nach Yokohama zurückgekehrt war. Eine Ewigkeit, seit er bei seiner langweiligen Tante und ihrem langweiligen Mann gelebt hatte. Unbewusst strich seine rechte Hand über die Narben, die unter den Verbänden auf seinem linken Arm versteckt waren. Was sein geistloser Onkel wohl gerade machte? Ah~, die Erinnerung an sein Gesicht, als ihm damals klar geworden war, was mit seiner Frau geschehen war … das war interessant gewesen. Dazai begann über die Verbände zu kratzen und die Narben zu irritieren. Seine Mutter würde es nicht gut finden, dass er dies als interessant bezeichnete. Aber sie war ja nicht mehr am Leben, also hatte sie auch kein Mitsprachrecht in der heftigen Diskussion, die fast pausenlos in seinem Kopf stattfand. Wenn sie ihre Meinung dazu hätte äußern wollen, hätte sie nicht sterben dürfen. So einfach war das. Mittlerweile hatte er die Verbände auseinander geschoben und kratzte mit voller Kraft über die alten Narben und die noch frischeren Wunden. Das nagende Gefühl machte sich mal wieder in seinem Inneren breit und Dazai hasste es, wenn es das tat! Es sollte endlich die Klappe halten und still sein! Es fiel ihm viel schwerer zu denken, wenn es die Kontrolle über ihn übernahm. Hier musste doch irgendwo etwas sein, mit dem es sich abstellen ließ! Irgendetwas, das ihn davon befreien konnte; wenn auch nur für einen flüchtigen Moment. Weswegen war er denn sonst in die Stadt zurückgekommen?! Mit inzwischen beinahe manischem Gesichtsausdruck blickte er sich um, während er seinen linken Arm blutig kratzte. Hier musste etwas sein! Etwas, das so interessant war, dass es das Nagen und die Gedanken abstellte! Diese Stadt war so groß, es konnte gar nicht sein, dass hier nichts war! „Dann eben …!“ Dazai atmete immer schneller und hatte trotzdem das Gefühl zu ersticken. Wenn er nichts Interessantes finden konnte, dann musste er zu seinem anderen Plan, mit dem er bisher jedes Mal gescheitert war, übergehen. Als würde er verfolgt, rannte er in Richtung des Flusses und sprang ohne zu zögern in das Wasser. Die Strömung war kräftig, wenn er Glück hatte, würde er im Handumdrehen unter Wasser gezogen werden. Der Fluss riss ihn mit und inmitten des kalten, dreckigen Wassers atmete Dazai gedanklich auf. Bis ihn plötzlich etwas an seiner Kleidung packte und unnachgiebig an ihm zerrte. Der Junge riss unter Wasser die Augen auf und versuchte, sich von was auch immer ihn da festhielt loszureißen, doch stattdessen zog das Etwas noch stärker an ihm und schleifte ihn in Richtung des Ufers. Dazai spürte wieder Boden unter sich, als zwei Hände nach ihm griffen und ihn endgültig aus dem Fluss herauszogen. „Du meine Güte!“, hörte er die aufgeregte und ängstliche helle Stimme eines Kindes, während er selbst das Flusswasser elendig aushustete. „Bist du in Ordnung??“ Heftig nach Luft schnappend, drehte er seinen Kopf zu dem Störenfried, der an seine Seite geeilt war und warf ihm den finstersten Blick zu, den er bewerkstelligen konnte. Das Kind – ein schmächtiges, schmutziges Wesen mit großen, erschrockenen Augen – wich ein wenig von ihm. Zu seinem Erstaunen lief es allerdings nicht davon. „Geht es?“, fragte es stattdessen vorsichtig. „Nein!“, fuhr Dazai es zornig an und musste erneut husten, weil sein Hals vom Hochwürgen des Wassers rau geworden war. „Du hattest Glück, dass meine Angel sich in deiner Kleidung verfangen hatte“, erklärte es, ohne auf die offensichtliche Wut des Anderen zu reagieren. „Angel?“, hakte Dazai ungläubig nach. Das war ein Witz, oder? Seine Bemühungen waren nicht wirklich von diesem Winzling und dessen Versuch, in dieser trüben Brühe zu fischen, zunichte gemacht worden, oder? Das Kind neigte seinen Kopf zu der neben ihnen liegenden, eindeutig selbstgebauten, schäbigen Angel. Es nickte und strich sich seine langen, strähnigen, ungewaschenen, rostbraunen Haare aus dem Gesicht. „Frischen Fisch gibt's heute wohl nicht, aber ich bin froh, dass ich nicht schon früher aufgegeben habe, sonst hätte dich ja keiner herausgezogen.“ Das in Lumpen gekleidete Balg besaß die Frechheit zu lächeln. „Fisch aus diesem Fluss essen?“ Dazai richtete sich auf und verzog angewidert das Gesicht. „Das klingt nach einer grausamen Art zu sterben.“ „Na ja, so oft fange ich auch nichts, aber so manches Mal hat mich ein Fang hier raus schon vor dem Verhungern bewahrt.“ Ein Straßenkind, natürlich. Es war ihm auf den ersten Blick klar gewesen. Je länger er mit ihm redete, desto mehr vermutete Dazai, dass sein „Retter“ ein Junge war. Wie alt war jedoch in Anbetracht seiner hageren Gestalt und den eingefallenen Gesichtszügen schwer zu sagen. Sein Alter? Vielleicht, aber wahrscheinlich eher etwas jünger. Interessierte ihn aber auch nicht näher. „Hast du irgendeinen Ort, an den du gehen kannst?“, fragte das Kind nun. „Was kümmert dich das?“ „Es wird bald dunkel. Dann ist die Ecke hier nicht so sicher. Du kannst mit mir kommen, wenn du sonst nirgends hin kannst.“ Was für ein seltsames Kind. Dazai zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen.“ Seine neue Bekanntschaft lächelte erneut, so als würde ihn diese Antwort ehrlich freuen. Der Junge wollte Dazai beim Aufstehen helfen, was dieser aber umgehend ablehnte. Schweigend gingen sie nebeneinander her, was ihn zu Dazais Leidwesen allerdings nicht davon abhielt, immer wieder auf den blutenden linken Arm zu schielen. „Hast du dich verletzt?“ „Nein, der sieht immer so aus.“ Der Braunschopf rollte innerlich mit den Augen. „Tut das nicht weh?“ „Es tut eine ganze Menge.“ „ … Ah … ha? Du trägst ziemlich viele Verbände.“ „Schick, nicht wahr?“ „Äh … ah! Hier müssen wir lang!“ Das fremde Kind bog um eine Ecke und kletterte in ein altes, riesiges Abflussrohr, das anscheinend zu einer stillgelegten Fabrik am Flussufer gehörte. Wenn Dazai hätte raten müssen, warum der Fluss so eine eklige Brühe war, sein Toptipp wäre diese Fabrik gewesen. Der Junge hielt ihm eine Hand hin, um ihm beim Reinklettern zu helfen, aber Dazai hievte sich mit seinem mehr oder weniger gesunden Arm in das Innere des Rohrs. Dort angekommen blickte er sich musternd um, nachdem sein Gastgeber eine Kerze angezündet hatte. Auf dem Boden lag eine ranzige, zerschlissene Matratze mit einer ebenso vergammelten Decke darauf. Daneben standen ein paar alte Plastikflaschen, in die eine klare Flüssigkeit (vermutlich Wasser und aufgrund der Farbe definitiv nicht aus dem Fluss) nachgefüllt worden war und dabei lag eine dicht verschlossene Plastiktüte, die das Kind nun öffnete. „Wenn du Hunger hast, ich habe noch zwei Scheiben Brot, die ...“, er betrachtete die Scheiben im Kerzenlicht, „auch noch gut zu sein scheinen und ich habe noch ein paar Snackriegel, die mir ein netter Ladenbesitzer geschenkt hat, weil sie nah am Ablaufdatum sind.“ Er hielt Dazai die erwähnten Sachen wie einen großen Schatz hin. Dieser fischte sich einen der Snackriegel aus der Tüte und setzte sich auf die Matratze. „Sehr hübsch hast du's hier.“ Der Junge blinzelte ihn fragend an, nahm sich selbst eine der trockenen Brotscheiben und ließ sich neben seinem Gast nieder. „Ich … ich verstehe die halbe Zeit nicht, was du ernst meinst und was nicht.“ „Nur die halbe?“ Dazai lachte. „So gut hat mich ja lange niemand verstanden!“ Sein Lachen verstummte abrupt wieder. „Aber das gerade meinte ich ernst. Irgendwie … gefällt es mir.“ Eine angenehme Stille trat zwischen sie, während sie ihr karges Mahl aßen. Das Kind bot Dazai (mit dem Hinweis, dass das Wasser aus dem Wasserhahn einer öffentlichen Toilette kam) etwas zu trinken an und Dazai trank gierig ein paar Schlücke. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt etwas getrunken hatte – die Flussbrühe ausgenommen. Sein Gastgeber schien doch recht interessant zu sein. Wenn jemand so dürr und krank aussah, warum kümmerte er sich dann um einen anderen? Er hatte doch definitiv genug eigene Probleme. „Ich habe gesehen, wie du gesprungen bist“, sagte das verwunderliche Kind auf einmal leise in die Stille hinein und Dazai stutzte. „In den Fluss. Ich habe gesehen, wie du hinein gesprungen bist.“ „Und?“ Dazais Stimme hatte eine kalte Färbung angenommen. „Ich habe auch schon einmal darüber nachgedacht“, antwortete es bekümmert und richtete seinen Blick auf die Matratze. „Aber … ich möchte leben. Auch wenn es schwer ist und wehtut und manchmal kaum zu ertragen ist.“ Dazai schluckte und sah verdutzt zu ihm. „Das ist deine Sache“, entgegnete er und war selbst verwirrt darüber, wie brüchig seine Stimme plötzlich klang, „lass mich damit in Ruhe.“ „Werde ich. Ich dachte nur, vielleicht willst du noch einmal darüber nachdenken und doch versuchen zu leben.“ „Das ist das Gegenteil davon, mich in Ruhe zu lassen.“ Er war drauf und dran, aufzuspringen und abzuhauen, als der Junge weitersprach. „Tut mir leid.“ Tränen tropften auf die Matratze. „Es ist nur …. Ich hatte vorhin ganz plötzlich den überwältigenden Drang, dich zu retten. Ich weiß nicht, warum und wie in aller Welt ich das überhaupt geschafft habe. Sieh mich an, ich bin nun wirklich nicht der Stärkste.“ Er wischte sich die nach wie vor fallenden Tränen mit den Händen weg und lachte traurig. „Aber da war wie eine Stimme in meinem Kopf, die mich anschrie, dich zu retten. Komisch, oder?“ „Du bist komisch, ja.“ Mit einem Mal war Dazais Zorn verraucht. Er konnte sich selbst nicht erklären warum, doch das Gerede des seltsamen Kindes hatte dies bewirkt. Das Kind war nicht seltsam, dachte er und merkte nicht, wie sich ein unheimliches Lächeln auf seinen Lippen formte; es war wirklich interessant. „Ach“, es schniefte und sah wieder zu seinem Gast, „hast du eigentlich einen Namen? Ich habe selber keinen, daher habe ich vergessen, dich danach zu fragen.“ „Du hast keinen Namen?“ Es schüttelte den Kopf und Dazais Grinsen wurde noch stärker. „Dann habe ich auch keinen.“   Wie Dazai in der darauffolgenden Zeit erfuhr, war der Junge ohne Namen als sehr kleines Kind von Menschenhändlern entführt worden und konnte sich daher nicht an seine Herkunft, seine Familie oder sonst etwas erinnern. Vor einiger Zeit (der Junge wusste nicht einmal, wie lang das wohl her sein mochte) hatten die Menschenhändler ihn dann zurückgelassen und seitdem schlug er sich in den Straßen von Yokohama alleine durch. Er ging anderen Leuten, besonders Erwachsenen, meistens aus dem Weg, denn man konnte ja nicht wissen, ob nicht einer von ihnen ein Menschenhändler war und ihn erneut verkaufen oder für irgendwelche schlimmen Dinge missbrauchen wollte. Daher fand er es ratsamer, nicht den Kontakt zu anderen zu suchen. Dazai war in der Tat der Erste, mit dem er nach sehr langer Zeit überhaupt wieder sprach. Der Junge hatte sehr offensichtlich Freude daran, einen Gefährten gefunden zu haben, obwohl dieser meist nur wenig redete und das Meiste davon wiederum ziemlich rätselhaft war. Ihr nun gemeinsamer Tagesablauf bestand darin, dass der Junge Dazai fröhlich vollblubberte und Dazai das Geblubbere stoisch über sich ergehen ließ. Da der Braunschopf das größere Talent dafür hatte, Lebensmittel zu besorgen (Das entsetzte „Du klaust die Sachen doch nicht etwa??“ hatte er irgendwie süß gefunden), schaffte er Essen herbei und quartierte sich im Gegenzug in der mehr als bescheidenen Behausung seiner neuen Bekanntschaft ein. Der Junge war ein Rätsel und das sollte aus Dazais Mund etwas bedeuten. Er verstand ihn nicht, absolut nicht. Wie konnte jemand, der praktisch im Vorhof zur Hölle lebte, so am Leben festhalten? Er suchte auch nicht nach einem Sinn des Lebens, einem Grund für das alles. Als Dazai ihn danach gefragt hatte, hatte er ihn nur mit seinen großen Augen angeblinzelt, kurz nachgedacht und schließlich verkündet: „Der Sinn des Lebens liegt darin … zu leben.“ Dazai hatte sich bei dieser Antwort nicht nur im übertragenen Sinne, sondern tatsächlich eine Hand vor die Stirn geschlagen. Hatte er von diesem Kind etwa wahrhaftig eine Antwort erwartet? Ihm war sehr zügig klar geworden, warum die Menschenhändler den Jungen zurückgelassen hatten. Es war der gleiche Grund, der auch hinter seinem elenden Aussehen stand. Nicht allein Armut und Hunger hatten ihn so zugerichtet, nein, seine aschfahle Haut, seine schmächtige Statur und seine kraftlosen Bewegungen kamen von etwas anderem. Immer, wenn der Junge so stark hustete, dass es ins Würgen überging, oder Fieber und Schüttelfrost ihn so stark schwächten, dass er nicht in der Lage war, aufzustehen, saß Dazai einfach nur da und beobachtete ihn. Es machte keinen Sinn. Er musste es doch selbst wissen. Er musste wissen, dass die Krankheit ihn bald dahinraffen würde und trotzdem hielt er so am Leben fest? Verstand einer die Menschen! „Stellst du dir manchmal vor, wie es wäre, in einer Familie zu leben?“, sagte der Junge nachdem er zuvor eine halbe Stunde durchgehustet hatte. „Nein. Warum?“ Dazai sah ihn halb interessiert, halb gelangweilt an. „Ich mir schon. Vielleicht … vielleicht weil ich mich nicht an sie erinnern kann.“ „Vielleicht waren sie furchtbare Menschen“, erwiderte Dazai. „Vielleicht haben sie dich ja an die Menschenhändler verkauft.“ Der Junge schüttelte schwach und anscheinend belustigt den Kopf. „Du sagst immer solche Sachen. Aber nie erzählst du etwas von dir.“ Ein süffisantes Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht. „Was möchtest du denn wissen?“ „Hast du eine Familie?“ Er warf theatralisch die Arme in die Höhe. „Was für eine vorhersehbare Frage! Mit einer offensichtlichen Antwort!“ „Du könntest ja auch von zu Hause abgehauen sein.“ „Welchen Unterschied macht das?“ „Du könntest zu deiner Familie zurück.“ Dazai entfuhr ein unzufriedenes Stöhnen. „Zu der Familie, vor der ich laut deiner Logik abgehauen bin? Warum haut man denn ab? Weil es da so schön war, dass man es vor Glück kaum ausgehalten hat?“ Der Junge seufzte. „Du bist ein echt seltsamer Mensch.“ Zu seiner Verwunderung sah Dazai ihn plötzlich mit großen Augen an und begann aus dem Nichts heraus wie ein Wahnsinniger zu lachen. „Habe ich etwas Lustiges gesagt?“ Das Lachen ebbte rasch wieder ab und Dazai bedachte ihn mit einem Gesichtsausdruck, den er nicht einordnen konnte. So hatte er seinen Begleiter noch nie gesehen. Er wirkte plötzlich so … so … zerbrechlich? „Denkst du, ich bin ein Mensch?“, hauchte er so leise, dass es kaum zu vernehmen war. „J-ja … ja, natürlich. Was denn sonst?“ Der Junge stutzte aufs Heftigste, als sein Gegenüber abermals lauthals zu lachen anfing. „Das ist das Erste, was ich höre!“ Dazai schüttelte sich vor Lachen.   Es war schade. Auch wenn der Junge immer mehr nur noch im Fieberwahn sprach, so wollte Dazai dennoch hören, was er zu sagen hatte. Nicht zuletzt, weil er plötzlich unbewusst Fetzen einer Fremdsprache in seine zunehmend zusammenhangslosen Sätze webte. Es war interessant, dass er sich ausgerechnet jetzt doch endlich an etwas aus seiner Vergangenheit, seiner Herkunft erinnerte. Doch Dazai hatte bereits am Morgen, nachdem sie aufgewacht waren, gewusst, was der Tag bringen würde. Der Junge hatte schon seit Tagen nicht mehr essen, trinken oder aufstehen können. Entweder hatte er unruhig geschlafen oder seinen Mitbewohner mit glasigen Augen angesehen. Die Decke war über und über voll mit dem Blut, das er ausgehustet hatte. Es ging zu Ende. Es dauerte Stunden und die meisten Menschen hätten den grausamen Anblick und die qualvollen Geräusche wahrscheinlich kaum ertragen, aber Dazai saß die gesamte Zeit ganz ruhig da und blickte auf ihn hinunter. Als von draußen schwach das rote Licht der untergehenden Sonne bis zu ihnen hineinschien, öffnete der sterbende Junge ein letztes Mal seine Augen, starrte ins Nichts und flüsterte den Anfang eines Satzes, den er nicht mehr beenden würde. „Aber etwas lieben … das ...“ Dazai sah zu, wie sämtliches Leben seiner seltsamen Bekanntschaft entwich. Dann stand er auf und verließ das alte Abflussrohr in den kalten Abend. Wie der Satz wohl hatte enden sollen? Er zuckte mit den Schultern. War auch egal. Abrupt stoppte er. Nein. Nein! „Was … ? Wie … ??“ Aufkommende Panik schimmerte in seiner Stimme durch. Vollkommen verwirrt, was nun los war, blickte er auf seine zitternden Hände. Er spürte ein grässliches Nagen in seinem Innern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)