Never let me go von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 2: Time will help you through, but it doesn't have the time to give you all the answers to the never-ending why ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- „Time will help you through But it doesn't have the time To give you all the answers To the never-ending why“   Placebo, „The never-ending why“   „Herr Joyce??“ Baff starrte Atsushi auf den Besucher und konnte seinen Augen kaum trauen. Dort vor ihm auf einem der Sessel im Empfangsbereich saß tatsächlich der blonde Ire, den sie unter so dramatischen Umständen kennengelernt hatten. Sein Blick sah ernst und angespannt und sehr, sehr erschöpft aus. „Sind-sind Sie etwa unser Klient?“ Ein schwaches Lächeln bildete sich auf den Lippen ihres Gastes, als er den silberhaarigen Detektiv erblickte. „Es ist schön, dich wiederzusehen, Junge. Wenn ich mir für unser Wiedersehen auch bessere Umstände gewünscht hätte.“ „Sie erzählten uns gerade, dass Ihr Partner wegen Mordverdachts verhaftet wurde?“, schloss Fukuzawa an das Gespräch an, das durch das Eintreffen von Dazai und Atsushi unterbrochen worden war. Ersterer spitzte bei dieser Information die Ohren, während Letzterer erschrocken die Augen aufriss. „Was? Herr Wilde soll wegen ...was?“ Atsushi konnte das Gehörte gar nicht fassen. Er hatte den brünetten Iren als äußerst liebenswerten, wenn auch Dazai-ähnlich verschrobenen Gentleman kennengelernt, der selbstlos mit seiner Fähigkeit Tanizaki geheilt hatte, damit dieser ihnen zu Hilfe hatte kommen können. Es war undenkbar, dass- „Die Polizei legte mehrere Beweise für seine Schuld vor“, durchschnitt Joyce schwermütig seine Gedanken. „Sie haben ihn bereits ins Gefängnis gebracht.“ „Hm?“ Ranpo verzog missmutig das Gesicht. Offensichtlich störte ihn etwas. „So zügig? Das heißt, er hat sich schuldig bekannt.“ Die Blicke der Detektive schnellten von ihrem Kollegen zurück zu Joyce. „Hat er?“, hakte Yosano ungeduldig nach. Der Angesprochene senkte seinen Kopf. „Angeblich ja … aber ...“ Er hob ihn von neuem und sah entschlossen in die Runde vor ihm. „Aber bei dieser Sache gibt es mir zu viele Ungereimtheiten.“ „Oder Sie wollen das nur denken, weil Sie sich nicht eingestehen wollen, dass es anders sein könnte“, warf Dazai ein und kassierte dafür unverzüglich einen bösen Blick seitens Joyce. Von dem Ausmaß dieses tödlichen Blicks selbst erstaunt, machte Dazai einen Schritt zurück. Der Ire war mehr als spürbar noch nicht mit ihm im Reinen. Man konnte es ihm auch nur schwer verdenken. Atsushi seufzte innerlich. Vielleicht sollte Dazai sich hier lieber zurückhalten. „Wollen Sie, dass wir Ihnen helfen, seine Unschuld zu beweisen?“, fragte der Junge und wunderte sich, wie sie das anstellen sollten. Die Iren waren doch in ihrer Heimat gewesen; wie sollten sie da Tausende von Kilometern entfernt ermitteln? „Ja und nein“, antwortete Joyce zu seiner Überraschung. „Sie sehen, es sind eine Menge seltsamer Dinge geschehen und ich sehe mich allein nicht im Stande aus diesen schlau zu werden.“ Er suchte den Blickkontakt zu Fukuzawa, so als wartete er auf sein Einverständnis. „Bitte“, forderte der Chef ihn prompt auf, „erzählen Sie uns, was vorgefallen ist.“ Joyce nickte und holte tief Luft, bevor er loslegte. Er erzählte im Detail von der Klientin, dem verschwundenen Dorian Gray, dem plötzlich veränderten Verhalten seines Partners und letztlich von der Verhaftung. „Das passt alles ungut zusammen“, resümierte Kunikida nachdenklich. „Und er hat sich schuldig bekannt, oder?“ „Wie ich schon sagte“, winkte Joyce ab, „hier fangen die seltsamen Vorkommnisse erst an. Ich habe seitdem kein Wort mehr mit Wilde wechseln können. Weder auf der Polizeiwache, noch im Gefängnis. Dass er seine Schuld gestanden haben soll, habe ich nur von den Ermittlern erfahren. Er selbst will mich angeblich nicht sehen oder sprechen, was mir merkwürdig vorkommt. Zudem habe ich versucht, unsere Klientin zu informieren, doch unter dieser Nummer ist niemand zu erreichen. Ihre Visitenkarte ist also augenscheinlich eine Fälschung.“ „Vielleicht hat sie sich darauf nur verschrieben“, warf Kenji ein und wunderte sich, dass ein nun sehr aufmerksamer Ranpo ihm signalisierte, still zu sein. „Sssht. Da kommt noch mehr.“ Joyce nickte abermals. „Kurz darauf erhielt ich einen Brief ohne jeglichen Absender, in dem stand, dass sich eventuell die Unschuld Wildes beweisen lasse, wenn ich eine bestimmte Person in Yokohama ausfindig machen würde.“ „In Yokohama?“ Kyoka runzelte die Stirn. „Hier? Wie kann das sein?“ Geschlagen zuckte der Ire mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Der einzige Hinweis im Brief lautet: 'Finde die Person in Yokohama, die auch von jeglichem Glück verlassen wurde.' „Eine Person in Yokohama, die auch von jeglichem Glück verlassen wurde?“ Dazai lachte spöttisch und fing sich dafür böse Blicke von Joyce und sogar Atsushi ein. „Tut mir leid, aber … Tanizaki, wie viele Einwohner hat Yokohama?“ Der Rothaarige zuckte zusammen, als er in das Gespräch mit hineingezogen wurde. „E-etwa 3,7 Millionen. Warum?“ „Wir haben etwa 3,7 Millionen Personen, die demnach in Frage kommen, darum.“ „Moment“, wandte Kunikida ein, „Sie und Wilde waren doch zum ersten Mal in Japan und im Besonderen in Yokohama, als ...“ Er räusperte sich und schaute verstohlen zu Dazai, „... diese Sache passiert ist. War das etwa gelogen?“ „Nein“, antwortete Joyce wie aus der Pistole geschossen. „Nein, ich für meinen Teil bin zuvor noch nie hier gewesen und er versicherte mir damals, dass das bei ihm genauso war. Wir waren damals auch die gesamte Zeit zusammen, er hatte mit niemandem sonst hier Kontakt.“ „Muss ich es aussprechen?“ Dazais verschmitztes Lächeln bekam eine düstere Färbung. „Auch wenn ihr gleich wieder versucht, mich mit euren Blicken zu töten – das funktioniert übrigens nicht, aber danke, dass ihr es trotzdem probiert: Der liebe Herr Wilde hat ge-lo-gen.“ Joyce unterdrückte eher vergeblich ein zorniges Grummeln. „Das glaube ich nicht.“ „Oder Sie wollen es nicht glauben.“ Kunikida und Atsushi stellten sich umgehend zwischen ihren Kollegen und den erbost aufgesprungenen Iren, der den Eindruck machte, Dazai am liebsten sofort den Hals umdrehen zu wollen. „Herr Joyce.“ Fukuzawa brauchte nur das Wort zu erheben, um augenblicklich für Ruhe zu sorgen. „Es ist verständlich, dass Sie aufgebracht sind, jedoch sollten wir Dazais Theorie nicht sofort verwerfen.“ Sichtlich peinlich berührt nickte ihr Besucher, setzte sich wieder und strich sich über seine Weste. „Ich weiß nicht, ob er gelogen hat. Ich weiß sowieso nicht mehr, was ich noch glauben soll. Es will mir auch nicht den Kopf, warum er sich schuldig bekannt haben soll. Und warum er nicht mit mir reden möchte. Nichts davon ergibt irgendeinen Sinn. Ich brauche Ihre Hilfe. Ohne Sie werde ich nur ziellos durch Yokohama irren und überhaupt nichts in Erfahrung bringen. Darum bitte ich das Büro der bewaffneten Detektive, mir zu helfen.“ Atsushi empfand tiefstes Mitleid für den Mann. Er wirkte verzweifelt und war ganz auf sich allein gestellt. Er wusste nur zu gut, wie sich das anfühlte. Hinzu kam noch, dass der Ire so verzweifelt war, dass er selbst jemanden um Hilfe bat, den er offenkundig zu hassen schien. Joyce wollte, dass Dazai sich das alles anhörte, weil er um dessen unvergleichlich hohe Intelligenz wusste. Er wollte, dass Dazai ihm half. „Ranpo“, sprach der Chef nun mit Blick auf den sichtlich grübelnden Meisterdetektiv. „Was denkst du?“ „Die Beweise.“ „Hm?“, ertönte es unisono von fast allen anderen. „Die Beweise“, wiederholte Ranpo unbeirrt, „die Beweise gegen Wilde. Wie sehen die aus?“ Verdutzt blinzelte Joyce ihn an. „Der aussagekräftigste Beweis ist ein Brief, geschrieben in Wildes Handschrift und adressiert an diesen Dorian Gray. In diesem forderte Wilde ihn auf, zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort zu kommen.“ „Die Zeit ist der Todeszeitpunkt und der Ort der Tatort“, schlussfolgerte Ranpo umgehend und Joyce bejahte ihm dies. „Sie haben der Polizei von der mysteriösen Klientin und dem Brief, der diesem Dorian Gray Angst gemacht hat, erzählt.“ „Unglücklicherweise ja.“ „Woraus die Ermittler geschlossen haben, dass Gray vor Wilde Angst hatte. Sie denken, die Frau wird aus Angst auch untergetaucht sein und es interessiert sie eh nicht weiter, weil sie ja längst ihr Schuldbekenntnis haben. Oh!“ Die grünen Augen des Meisterdetektivs weiteten sich für einen kurzen Moment. „Gray wurde erstochen, oder?“ „Woher wissen Sie-“ „Wen kennen wir, der wegen seiner Fähigkeit immer einen kleinen Dolch mit sich herumträgt?“ Ranpos Frage war wirklich nur eine rein Rhetorische gewesen, denn er fuhr auf der Stelle fort. „Das geht gar nicht, dass Sie uns anlügen wollten, Herr Joyce.“ Er kreuzte unzufrieden die Arme vor der Brust. „Die Tatwaffe war ein Dolch mit Wildes Fingerabdrücken darauf und das wollten Sie vor uns verheimlichen, weil das zu sehr gegen Ihren Partner spricht.“ Mit offenem Mund und deutlich erkennbarem Schweiß auf der Stirn war Joyce mit jedem Wort Ranpos immer weiter in den Sessel gerutscht. Zerknirscht ließ er Kopf und Schultern hängen. „Es tut mir leid, Ihre Zeit verschwendet zu haben“, sagte er so kleinlaut, dass es Atsushis Herz beinahe brach. Aber nach alldem, was Ranpo gerade aufgedeckt hatte, konnten sie vermutlich in der Tat nichts mehr für ihn tu- „Wieso?“ Besagter Meisterdetektiv winkte fröhlich ab. „Jetzt wird der Fall doch endlich interessant!“ Joyces Kopf schnellte nach oben. „Soll das heißen, Sie …?“ „Ich kann weder den Tatort noch die Leiche untersuchen. Alle Beweise sprechen gegen den Verdächtigen und trotzdem soll es eine Möglichkeit geben, seine Unschuld zu beweisen? Ich platze fast vor Neugier!“ Ranpo strahlte über das ganze Gesicht, was Fukuzawa sich angestrengt über die Schläfen reiben ließ. So glückselig auszusehen war kein angemessenes Verhalten für eine solche Situation. Wann würde Ranpo das je lernen? „Kunikida“, sagte der Chef stattdessen und der Betroffene stand direkt stramm. „Im Moment haben wir keine dringlichen Aufträge, oder?“ „Nein. Es hatte eigentlich eine ruhige Woche werden sollen.“ Fukuzawa schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder, als er weitersprach. „Gut. Du und Tanizaki werdet Ranpo unterstützen. Atsushi und Dazai, ihr werdet zusammen mit Herrn Joyce versuchen herauszufinden, ob es nicht doch eine Verbindung zwischen Herrn Wilde und dieser Stadt gibt.“ Perplex blickte Atsushi von seinem Vorgesetzten zu Joyce und letztlich zu Dazai, der sein typisches Lächeln lächelte und mit den Achseln zuckte. War das eine gute Idee? Wieso teilte der Chef sie ausgerechnet so ein? Zwischen Dazai und Joyce lag doch eine nahezu gefährliche Spannung in der Luft. Sollte er etwa als Puffer zwischen den beiden agieren? Das war kein Job auf den er sonderlich scharf war. „Wenn Sie meinen, Chef.“ Dazai steckte seine Hände in seine Manteltaschen. „Aber ich kann nicht garantieren, dass ich etwas finde.“ „Versuch es“, entgegnete Fukuzawa lediglich und nicht minder kryptisch. „Äääh ...“ Atsushi kam sich wieder einmal so vor, als hätte er etwas verpasst. Was sollte Dazai wo finden? Seine überforderte Miene entging seinem Mentor nicht. „Atsushi, wer kann am besten einen Lügner überführen?“, fragte dieser daher. „Äh, häh?“ Was sollte das denn jetzt? „Ein Detektiv?“ „Herrje, nein.“ Der Braunschopf gab ein Geräusch von sich, wie man es bei einer Quizhow hörte, wenn der Kandidat inkorrekt geantwortet hatte. „Vollkommen falsch, Atsushi. Ein Lügner kann am besten einen Lügner überführen. Und wenn Herr Joyce realisiert, dass er seinen Partner noch viel schlechter kannte als er dachte und herausfindet, dass dieser etwas vor ihm zu verheimlichen versucht, braucht er jemanden, der seine Gefühle und all diesen Kram versteht.“ Dazai machte eine kurze Pause, in der er seinen Schützling anblinzelte, um zu sehen, ob er ihm folgen konnte. Konnte er nicht. „Dann braucht er dich, Atsushi.“ „Oh … oh!“ Der junge Detektiv starrte aufgeschreckt zu ihrem entgeistert dreinblickenden Klienten. Joyce hatte jedes Wort gehört und schluckte schwer. War Dazai gerade absichtlich so direkt gewesen? Sein Gerede musste auf Joyce gewirkt haben wie das Abreißen eines Pflasters von einer frischen Wunde. Rücksichtsvoll war anders. Definitiv vollkommen anders. Atsushi stöhnte innerlich. „Könntest du wenigstens versuchen, unseren Klienten nicht gleich umzubringen?“, rügte Yosano ihren brünetten Kollegen. „Er sieht aus, als würde er gleich einen Herzinfarkt kriegen. Und ich bin noch mitten in der Inventur des Arztzimmers und wollte das erst zu Ende machen.“ Der arme Herr Joyce. Ob er es inzwischen bereute, zu ihnen gekommen zu sein? Atsushi beäugte ihn mitleidig und erschrak fast ein wenig, als Kyoka ihm plötzlich etwas zuraunte: „Als er hier ankam, wollte er auf Dazai warten. Weißt du, was das heißt? Ihm ist selbst schon der Gedanke gekommen, dass sein Freund etwas vor ihm verheimlicht und er glaubt, dass nur jemand wie Dazai dahinterkommen kann. Allerdings hofft er wahrscheinlich noch, dass Dazai nichts findet.“ Atsushi zog scharf die Luft ein, als der im Laufe des Gesprächs immer bleicher gewordene Ire seine Hände zu Fäusten ballte, ein paar Mal tief durchatmete und schließlich voller Entschlossenheit zu Dazai blickte. „Niemand ist unzufriedener mit dieser Zusammenarbeit als ich es bin, das können Sie mir glauben, doch wenn ich dies tun muss, um Wilde zu helfen, dann ist es eben so.“ Dazais Lächeln wich einer gleichmütigen Miene und er zuckte erneut mit den Schultern. „Es ist besser, wenn Sie jetzt gleich Ihre Hoffnungen begraben. Sie haben in der Illusion gelebt, jemanden ganz genau zu kennen. Das war dumm. Man kann einen anderen Menschen nie genau kennen. Freunden Sie sich lieber schnell mit dem Gedanken an, dass Sie etwas über Ihren Partner erfahren werden, das Sie lieber nicht gewusst hätten. Ansonsten werden wir hier nicht weiterkommen.“ Für einen quälend langen Moment war es mucksmäuschenstill in der Detektei geworden. Atsushi wusste, dass die anderen zu Dazai sahen, obwohl er selbst den Blick gen Boden gerichtet hatte. Dazai musste es bewusst sein, an was seine Worte sie erinnerten. Er war unter ihnen derjenige mit der düsteren Vergangenheit und den unzähligen Geheimnissen. Sie schafften es nur damit umzugehen, in dem sie es verdrängten und an Dazai glaubten. Aber irgendetwas nagte von neuem an Atsushi. So sehr er dem jetzigen Dazai auch vertraute, er wusste nicht, wie er damit umgehen würde, noch weitere Details aus dessen Vergangenheit zu erfahren. Doch er wusste genau, was er tun würde, wenn Dazai seine Hilfe bräuchte. Und dies war der einzige Rat, den ihr Klient nun brauchte. „Sie wollen ihm helfen, oder?“ Zur Verblüffung aller hatte der junge Detektiv das Wort an Joyce gerichtet. „Das ist das, was jetzt wichtig ist.“ Baff erwiderte der Ire den Blick des Jungen und lächelte schwach. „Du bist ein erstaunlicher junger Mann. Deine Kollegen sollten sich glücklich schätzen, dich zu haben.“ Er nickte. „Selbst wenn Wilde etwas vor mir verheimlichen sollte, kann es unmöglich so schlimm sein wie die Taten manch anderer.“ Er schaute absichtlich an Dazai vorbei. „Daher lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren.“ „Na endlich!“, plärrte Ranpo unsanft und viel zu laut in die ergriffene Atmosphäre hinein. „Die ganze Sache wird sowieso etwas lästig, da will ich mir nicht noch ewig die Beine in den Bauch stehen! Ich brauche eine vollständige Liste aller Orte, an denen Sie sich das letzte Mal in Yokohama aufgehalten haben. Und die Tüte mit den Erdbeer-Schokoriegeln!“ Nachdem Joyce nach dieser Ansage Ranpo alle Orte, die ihm einfielen, genannt hatte und der schmatzende Meisterdetektiv Tanizaki beauftragt hatte, sie auf einer Karte zu markieren, gesellte sich der nun wieder vollständig erblondete Kunikida mit einem hörbaren Seufzer zu dem im Separee wartenden Klienten. „Ich möchte mich für Dazais Verhalten entschuldigen“, sagte der Idealist ohne jegliche Aufforderung. „Ich kann Ihnen versichern, dass der Rest von uns nicht so unsensibel ist. Das heißt … nicht ganz so unsensibel.“ Er räusperte sich verlegen. Joyce winkte ab. „Bitte, Herr Kunikida, ich bin froh, dass wir alle so zivilisiert miteinander umgehen können, nach dem, was vorgefallen ist. Nur mit Herrn Dazai ist es … schwer.“ Die Augen des Iren wanderten zu Dazai, der mit Ranpo den Stadtplan mit den Markierungen studierte. „Um ehrlich zu sein …. Ich bewundere Sie.“ Er schaute zu dem nun überraschten Kunikida. „Mich?“ „Sie arbeiten als sein Partner mit ihm zusammen, obwohl Sie wissen, was er Schreckliches getan hat. Ich glaube nicht, dass ich dies könnte.“ Bei dieser Aussage wurde es Kunikida spürbar unwohl. Er runzelte seine Stirn noch mehr, als er es meist eh schon tat. „Ich will nicht herunterspielen, was Dazai dem Jungen und seiner Familie damals angetan hat, aber er hat als bewaffneter Detektiv schon sehr vielen Menschen das Leben gerettet.“ Joyce nickte verständnisvoll. „Ich will Ihnen keine Diskussion darüber zumuten, ob gute Taten frühere böse Taten auslöschen können. Aber ich würde Sie gerne etwas fragen ...“ Er atmete schwermütig ein. „Wie geht man damit um, praktisch nichts über jemanden zu wissen, mit dem man bereits so viele Jahre zusammen verbracht hat? Haben Sie keine Angst davor, immer weitere und immer furchtbarere Dinge über Herrn Dazai zu erfahren? Er hat leider damit Recht, dass es dumm von mir gewesen war, anzunehmen, Wilde zu kennen. Was weiß ich tatsächlich über ihn? Nichts! Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein Serienmörder oder etwas ähnlich Garstiges gewesen ist, aber das würde man bei Ihrem Kollegen heutzutage auch nicht vermuten.“ Mit verunsichertem, beinahe ängstlichem Blick sah Joyce zu seinem Gegenüber. „Wie soll man nur damit umgehen, jemanden, dem man vertraut hat, eigentlich gar nicht zu kennen?“ Sprachlos starrte Kunikida sein irisches Ebenbild an. Seine sonst so ernste Miene war sichtlich erschüttert. Wie man damit umging? Er schluckte. Keine Ahnung. Bis gerade eben hatte es funktioniert, ohne dass er sich diese Frage auch nur gestellt hatte. Dazai hatte noch mehr dunkle Geheimnisse in petto, da war er sich sicher, aber die sollten ihn nur interessieren, wenn es für die Detektei oder ihn relevant war …. Er hielt den Atem an. Ein Denkfehler! Das war ein Denkfehler! Ein massiver! Das letzte Mal war etwas aus Dazais Vergangenheit zu einer Gefahr für das Büro geworden und da hatte er dies im Vorfeld auch nicht kommen sehen. Es konnte also wieder passieren … oder? Er vertraute Dazai, aber … „Kunikida, Ranpo ist so weit. Du darfst ihn durch die Gegend kutschie-“ Dazais Stimme riss den bebrillten Detektiv so abrupt aus seinen Gedanken, dass er Dazai ganz erschrocken anblickte und dieser so in seinem Satz innehielt. „Hat unser irischer Freund dir Gruselgeschichten von der grünen Insel erzählt?“ „Unsinn!“, entgegneten die beiden Blondschöpfe einhellig und rückten sich in perfekter Synchronizität ihre Brillen zurecht. „Okay, das IST gruselig.“ Dazai schüttelte sich. „Hoffentlich verfolgt das Bild mich nicht bis in meine Albträume.“ „Was für ein Bild?“, fragte Kunikida ehrlich ahnungslos und sich auch nicht für die Antwort interessierend. Er stand auf und schritt an Dazai vorbei. „Benimm dich!“, zischte er ihm zu, worauf dieser für einen flüchtigen Moment dämonisch grinste, ehe er gespielt pikiert antwortete: „Bitte, Kunikida, du kennst mich doch. Ich weiß mich immer zu benehmen.“ Dazai war dezent irritiert, als sein Lieblingsopfer darauf nicht wie gewohnt explodierend reagierte, sondern ihm lediglich einen bitterernsten Blick zuwarf. Kenne ich ihn wirklich? Nein. Ich habe keine Ahnung, was in seinem Kopf vorgeht. Und ich weiß noch viel weniger, was früher darin vorging. Ich bin mindestens so dumm wie Joyce – und wenn es schlecht läuft, werde ich genauso böse überrascht werden. Kunikida war ein Idealist. Er war immer perfekt vorbereitet und hasste nichts mehr als nicht vorbereitet zu sein und Pläne nicht einhalten zu können. Dazai war in seinen Berechnungen ein unbekannter Faktor. Was, wenn es wirklich noch einmal passierte? Was, wenn noch einmal Dazais Vergangenheit sie alle einholte? Konnten sie einfach so weitermachen? Ranpo quengelte und Kunikida versuchte, diese Gedanken weit von sich zu schieben. Erst einmal galt es, sich um ihren Auftrag zu kümmern, auch wenn er einen Gedanken nicht loswerden konnte: Er hasste unbekannte Faktoren. Mit merklich schlechter Laune brach er mit Tanizaki und Ranpo auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)